Es war spät am Morgen. Die letzten drei Mitglieder jener Neunergruppe quälten sich vorsichtig durch das Gewirr des In Ju. Sie folgten der massigen, stacheligen Gestalt von Stresa, dem Stachelkater, der sich beständig tiefer in die Dunkelheit grub.
Wren atmete die übelriechende, feuchte Luft ein und lauschte in die Stille.
In der Ferne, weit weg von der Stelle, an der sie sich jetzt befanden, war das Rumpeln des Killeshan allgegenwärtig und umschloß tief und unheilvoll Erde und Himmel. Erschütterungen schlängelten sich durch Morrowindl und warnten vor dem Ausbruch, der sich stetig aufbaute. Aber im Dschungel selbst war alles ruhig. Ein Schirm von Feuchtigkeit hüllte den In Ju vom Boden her ein, tränkte Bäume und Gestrüpp, Weinranken und Gräser, und legte über sie eine Decke, die alle Geräusche dämpfte und alle Bewegungen verbarg. Der Dschungel war ein Gewölbe betäubenden Grüns, ein Wirrwarr von Wänden, die zahllose Räume bildeten, von Gängen, die ihn wie ein Labyrinth durchzogen und sich durch die Wildnis wanden, die sie zu ersticken drohte. Zweige verflochten sich über ihnen und bildeten eine Decke, die das Licht ausschloß und den Boden aus Sumpf und Treibsand und Schlamm überspannte. Insekten summten unsichtbar umher, und unbekannte Wesen schrien im Nebel auf. Aber nichts rührte sich. Nichts schien lebendig.
Die Netze des Wisteron waren jetzt überall. Sie bildeten ein riesiges Netzwerk, das die Bäume bedeckte wie Gazestreifen. Tote Wesen hingen in den Netzen und Hüllen von Lebewesen, deren Leben ausgesaugt worden war, die Überreste der Nahrung des Monsters. Es waren jedoch nur kleine Lebewesen. Der Wisteron nahm seine größere Beute mit in sein Lager.
Das nicht weit entfernt irgendwo vor ihnen lag.
Wren beobachtete die Schatten um sich herum. Da nichts ringsum sich bewegte, war sie noch ängstlicher geworden, als sie es schon vorher in der Stille gewesen war. Sie durchquerte einen toten Ort, eine Ödnis, in die keine Lebewesen gehörten, eine Unterwelt, die sie auf eigene Gefahr durchquerte. Sie dachte noch immer, sie würde irgendwo einen Farbfleck entdecken oder ein Kräuseln des Wassers oder einen Schimmer von Blättern und Gräsern. Aber der In Ju hätte in Eis gekleidet sein können, so erstarrt wirkte er. Sie befanden sich jetzt tief im Gebiet des Wisteron, und hierhin wagte sich nichts.
Nichts außer ihnen.
Sie hielt die Elfensteine, die sie von dem Lederbeutel befreit hatte, fest in ihrer Hand. Sie hielt sie zum Gebrauch bereit, denn sie wußte, daß das nötig sein würde. Sie machte sich keine Illusionen darüber, was von ihr verlangt werden würde. Sie hegte keine falschen Hoffnungen, daß sie den Gebrauch der Elfensteine vielleicht vermeiden könnte, weil ihre Fähigkeiten als Fahrende ausreichen könnten, sie zu retten. Sie dachte nicht darüber nach, ob es weise war, die Magie anzuwenden, obwohl sie wußte, wie sie auf sie wirkte. Daß sie sich hatte entscheiden können, war lange vorbei. Der Wisteron war ein Monster, das nur von den Elfensteinen überwältigt werden konnte. Sie mußte die Magie anwenden, weil dies die einzige Waffe war, über die sie verfügen konnte und die ihr in dem bevorstehenden Kampf nützen würde. Wenn sie sich erlaubte zu zögern, wenn sie erneut ihrer eigenen Unentschlossenheit zum Opfer fiele, würden sie alle sterben.
Sie schluckte gegen die Trockenheit in ihrer Kehle an. Seltsam, daß ihr Hals so trocken war, wo sie doch überall sonst so feucht war. Sogar ihre Handflächen schwitzten. Was war alles geschehen, seit sie mit Garth den Tirfing durchwandert hatte. Das schien ihr jetzt ein anderes Leben gewesen zu sein, frei von Sorge und Verantwortung, Herr ihrer selbst und nur dem Diktat der Zeit unterworfen.
Sie fragte sich, ob sie das Westland jemals wiedersehen würde.
Vor ihnen verdichtete sich die Dunkelheit zu Nestern tiefer Schatten, die Höhlen ähnlich sahen. Nebel kräuselte sich hervor und wand sich wie eine Schlange durch die Zweige der Bäume und die Weinranken. Netze umhüllten die hochgelegenen Zweige und füllten die Lücken dazwischen – dicke, beinahe durchsichtige Stränge, die vor Feuchtigkeit schimmerten. Stresa verlangsamte seinen Schritt und sah zu ihnen zurück. Er sagte nichts. Er mußte auch nichts sagen. Wren war sich bewußt, daß Garth und Triss ruhig und abwartend neben ihr standen. Sie nickte Stresa zu und bedeutete ihm weiterzugehen.
Sie dachte plötzlich an ihre Großmutter und fragte sich, was Ellenroh empfinden würde, wenn sie bei ihnen wäre, und überlegte, wie sie wohl gehandelt hätte. Sie konnte ihr Gesicht vor sich sehen, die leidenschaftlichen, blauen Augen als Kontrast zu ihrem gütigen Lächeln, die beeindruckende Ruhe, die alle Zweifel und alle Angst beiseite fegte. Ellenroh Elessedil, Königin der Elfen. Ihre Großmutter hatte anscheinend immer die Kontrolle über alles behalten. Aber selbst das hatte nicht ausgereicht, sie zu retten. Worauf konnte sie dann aber vertrauen, fragte Wren sich düster. Auf die Magie natürlich. Aber die Magie war nur so stark wie derjenige, der sie anwandte, und Wren hätte gerade jetzt die unbezwingbare Stärke ihrer Großmutter der eigenen bei weitem vorgezogen. Ihr fehlten Ellenrohs Selbstvertrauen und deren Sicherheit. Sogar jetzt, wo sie entschlossen war, den Ruhkstab und den Loden zurückzuholen, das Elfenvolk sicher ins Westland zu bringen und ihren Treueschwur zu erfüllen, spürte sie, daß sie eher aus Fleisch und Blut war als aus Eisen. Sie konnte versagen. Sie konnte sterben. Entsetzen lauerte am Rande derartiger Gedanken und ließ sich nicht vertreiben.
Triss stieß von hinten gegen sie und drängte sie vorwärts. Er flüsterte eine hastige Entschuldigung und fiel wieder zurück. Wren lauschte auf das Dröhnen ihres Blutes, ein Pochen in ihren Ohren und ihrer Brust, eine Mahnung, wie kurz die Spanne zwischen Leben und Tod sein konnte.
Sie war sich ihrer selbst immer so sicher gewesen...
Etwas huschte auf dem Boden vor ihnen davon, ein Aufblitzen dunkler Bewegung vor dem Grün. Stresas Stacheln hoben sich, aber er verlangsamte trotzdem nicht seinen Schritt. Der Wald öffnete sich in einen See von Sumpfgras zu einem Hain uralter Akazien, die sich schwer aneinander lehnten. Der Boden unter ihnen war ausgewaschen und dem Sumpf gewichen. Die Gefährten folgten dem Stacheltier nach links an einer kleinen Erhebung vorbei. Die Bewegung kam schnell und plötzlich wieder, dieses Mal mehr als ein Wesen. Wren versuchte ihm mit Blicken zu folgen. Irgendein Insekt, entschied sie, lang und schmal, mit vielen Beinen.
Stresa fand einen Flecken fester Erde, der breiter war als sein Körper, und wandte sich zu ihnen um.
»Phfffft. Habt ihr sie gesehen?« flüsterte er rauh. Sie nickte. »Aasfresser! Orps werden sie genannt. Hsssst! Sie fressen alles. Ha, alles! Sie leben von dem, was der Wisteron übrig läßt. Ihr werdet noch viel mehr von ihnen zu sehen bekommen, bevor wir unser Ziel erreichen. Habt keine Angst, wenn ihr sie seht.«
»Wie weit ist es noch?« flüsterte Wren zurück und beugte sich weit zu ihm hinunter.
Der Stachelkater legte den Kopf schief. »Es ist genau vor uns«, grollte er. »Kannst du die toten Wesen nicht riechen?«
»Und was ist dort hinten?«
»Ssssttt! Wie soll ich das wissen, Wren von den Elfen? Ich lebe noch!«
Sie ignorierte seinen Blick. »Wir werden nachsehen. Wenn wir verhandeln können, werden wir verhandeln. Wenn nicht, werden wir uns zurückziehen und entscheiden, was zu tun ist.«
Sie sah abwechselnd Garth und Triss an, um sicherzugehen, daß sie sie verstanden, und richtete sich dann auf. Faun hing an ihr wie eine zweite Haut. Sie würde den Baumschreier absetzen, bevor sie weiterging.
Sie schlichen durch die Gräser und die verdorrenden Bäume hinüber. Die Orps erschienen jetzt von überallher und stoben bei ihrem Auftauchen davon. Sie sahen aus wie riesige Silberfische, wenn sie schnell und lautlos unter die Erde oder das Holz verschwanden. Wren versuchte, sie nicht zu beachten, aber das war schwierig. Die Wasseroberfläche des Sumpfs blubberte und spuckte um sie herum. Es war das erste Geräusch, das sie seit einiger Zeit hörten. Der Killeshan machte sich auf immer größere Entfernung bemerkbar. Als sie das Gras verließen und zwischen die Bäume traten, legte sich die Dunkelheit in Schichten um sie herum. Es wurde wieder still, die Luft war leer und tot. Wren atmete langsam und tief, und ihre Hand schloß sich fester um die Elfensteine.
Dann gingen sie durch den Akazienhain über eine sumpfige Senke zu einer Ansammlung riesiger Nadelbäume, deren Zweige sich in enger Umarmung verflochten hatten. Fäden von Netzen hingen überall, und als sie sich dem jenseitigen Rand der Senke näherten, entdeckte Wren am Rande der Bäume verstreute Knochen. Orps schossen an ihnen vorbei, flogen über die Oberfläche der Kuhlen ringsum und verschwanden im Laubwerk vor ihnen.
Stresa war so langsam geworden, daß sie jetzt fast krochen.
Sie erreichten den Rand des Morastes, krochen durch eine Öffnung zwischen den Bäumen hindurch und erstarrten.
Unter den Bäumen lag eine tiefe Schlucht, eine Felseninsel, die im Sumpf zu schweben schien. Die Nadelbäume erhoben sich von dem Untergrund zu einem Gewirr dunkler Stämme, das aussah, als sei es mit Hunderten von Netzen zusammengebunden worden. Tote Wesen hingen in den Netzen, und Knochen bedeckten den Grund der Schlucht. Orps krochen über alles hinweg wie ein schimmernder Teppich aus Bewegung. Das Licht über der Schlucht war grau und diffus. Es wurde vom Vog und dem Nebel zu schwachen Schatten gefiltert. Der Geruch von Tod hing über allem, er wurde von den Felsen und den Bäumen und dem Dunst darüber festgehalten. Es war ruhig im Lager des Wisteron. Außer den Orps bewegte sich nichts.
Wren spürte, wie sich Garths Hand auf ihre Schulter legte. Sie schaute hinüber und sah, daß er auf etwas zeigte.
Gavilan Elessedil hing ausgebreitet in einem Netz ihnen gegenüber. Seine blauen Augen waren leblos und starr, sein Mund in stummem Schrei geöffnet. Er war ausgeweidet, sein Rumpf war von der Brust zum Bauch aufgeschlitzt worden. In der leeren Höhlung schimmerten schwach seine Rippen. All seine Körperflüssigkeit war abgesaugt worden. Übriggeblieben war kaum mehr als eine Hülle, das groteske, erschreckende Zerrbild eines Menschen.
Wren hatte in ihrem kurzen Leben schon viel vom Tod gesehen, aber hierauf war sie nicht vorbereitet. Schau nicht hin, sagte sie sich wild. Behalte ihn nicht so in Erinnerung! Aber sie schaute hin und wußte dabei, daß sie dies Bild nie vergessen würde.
Garth berührte sie ein zweites Mal und deutete hinunter in die Schlucht. Sie spähte hinab, konnte zuerst nichts erkennen, und erblickte schließlich den Ruhkstab. Er lag genau unter dem, was von Gavilan übriggeblieben war, er ruhte dort auf einem Teppich alter Knochen. Orps krochen unbekümmert über ihn hinweg. Der Loden war noch immer an seiner Spitze befestigt.
Wren nickte als Antwort und fragte sich sofort, wie sie den magischen Stab erreichen konnten. Ihr Blick schweifte umher und suchte noch nach etwas anderem.
Wo war der Wisteron?
Dann sah sie ihn. Er hing hoch oben in den Zweigen der Bäume am Rande der Schlucht in einem seiner eigenen Netze bewegungslos im Dunst. Er war zu einem riesigen Ball zusammengerollt, hatte seine Beine unter sich geschlagen und sah merkwürdigerweise aus wie eine schmutzige Wolke. Er war mit stacheligem Haar bedeckt und kaum von dem Dunst ringsum zu unterscheiden. Er schien zu schlafen.
Wren kämpfte gegen den Ansturm von Angst an, den sein Anblick bei ihr hervorrief. Sie schaute schnell zu den anderen hinüber. Sie alle beobachteten ihn. Plötzlich bewegte sich der Wisteron – ein Aufrichten seines überraschend hageren Körpers, ein Strecken mehrerer Beine, Klauen blitzten auf, und ein schreckliches, insektenartiges Gesicht mit einem seltsamen, saugenden Rachen wurde sichtbar. Dann rollte er sich wieder zusammen und wurde ruhig.
In Wrens Hand begannen die Elfensteine zu brennen.
Sie richtete einen letzten verzweifelten Blick auf Gavilan, gab dann den anderen Zeichen und trat unter den Bäumen hervor. Wortlos verfolgten sie ihre Spuren zurück durch die Senke, bis sie den Schutz der Akazien erreicht hatten, wo sie sich eng zusammenkauerten.
Wren suchte ihre Augen. »Wie können wir an den Stab herankommen?« fragte sie leise. Das Bild von Gavilan war in ihr Bewußtsein eingebrannt, und sie konnte kaum an etwas anderes denken.
Garth hob die Hände und signalisierte: Einer von uns wird in die Schlucht hinabsteigen müssen.
»Aber der Wisteron wird es hören. Diese Knochen klingen sicher wie Eierschalen, wenn man darauf tritt.« Sie setzte Faun neben sich. Seine dunklen Augen schauten instinktiv hinauf in die ihren.
»Könnten wir jemanden hinunterlassen?« fragte Triss. »Phfffft! Nicht ohne Geräusche und Bewegungen«, sagte Stresa barsch. »Der Wisteron schläft – ssstttt – nicht. Er tut nur so. Er wird es mitbekommen!«
»Wir könnten warten, bis er endlich schläft«, fuhr Triss fort. »Oder warten, bis er auf die Jagd geht, bis er sein Lager verläßt, um seine Netze zu überprüfen.«
»Mir ist nicht bekannt, daß wir genug Zeit dafür hätten...« begann Wren.
»Hssstt! Es spielt keine Rolle, ob wir genug Zeit haben oder nicht!« unterbrach Stresa sie hitzig. »Wenn er fortgeht, um zu jagen oder seine Netze zu überprüfen, wird ihm unser Geruch auffallen! Er wird wissen, daß wir hier sind!«
»Beruhige dich«, besänftigte Wren ihn. Sie beobachtete, wie das stachelige Wesen mit gefurchtem Katzengesicht einen Schritt zurücktrat.
»Es muß einen Weg geben«, flüsterte Triss. »Alles, was wir brauchen, sind eine oder zwei Minuten, um dort hinein und wieder heraus zu steigen. Vielleicht gelingt es, wenn wir ihn ablenken.«
»Vielleicht«, stimmte Wren zu und versuchte erfolglos, etwas Derartiges zu ersinnen.
Faun schnatterte leise auf Stresa ein, der ihm gereizt antwortete. »Ja, Schreier, der Stab! Was glaubst du? Phffft! Jetzt sei ruhig, damit ich nachdenken kann!«
Benutze die Elfensteine, signalisierte Garth plötzlich.
Wren atmete tief ein. »Als Ablenkung?« Sie waren wieder an dem Punkt angelangt, zu dem sie kommen mußten. Sie hatte es die ganze Zeit gewußt. »In Ordnung. Aber ich möchte nicht, daß wir uns trennen. Wir würden uns niemals wiederfinden.«
Aber Garth schüttelte den Kopf. Nicht als Ablenkung. Als Waffe.
Sie sah ihn an.
Töte ihn, bevor er uns töten kann. Ein schneller Streich.
Triss sah die Unsicherheit in ihren Augen. »Was schlägt Garth vor?« fragte er.
Ein schneller Streich. Garth hatte natürlich recht. Sie würden den Ruhkstab nicht ohne Kampf zurückbekommen. Es war lächerlich, etwas anderes zu denken. Warum sollte man dann nicht den Vorteil eines Überraschungsangriffs ausnutzen und einen Streich auf den Wisteron ausführen, bevor er einen Streich auf sie ausführen konnte? Sie könnte ihn töten oder zumindest kampfunfähig machen, bevor er eine Chance hatte, sie zu verletzen.
Wren atmete tief ein. Sie konnte es natürlich tun, wenn sie es mußte. Sie war deswegen auch bereits zu einem Entschluß gekommen. Doch sie war sich absolut nicht sicher, ob die Magie der Elfensteine ausreichen würde, etwas so Großes und Räuberisches wie den Wisteron zu überwältigen. Die Magie hatte unmittelbar mit ihr zu tun. Wenn ihr die notwendige Kraft fehlte, wenn sich der Wisteron als zu stark erwies, wären sie alle zum Tode verurteilt.
Andererseits, welche andere Möglichkeit gab es denn? Es gab keine bessere Chance, den Stab zu bekommen.
Sie streckte abwesend die Hand aus, um Faun zu streicheln, und konnte ihn nicht finden. »Faun?« Ihre Augen lösten sich von Garths Blick, doch ihre Gedanken waren noch immer mit dem vorrangigen Problem beschäftigt. Orps schossen davon, als sie sich bewegte. Wasser sammelte sich in den Kuhlen, die ihre Stiefel hinterlassen hatten.
Aus dem Schutz der Bäume, zwischen denen sie knieten, über die morastige Senke hinweg sah sie den Baumschreier in die Schlucht hinabsteigen.
Faun!
Auch Stresa entdeckte ihn. Der Stachelkater fuhr herum, und seine Stacheln ragten in die Höhe. »Dummer – ssstttt – Schreier! Er hat dich gehört, Wren von den Elfen! Er fragte, was du vorhast. Ich habe nicht aufgepaßt – phffft –, aber...«
»Der Stab?« Wren sprang auf, Entsetzen umwölkte ihre Augen. »Du meinst, er will den Stab holen?«
Sie lief sofort los und rannte von den Bäumen über die Senke. Sie bewegte sich so leise wie sie konnte. Sie hatte vergessen, daß Faun sich mit ihnen verständigen konnte. Es war lange her, daß der Baumschreier es versucht hatte. Ihre Brust wurde ihr eng. Sie wußte, wie treu ergeben ihr das kleine Wesen war. Er würde alles für sie tun.
Er war gerade dabei, es zu beweisen.
Faun! Nein!
Sie atmete keuchend. Sie wollte schreien, um den Baumschreier zurückzurufen. Aber sie konnte es nicht. Ein Schrei würde den Wisteron aufwecken. Sie erreichte den jenseitigen Rand der Senke, Orps rasten in alle Richtungen davon wie dunkle Blitze vor der Feuchtigkeit. Sie konnte Garth und Triss hinter sich hören, auch ihr Atem klang rauh. Stresa war jetzt wieder irgendwie vor sie gelangt. Der Stachelkater war wieder einmal schneller, als sie erwartet hatte. Er tauchte bereits zwischen den Bäumen hindurch. Sie folgte ihm und kroch eilig hinterher. Ihr Atem stockte ihr in der Kehle, als sie herauskam.
Faun befand sich an einer Seite der Schlucht auf halbem Weg nach unten. Leicht und lautlos glitt er über die Felsen. Fäden der Netze lagen ihm im Weg, aber Faun umging sie mühelos. Über ihm hing der Wisteron fest zusammengerollt bewegungslos in seinem Netz. Auch die Überreste von Gavilan hingen dort, aber Wren sah diesmal nicht hin. Statt dessen konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf Faun und verfolgte angstvoll den Abstieg des Baumschreiers. Sie war sich bewußt, daß Stresa sich ein Dutzend Fuß entfernt flach an den Rand der Felsen preßte. Garth und Triss hatten sich zu ihr gesellt und waren auf beiden Seiten nahe an sie herangerückt. Triss umfaßte sie beschützend und wollte sie zurückziehen. Sie riß ihren Arm ärgerlich los. Ihre Hand mit den Elfensteinen hob sich.
Faun erreichte den Grund der Schlucht und durchquerte sie eilig. Wie eine Feder tanzte der Schreier über den Teppich trockener Knochen. Er wählte seinen Weg sorgfältig und trippelte wie eine Katze. Dabei kam er lautlos vorwärts, genauso unauffällig wie die Orps, die sich wegen seines Kommens aufregten. Über ihnen döste der Wisteron weiter und bemerkte nichts. Der graue Dunst des Vog zog in dichten Vorhängen zwischen ihnen hindurch und verbarg den Baumschreier in seinen Falten. Schatten, warum habe ich ihn nicht festgehalten? Wrens Blut pulsierte in ihren Ohren und registrierte jede einzelne Sekunde. Faun verschwand im Vog und wurde dann wieder sichtbar. Er eilte jetzt mit dem Stab den ganzen Weg zurück.
Er ist zu schwer, dachte Wren entsetzt. Er wird ihn nicht bergen können.
Aber irgendwie gelang es Faun doch. Er hob den Stab über die Schichten menschlicher Überreste hinaus, über die Gerüste einstigen Lebens. Er barg ihn in seinen winzigen Händen, obwohl der Stab dreimal länger war als der Schreier, und begann seinen Weg zurück, wobei er den Stab als Stütze benutzte. Wren richtete sich atemlos auf die Knie auf.
Triss stieß sie drängend, um ihr etwas zu zeigen. Der Wisteron hatte sich in seinem Netz bewegt und streckte die Beine aus. Er erwachte. Wren wollte aufstehen, aber Garth zog sie hastig zurück. Der Wisteron rollte sich wieder zusammen und zog die Beine wieder ein. Faun kam jetzt wieder auf sie zu, das winzige Gesicht angestrengt und seinen sehnigen Körper angespannt. Dann erreichte Faun den diesseitigen Rand der Schlucht und hielt inne.
Wren erstarrte. Faun weiß nicht, wie er herausklettern soll!
Und dann begann der Killeshan plötzlich zu husten und spie Feuer. Er war Meilen entfernt, so weit von ihnen fort, daß das Geräusch kaum mehr als ein Murmeln in der Stille war. Aber die Erschütterung rief ein Beben tief in der Erde hervor, Wellen, die sich vom Schmelzkern des Berges aus fortsetzten wie Ringe, die von einem Stein ausgehen, der ins Wasser geworfen wurde. Diese Erschütterungen legten den weiten Weg zum In Ju und zum Lager des Wisteron zurück und zogen weitere Bewegungen nach sich. Die Beben nahmen an Kraft zu, sie wurden begleitet von Hitze, und die Hitze brach in einer Dampffontäne aus der morastigen Senke hinter Wren hervor.
Sofort war der Wisteron wach. Seine Arme ließ er um sein Netz geklammert, der Kopf drehte sich auf einem dicken, knochenlosen Stiel, während seine schwarzen, spiegelnden Augen die Umgebung absuchten. Faun, der auf die Erschütterungen und den Ausbruch nicht vorbereitet gewesen war und gerade die Wand der Schlucht emporschoß, verlor seinen Halt und fiel wieder zurück. Knochen klapperten, als der Ruhkstab hinabfiel. Das Zischen des Wisteron war so laut wie das des Geysirs. Er wob sich mit rasender Geschwindigkeit ein Gewebe und glitt abwärts, halb Spinne, halb Affe und doch in allem ein Monster.
Aber Garth war schneller. Er stieg mit der Schnelligkeit eines Schattens, der bei Nacht von einer vorüberziehenden Wolke herabfällt, über den Rand der Schlucht hinab. Geschwind wie das Licht sprang er den felsigen Vorsprung hinab und ließ sich dann die letzten Dutzend Fuß hinabfallen, ohne abzubremsen. Er landete in einem Gewirr zerbrochener Knochen, streckte die Hand nach dem Ruhkstab aus und riß ihn an sich. Faun kletterte bereits in die Sicherheit seines breiten Rückens. Garth wirbelte herum, um wieder hinaufzusteigen, doch der Schatten des Wisteron senkte sich über ihn, und das Ungeheuer wob sein Netz weiter nach, um ihn zu erdrücken.
Wren sprang auf. Ihre Hand öffnete sich, ihr Arm stieß nach vorne, und sie rief die Macht der Elfensteine an. Schnell wie ein Gedanke reagierten sie und schlugen mit einem gewaltigen Strahl zu. Der traf den Wisteron noch beim Abstieg, bohrte sich in ihn hinein wie eine wuchtige Faust. Wren spürte bei diesem Schlag alle Kraft aus sich herausfließen. In ihrer Entschlossenheit Garth zu retten, hielt sie nichts zurück. Heitere Erleichterung durchströmte sie augenblicklich wieder und war dann fort. Sie stöhnte entsetzt auf und drohte zusammenzubrechen, so daß Triss sie um die Taille faßte. Stresa schrie ihnen zu, sie sollten laufen.
Garth stemmte sich über den Rand der Schlucht hoch. Sein Gesicht war schweißüberströmt und grimmig und er trug den Ruhkstab in einer Hand und Faun in der anderen. Der Baumschreier floh zitternd zu Wren. Auf Händen und Knien krochen sie in panischer Angst durch die Bäume zurück, erhoben sich, um durch die morastige Senke zu rennen.
Wren warf einen wilden Blick über die Schulter zurück.
Wo war der Wisteron?
Gleich darauf erschien er. Er kam nicht zwischen den Bäumen hindurch, wie sie es erwartet hatte, sondern von oben. Er kam durch die Wipfel, drängte sich als graue Wolke in ihr Blickfeld und fiel auf sie wie ein Stein. Triss warf sich auf Wren und stieß sie beiseite, denn sonst wäre sie zerschmettert worden. Stresa verwandelte sich in einen Stachelball und wurde fortgestoßen. Der Wisteron zischte. Einer seiner Klauenfüße war mit den Stacheln des Stachelkaters gespickt. Und dann landete er geduckt. Garth ließ den Stab fallen und wandte sich ihm mit gezogenem Breitschwert zu. Mit beiden Händen schlug der große Fahrende auf das Gesicht des Wisteron ein, verfehlte es aber, da sich die Bestie zurückzog. Gleich darauf spie das Monster Garth an. Sein Speichel war wie ein dampfender Schaum, der wie Feuer durch die Luft brannte. »Gift!« schrie Stresa von einer Stelle aus, wo sein Ruf wie aus einem tiefen Brunnen zu kommen schien. Garth fiel zu Boden und blieb flach auf dem schlammigen Untergrund liegen.
Im selben Augenblick griff der Wisteron an.
Wren kam mit ausgestreckten Armen wieder auf die Füße. Die Elfensteine flackerten, und die Magie antwortete. Feuer erhob sich gegen den Wisteron und stieß ihn in einer Rauch- und Dampfwolke fort. Mit einem triumphierenden Schrei folgte sie ihm, als er davontaumelte, ein roter Dunst hing vor ihren Augen, und die Macht der Magie brauste wieder durch sie hindurch. Sie konnte nicht denken, sie konnte nur reagieren. Alle Magie sammelte sie in sich und griff dann an. Das Feuer traf den Wisteron wieder und wieder, schlug ihn und verbrannte ihn. Das Monster zischte und schrie, kroch davon und kämpfte um einen Halt. Aus den Augenwinkeln sah Wren, wie Garth taumelnd wieder hochkam. Mit einer Hand ergriff er den herabfallenden Ruhkstab, mit der anderen das Breitschwert. Über und über war er mit Schlamm bedeckt. Wren sah ihn und vergaß ihn dann wieder. Die Magie war ein Schleier, der sie einhüllte und forttrug. Die Magie war eine Kraft, die sie mit Staunen und Aufregung und weißer Glut erfüllte. Sie war unbesiegbar, sie war die Größte!
Aber dann verließen ihre Kräfte sie plötzlich wieder, sie fühlte sich ausgelaugt, und das Feuer in ihrer Hand erstarb. Sie schloß schützend ihre Finger um die Steine und fiel auf ein Knie. Garth und Triss waren sofort beide bei ihr, zogen sie fort, stützten sie, als sei sie ein Kind, und rannten mit ihr zurück durch die Senke. Faun kam aus dem Nichts, kletterte ihr Bein hinauf und verbarg sich an ihrer Schulter. Stresa stieß noch immer Warnrufe aus, doch seine Worte waren unverständlich, da seine Stimme von irgendwo hinter ihnen aus einem Gewirr welker Pflanzen kam.
Dann schoß der Wisteron aus dem Dunst heraus, verbrannt und rauchend und den sehnigen Körper ausgestreckt wie bei einem Wolf auf der Flucht. Er drang auf sie ein, und sie wurden alle zu Boden geschleudert. Wren richtete sich im Schatten des Monsters taumelnd auf Hände und Knie auf. Sie war halb betäubt und noch immer schwach und hatte Schlamm in den Augen und im Mund. Ihre Beschützer kämpften verzweifelt darum, sie zu retten. Garth stand breitbeinig über ihr und schwang das Breitschwert in tödlichem Bogen. Teile des Wisteron flogen umher, als er den großen Fahrenden zurückdrängte. Dann griff Triss an, schlug wild um sich und schnitt eines der Beine des Monsters unter ihm heraus, wobei das Knirschen der Knochen zu hören war. Rufe und Schreie erfüllten die übelriechende Luft.
Aber der Wisteron war der größte und stärkste aller Dämonen von Morrowindl, das gewaltigste aller Schattenwesen, die durch den fehlerhaften Gebrauch der Elfenmagie entstanden waren. Er konnte sich mit ihnen allen messen. Er wehrte sich mit einem Schlag seines Schwanzes gegen Triss und stieß ihn dreißig Fuß weit fort, wo er zusammengekrümmt liegenblieb. Als Garth ein schneller Streich auf den Kopf des Wisteron mißlang, schlitzte die Bestie seine Kleidung und Haut mit einer schwarzen Klaue auf und stieß das Breitschwert fort. Garth hatte sofort sein Kurzschwert zur Hand, aber ein zweiter Stoß ließ ihn zurücktaumeln, wobei er über Wren stolperte und hilflos auf dem Rücken landete.
Ohne Faun wären sie verloren gewesen. In panischer Angst um Wren, die jetzt ungeschützt vor dem Wisteron lag, warf sich der Baumschreier in das Gesicht des Monsters, ein schreiender Fellball, dessen winzige Hände an der Bestie zogen und rissen. Der Wisteron war überrascht und benommen von dem Angriff, wich instinktiv aus und zog sich zurück. Er griff nach dem Baumschreier, um diesen unbedeutenden Angreifer zu zerquetschen, aber Faun war zu schnell und kletterte bereits über seinen gefurchten Rücken hinab. Der Wisteron fuhr erzürnt herum und versuchte ihn zu fangen.
Steh auf! befahl Wren sich und kämpfte um festen Stand. Die Elfensteine lagen weißglühend in ihrer geschlossenen Hand.
Dann war Garth zerrissen und blutend wieder zurück, und das Breitschwert schimmerte vor dem Licht. Ein schwerer Schlag warf den Wisteron auf zwei Beine zurück. Ein zweiter trennte ihm fast einen Arm ab. Die Bestie zischte und wand sich und rollte sich zusammen wie eine Schlange. Faun sprang herab und schoß davon. Garth schwang das Breitschwert in tödlichem Bogen, die Klinge senkte sich herab, stieß zu und zerschnitt die Luft.
Wren taumelte auf die Füße. Die weiße Glut der Elfensteine übertrug sich von ihrer Hand auf ihre Brust und drang dann tief in ihr Herz.
Vor ihr lag der Ruhkstab. Er war Garth aus der Hand gefallen.
Der Wisteron fuhr plötzlich herum und spie einen Strom flüssigen Giftes auf Garth. Dieses Mal war der große Mann nicht schnell genug, die Bestie traf ihn an der Brust, und es brannte wie Säure. Er fiel schmerzgequält in den Schlamm und rollte umher, um sich davon zu befreien.
Der Wisteron war sofort über ihm. Eines seiner Glieder mit Klauen nagelte ihn auf den Boden, und er begann zuzudrücken.
Beide Hände um die Elfensteine gewölbt, rief Wren das Feuer ein letztes Mal hervor. Es brach mit solcher Macht aus ihr heraus, daß es sie zurückstieß wie der Schlag einer Faust. Der Wisteron wurde direkt getroffen, wie totes Holz hochgerissen und hilflos fortgeschleudert. Feuer hüllte ihn ein und umgab ihn mit einem wütenden Inferno. Wren drängte vorwärts. Die weiße Glut der Magie spiegelte sich jetzt auch in ihren Augen. Noch immer kämpfte der Wisteron darum, wieder freizukommen, kämpfte darum, das Mädchen zu erreichen. Zwischen ihnen erhob sich Garth auf Hände und Knie. Blutüberströmt hielt er die zerbrochene Klinge seines Breitschwerts mit einer Hand umklammert. Für Wren verlangsamte sich alle Bewegung ringsum wie in einem Traum, der nur in ihrem Bewußtsein stattfand. Triss war ein vager Umriß, der aus dem Nebel herausstolperte, Stresa eine Stimme ohne Körper, Faun eine Erinnerung und die Welt ein wabernder, unendlicher Dunst. Garths dunkle Augen schauten aus seiner zerrissenen, zerbrochenen Gestalt zu ihr herauf. Zu ihren Füßen lag der Ruhkstab mit dem Loden, die letzte Hoffnung des Elfenvolkes, ihr schützender Behälter, ihre Chance zum Leben. Sie tat das alles achselzuckend ab und verbarg sich in der Macht der Elfensteine, in der Magie ihres Blutes, formte und lenkte sie und erkannte diesen dunklen Ort als ihre letzte Chance zu überleben.
Vor ihr kam der Wisteron schwankend wieder auf die Füße.
Hilf mir! schrie sie in der Stille ihres Bewußtseins auf.
Dann lenkte sie das Feuer auf den Morast, auf dem der Wisteron stand, und schmolz ihn zu einer trüben Lache, zu einem Sumpf, der so flüssig und nachgiebig war wie Treibsand. Der Wisteron machte eine Bewegung nach vorn und versank bis zu den Knien. Der Schlamm bildete Blasen, spuckte wie bei einem Ausbruch Killeshans und saugte an dem Wesen, das darin zappelte. Der Wisteron zischte und spie und kämpfte darum, wieder freizukommen. Aber sein Gewicht war zu groß und zog ihn hinab. Seine Beine konnten keinen Halt mehr finden. Die Elfensteine brannten um ihn herum, durchweichten den Schlamm tiefer und tiefer und hoben unter ihm eine bodenlose Grube aus. Der Wisteron schlug in Panik um sich, sank aber unaufhörlich weiter hinab. Er schrie, und dieser Klang ließ die Luft zu Stille gefrieren.
Dann schloß sich der Schlamm über ihm, die aufgewühlte Oberfläche glühte orange und gelb vom Feuer, und er war fort.