7

Sie flohen eilig und leise durch den In Ju. Der Stachelkater führte sie. Sein bräunlicher Körper watschelte vor ihnen durch Gebüsch und Gräser, unter Dornengestrüpp hindurch und über Baumstämme, als sei alles dasselbe, ein einziges Hindernis, das zu überwinden jeweils denselben Kraftaufwand erforderte. Wren und Garth folgten, wobei sie gezwungen waren, den schwierigeren Boden zu umgehen, ihren Weg sorgfältiger zu wählen und den Boden zu prüfen, bevor sie darauf traten. Es gelang ihnen nur, Schritt zu halten, weil Stresa geistesgegenwärtig genug war, sich hin und wieder nach ihnen umzusehen und zu warten, bis sie aufgeschlossen hatten. Keiner von ihnen sprach, während sie vorwärts eilten, aber sie alle lauschten sorgfältig darauf, ob Geräusche verrieten, daß der Wisteron sie verfolgte.

Der Dschungel wurde dunkler, und überall tauchten Spinnweben auf. Viele erwiesen sich als Überbleibsel von Fallen, die schon vor langer Zeit zerrissen oder zerfallen waren, aber genauso viele bildeten Auslöser für Netze, die zwischen den Baumspitzen, über das Gestrüpp und sogar über Vertiefungen im Boden gespannt waren. Die Spinnweben waren durchsichtig und unsichtbar, außer dort, wo sie an Blättern oder Erde hafteten und Farbe oder Umriß bekamen, und selbst dann waren sie nur schwer zu entdecken. Wren gab es bald auf, nach etwas anderem zu suchen, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf die gefährlichen Netze. Eine Spinne kann sicher Netze wie diese spinnen, dachte sie bei sich, und stellte sich den Wisteron in Gedanken als solche vor.

Ihre Flucht dauerte erst wenige Minuten, als sie ihn schließlich herannahen hörte. Das Geräusch drang deutlich bis zu ihnen – Gestrüpp und Buschwerk zerbrach, Zweige von Bäumen schnellten zurück, Rinde kratzte, und Wasser platschte und schäumte. Der Wisteron war groß, und er machte keine Anstalten, sein Kommen zu verbergen. Es klang, als walze ein Moloch unerbittlich und unentrinnbar alles nieder. Der In Ju erinnerte an eine gewaltige, grüne Kathedrale, der ihre Stille ausgetrieben worden war. Wren war plötzlich sehr ängstlich.

Sie passierten eine ausgedehnte Lichtung, auf der sich ein See gebildet hatte, der sie zum Richtungswechsel zwang. Nach einem Moment des Zögerns gingen sie unmittelbar an einer niedrigen Bodenwelle entlang, auf der eine dichte Dornenhecke wuchs. Stresa bohrte sich hindurch, ohne die Stacheln zu bemerken. Wren und Garth folgten, wobei sie tapfer die Kratzer und Schnitte ignorierten, die sie sich zuzogen, denn die Geräusche des Wisteron hinter ihnen begannen lauter zu werden. Dann plötzlich verschwanden alle Geräusche.

Stresa blieb sofort stehen und gefror an seinem Platz. Die Fahrenden taten es ihm gleich. Wren lauschte bewegungslos. Garth legte seine Hände auf die Erde. Alles war ruhig. Die Bäume ragten über ihnen auf, ohne daß sich ein Blatt regte, das diesige Halblicht wirkte wie ein Vorhang aus Gaze. Das einzige Geräusch war ein Rascheln des Windes... obwohl es nicht windig war. Wren fror. Die Luft war so ruhig wie der Tod. Sie schaute schnell zu Stresa. Der Stachelkater schaute aufwärts. Der Wisteron bewegte sich zwischen den Bäumen hindurch. Garth stand wieder aufrecht und hatte sein langes Messer gezogen. Wren suchte den Baldachin aus Blättern und Zweigen über sich in dem wilden und nutzlosen Versuch ab, etwas zu erkennen. Das Rascheln war näher und erkennbar, nicht mehr nur das Flüstern des Windes in den Blättern, sondern die Bewegung von etwas Großem.

Stresa begann zu laufen. Er sah aus wie ein seltsam geformter Klumpen stacheliger Erde, der auf ein Wäldchen mit Koaakazien zustrebte, irgendwie lautlos, aber auch wild. Wren und Garth folgten ihm unaufgefordert und fraglos. Wren schwitzte heftig unter ihrer Kleidung, und ihr Körper schmerzte von der Anstrengung, sich ruhig zu verhalten. Sie ging geduckt vorwärts und hatte jetzt Angst, zurückzuschauen, hinaufzuschauen oder irgendwo anders hinzuschauen als vorwärts, wo der Stachelkater vorwärts eilte. Das Rascheln von Blättern summte in ihren Ohren. Laut war das Zurückschnappen von Zweigen zu hören. Vögel schössen durch den Wald wie plötzliche Farbflecke und Bewegungen unter einem Baldachin und waren im Handumdrehen verschwunden. Der Dschungel schimmerte feucht und kalt um sie herum, ein stiller Ort, wo nur sie sich bewegten. Die Koaakazien erhoben sich über ihnen, massive Stämme mit meterlangen, moosigen Weinranken, große, ehrwürdige Giganten, die schon vor sehr langer Zeit Wurzeln geschlagen hatten. Wren schrak unvermittelt zusammen. An ihrer Brust hatten die Elfensteine im Verborgenen zu brennen begonnen.

Nicht schon wieder, dachte sie verzweifelt, ich werde die Magie nicht schon wieder gebrauchen, aber sie wußte im selben Moment, in dem sie das dachte, daß sie es doch tun würde. Sie erreichten den Schutz der Koaakazien, drängten sich hastig weiter hinein, hinunter in einen Saal, der aus Baumstämmen und Schatten gebildet wurde. Wren schaute hinauf und suchte nach Fallen. Es waren keine zu sehen. Sie beobachtete, wie Stresa in eine bestimmte Richtung auf eine Ansammlung von Gestrüpp zueilte und hineindrängte. Garth und sie folgten, wobei sie gebeugt gehen mußten, um einen Weg zwischen den Zweigen zu finden, und trugen ihre Bündel auf dem Rücken, die sie fest umklammerten, um kein Geräusch zu machen.

Zusammengekauert in der Dunkelheit und schwer atmend knieten sie auf dem Dschungelboden und warteten. Die Minuten verstrichen. Die belaubten Zweige ihres Schutzraumes dämpften alle Geräusche von außen, so daß sie das Rascheln nicht mehr hören konnten. Es war eng in ihrem Versteck, und der Geruch von vermodertem Holz stieg von der Erde auf. Wren fühlte sich gefangen. Es wäre besser, draußen im Freien zu sein, wo sie davonlaufen konnten, wo sie etwas sehen konnten. Sie spürte den plötzlichen Drang, sofort aufzuspringen. Dann aber sah sie Garth an, sah die Ruhe auf dem Gesicht des großen Mannes und blieb. Stresa hatte sich zum Eingang zurückgezogen, flach auf die Erde gedrückt, den Kopf keck hervorgestreckt, die kurzen Katzenohren aufgerichtet.

Wren kauerte sich neben das Wesen und spähte hinaus. Die Stacheln des Stachelkaters sträubten sich.

Im gleichen Augenblick sah sie den Wisteron. Er war noch immer in den Bäumen, so weit von der Stelle entfernt, an der sie sich versteckt hatten, daß er kaum mehr war als ein Schatten vor der Wand aus Vog. Dennoch war kein Irrtum möglich. Er kroch durch die Zweige wie ein riesiger Geist... Nein, verbesserte sie sich. Er kroch nicht. Er pirschte sich an. Nicht wie eine Katze, sondern wie etwas weitaus Überzeugteres, weitaus Entschlosseneres. Er stahl auf seinem Weg das Leben aus der Luft, er war ein Schatten, der Geräusche und Bewegungen verschlang. Er hatte vier Beine und einen Schwanz, und er benutzte alle fünf, um die Zweige der Bäume zu ergreifen und sich vorwärts zu hangeln. Er war vielleicht einmal ein Säugetier gewesen, und er sah noch immer so aus. Aber er bewegte sich wie ein Insekt. Er war völlig mißgebildet und verformt, die Teile seines Körpers hingen wie riesige Greifzangen an ihm und erlaubten es ihm offenbar, frei in jede Richtung zu schwingen. Er war glatthaarig und sehnig und noch viel bizarrer als das Wolfswesen, das ihnen aus Grimpen Ward heraus gefolgt war.

Der Wisteron blieb stehen und wandte sich um.

Wren stockte der Atem, und sie hielt ihn mit erschreckender Entschlossenheit an. Der Wisteron hing freischwebend vor dem Grau, ein riesiger, angsteinflößender Schatten. Dann schwang er sich plötzlich davon. Er schwang an ihr vorbei wie das Versprechen ihres eigenen Todes, eine Andeutung nur, die sie neckte und leise Drohungen flüsterte. Jedoch sah er sie nicht und wurde nicht langsamer. An diesem Nachmittag war er auf andere Opfer aus.

Und dann war er fort.

Nach einiger Zeit verließen sie ihr Versteck, um weiterzuziehen. Sie waren aufgewühlt und verschreckt und setzten eigentlich nur deshalb ihren Weg fort, weil es sein mußte, wenn sie den In Ju jemals hinter sich lassen wollten. Dennoch hatten sie dieses Ziel noch nicht erreicht, als die Dunkelheit hereinbrach. Daher verbrachten sie die Nacht im Sumpf. Stresa fand eine große Höhle im Stamm eines toten Banyan, und die Fahrenden krochen auf Drängen des Stachelkaters widerwillig hinein. Sie hätten auf eine derartige Enge gern verzichtet, aber es war besser, als draußen im Freien zu schlafen, wo sich die Wesen des Sumpfes an sie heranschleichen konnten. Auf jeden Fall war es in dem Baumstamm trocken, und die Kälte der Nacht war weniger durchdringend. Die beiden Fahrenden hüllten sich in ihre schweren Umhänge und saßen vor der Öffnung. Sie starrten hinaus in die undurchdringliche Dunkelheit, rochen Fäulnis und Schimmel und Feuchtigkeit und beobachteten, wie die Schatten vorbeihuschten, die ständig gegenwärtig waren.

»Was ist das nur, was sich da draußen bewegt?« fragte Wren Stresa schließlich. Sie konnte ihre Neugier nicht länger bezähmen. Sie hatten gerade ihre Mahlzeit beendet. Der Stachelkater schien fast alles verschlingen zu können – Käse, Brot und getrocknetes Fleisch, das sie mit sich trugen, genauso wie die Maden und Insekten, die er für sich selbst aufstöberte. Im Moment saß er dicht neben der Öffnung des Banyan und kaute auf einer Wurzel.

Er schaute alarmiert auf. »Da draußen?« wiederholte er. Die Worte kamen so heiser hervor, daß Wren sie kaum verstehen konnte. »Grrrssst. Nicht viel, wirklich. Einige häßliche, kleine Lebewesen, die unter anderen Umständen nicht wagen würden, ihr Gesicht zu zeigen. Jetzt schleichen sie herum – hhhrrgg –, weil alle wirklich gefährlichen Wesen – außer dem wwwssst Wisteron – vor Arborlon sind und darauf warten, daß der Keel weiter seine Macht verliert.«

»Erzähl mir vom Keel«, drängte sie. Ihre Finger übersetzten die Worte des Stachelkaters für Garth.

Stresa legte die Wurzel beiseite. Das Schnurren war wieder in seiner rauhen Stimme hörbar. »Der Keel ist die Mauer, die die Stadt umgibt. Sie wurde aus Magie gemacht, und die Magie hält die Dämonen fern. Hggghhhh. Aber die Magie wird schwächer, und die Dämonen werden stärker. Selbst die Elfen scheinen nicht in der Lage zu sein, etwas dagegen zu unternehmen.« Der Stachelkater machte eine Pause. »Wie hast du von den Dämonen erfahren? Hssttt. Wie ist dein Name doch gleich? Grrllwren? Wren? Wer hat euch von Morrowindl erzählt?«

Wren lehnte sich an den Stamm des Banyan zurück. »Das ist eine lange Geschichte, Stresa. Ein Flugreiter hat uns hergebracht. Er war derjenige, der uns vor den Dämonen gewarnt hat. Allerdings hat er sie Monster genannt. Weißt du etwas über Flugreiter?«

»Ssttpfft! Die Elfen mit den Riesenvögeln – ja, ich weiß. Sie pflegten hierher zu kommen. Jetzt nicht mehr. Wenn sie jetzt landen, warten die Dämonen. Sie ziehen sie herab und töten sie. Fffftt – das geht ganz schnell. Das wäre auch mit euch geschehen, wenn sie nicht alle vor Arborlon wären – oder zumindest die meisten. Der Wisteron kümmert sich allerdings nicht um solche Dinge.«

Arborlon war die Heimat der Elfen gewesen, dachte Wren, als sie noch im Westland gelebt hatten. Es verschwand, als sie damals verschwanden. Hatten sie es auf Morrowindl neu erbaut? Was hatten sie mit dem Ellcrys gemacht? Hatten sie ihn mitgenommen? Oder war er ein weiteres Mal abgestorben wie zu Zeiten Will Ohmsfords? Gab es darum die Dämonen auf Morrowindl?

»Wie weit sind wir von der Stadt entfernt?« fragte sie und drängte damit ihre Grübeleien beiseite.

»Es ist noch ein langer Weg«, erklärte Stresa. »Der In Ju geht in eine Bergwand über, die Blackledge genannt wird und sich quer durch das südliche Ende der Insel zieht. Dahinter liegt ein Tal, durch das der Rowen fließt. Rrwwwn. Jenseits des Tales liegt Arborlon hoch oben auf einer Klippe unterhalb des Kraters des Killeshan. Wollt ihr etwa dorthin gelangen?«

Wren nickte.

»Ppffahh. Warum, um alles in der Welt?«

»Um die Elfen zu finden«, antwortete Wren. »Ich habe einen Auftrag. Ich soll ihnen eine Botschaft überbringen.«

Stresa schüttelte den Kopf und richtete seine Stacheln einige Zentimeter auf. »Ich hoffe nur, daß die Botschaft wichtig ist. Ich kann nicht verstehen, wie du es jemals schaffen willst, sie zu überbringen, während die Dämonen rund um die Stadt lauern – wenn es die Stadt überhaupt noch gibt. Ssstt.«

»Wir werden einen Weg finden.« Wren wollte das Thema wechseln. »Du hast vorhin erzählt, daß die Elfen dich erschaffen haben, Stresa. Wie auch die Dämonen. Aber du hast nicht erklärt, wie.«

Der Stachelkater warf ihr einen ungeduldigen Blick zu.

»Durch Magie natürlich«, knirschte er. »Hrrrwwll! Mit Elfenmagie kannst du fast alles tun. Ich war einer der ersten, lange bevor sie sich für die Dämonen oder einen der anderen entschieden haben. Das war vor fast fünfzig Jahren. Stachelkater leben lange. Ssppptt. Sie haben mich geschaffen, um die Höfe zu bewachen und Aasfresser und Ähnliches fernzuhalten. Ich war sehr gut darin. Wir alle waren das. Pffft. Wir konnten fern vom Land leben, brauchten sehr wenig Pflege und konnten wochenlang draußen bleiben. Aber dann kamen die Dämonen und töteten die meisten von uns, und die Höfe wurden nutzlos und verschwanden, und das war’s. Wir waren uns selbst überlassen – grrrsssst –, was nicht so schlimm war, weil wir zu dem Zeitpunkt schon ziemlich daran gewöhnt waren. Wir konnten allein überleben. Tatsächlich war es besser so. Ich würde es hassen, in dieser Stadt eingeschlossen zu sein – hssstt –, eingeschlossen von Dämonen.«

Der Stachelkater knurrte leise. »Ich hasse es, überhaupt daran zu denken.«

Wren versuchte noch immer herauszufinden, was die Elfen taten, wenn sie die Magie jetzt wieder benutzten. Woher war die Magie gekommen? Sie hatten sie nicht zur Verfügung gehabt, als sie im Westland lebten. Sie hatten sie nicht mehr gehabt seit der Zeit der Feen und im Westland nur ihre Heilkräfte besessen. Die wahre Magie war jahrelang verloren gewesen. Jetzt hatten sie sie irgendwie zurückbekommen. Und so viel davon, wie es schien, daß sie Dämonen schaffen konnten. Oder hatten sie sie damit herbeigerufen? Eine unheilvolle Wahl, wenn es überhaupt eine gab. Was konnte die Elfen dazu bewogen haben, so etwas zu tun? Sie fragte sich plötzlich, was ihre Eltern mit alldem zu tun hatten. Waren sie beteiligt am Gebrauch der Magie? Wenn es so war, warum hatten sie dann die Elfensteine ihr gegeben – die mächtigste Magie überhaupt?

»Wenn die Elfen... diese Dämonen mit ihrer Magie erschaffen haben, warum können sie sie denn jetzt nicht vernichten?« fragte sie, denn sie war noch immer neugierig darauf, woher diese sogenannten Dämonen gekommen waren und ob es überhaupt richtige Dämonen waren. »Warum können sie ihre Magie nicht dazu benutzen, sich selbst zu befreien?«

Stresa schüttelte den Kopf und nahm die Wurzel wieder auf.

»Ich habe keine Ahnung. Niemand hat es mir bisher erklärt. Ich gehe niemals in die Stadt. Ich habe seit Jahren mit keinem Elf gesprochen. Du hast Elfenzüge, aber dein Freund ist etwas völlig anderes.«

»Er ist ein Mensch«, sagte sie.

»Ssspttt. Wenn du es sagst. Ich habe noch nie jemanden wie ihn gesehen. Woher kommt er?«

Wren erkannte auf einmal, daß Stresa wahrscheinlich nicht wußte, daß es dort draußen noch andere Lebewesen als Elfen und Flugreiter gab und andere Orte als die Inseln.

»Wir kommen beide aus dem Westland, das Teil der Vier Länder ist. Und von dort kamen all die Elfen vor Jahren hierher. Es gibt eine Menge verschiedener Leute dort. Garth und ich sind nur eine Art davon.«

Stresa betrachtete sie nachdenklich. Sein stacheliger Körper zog sich zusammen, als er seine Beine zusammenkniff. »Wenn du die Elfen gefunden – grrrrrr – und deine Botschaft überbracht hast, was wirst du dann tun? Wirst du dahin zurückgehen, woher du gekommen bist?«

Wren nickte.

»Das Westland, hast du es genannt. Ist das so etwas wie – grrrrrr – Morrowindl?«

»Nein, Stresa. Obwohl es auch dort gefährliche Dinge gibt. Dennoch ist das Westland überhaupt nicht wie Morrowindl.«

Aber im selben Moment, in dem sie diesen Satz beendete, dachte sie: Immerhin nicht ganz, aber wie lange noch, wenn die Schattenwesen an Macht gewinnen ?

Der Stachelkater kaute einen Moment auf der Wurzel und bemerkte dann: »Pffft. Ich glaube nicht, daß du allein nach Arborlon gelangen kannst.« Seine seltsamen, blauen Augen sahen Wren unverwandt an.

»Nein?« erwiderte sie.

»Pft, pft. Ich sehe nicht, wie. Du hast keine Vorstellung davon, wie du den Blackledge bewältigen kannst. Was auch immer geschieht, du mußt den – grrrrrr – Harrow und die Draculs meiden. Unten im Tal sind die Zurückgekehrten. Das sind die schlimmsten Dämonen. Es gibt auch Dutzende anderer. Ssspht. Wenn sie dich erst einmal entdecken...«

Der stachelige Körper sträubte sich bedeutungsvoll und glättete sich wieder. Wren wollte auch nach den Draculs und den Zurückgekehrten fragen. Statt dessen sah sie Garth an, um seine Meinung zu erfahren. Garth zuckte nur die Achseln, um auszudrücken, daß es ihm egal war. Er war daran gewöhnt, seinen eigenen Weg zu finden.

»Nun, was schlägst du vor? Was sollen wir tun?« fragte sie den Stachelkater.

Die Augen zwinkerten. Das Schnurren drang wieder aus der Kehle des merkwürdigen Wesens. »Ich würde einen Handel vorschlagen. Ich werde dich zur Stadt führen. Und wenn du an den Dämonen vorbei gelangst, deine Botschaft überbringst und wieder herauskommst, werde ich dich zurückführen. Dafür nimmst du mich mit dir, wenn du die Insel verläßt.«

Wren runzelte die Stirn. »Ins Westland? Willst du Morrowindl verlassen?«

Der Stachelkater nickte. »Sppppttt. Es gefällt mir hier nicht mehr sonderlich. Daraus kann mir wirklich niemand einen Vorwurf machen. Ich habe lange Zeit durch Tricks und Erfahrung und Instinkt überlebt, aber hauptsächlich auch durch Glück. Heute hat mein Glück ein Ende gefunden. Wenn ihr nicht zufällig vorbeigekommen wäret, wäre ich jetzt tot. Ich habe dieses Leben satt. Ich möchte wieder so leben wie früher. Vielleicht kann ich das dort, wo ihr lebt.«

Vielleicht, dachte Wren. Vielleicht auch nicht.

Sie sah Garth an. Die Finger des großen Mannes bewegten sich schnell. Wir wissen nichts über dieses Wesen. Sei vorsichtig hei deiner Entscheidung.

Wren nickte. Typisch Garth. Er irrte sich natürlich – denn eines wußten sie, der Stachelkater hatte sie so gewiß vor dem Wisteron gerettet, wie sie ihn gerettet hatten. Und vielleicht würde er sich als nützlich erweisen, wenn er mitreiste, besonders da er die Gefahren von Morrowindl weitaus besser kannte als sie. Daß sie ihn mitnahmen, wenn sie die Insel verließen, war ein ziemlich kleiner Beitrag zu diesem Handel.

Es sei denn, Garths Vorbehalte würden sich als richtig erweisen und der Stachelkater spielte nur sein Spiel mit ihnen.

Vertraue niemandem, hatte die Addershag sie gewarnt. Sie zögerte einen Moment und überdachte die Angelegenheit. Dann tat sie die Warnung mit einem Achselzucken ab. »Ich gehe auf den Handel ein«, verkündete sie abrupt. »Ich denke, es ist eine gute Idee.«

Der Stachelkater spreizte mit Schwung seine Stacheln.

»Grrrrrr. Ich habe mir schon gedacht, daß du darauf eingehen würdest«, sagte er und gähnte. Dann streckte er sich in voller Länge aus und legte seinen Kopf bequem auf seine Pfoten.

»Berühre mich bloß nicht, wenn ich schlafe«, riet er. »Wenn du es tust, wirst du mit einem Gesicht voller Stacheln enden. Es wäre schlimm für mich, Wenn unsere Partnerschaft auf diese Weise enden würde. Phffft.«

Noch bevor Wren diese Warnung an Garth weitergegeben hatte, waren Stresas Augen bereits geschlossen, und der Stachelkater war eingeschlafen.

Wren übernahm die Frühwache und schlief dann tief und fest bis zur Dämmerung. Sie erwachte durch Geräusche, die Stresa verursachte – das Rascheln der Stacheln, das Kratzen von Klauen auf Holz. Sie erhob sich verwirrt und mit trockenen und wunden Augen. Sie fühlte sich schwach und elend, aber sie ignorierte ihr Unwohlsein, während Garth ihr zu trinken gab und etwas Brot anbot. Ihr Nahrungsvorrat nahm rapide ab, wie sie wußte. Vieles davon war einfach schlecht geworden. Sie würden sich bald Nahrung beschaffen müssen. Sie hoffte, daß Stresa trotz seiner eigenartigen Ernährungsgewohnheiten ihnen bei der Auswahl dessen, was genießbar war, vielleicht helfen konnte. Sie kaute auf einem Bissen Brot und spuckte es dann wieder aus. Es schmeckte schimmelig.

Stresa watschelte nach draußen, und die Fahrenden folgten ihm, indem sie aus dem hohlen Baumstamm krochen und mit verkrampften und schmerzenden Muskeln langsam auf die Füße kamen. Der Tag begann mit verschwommen grauem Nebel, der durch die Baumwipfel sickerte und kaum imstande war, die darunter liegende Dunkelheit zu durchdringen. Vog wirbelte durch den Dschungel wie Suppe, die in einem Kochtopf umgerührt wird, aber die Luft am Boden war still und leblos. Unbekannte Wesen bewegten sich durch das übelriechende Wasser des Sumpfes und der Senkgruben und auf dem toten Holz entlang, das darüber führte, ein träger Wechsel von Umrissen und Formen vor der Dunkelheit. Geräusche erklangen gedämpft aus den Schatten und hingen herausfordernd wartend in der Luft.

Sie begannen ihren Weg durch das Halbdunkel, Stresa voran, eine watschelnde, rollende Masse von Stacheln. Sie kamen in den Morgenstunden langsam, aber stetig voran, wobei der Vog sie bei jeder Bewegung einhüllte. Er war wie ein farbloser, feuchter Überzug und roch nach Tod. Das Licht erhellte sich von Grau zu Silber, blieb aber schwach und unbestimmt, während es über die Umrisse der Bäume waberte. Fäden des Netzes des Wisteron waren um Zweige und Weinranken gewunden, und überall warteten Fallen darauf, zuzuschnappen. Das Monster selbst erschien nicht, aber man konnte seine Gegenwart in der Stille fühlen, die über allem lag.

Wrens Unbehagen steigerte sich, während der Tag voranschritt. Sie fühlte sich jetzt sehr unwohl und begann zu schwitzen. Manchmal konnte sie nicht mehr klar sehen. Sie wußte, daß ein Fieber sie quälte, aber sie sagte sich, es werde wohl vergehen. Sie ging weiter und sagte nichts.

Der Dschungel lichtete sich erst kurz nach Mittag. Der Boden wurde wieder fest, der Sumpf versank in der Erde, und das Gewölbe der Bäume öffnete sich. Licht drang tapfer hier und dort durch plötzliche Risse in der Vogwand. Die Stille wich einem unergründlichen Summen und Knacken. Stresa murmelte etwas, aber Wren konnte nicht verstehen, was es war. Sie konnte ihre Gedanken schon seit einiger Zeit nicht mehr auf irgend etwas konzentrieren, und ihr Blick war so umwölkt, daß sogar der Stachelkater und Garth für sie nur noch Schatten waren. In dem Bewußtsein, daß jemand zu ihr sprach, blieb sie stehen und wandte sich um, um herauszufinden, wer es war. Und dann brach sie zusammen.

Sie erinnerte sich später kaum an das, was danach geschah. Sie wurde kurze Zeit getragen und war sich dieser Bewegung kaum bewußt, denn sie war von einer Fühllosigkeit befallen, die sie zu ersticken drohte. Das Fieber brannte durch ihren Körper, und sie wußte noch, daß sie es nicht einfach so abschütteln konnte. Sie schlief ein, wachte wieder auf, um zu erkennen, daß sie in Decken eingehüllt dalag, und schlief sofort wieder ein. Sie wachte davon auf, daß sie um sich schlug. Garth hielt sie fest und flößte ihr etwas Bitteres und Dickflüssiges ein. Sie würgte es heraus und mußte erneut davon trinken. Sie hörte Stresa etwas von Wasser sagen, spürte ein kühles Tuch auf ihrer Stirn und schlief erneut ein.

Dieses Mal träumte sie. Tiger Ty war da, stand neben Stresa, und beide schauten gemeinsam auf sie herab, der rauhe und schroffe Flugreiter und der scharfäugige Stachelkater. Sie sprachen mit ähnlichen Stimmen, beide rauh und kehlig, und kommentierten, was sie sahen. Sie sprachen von Dingen, die sie zunächst nicht verstand, und dann schließlich von ihr. Sie besaß die Magie, sagten sie zueinander. Es war klar, daß sie sie besaß. Dennoch weigerte sie sich, das anzuerkennen, und verbarg diese Gabe wie einen Makel, wobei sie vorgab, es gebe sie nicht und sie brauche sie nicht. Närrisch, sagten sie. Die Magie sei alles, was sie habe. Die Magie sei das einzige, dem sie vertrauen könne. Sie erwachte widerwillig. Ihr Körper war wieder kühl, und das Fieber war gewichen. Sie war schwach und so durstig, als sei alle Flüssigkeit aus ihrem Körper fortgeschwemmt worden. Sie schob die Decken zur Seite, in die sie eingewickelt gewesen war, und versuchte aufzustehen. Aber Garth war sofort da und drückte sie wieder hinunter. Er hielt ihr einen Becher an die Lippen. Sie trank ein paar Schlucke – das war alles, was sie zustande bringen konnte – und legte sich zurück. Ihre Augen fielen wieder zu.

Als sie das nächste Mal erwachte, war es dunkel. Sie fühlte sich jetzt stärker. Ihre Sicht war ungetrübt und ihr Empfinden für alles, was um sie herum geschah, klar und sicher. Lebhaft richtete sie sich auf einen Ellenbogen auf und stellte fest, daß Garth ihr in die Augen sah. Er saß mit gekreuzten Beinen neben ihr. Sein dunkles, bärtiges Gesicht war zerknittert und überanstrengt von mangelndem Schlaf. Sie sah an ihm vorbei zu Stresa hinüber, der zu einer Kugel zusammengerollt dalag, und schaute dann wieder zu Garth.

Geht es dir besser? signalisierte er.

»Ja«, antwortete sie. »Das Fieber ist vorbei.«

Er nickte. Du hast fast zwei Tage lang geschlafen.

»So lange? Das habe ich nicht gemerkt. Wo sind wir?«

Am Fuße des Blackledge. Er gestikulierte in der Dunkelheit.

Wir haben den In Ju verlassen, nachdem du zusammengebrochen warst, und haben hier unser Lager errichtet. Der Stachelkater erkannte, welche Krankheit dich befallen hatte, und fand eine Wurzel, die sie heilen konnte. Ich glaube, daß du ohne seine Hilfe vielleicht gestorben wärest.

Sie grinste schwach. »Ich habe dir gesagt, daß es eine gute Idee sein könnte, ihn mitzunehmen.«

Schlaf weiter. Es sind noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung. Wenn es dir dann gut genug geht, werden wir weiterziehen.

Sie legte sich gehorsam zurück und dachte daran, daß Garth die ganze Zeit, in der sie krank gewesen war, allein Wache gehalten haben mußte und daß Stresa sich sicherlich nicht darum gekümmert hatte, da er wohlig im Schutz seines eigenen Panzers steckte. Ein Gefühl der Dankbarkeit erfüllte sie. Garth war immer für sie da. Sie beschloß, daß ihr riesiger Freund den Schlaf, den er brauchte, bekommen sollte, wenn die Nacht erneut hereinbrach.

Sie schlief gut und wachte erholt auf. Jetzt war sie begierig, ihre Reise wieder aufzunehmen. Sie wechselte die Kleidung, obwohl nichts, was sie bei sich trug, jetzt noch sauber war, wusch sich und frühstückte. Auf Garths Drängen hin nahm sie sich einige Augenblicke Zeit, um ihre Muskeln zu trainieren und um ihre Kräfte zu prüfen für das, was vor ihnen lag. Stresa schaute zu, abwechselnd neugierig und unbeteiligt. Sie unterbrach ihre Übungen einen Moment, um dem Stachelkater für seine Hilfe bei der Bekämpfung des Fiebers zu danken. Er behauptete, nicht zu wissen, wovon sie sprach. Die Wurzel, die er für sie besorgt habe, habe ihr lediglich zu Schlaf verhelfen. Was sie gerettet habe, sei ihre Elfenmagie, knurrte er, breitete seine Stacheln aus und walzte davon, um Nahrung zu suchen. Sie brauchten diesen ganzen Tag und den größten Teil des nächsten, um den Blackledge zu erklimmen, und sie hätten ohne Stresa noch viel länger gebraucht – wenn sie es jemals wirklich geschafft hätten. Der Blackledge war eine turmhohe Mauer aus Felsgestein, die sich um den Südhang des Killeshan zog. Sie lag auf halber Höhe des Hanges und schien sich gebildet zu haben, als ein Teil des Vulkans abgesprengt worden und dann mehrere tausend Fuß tief in den Dschungel gestürzt war. Die Bruchstelle der Klippe, die einst glatt gewesen sein mußte, war über die Jahre abgetragen, ausgehöhlt und uneben geworden und dicht mit Gestrüpp und Weinranken bewachsen. Es gab nur wenige Stellen, an denen man den Blackledge überwinden konnte, und Stresa kannte sie alle. Der Stachelkater wählte einen Abschnitt der Klippe, an dem sich die Felswand geteilt hatte und sich ein Riß aufgetan hatte, der nur knapp tausend Fuß über dem Dschungelboden lag. In dem Riß gab es einen Paß, der hinüber ins Tal verlief. Dort würden sie die Elfen jenseits des Rowen finden, verkündete Stresa.

Entschlossen führte er sie hinauf.

Der Aufstieg war hart. Sie kamen nur langsam voran, und der Weg schien endlos. Es gab keine Pässe oder Pfade. Es gab tatsächlich sehr wenige Stellen, die überhaupt irgendeine Art von Trittfläche boten, wobei auch davon keine mehr als ein kurzes Aufsetzen erlaubte. Das Lavagestein war messerscharf unter ihren Händen und Füßen und konnte ohne Vorwarnung abbröckeln. Die Fahrenden trugen schwere Handschuhe und Umhänge, um ihre Haut zu schützen und vor Spinnenbissen und Skorpionstichen sicher zu sein. Der Vog rollte die Vorderseite des Felsens hinab, als sei er vom Rand herabgegossen worden, dicht und übelriechend durch Schwefel und Ruß. Fast alles, was auf dem Felsen wuchs, war dornig und zäh und mußte beseitigt werden. Jeder Zentimeter des Aufstiegs war ein Kampf, der alle ihre Kräfte forderte. Wren hatte sich ausgeruht gefühlt, als sie den Aufstieg begonnen hatten. Es war noch nicht einmal Mittag, als sie bereits wieder erschöpft war. Selbst Garths unglaubliche Zähigkeit war schnell verbraucht.

Stresa hatte diese Probleme nicht. Der Stachelkater war unermüdlich und watschelte die Vorderseite der Klippe mit langsamem, aber stetigem Schritt hinauf. Seine mächtigen Klauen fanden ausreichenden Halt, bohrten sich in den Fels und zogen den wuchtigen Körper voran. Spinnen und Skorpione schienen Stresa nicht zu stören. Wenn sie nahe genug herankamen, fraß er sie einfach auf. Er führte sie, wobei er die Punkte suchte, die für seine menschlichen Begleiter am leichtesten zu bewältigen sein würden, und hielt oft an, um zu warten, bis sie ihn erreicht hatten. Er machte einen kleinen Umweg, um einen Zweig zu ihnen zu bringen, der mit süßen, roten Beeren beladen war, die sie schnell und dankbar aßen. Als die Nacht hereinbrach und sie noch immer nur die Hälfte des Hanges erklommen hatten, fand er sogar einen Sims, auf dem sie die Nacht verbringen konnten. Er überzeugte sich zunächst davon, daß nichts sie hier bedrohen konnte, und bot dann zu ihrem größten Erstaunen an, die Wache zu übernehmen, während sie schliefen. Garth hatte die vergangenen zwei Nächte damit verbracht, die fiebernde Wren zu bewachen, und war zu erschöpft, jetzt noch zu diskutieren. Das Mädchen schlief die erste Hälfte der Nacht und löste den Stachelkater dann mehrere Stunden vor Tagesanbruch ab. Sie mußte dabei feststellen, daß Stresa ein Gespräch dem Schlaf in jedem Fall vorzog. Er wollte etwas über die Vier Länder wissen. Er wollte von den Lebewesen hören, die darin lebten. Er erzählte Wren auch noch mehr über Morrowindl. Es war ein Bericht über den qualvollen Kampf ums Überleben in einer Welt, in der alles ständig auf der Jagd war oder gejagt wurde, wo es keine sicheren Zufluchtsorte gab und wo das Leben normalerweise kurz und hart war.

»Grrrrrr. Zu Anfang war es nicht so«, grollte er leise. »Bis die Elfen die Dämonen schufen. Erst dann hat sich alles zum Schlechten gewandt. Phhhfft. Einfältige Elfen. Sie haben sich ihr eigenes Gefängnis geschaffen.«

Er klang so verbittert, daß Wren beschloß, der Sache nicht weiter nachzugehen. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob der Stachelkater genau wußte, worüber er sprach. Die Elfen waren immer Heiler und Fürsorgende gewesen – niemals Schöpfer von Monstern. Es fiel ihr schwer, zu glauben, daß sie ein Paradies in einen Sumpf verwandelt haben könnten. Sie dachte nach wie vor, daß an dieser Geschichte mehr sein mußte als das, was Stresa wußte. Sie wollte ihr Urteil zurückhalten, bis sie alles erfahren hatte.

Bei Tagesanbruch setzten sie den Aufstieg fort, zogen sich die Felsen hinauf, klammerten sich an die Vorderseite der Klippe und spähten durch den wirbelnden Nebel hinauf. Es regnete mehrere Male, und ihre Kleidung wurde durchweicht. Die Hitze nahm ab, als sie höher kamen, aber die Feuchtigkeit blieb. Wren war noch immer schwach von dem Sumpffieber, und sie brauchte all ihre Kraft und Konzentration, um weiterhin einen Fuß vor den anderen setzen und die Hand für ein weiteres Hochziehen ausstrecken zu können. Garth half ihr, wenn er konnte, aber es war selten genug Platz, daß er das konnte, und meist waren sie gezwungen, den Aufstieg hintereinander durchzuführen. Manchmal sahen sie Höhlen in den Klippen, dunkle Öffnungen, die ihnen schweigend und leer entgegengähnten. Stresa wich ihnen bewußt aus. Als Wren danach fragte, was darin sei, zischte der Stachelkater und erklärte mit ziemlicher Bestimmtheit, daß er das nicht wissen wolle.

Der frühe Nachmittag brachte sie schließlich auf den Grund des Risses und den dahinter liegenden Durchgang. Sie standen von Schmerzen geplagt und erschöpft wieder auf flachem, festem Untergrund und schauten zurück über das Südende der Insel bis zu dem Punkt, an dem sie wie ein ausgerollter, nebliger Teppich aus grünem Dschungel und schwarzen Lavafelsen an die azurblaue Fläche des Meeres grenzte. Der Blackledge erhob sich an allen Seiten über ihnen. Er erstreckte sich zerklüftet und neblig als ungebrochene Mauer in die Ferne, bis er am Horizont verschwand. Seevögel kreisten am Himmel. Sonnenlicht brach kurz durch einen Spalt in den Wolken, blendend in seiner Intensität, und verlieh den stumpfen Farben des Landes unter ihnen Stärke und Glanz. Wren und Garth blinzelten gegen sein Strahlen an und erfreuten sich an der Wärme auf ihren Gesichtern. Dann verblaßte es und verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. Kälte und Feuchtigkeit kehrten zurück, und die Farben der Insel wurden wieder stumpf.

Sie wandten sich zu dem Schatten des Risses um und begannen, auf die Öffnung des engen Durchganges zuzuklettern. Schließlich gelangten sie hinein. Die Felsenklippe erhob sich rund um sie herum, und der Wind blies von den Höhen Killeshans in rauhen, schnellen Stößen herunter wie das Geräusch von etwas Atmendem. Es war kalt in dem Durchgang, und die Fahrenden wickelten sich fest in ihre Umhänge. Regen fiel in plötzlichen Wolkenbrüchen und hörte wieder auf, und der Vog ergoß sich in undurchdringlichen Wellen die Felsen hinab. Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als sie das Ende des Risses erreichten. Sie standen am Rande eines Tales, das sich bis zur letzten Erhebung des Killeshan erstreckte. Es war ein Kessel voller Grün, der in der Ferne von einem Waldstreifen begrenzt wurde. Die Bäume reichten bis zu den kahlen Lavafelsen der hohen Hänge dahinter. Das Tal war breit und neblig, und es war unmöglich, zu erkennen, was darin lag. Weit im Osten konnte man das schwache Schimmern eines Wasserlaufes ausmachen, der sich durch den Dunst und zwischen akazienbestandenen Hügeln hindurchschlängelte. Jenseits des Flusses ragten Bergkämme auf, die von schwarzen Strömen narbiger Felsen gesäumt waren. Über der Talfläche lag Stille.

Sie schlugen ihr Lager im Schutze des Durchgangs unter einem Überhang auf, der dem Tal gegenüber lag. Die Nacht brach schnell herein, und da der Himmel so vollständig ihrem Blick entzogen war, verwandelte sich die Welt um sie herum in beängstigendes Schwarz. Die Stille der Dämmerung machte bald einem Wirrwarr rauher Töne Platz – dem unterbrochenen, kaum wahrnehmbaren Rumpeln des Killeshan, dem Zischen von Dampf aus Rissen in der Erde, aus denen die Hitze des Vulkaninneren hervorbrach, dem Grunzen und Grollen jagender Lebewesen, dem plötzlichen Schreien, wenn etwas starb, und wilden Flüstern, wenn etwas anderes floh. Stresa rollte sich zu einer Kugel zusammen, lag mit dem Kopf zur Dunkelheit hin und konnte in dieser Nacht nicht so schnell einschlafen. Wren und Garth saßen nahe bei ihm. Sie fühlten sich ängstlich und unbehaglich und fragten sich, was wohl vor ihnen lag. Sie waren ihrem Ziel jetzt nahe, die Fahrende konnte das spüren. Die Elfen waren nicht mehr weit. Sie würden sie bald finden. Manchmal glaubte Wren, durch die Schwärze und den Dunst das Leuchten von Feuern wie blinzelnde Augen in der Nacht erkennen zu können. Die Feuer waren weit entfernt. Sie glommen wohl jenseits des Tales hoch oben auf den Hängen kaum unterhalb der Baumgrenze. Sie wirkten einsam und verloren, und sie fragte sich, ob sie sich nicht täuschte. Wie weit waren die Elfen bei ihrem Auszug aus den Vier Ländern gekommen? Vielleicht zu weit? So weit, daß sie nicht zurückkommen konnten?

All ihre Fragen blieben unbeantwortet und schließlich schlief sie ein.

Bei Tagesanbruch brachen sie erneut auf. Morrowindl war zu einer lebhaften, umwölkten Welt aus Schatten und Klängen geworden. Das Tal fiel unter ihnen steil ab, und ihr Weg kam ihnen vor, als stiegen sie in eine Grube hinab. Der Pfad war felsig und rutschig von der Feuchtigkeit, und das Grün, das ihnen in dem unbestimmten Licht des vorangegangenen Abends so beherrschend erschienen war, entpuppte sich jetzt als bloße Flecken von Moos und Gras, das inmitten großer Flächen kahlen Felsgesteins kauerte. Rauchfäden, die von dem Gestank des Schwefels umsäumt waren, erhoben sich himmelwärts, um sich mit dem Vog zu vermischen, und stellenweise brannte sich intensive Hitze durch die Sohlen ihrer Stiefel und versengte die Haut ihrer Gesichter. Stresa ging langsam voran. Er wählte seinen Weg sorgfältig und watschelte zwischen den Felsen und ihren Inseln aus Grün hin und her. Mehrere Male blieb er stehen und änderte die Richtung wieder, um einen völlig anderen Weg zu wählen. Wren konnte nicht sagen, was der Stachelkater sah. Für sie war alles unsichtbar. Sie fühlte sich einmal mehr all ihrer Fähigkeiten beraubt, eine Fremde in einer feindlichen, verschlossenen Welt. Sie versuchte, sich zu entspannen. Vor ihr bewegte sich Stresas wuchtiger Körper mit jeder Bewegung rollend vorwärts und seine dolchähnlichen Stacheln hoben und senkten sich im gleichen Rhythmus. Hinter ihr schlich Garth, als sei er auf der Jagd. Sein dunkles Gesicht war angespannt, undurchdringlich, hart. Wie sehr sie sich ähnelten, dachte sie überrascht.

Sie waren von einer kleinen Erhebung in ein Wäldchen aus Gestrüpp herabgestiegen, als das Wesen sie plötzlich angriff. Es schnellte sich mit einem Schrei aus dem Nebel hervor, ein Scheusal mit gesträubtem Fell, mit Klauen und gefletschten Zähnen, das in verzweifelter Raserei um sich schlug. Es hatte Beine und einen Körper und einen Kopf – mehr konnten sie im ersten Augenblick nicht erkennen. Es schoß an Stresa vorbei und griff Wren an, die kaum noch ihre Arme heben konnte, bevor es sie erreicht hatte. Instinktiv rollte sie sich zur Seite, nahm das Gewicht des Wesens mit sich und schleuderte es dann fort. Es schlug und biß, aber ihre schweren Handschuhe und ihr Umhang schützten sie. Sie sah seine gelben, irren Augen, und sie spürte seinen übelriechenden Atem. Nachdem sie es abgeschüttelt hatte, wankte sie auf die Füße und sah aus den Augenwinkeln, wie sich das Wesen zurückwälzte.

Dann war Garth da und sein kurzes Schwert durchschnitt die Luft. Ein Glitzern von Eisen, und der Arm des Wesens war fort. Es fiel hin, schrie und biß in die Erde. Garth trat eilig hinzu, trennte seinen Kopf ab, und es wurde still.

Wren stand da und zitterte. Sie war noch immer unsicher, was das Wesen war. Ein Dämon? Etwas anderes? Sie schaute hinab auf die blutige, formlose Hülle. Es war alles so schnell gegangen.

»Phffft! Horcht!« zischte Stresa scharf. »Es kommen noch mehr! Ssstttffft. Hier entlang! Beeilt euch!«

Er watschelte schnell davon. Wren und Garth folgten eilig und tauchten hinter ihm in die Dämmerung ein.

Sie konnten bereits die Geräusche der Verfolger hören.

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