21

In der Südwache flog die Zeit davon wie eine Wolke über den blauen Sommerhimmel, und Coll Ohmsford konnte nur hilflos zusehen, wie sie verging. Seine Gefangenschaft hielt unverändert an, sein Leben eine quälende Aufeinanderfolge von Langeweile und Anspannung. Er konnte seine Gedanken schweifen lassen, doch das führte zu nichts. Er träumte von der Vergangenheit, von dem Leben, das er im Vale genossen hatte, und von der Welt, die außerhalb der schwarzen Mauern seiner Beschränkung lag, aber seine Träume waren mit der Zeit zerfallen und verblaßt. Niemand kam zu ihm. Er begann zu akzeptieren, daß es auch nie jemand tun würde.

Er verbrachte seine Zeit im Übungshof und kämpfte mit Ulfkingroh, dem gedrungenen, narbenübersäten, wortkargen Burschen, dessen Obhut Rimmer Dall ihn übergeben hatte. Ulfkingroh war so hart wie Stahl, und er bearbeitete Coll, bis er dachte, er würde sterben. Mit gepolsterten Keulen, schweren Stäben, stumpfen Schwertern und bloßen Händen übten und trainierten sie wie Kämpfer vor einer Schlacht. Manchmal den ganzen Tag und häufig so hart, daß sie schwitzten und der Staub, den sie im Hof aufwirbelten, in schwarzen Streifen von ihren Körpern rann. Ulfkingroh war natürlich ein Schattenwesen – aber er schien keines zu sein. Er schien ein normaler Mensch zu sein, wenn auch härter und finsterer. Manchmal hatte Coll ihn fast gern. Er sprach wenig und war zufrieden damit, sein Können an den Waffen für sich sprechen zu lassen. Er war ein geschickter und erfahrener Kämpfer, und es machte ihn stolz, daß er das, was er konnte, an Coll weitergeben konnte. Und der machte seinerseits das Beste aus der Situation, indem er Nutzen aus der einzigen Ablenkung zog, die ihm erlaubt war, und von dem, was der andere ihn zu lehren bereit war, lernte, was er konnte. Daher tat er so, als bedeute jeder Kampf etwas, und hielt sich für die Zeit bereit, wenn das wirklich der Fall sein würde.

Denn früher oder später, das versprach er sich selbst wieder und wieder, würde er seine Chance zur Flucht bekommen.

Er dachte ständig daran. Er dachte an kaum etwas anderes.

Wenn niemand wußte, daß er dort war, wenn niemand kam, um ihn zu retten, dann war es eindeutig seine Sache, sich selbst zu befreien. Coll war in der Art aller Bewohner des Vale erfinderisch und vertraute darauf, daß er schon einen Weg finden würde. Und er war geduldig, ja Geduld war vielleicht seine wichtigste Eigenschaft. Er wurde bewacht, wann immer er aus seiner Zelle herauskam, wann immer er in den dunklen Gängen des Monolithen zu dem Übungshof hinabschritt und wann immer er wieder hinaufstieg. Es war ihm gestattet, im Übungskampf mit Ulfkingroh so lange zu bleiben, wie er wollte, und es war ihm auch erlaubt, soviel Zeit mit dem rauhen Burschen zu verbringen, daß er ihn in ein Gespräch verwickeln konnte. Aber er wurde immer bewacht. Er konnte sich keinen Fehler leisten.

Dennoch bezweifelte er nie, daß er einen Weg finden würde.

Er sah Rimmer Dall nur zweimal, nachdem der Sucher ihn in seiner Zelle besucht haue. Jedesmal hatte er sich ferngehalten und nur einen unerwarteten, kurzen Blick auf ihn geworfen und war dann wieder verschwunden. Jedes Mal waren die kalten Augen alles, woran er sich hinterher erinnern konnte. Coll hielt zuerst überall Ausschau nach ihm, bis er erkannte, daß das zu einer Art Besessenheit wurde und er damit aufhören mußte. Aber er hörte niemals auf, daran zu denken, was der große Mann ihm gesagt hatte, daran, daß Par auch ein Schattenwesen war und daß die Magie ihn verschlingen würde, wenn er die Wahrheit seiner Identität nicht akzeptierte, und daß er in seinem Wahnsinn eine Gefahr für seinen Bruder sei. Coll glaubte nicht, was Rimmer Dall ihm erzählt hatte – und doch konnte er sich auch nicht dazu bringen, es vollständig zu leugnen. Die Wahrheit, so sagte er sich, lag irgendwo dazwischen, in dieser grauen Zone zwischen Vermutungen und Lügen. Aber die Wahrheit war schwer zu erkennen, und hier drinnen würde er sie nie erfahren. Rimmer Dall hatte seine eigenen Gründe für das, was er tat, und er würde sie Coll nie verraten. Was auch immer es war, was auch immer die Realität der Schattenwesen und ihrer Magie war, Coll war überzeugt davon, daß er seinen Bruder finden mußte.

Also trainierte er am Tage im Übungshof, lag bei Nacht wach und erwog alle Möglichkeiten und verdrängte dabei die ganze Zeit den quälenden Gedanken, daß vielleicht nichts so eintreten würde. Als er eines Tages wieder einmal mit Ulfkingroh trainierte, mehrere Wochen nachdem er aus seiner Zelle freigelassen worden war, erblickte er Rimmer Dall, wie er einen Weg zwischen zwei Nischen hinabging. Zuerst sah es so aus, als sei ein Teil von ihm abgeschnitten. Dann erkannte er, daß der Erste Sucher etwas über seinen Arm gelegt hatte – etwas, das zunächst wie nichts erschien, weil es so schwarz war, daß es an einen Teil einer Neumondnacht erinnerte. Coll verhielt seinen Schritt, trat dann zurück und beobachtete. Ulfkingroh knurrte verärgert und schaute dann über seine Schulter zurück, um zu sehen, was ihn abgelenkt hatte.

»Huh!« grunzte er, als er sah, wohin Coll schaute. »Da ist nichts, was dich etwas angeht. Nimm die Hände hoch.«

»Was trägt er da?« drängte Coll.

Ulfkingroh stieß seinen Stab auf den Boden und lehnte sich mit demonstrativer Geduld darauf. »Einen Umhang. Er wird Spiegeltuch genannt. Siehst du, wie schwarz er ist? Siehst du, wie er das Licht fortnimmt, genau wie ein Fleck schwarzer Tinte? Schattenwesenmagie, kleiner Bursche.« Das rauhe Gesicht verzog sich unter dem Anflug eines Lächelns. »Weißt du, was er tut?« Coll schüttelte den Kopf. »Du weißt es nicht? Gut! Du sollst es ja auch nicht wissen! Jetzt nimm die Hände hoch!«

Sie fuhren mit dem Training fort, und Coll, der keineswegs ein kleiner Bursche und jeden Zoll so groß und stark wie Ulfkingroh war, nahm gewissermaßen Rache, indem er den anderen so hart schlug, daß der hinfiel und einige Minuten lang wie betäubt war.

In dieser Nacht lag Coll wach, weil er über das Spiegeltuch nachdachte und sich fragte, wozu es dienen mochte. Es war das erste greifbare Stück von Schattenwesenmagie, das er je gesehen hatte. Es gab natürlich noch andere Arten der Magie, aber die wurden vor ihm verborgen. Das Größte und Wichtigste war etwas, das tief im Inneren des Turmes eingesperrt war, das brummte und klopfte und manchmal fast so klang, als würde es schreien, etwas Riesiges und sehr Erschreckendes. Er stellte sich darunter immer einen Drachen vor, den die Schattenwesen hatten anketten können, aber er wußte, daß es so einfach nicht sein konnte. Was auch immer es war, es war weit beeindruckender und schrecklicher als das. Es gab auch noch andere Wesen, die hinter den Türen eingeschlossen waren, die ihm verboten waren. Andere waren in den Katakomben verborgen, die er niemals betreten konnte. Er konnte ihre Gegenwart spüren, ihr Vorbeistreichen an seiner Haut, ihr Flüstern in seinem Geist. Alles Magie, Beschwörungen der Schattenwesen und Zauber, dunkle und böse Dinge.

Oder auch nicht, wenn man Rimmer Dall glauben sollte. Aber er glaubte dem Ersten Sucher natürlich nicht. Er hatte ihm niemals geglaubt.

Dennoch wunderte er sich.

Zwei Tage später erschien der Erste Sucher aus den Schatten einer Tür, als er gerade im Hof eine Pause machte und der Schweiß noch immer wie Öl auf seinem Körper glänzte, und kam direkt auf ihn zu. Über einem Arm trug er das Spiegeltuch wie eine Falte gestohlener Nacht. Ulfkingroh sprang sofort auf, aber Rimmer Dall entließ ihn mit einem Winken seiner behandschuhten Hand und bedeutete Coll, er solle ihm folgen. Sie gingen vom Licht zurück in die kühleren Schatten, heraus aus der Mittagssonne, fort von ihrem Glanz. Coll zwinkerte und blinzelte, während sich seine Augen darauf einstellten. Das Gesicht des anderen bestand in dem schwachen, grauen Licht ganz aus Runzeln und Flächen, die Haut war tot und kalt, aber die scharfen Augen waren durchdringend.

»Du trainierst hart, Coll Ohmsford«, sagte er mit seiner charakteristischen, flüsternden Stimme. »Ulfkingroh verliert jeden Tag mehr an Boden gegen dich.«

Coll nickte wortlos und wartete darauf, daß der andere ihm mitteilen würde, was er eigentlich hatte sagen wollen.

»Es geht um den Umhang«, sagte Rimmer Dall wie als Antwort. »Es ist an der Zeit, daß du erfährst, wozu er dient.«

Coll konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Warum?«

Der andere schaute fort, als überlege er die Antwort. Die behandschuhte Hand hob sich und fiel wieder herab wie eine schwarze Sense. »Ich habe dir erzählt, daß dein Bruder in Gefahr sei und du daher auch in Gefahr seist, und das alles wegen der Magie und wegen dem, was sie vermag. Ich hatte geplant, dich dafür zu benutzen, deinen Bruder zu mir zu locken. Ich ließ es bekannt werden, daß du hier bist. Aber dein Bruder bleibt in Tyrsis und will nicht zu dir kommen.«

Er hielt inne und wartete auf Colls Reaktion. Colls Gesicht war eine ausdruckslose Maske.

»Die Magie, die er in sich birgt«, flüsterte der Erste Sucher, »die Magie, die im Wunschgesang verborgen liegt, beginnt ihn zu verschlingen. Er hat es vielleicht noch gar nicht bemerkt. Er versteht es vielleicht nicht. Du hast diese Magie in ihm gespürt, nicht wahr? Du weißt, daß sie da ist?«

Er zuckte die Achseln. »Ich hatte vorgehabt, mit ihm zu reden, falls ich ihn finden würde. Ich glaube jetzt, daß er sich vielleicht weigern wird, mir zuzuhören. Ich hatte gehofft, daß es die Dinge voranbringen würde, daß ich dich in der Südwache habe. Anscheinend war das nicht der Fall.«

Coll atmete tief ein. »Ihr wart ein Narr, wenn Ihr glaubtet, Par würde herkommen. Und ein noch größerer Narr, wenn Ihr dachtet, Ihr könntet mich dazu benutzen, ihn zu fangen.«

Rimmer Dall schüttelte den Kopf. »Du glaubst mir noch immer nicht, nicht wahr? Ich will dich beschützen, nicht benutzen. Ich will deinen Bruder retten, solange noch Zeit dazu ist. Er ist ein Schattenwesen, Coll. Er ist wie ich, und seine Magie ist eine Gabe, die ihn entweder retten oder zerstören kann.«

Eine Gabe. Par hatte dieses Wort oft gebraucht, dachte Coll betrübt. »Dann laßt mich zu ihm gehen. Gebt mich frei.«

Der große Mann verzog die Mundwinkel und lächelte. »Das habe ich auch vor. Aber nicht, bevor ich deinem Bruder noch einmal gegenübergetreten bin. Ich denke, das Spiegeltuch wird es mir ermöglichen. Das ist die Magie der Schattenwesen – eine sehr mächtige Magie. Es hat lange Zeit gedauert, bis ich sie zu benutzen verstand. Wer auch immer den Umhang trägt, erscheint denjenigen, denen er begegnet, als jemand, den sie kennen und dem sie vertrauen. Er verbirgt, wer sie in Wahrheit sind. Er verbirgt ihre Identität. Ich werde ihn tragen, wenn ich mich auf die Suche nach deinem Bruder begebe.« Er hielt inne. »Du könntest mir dabei helfen. Du könntest mir sagen, wo ich ihn vielleicht finden kann, wo er deiner Meinung nach sein könnte. Ich weiß, daß er in Tyrsis ist. Aber ich weiß nicht, wo genau. Wirst du mir helfen?«

Coll war skeptisch. Wie konnte Rimmer Dall auch nur daran denken, ihn so etwas zu fragen? Aber der große Mann schien sich seiner selbst so sicher, als habe er mit allem recht, als kenne er die Wahrheit weit besser als Coll.

Coll schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo Par ist.«

Eine langen Augenblick lang reagierte Rimmer Dall überhaupt nicht, sondern stand nur da und sah Coll an. Mit harten Augen fixierte er ihn aufmerksam, als wäre die Lüge auf seinem Gesicht abzulesen.

»Ich werde ein anderes Mal erneut fragen«, sagte er schließlich. Die schweren Stiefel schabten über den Fels des Gehweges. »Kehre zu deinem Training zurück. Ich werde ihn selbst finden, auf die eine oder andere Weise. Wenn es soweit ist, werde ich dich freilassen.«

Er wandte sich ab und ging davon. Coll sah ihm nach. Er beobachtete jedoch nicht den Mann, sondern betrachtete den Umhang, den er trug, und dachte: Wenn ich nur fünf Sekunden lang diesen Umhang bekommen könnte...

Er dachte noch immer darüber nach, als er am nächsten Tag erwachte. Ein Umhang, der die Identität des Trägers vor denjenigen verbergen konnte, denen er begegnete, der ihn als jemanden erscheinen ließ, dem sie vertrauen konnten – hier war vielleicht ein Weg, der ihn aus der Südwache herausführen könnte. Rimmer Dall stellte sich das Spiegeltuch vielleicht als ein Versteck vor, das es ihm erlauben würde, Par eine Falle zu stellen, aber Coll hatte eine weit bessere Idee für den Gebrauch der Magie. Wenn er in den Besitz des Umhanges gelangen und ihn anlegen könnte... Seine Erregung über seine Idee erlaubte es ihm nicht, den Gedanken zu beenden. Er überlegte, wie er es wohl schaffen könnte, und sein Verstand arbeitete, während er sich anzog, die Länge seiner Zelle durchschritt und auf sein Frühstück wartete. Dann kam ihm einen Moment lang in den Sinn, daß es außerordentlich leichtsinnig von Rimmer Dall gewesen war, ihm die Magie zu zeigen, wo die Schattenwesen doch so bemüht waren, derartiges zu verbergen. Aber andererseits war der Erste Sucher ja wohl erpicht auf seine Hilfe, Par auszumachen, und der Umhang war nutzlos, wenn sie Par nicht fanden. Wahrscheinlich hatte Dall gehofft, Coll einfach überreden zu können, indem er ihn wissen ließ, daß er solche Magie besaß.

Doch dann wurde dieser Gedanke plötzlich von einem anderen verdrängt. Was, wenn der Umhang ein Trick war? Wie konnte er sichergehen, daß das Spiegeltuch auch tat, was von ihm gefordert wurde? Welchen Beweis hatte er? Er schreckte auf, als sein metallener Essensnapf durch den Türschlitz am Fußboden glitt. Er starrte einen Moment lang hilflos vor sich hin und zögerte. Warum sollte der Erste Sucher jedoch lügen? Was konnte er damit gewinnen?

Die Fragen quälten und überwältigten ihn schließlich, und er schob sie beiseite, um sein Frühstück zu sich zu nehmen. Als er das beendet hatte, ging er hinunter in den Übungshof, um mit Ulfkingroh zu trainieren. Er mußte erneut mit Rimmer Dall sprechen und mehr über den Umhang und seine Magie herausfinden. Aber er konnte es sich nicht leisten, allzu interessiert zu wirken. Er konnte nicht zulassen, daß der Erste Sucher sein wahres Motiv erriet. Das bedeutete, daß er warten mußte, bis Rimmer Dall zu ihm kam.

Aber der Erste Sucher erschien weder an diesem noch am nächsten Tag, und erst drei Tage später, als Coll bei Einsetzen der Dämmerung erschöpft zurück in seine Zelle schlich, materialisierte er sich aus den Schatten und schloß sich ihm an.

»Hast du noch einmal darüber nachgedacht, ob du mir nicht helfen willst, deinen Bruder zu finden?« fragte er beiläufig, und sein Gesicht versenkte sich in die Kapuze seines schwarzen Umhanges.

»Ein wenig«, räumte Coll ein.

»Die Zeit vergeht schnell, Bewohner des Vale.«

Coll zuckte angelegentlich die Achseln. »Es bereitet mir Mühe, alles zu glauben, was Ihr mir erzählt. Ein Gefangener wird selten aufgefordert, seinem Gefängniswärter zu vertrauen.«

»Nein?« Coll konnte das düstere Lächeln des anderen fast spüren. »Ich hätte gedacht, es wäre genau umgekehrt.«

Sie gingen ein paar Schritte schweigend nebeneinander, und Colls Gesicht brannte vor Wut. Er wollte den anderen herausfordern, wo er ihn so nahe hatte. Sie waren allein in diesen dunklen Gängen, nur sie beide. Er unterdrückte die Versuchung, denn er wußte, wie dumm es wäre, dieser jetzt nachzugeben.

»Ich glaube, Par würde die Magie des Spiegeltuches durchschauen«, sagte er schließlich.

Dall schaute ihn an. »Wie?«

Coll atmete tief ein. »Seine eigene Magie würde ihn warnen.«

»Du glaubst also, es würde mir nicht gelingen, nahe genug an ihn heranzukommen, um auch nur mit ihm sprechen zu können?« Die flüsternde Stimme war heiser und leise.

»Das frage ich mich«, erwiderte Coll.

Dall blieb stehen und wandte sich ihm zu. »Wie wäre es, wenn ich die Magie an dir ausprobieren würde? Dann könntest du dir dein eigenes Urteil bilden.«

Coll runzelte die Stirn und verbarg die freudige Erregung, die plötzlich in ihm aufwallte. »Ich weiß nicht. Es hat vielleicht nichts zu bedeuten, wenn sie an mir funktioniert.«

Die behandschuhte Hand hob sich, eine hagere Schwärze, die das Licht aus der Luft stahl. »Warum läßt du es mich nicht versuchen? Was kann schon passieren?«

Sie gingen den Gang hinab und ein Dutzend Treppenfluchten hinauf, bis sie nur wenige Stockwerke unterhalb der Zelle waren, in der Coll gefangengehalten wurde. An einer Tür mit einem Wolfkskopf und roten Buchstaben, die Coll nicht entziffern konnte, zog Rimmer Dall einen Schlüssel hervor, steckte ihn in ein schweres Schloß und stieß die Tür auf. Innen gab es ein einziges Fenster, durch das ein schmales Band Sonnenlicht auf einen hohen, hölzernen Kabinettschrank fiel. Rimmer Dall ging zu dem Schrank, öffnete die Doppeltüren und nahm das Spiegeltuch heraus.

»Sieh einen Moment von mir fort«, befahl er.

Coll wandte den Kopf ab und wartete.

»Coll«, erklang eine Stimme.

Er wandte sich wieder um. Dort stand sein Vater Jaralan, groß und gebeugt, in seiner geliebten Lederschürze, die er für seine Holzarbeiten benutzte. Coll blinzelte ungläubig und sagte sich, daß das nicht sein Vater sei, daß es Rimmer Dall sei, und doch war es sein Vater, den er sah.

Dann machte sein Vater eine Bewegung, um die Schürze auszuziehen, und die verwandelte sich sofort in das Spiegeltuch, und dann stand wieder Rimmer Dall vor ihm.

»Wen hast du gesehen?« fragte der Erste Sucher sanft.

Coll zögerte mit seiner Antwort. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube immer noch, daß Par Euch erkennen wird.«

Rimmer Dall betrachtete ihn einen Moment. Sein großes, grobknochiges Gesicht war flach und leer und die seltsamen Augen so hart wie Stein. »Ich möchte, daß du über etwas nachdenkst«, sagte er schließlich. »Erinnerst du dich an jene bemitleidenswerten Wesen in der Grube in Tyrsis, die durch die Gefangenschaft bei der Föderation verrückt wurden und dann von ihrer Magie verschlungen wurden? Das ist es, was deinem Bruder droht. Es geschieht vielleicht nicht heute oder morgen oder nächste Woche oder auch nächsten Monat, irgendwann aber wird es geschehen. Und wenn es erst einmal geschieht, wird es keine Hilfe mehr für ihn geben.«

Coll kämpfte darum, daß seine Angst nicht in seinen Augen sichtbar wurde.

»Ich möchte, daß du auch über noch etwas anderes nachdenkst: Alle Schattenwesen haben die Macht, einzudringen und zu vernichten. Sie können die Körper anderer Wesen bewohnen und ihre Identität annehmen, so lange es nötig ist.« Er hielt inne. »Ich könnte du werden, Coll Ohmsford. Ich könnte so leicht wie eine Messerklinge unter deine Haut schlüpfen und dich besitzen.« Rimmers rauhes Flüstern war ein Zischen vor der Stille. »Aber das möchte ich nicht tun, weil ich dich nicht verletzen will. Ich habe die Wahrheit gesagt, als ich dir erzählte, daß ich deinem Bruder helfen will. Du mußt für dich selbst entscheiden, ob du mir glaubst oder nicht, aber denke erst einmal über das nach, was ich dir gerade gesagt habe.«

Er wandte sich um, legte das Spiegeltuch in den Schrank zurück und schloß die Tür. Ob er ärgerlich oder enttäuscht oder etwas anderes war, war schwer zu sagen, aber sein Schritt war entschlossen, als er Coll aus dem Raum führte und die Tür hinter ihnen zuzog. Coll lauschte auf das Einschnappen des Schlosses, aber er hörte es nicht. Rimmer Dall entfernte sich bereits, so daß Coll ihm schnell folgte. Der Erste Sucher führte ihn zu einer Treppe und deutete hinauf.

»Dein Quartier liegt dort oben. Denke sorgfältig nach«, warnte er, »denn du spielst durch dein Zögern mit zwei Leben.«

Coll wandte sich wortlos um und sah die Treppe hinauf. Als er ein Dutzend Schritte später über seine Schulter zurückschaute, war Rimmer Dall verschwunden.

Es gab noch immer Licht, wenn auch nur schwach, als er wieder den Gang entlang zu den Treppen ging und dann durch die Schatten hinab zum Übungshof. Er hatte dort seine Tunika vergessen. Er brauchte sie natürlich nicht, aber sie lieferte ihm den Vorwand, den er brauchte, um herauszufinden, ob die Tür zu dem Raum, in dem sich das Spiegeltuch befand, unverschlossen geblieben war.

Sein Atem klang in der Stille hastig und rauh, als er hinunterlief. Es war eine verwegene Sache, die er vorhatte, aber seine Verzweiflung war zu groß geworden. Wenn er nicht bald freikam, würde Par etwas Schlimmes zustoßen. Daß er davon überzeugt war, basierte zwar hauptsächlich auf Vermutung und Angst, seine Befürchtungen waren dadurch aber nicht weniger real. Er wußte, daß er nicht so klar denken konnte, wie er es sollte. Wenn er das getan hätte, hätte er sicher niemals erwogen, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Aber wenn das Schloß nicht wieder eingerastet war, wenn der Raum noch immer offen und das Spiegeltuch noch immer in seinem Schrank war und wartete...

Schritte erklangen irgendwo unter ihm, und er erstarrte an der Treppenwand. Die Schritte wurden einen Augenblick lauter und verklangen dann. Coll wischte seine Hände an seiner Hose ab und versuchte nachzudenken. In welchem Stockwerk war es? Vier, hatte er gezählt, nicht wahr? Er ging weiter, betrat den vierten Treppenabsatz nach unten, preßte seinen Körper gegen den Stein und spähte um die Ecke.

Der Gang vor ihm war leer.

Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und trat aus seinem Versteck. Er schlich schnell und leise durch den Gang und warf dabei ängstliche Blicke vor und hinter sich. Die Schattenwesen beobachteten ihn ständig. Ständig. Aber jetzt waren keine da, wie es schien, keine, die er sehen konnte. Er ging weiter. Er überprüfte im Vorbeigehen jede Tür. Ein Wolfskopf mit roten Buchstaben darunter – wo war er?

Wenn er gefangen war...

Dann war die Tür vor ihm, die er suchte, die Wolfsaugen schauten in seine eigenen. Er ging schnell darauf zu, legte sein Ohr daran und lauschte. Stille. Vorsichtig streckte er die Hand aus und drehte den Knauf.

Die Tür gab nach und öffnete sich. Coll ging hindurch.

Der Raum war leer bis auf den hölzernen Schrank, einen großen, geheimnisvollen Kasten, der an der entgegengesetzten Wand lehnte. Er konnte sein Glück kaum fassen. Schnell ging er zu ihm hinüber, öffnete ihn und griff hinein. Seine Hände schlössen sich um das Spiegeltuch. Vorsichtig nahm er es heraus und hob es in das graue Licht. Der Stoff war weich und dicht, der Umhang so leicht wie Staub. Seine Schwärze war beunruhigend, sie wirkte, als könne sie einen vollständig verschlingen. Er hielt den Umhang einen Moment vor sich, betrachtete ihn und erwog ein letztes Mal, ob das, was er vorhatte, wirklich ratsam war.

Dann warf er den Umhang schnell um seine Schultern, daß er ihn einhüllte. Er konnte ihn kaum spüren, da war nichts anderes als der Schatten, den er im verblassenden Tageslicht warf. Er band die Kordel um seinen Hals fest und zog die Kapuze über seinen Kopf. Er wartete hoffnungsvoll. Nichts schien anders geworden zu sein. Alles war gleich. Er wünschte plötzlich, er hätte einen Spiegel, um sich betrachten zu können, aber es war keiner da.

Nachdem er den Schrank hinter sich geschlossen hatte, durchquerte er den Raum und trat hinaus auf den Gang.

Er hatte nur wenige Schritte getan, als ein Schattenwesen auf der Treppe auftauchte.

Coll spürte sein Herz sinken. Er hatte keine Waffen, einfach nichts, um sich zu schützen, und keine Zeit und keinen Platz, um sich zu verbergen. Er ging weiter auf seinen Entdecker zu, da er einfach nicht wußte, was er sonst tun könnte.

Das Schattenwesen ging an ihm vorbei, ohne innezuhalten. Ein kurzes Nicken, ein kaum wahrnehmbares Anheben des dunklen Gesichts, und der andere war vorbei und ging weiter, als sei nichts geschehen.

Coll empfand ein Aufwallen freudiger Erregung und Erleichterung. Das Schattenwesen hatte ihn nicht erkannt! Er konnte es kaum glauben. Aber jetzt war keine Zeit, dieses Glück zu genießen. Wenn er der Südwache und Rimmer Dall jemals entkommen wollte, dann mußte es jetzt sein.

Er durchquerte die Gänge und stieg die Treppen in dem Monolithen hinab, mied hell erleuchtete Orte zugunsten dunklerer. Er kannte nur einen Weg, war dabei aber entschlossen, so wenig wie möglich aufzufallen, Umhang hin oder her. Seine Hände umklammerten schutzsuchend die dunklen Falten, und seine Augen suchten die Schatten ab, als der Tag in die Dämmerung überging. Er erreichte ungehindert den Übungshof. Waffen und Rüstungen standen in Gestellen und hingen auf Pflöcken, alles Metall daran schimmerte dumpf. Ulfkingroh war nirgends zu sehen. Coll nahm einige lange Messer und stopfte sie sich unter seinen Umhang. Er ging am Rande des offenen Geländes zu den Türen, die in die äußeren Höfe führten. Zwei Schattenwesen erschienen und gingen genau wie das andere zuvor gleichmütig an ihm vorbei. Coll spürte, wie sich seine Muskeln unter seiner Anspannung strafften, aber sein Vertrauen in das Spiegeltuch wuchs.

Er überlegte einen Augenblick, ob er in das Innere der Südwache hinabsteigen sollte, um herauszufinden, was die Schattenwesen dort verbargen. Aber er sagte sich, daß das Risiko zu groß war. Es war besser, so schnell wie möglich hier herauszukommen. Was auch immer geschah, er mußte freikommen.

Er eilte durch die Schatten des Zwielichts die Gänge entlang, die zu den äußeren Höfen führten. Er erreichte sie ohne Probleme, durchquerte sie und stand vor einer Außentür, bevor er es richtig bemerkte. Er schaute sich hastig um. Niemand war zu sehen.

Er drückte die Klinke hinunter, stieß die Tür auf und trat hinaus.

Er stand in einer Nische, die ihn vor der hereinbrechenden Nacht schützte. Vor ihm erstreckte sich silbrig schimmernd der Regenbogensee. Die Wälder, die ihn umgaben, waren eine dunkle, unregelmäßige Masse, die von Leben brummte und summte und den Geruch von Blättern, Erde und Gräsern süß in die Sommerluft sandte.

Coll Ohmsford atmete tief ein und lächelte. Er war frei. Er hätte lieber gewartet, bis es vollständig dunkel war, aber er konnte keine Verzögerung riskieren. Es würde nicht lange dauern, daß er vermißt wurde. Tief in das Riedgras geduckt, lief er aus den Schatten der Mauer unter die Bäume.

Vom Fenster eines verdunkelten Raumes aus, dreißig Fuß über ihm, beobachtete Rimmer Dall seinen Aufbruch.

Es hatte für Coll Ohmsford niemals eine Frage gegeben, wohin er gehen sollte. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch, die die Südwache vom Mermidon trennten, wählte eine ruhige Stelle ungefähr eine Meile stromaufwärts, durchschwamm den Fluß und zog dann in Richtung Tyrsis zu seinem Bruder. Er wußte zwar nicht, wie er Par finden sollte, wenn er die Stadt erst einmal erreicht hatte, aber darüber wollte er sich später Gedanken machen. Seine dringlichste Sorge war, daß die Schattenwesen bereits nach ihm suchten. Sie tauchten gleich nach seiner Flucht überall auf, schwarze Schatten, die wie Geister auf der Jagd leise und gespenstisch durch die Nacht schlichen. Aber wenn sie ihn sahen – und er war sicher, daß sie ihn gesehen haben mußten –, verbarg ihn das Spiegeltuch vor ihnen. Sie zogen an ihm vorbei, ohne innezuhalten und ohne Interesse zu zeigen, und verschwanden wieder, wie sie gekommen waren.

Aber es waren so viele!

Es war seltsam genug, daß der Umhang ihm ein erhöhtes Empfinden verlieh, wer und wo sie waren. Er konnte ihre Gegenwart spüren, bevor er sie sah, konnte sagen, aus welcher Richtung sie sich näherten, und im voraus erkennen, wie viele es waren. Er versuchte nicht, sich vor ihnen zu verbergen, denn wenn die Magie des Umhangs versagte, würden sie ihn sofort entdecken. Statt dessen versuchte er wie ein normaler Reisender zu wirken, hielt sich an das offene Grasland und an Wege, wenn er welche fand, schritt leicht und ungezwungen aus und versuchte, nicht verdächtig zu wirken.

Irgendwie gelang ihm das. Obwohl die Schattenwesen überall um ihn herum waren und ihn offensichtlich suchten, konnten sie anscheinend nicht herausbekommen, wo er war.

In der Dämmerung schlief er ein paar Stunden und nahm dann seine Reise bei Tagesanbruch wieder auf. Er dachte mehr als einmal daran, den Umhang abzulegen, aber die Nähe so vieler dunkler Wesen hielt ihn davon ab. Er sagte sich, daß es besser sei, kein Risiko einzugehen. Immerhin würde er, solange er ihn trug, nicht entdeckt werden.

Er begegnete auf seinem Weg auch anderen Reisenden. Niemand schien sich für den Mann zu interessieren, den sie in ihm sahen. Einige wenige grüßten ihn. Die meisten gingen einfach an ihm vorbei.

Er fragte sich, als was er ihnen erschien. Er erschien ihnen wohl kaum als jemand, den sie wiedererkannten, sonst hätten sie etwas gesagt. Sie mußten in ihm einen normalen Reisenden gesehen haben. Daher fragte er sich, warum Rimmer Dall in dem Umhang wie sein Vater ausgesehen hatte. Und er fragte sich auch, warum die Magie bei ihm anders wirkte.

Der erste Tag verging schnell, und er errichtete sein Lager unter einigen Eschen in Sichtweite des Runne. Die Sonne versank in einem rotgoldenen Farbfleck hinter den Westlandwäldern, und die warme Nachtluft war vom Geruch der Wildblumen des Graslandes durchdrungen. Er schürte ein Feuer und aß wilde Früchte und Gemüse. Er hatte ein Verlangen nach Fleisch, aber er wußte nicht, wie er welches fangen konnte. Die Sterne kamen hervor, und die Nachtgeräusche erstarben.

Wieder erschienen die Schattenwesen und suchten ihn. Manchmal kamen sie nahe heran – und daher zögerte er auch jetzt, den Umhang abzulegen. Er tat es lange genug, um sich zu waschen, wobei er darauf achtete, hinter den Bäumen verborgen zu bleiben, und zog ihn dann schnell wieder an. Er empfand es inzwischen bequemer, ihn zu tragen, weniger einengend und weniger ungewohnt. Tatsächlich begann er das Gefühl, unsichtbar zu sein, das der Mantel ihm verlieh, zu mögen.

Er zog beim ersten Tageslicht weiter, zog über das Grasland und den dunklen Rändern der Drachenzähne entgegen, die den blauen Horizont im Norden durchbrachen. An diesen Bergen lag Tyrsis, und dort war Par. Die Hitze dieses neuen Tages schien zuzunehmen, und er fühlte sich unwohl in dem Licht. Vielleicht sollte er in Zukunft nachts weiterziehen, beschloß er. Die Dunkelheit erschien ihm irgendwie weniger bedrohlich. Er suchte gegen Mittag Schutz im Schatten einiger Felsen und verbarg sich dort. Seine Gedanken wanderten und berührten viele Dinge, die jedoch gleich wieder vergessen waren, nachdem sie aus der Erinnerung aufgetaucht waren. Er kauerte sich hin, senkte seinen kapuzenbedeckten Kopf zwischen die Knie und schlief ein.

Bei Einbruch der Nacht verließ er sein Versteck. Er erjagte ein Kaninchen, indem er es in der Dunkelheit aufspürte und in seinen Bau trieb, als sei er eine Katze. Er grub mit seinen Händen nach dem Tier, tötete es und trug es zurück zu seinem Versteck in den Felsen. Dort aß er es, bevor es über dem kleinen Feuer zu Ende gebraten war. Danach saß er da, betrachtete die Knochen und fragte sich, welch ein Wesen es gewesen sein mochte.

Die Sterne und der Mond wurden an dem dunkel verhangenen Himmel immer heller. Irgendwo in der Ferne schrie eine Eule. Coll Ohmsford achtete nicht mehr auf Schattenwesen, die ihn jagen mochten. Irgendwie war es nicht mehr wichtig.

Als sich das Nachtdunkel vollständig ausgebreitet hatte, erhob er sich, trat das Feuer aus und kroch wie ein Tier aus seinem Versteck. Die Stadt war zwar noch weit entfernt, kam aber doch näher. Er konnte sie im Wind riechen.

In ihm war eine Wut, die er sich nicht erklären konnte. Da war ein Hunger. Irgendwie, obwohl er noch nicht sagen konnte wie, war er mit Par verbunden.

Schnell ging er nordwärts auf die Berge zu. Im Mondlicht schimmerten seine Augen blutrot.

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