27

Wrens Finger schlössen sich über den Elfensteinen, aber ihr war, als gehörten sie jemand anderem. Das Feuer flackerte zur Antwort noch einmal auf und erstarb dann. Sie stand einen Moment lang erstarrt auf ihrem Platz, ohne die Kraft zu irgendeiner Bewegung aufbringen zu können – mit leichtem Geist, schwebend, einen halben Schritt außerhalb der Zeit. Die Magie spuckte und zischte in ihr und schlug leicht gegen ihre Arme und Beine, so daß sie keuchte und zitterte. Sie hatte Mühe zu atmen, ihre Brust war zusammengepreßt, und ihre Kehle war trocken und rauh.

Vor ihr sanken die Flammen, die die Oberfläche der schlammigen Ebene versengt hatten, zu kleinen blauen Zungen zusammen und erstarben im Dampf. Garth kauerte noch immer auf Händen und Knien, den Kopf gesenkt, und seine Brust hob und senkte sich schwer. Überall um sie herum war der In Ju hohl und still.

Dann schoß Faun aus dem Nichts heran, kletterte ihren Arm hinauf und rieb sich an ihrem Nacken und ihrer Schulter, wobei er leise quiekte. Sie schloß die Augen, genoß sein warmes Fell, erinnerte sich daran, wie das kleine Wesen sie gerettet hatte, und dachte, was für ein Wunder es war, daß sie alle noch lebten.

Schließlich bewegte sie sich, zwang sich, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Sie wurde getrieben von ihrer Angst um Garth und von dem Anblick des vielen Blutes. Sie schob die letzten Spuren der heiteren Gelassenheit, die die Magie in ihr zurückgelassen hatte, beiseite und tastete sich an der Versuchung vorbei, die Macht erneut schmecken zu wollen. Schließlich ließ sie die Elfensteine in ihre Tasche gleiten und kniete sich schnell neben ihren Freund. Garth hob den Kopf, um sie anzusehen. Sein Gesicht war so schlammverschmiert, daß man ihn kaum erkannte, aber seine dunklen Augen schauten sie strahlend und sicher an.

»Garth«, flüsterte sie.

Er war auf der linken Seite von der Schulter bis zu den Rippen aufgeschlitzt worden, und seine Brust war von dem Gift schwarz verbrannt. Festgebackener Schlamm hatte den Blutfluß eingedämmt, aber die Wunden mußten gesäubert werden, damit sie sich nicht infizieren konnten.

Sie setzte Faun sanft ab, legte dann ihre Arme um Garth und versuchte ihm aufzuhelfen. Sie konnte ihn jedoch kaum bewegen.

»Wartet«, rief eine Stimme. »Ich helfe euch.«

Es war Triss, der aus dem Nebel herausgestolpert kam und kaum besser aussah als Garth. Er war mit Schlamm und Sumpfwasser bespritzt. Sein linker Arm hing lahm herab, und eine Seite seines Gesichts war blutüberströmt. Sein Kurzschwert hielt er noch immer in seiner rechten Hand. Der Hauptmann der Leibgarde schien sich seiner Verletzungen überhaupt nicht bewußt zu sein. Er legte sich Garths Arm um die Schultern und hob den großen Mann mit Schwung hoch. Wren stützte ihn auf der anderen Seite, und so überquerten sie die morastige Senke und gelangten zurück zu den uralten Akazien.

Auch Stresa kam langsam aus seinem Versteck hervor, seine Stacheln standen noch immer in alle Richtungen ab. »Hier entlang! Phffft! Hier hinein! In den Schatten!«

Sie trugen Garth zu einem Flecken trockener Erde neben einigen Baumwurzeln und legten ihn dort nieder. Wren schnitt schnell seine Tunika auf. Sie hatte nur noch wenig frisches Wasser übrig, verbrauchte aber fast alles, um seine Wunden zu reinigen. Den Rest gab sie Triss für sein Gesicht. Sie nahm einen Nähfaden und eine Nadel, um die klaffende Wunde zu schließen, und verband den großen Mann mit Stoffstreifen, die sie von ihrer Zusatzkleidung abriß. Garth betrachtete schweigend und regungslos ihr Werk, als versuche er, sich ihr Gesicht einzuprägen. Sie signalisierte ihm ein- oder zweimal etwas, aber er nickte nur und antwortete nicht. Ihr gefiel nicht, was sie sah.

Dann behandelte sie auch Triss. Die Wunde in seinem Gesicht war nur oberflächlich, aber sein linker Arm war gebrochen. Sie richtete ihn ein, schnitt aus totem Holz eine Schiene und band sie mit seinem Gürtel fest. Er zuckte ein- oder zweimal zusammen, während sie ihn versorgte, aber er schrie nicht auf. Als sie fertig war, dankte er ihr ernst und verlegen, und sie lächelte ihn an.

Erst dann erinnerte sie sich an den Ruhkstab, der noch immer irgendwo dort draußen im Schlamm lag. Hastig eilte sie zurück, verließ den Schutz der alten Bäume und durchquerte die Senke erneut. Als sie sich näherte, schossen Orps davon, wie blitzende Funken silbrigen Lichts. Die Luft war leer und ruhig, aber das Rumpeln des Killeshan echote bedrohlich von jenseits der Nebelwand, und die Erde erzitterte als Antwort. Sie fand den Ruhkstab dort, wo er hinuntergefallen war, und hob ihn auf. Der Loden funkelte wie eine Ansammlung kleiner Sterne. So viel war dafür gegeben worden, dachte sie, für das Elfenvolk, das darin gefangen war. Sie fühlte einen finsteren Moment lang tiefes Bedauern und einen plötzlichen Drang, ihn fortzuwerfen und so tief in den Schlamm zu versenken wie den Wisteron. Die Elfen, die mit ihrer Magie soviel Schaden angerichtet hatten, die mit ihrem Ehrgeiz die Schattenwesen erschaffen hatten und die Vier Länder aus Gründen im Stich gelassen hatten, für die sie selbst verantwortlich waren, sollten besser verschwinden. Aber sie hatte ihre Entscheidung wegen der Elfen schon getroffen. Und außerdem wußte sie, daß es nicht der Fehler dieser Elfen gewesen war, nicht dieser Generation, und daß es ohnehin falsch wäre, ein ganzes Volk für die Taten einiger weniger zur Verantwortung zu ziehen. Allanon hatte wohl damit gerechnet, daß sie so denken würde. Er mußte vorhergesehen haben, daß sie die Wahrheit entdecken und selbst über die Weisheit seiner Aufgabe befinden würde. Finde die Elfen, und bringe sie in die Vier Länder zurück. Sie hatte sich viele Male gefragt, warum sie das tun sollte. Allmählich glaubte sie zu verstehen. Wer wäre besser in der Lage, das wieder geradezurücken, was falsch gemacht worden war, als die Elfen? Wer wäre besser dazu geeignet, den Kampf gegen die Schattenwesen zu führen?

Sie schleppte sich durch die Senke zurück. Empfindungslosigkeit setzte sich in ihr fest, und die letzten Spuren der heiteren Entspanntheit, die die Magie in ihr bewirkt hatte, verblaßten. Sie war müde und traurig und fühlte sich seltsam verloren. Aber sie wußte, daß sie diesen Gefühlen nicht nachgeben durfte. Sie hatte den Ruhkstab zurückbekommen, und die Reise zum Strand und die Suche nach Tiger Ty lagen noch vor ihr. Und es gab noch immer Dämonen.

Stresa wartete am Rande des Wäldchens auf sie. Seine rauhe Stimme flüsterte warnend. »Hsstt. Dein großer Freund ist schwer verletzt, Wren von den Elfen. Sei gewarnt. Das Gift ist eine schlimme Sache. Phffft. Vielleicht kann er nicht mit uns kommen.«

Mit hastigen Bewegungen rauschte sie verwirrt an dem Stachelkater vorbei. »Er wird es schaffen«, fuhr sie ihn an.

Mit Triss’ Hilfe hob sie Garth erneut hoch, und dann brachen sie auf. Mittag war schon vorbei, und das Licht drang schwach und dunstig durch den Schirm aus Vog, die Hitze bedeckte sie mit schwüler Feuchtigkeit. Stresa ging voraus und bahnte sich verbissen seinen Weg durch das Labyrinth des Dschungels, wobei er einen Pfad wählte, der es den Menschen, die ihm folgten, möglich machte, mit Garth hindurchzugelangen. Der In Ju schien wie ausgestorben. Es war, als habe der Tod des Wisteron auch alles andere getötet, was darin gelebt hatte. Aber die Stille war wohl eher eine Antwort auf das Beben der Erde, dachte Wren. Die Lebewesen auf Morrowindl spürten, daß nichts mehr war wie bisher, und zumindest im Augenblick hatten sie ihre normalen Aktivitäten eingestellt und sich verborgen. Sie warteten ab, was geschehen würde.

Sie beobachtete Garths Gesicht, während sie weitergingen, sah die Anspannung in seinen Augen, die Maske des Schmerzes, die seine Züge straffte. Er sah sie nicht an, sondern hielt seinen Blick bewußt auf den Weg vor ihnen geheftet. Er hielt sich nur durch seine große Entschlossenheit aufrecht.

Als sie schließlich aus dem In Ju heraustraten und in die bewaldete Hügelgegend kamen, war es bereits dämmerig. Sie fanden eine Lichtung mit einer Quelle, und dort reinigte sie erneut die Wunden ihres großen Freundes. Sie hatten nichts zu essen, denn alle ihre Vorräte waren verbraucht oder verloren gegangen, und sie waren sich nicht sicher, welche der Wurzeln und Früchte der Insel ungefährlich waren. Sie mußten sich mit Quellwasser begnügen. Triss fand genug trockenes Holz, um ein Feuer zu entfachen, aber es begann gleich darauf zu regnen, und innerhalb von Sekunden war alles um sie herum durchweicht. Sie drängten zurück in den Schutz eines Koabaums mit breiten Zweigen, wo sie sich Schulter an Schulter für die hereinbrechende Dunkelheit rüsteten. Nach einiger Zeit begab sich Stresa hinaus zu einer Stelle, wo er Wache halten konnte. Er murmelte dabei etwas, daß er der einzige sei, der noch zu dieser Arbeit tauge. Wren diskutierte nicht über diesen Punkt, denn sie war fast geneigt, ihm zuzustimmen. Das Licht verblaßte beständig, wandelte sich von Silber zu Grau und dann zu Schwarz. Der Wald veränderte sich und war plötzlich voller Bewegung, als das Bedürfnis nach Nahrung seine Bewohner zur Jagd hinaustrieb. Aber keines der Wesen, die vorbeizogen, machte Anstalten, sich ihrem Versteck zu nähern. Nebel sickerte in trägen Rinnsalen durch die Bäume und Gräser. Wasser troff langsam von den Blättern. Faun entwand sich Wrens Armen und kuschelte sich an ihre Schulter.

Um Mitternacht brach der Killeshan aus. Feuer schoß in einem Schauer aus Funken und brennenden Trümmern empor, und Asche und Rauch wurden ausgespien. Dabei wurde ein erschreckendes Brüllen laut, das die nächtliche Stille erschütterte und jedermann ruckartig aufweckte. Die anfängliche Explosion verwandelte sich schnell in eine Reihe von Erschütterungen, die sich aufeinander aufbauten, bis die ganze Insel erbebte. Sogar für sie, die so weit von dem Vulkan entfernt waren, wurde der Ausbruch erkennbar. Sie sahen ein tiefrotes Glühen vor der Dunkelheit, das sich himmelwärts hob und dort zu hängen schien. Ganz in der Nähe öffneten sich kleine Risse in der Erde, und zischend stieg Dampf in Geysiren empor. In den Schatten um sie herum rannten die Geschöpfe der Insel wild umher, flohen ohne Richtung und Sinn voller Entsetzen über die Stärke der Erschütterungen, voller Angst vor den Geräuschen und dem glühenden Rot. Die Freunde drängten sich um den Koabaum zusammen und bekämpften den Drang, den Geschöpfen des Waldes zu folgen. Aber Flucht würde in solcher Dunkelheit gefährlich sein, das wußte Wren, und Stresa erinnerte sie außerdem daran, daß sie bis zum Tagesanbruch verborgen bleiben mußten.

Die Erschütterungen setzten sich, eine nach der anderen, die ganze Nacht lang fort wie donnernde Hustenanfälle und heftige Krämpfe. Sie drohten Morrowindl von einem Ende zum anderen aufzureißen. Feuer brannten auf den Höhen des Killeshan, als die Lavaströme ihren Abstieg zum Meer begannen. Klippen rutschten mit dem Getöse brechenden Gesteins ab, und Lawinen gingen nieder und rissen ganze Berghänge los. Riesige Bäume zerbrachen wie totes Holz und stürzten zu Boden.

Wren schloß die Augen und versuchte vergeblich zu schlafen. Als die Dämmerung nahte, erhob sich Stresa, um das Gelände um sie herum zu erkunden, und Triss übernahm von ihm die Wache. Wren blieb mit Garth allein. Der große Mann schlief unruhig, sein Gesicht war schweißgebadet, und sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Er hatte hohes Fieber, und die Hitze seines Körpers war deutlich spürbar. Während sie ihn beobachtete, wie er mit seinem kranken Körper kämpfte, dachte sie an all das, was sie zusammen durchgemacht hatten. Sie hatte sich schon zuvor Sorgen um ihn gemacht, aber niemals so große Sorgen wie jetzt. Zum Teil wurde dies Gefühl durch das Bewußtsein ihrer Hilflosigkeit vergrößert. Morrowindl war ihr fremd, und ihr Wissen darüber war zu gering. Sie mußte immer wieder daran denken, daß es noch mehr geben müßte, was sie für ihren großen Freund tun konnte, wenn sie nur wüßte, was das war. Sie wurde daran erinnert, daß Ellenroh von einem ähnlichen Fieber erfaßt worden war, einem Fieber, das niemand von ihnen kannte. Sie hatte ihre Großmutter verloren. Sie wollte nicht auch noch ihren besten Freund verlieren. Sie versicherte sich wieder und wieder, daß Garth stark war. Er konnte alles überstehen, das hatte er immer getan.

Es wurde hell, und sie hatte gerade ihre Augen ein wenig gegen ihre Müdigkeit und Verzweiflung geschlossen, als der große Mann sie damit überraschte, daß er sie sanft am Arm berührte. Als sie den Kopf hob, um ihn anzusehen, begann er ihr Zeichen zu machen.

Ich möchte, daß du etwas für mich tust.

Sie nickte, und ihre Finger wiederholten ihre Worte. »Was?«

Es wird schwer für dich sein, aber es ist notwendig.

Sie versuchte ihm in die Augen zu sehen, aber sie konnte es nicht. Er war zu tief in den Schatten verborgen.

Ich möchte, daß du mir vergibst.

»Was soll ich dir vergeben?«

Ich habe dich bezüglich einer Sache belogen. Ich habe wiederholt gelogen. Die ganze Zeit über, seitdem ich dich kannte.

Verwirrt, ängstlich und bis auf die Knochen erschöpft, schüttelte sie den Kopf. »Worüber hast du mich belogen?«

Sein Blick schwankte nicht. Über deine Eltern. Über deine Mutter und deinen Vater. Ich habe sie gekannt. Ich wußte, wer sie waren und woher sie kamen. Ich wußte alles.

Sie sah ihn an, war jedoch noch unfähig, zu glauben, was sie hörte.

Hör mir zu. Deine Mutter verstand die Bedeutung von Eowens Prophezeiungen weit besser als die Königin. Eine Prophezeiung besagte, daß du von Morrowindl fortgebracht werden müßtest, um zu überleben, sie besagte aber auch, daß du eines Tages zurückkehren würdest, um die Elfen zu retten. Deine Mutter hat das richtig eingeschätzt. Welche Rettung auch immer du deinem Volk bringen würdest, sie würde auf irgendeine Weise eine Konfrontation mit dem Bösen, das sie geschaffen hatten, mit sich bringen. Ich wußte das damals noch nicht, ich habe es aber seither vermutet. Ich wußte nur, daß deine Mutter entschlossen war, dich dazu erziehen zu lassen, stark genug zu werden, um jeder Gefahr zu trotzen, jedem Gegner, jeder Prüfung, die von dir gefordert würde. Darum hat sie dich meiner Obhut übergeben.

Wren war wie betäubt. »Dir? Direkt dir?«

Garth bewegte sich. Er richtete sich halb auf und gab seinen Händen somit mehr Bewegungsspielraum. Er stöhnte unter der Anstrengung. Wren konnte Blut durch die Verbände über seinen Wunden sickern sehen.

Sie kam mit ihrem Mann zu den Fahrenden, Die Flugreiter hatten sie geschickt. Sie kam zu uns, weil man ihr gesagt hatte, wir seien das stärkste der freien Völker und wir würden unsere Kinder von Geburt an darauf vorbereiten zu überleben, weil das Überleben der schwerste Teil im Leben jedes Fahrenden ist. Wir waren schon immer ein Außenseitervolk und hatten es als solches immer für nötig befunden, stärker zu sein als jeder andere. Also kamen deine Mutter und dein Vater zu uns, zu meiner Familie, einem Stamm mit ein paar hundert Mitgliedern, die auf den Ebenen unterhalb des Myrian lebten. Sie fragten, ob es unter uns jemanden gäbe, dem man die Ausbildung ihrer Tochter anvertrauen könne. Sie wollten, daß sie wie eine Fahrende erzogen würde, daß sie, sobald sie alt genug sei, lernen sollte, wie man in einer Welt überleben kann, in der jeder und alles ein potentieller Feind ist. Ich wurde ihnen empfohlen. Wir sprachen miteinander, deine Eltern und ich, und dann übernahm ich diese Aufgabe.

Er hustete. Es war ein tiefes, qualvolles Geräusch, das aus den Tiefen seiner Brust drang. Sein Kopf senkte sich kurze Zeit, während er nach Atem rang.

»Garth«, flüsterte sie erschrocken. »Erzähle mir später davon, wenn du dich ausgeruht hast.«

Er schüttelte den Kopf. Nein. Ich will das jetzt zu Ende bringen. Ich habe es schon zu lange mit mir herumgetragen.

»Aber du kannst kaum atmen, du kannst kaum...«

Ich bin stärker, als du glaubst. Seine Hand umschloß kurz die ihre und ließ sie dann wieder los. Hast du Angst, ich könnte sterben?

Sie schluckte gegen ihre Tränen an. »Ja.«

Erschreckt dich das so? Nach allem, was ich dir beigebracht habe?

»Ja.«

Er blinzelte und sah sie aus seinen dunklen Augen mit einem seltsamen Blick an. Dann werde ich nicht sterben, bis du dazu bereit bist, daß ich es tue.

Sie nickte schweigend, ohne zu verstehen, was er damit meinte, hütete sich vor dem Blick und war nur besorgt, daß er leben möge, welchen Handel auch immer das erfordern mochte.

Dann atmete er mit lautem Rasseln wieder aus. Gut. Dann zu deiner Mutter. Sie war genauso, wie man es dir erzählt hat – stark, freundlich, entschlossen, und sie liebte dich sehr. Aber sie hatte den Entschluß gefaßt, zu ihrem Volk zurückzukehren. Sie hatte diesen Entschluß schon gefaßt, bevor sie Morrowindl verließ, glaube ich. Dein Vater nahm es hin. Ich kenne den Grund für ihre Entscheidung nicht. Ich weiß nur, daß deine Mutter auf vielfältige Weise an ihre eigene Mutter und an ihr Volk gebunden war und daß dein Vater sie verzweifelt liebte. Auf jeden Fall stimmte man darin überein, daß du zu den Ohmsfords in Shady Vale gesandt werden solltest, bis du fünf Jahre alt wärest – das Anfangsalter für die Ausbildung eines Kindes der Fahrenden. Dann solltest du wieder zu mir gebracht werden. Man sollte dir sagen, daß deine Mutter eine Fahrende gewesen sei und dein Vater ein Ohmsford und daß deine Vorfahren Elfen gewesen seien. Mehr sollten wir dir nicht erzählen.

Wren schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum, Garth? Warum sollte das alles vor mir geheimgehalten werden?«

Weil deine Mutter verstanden hatte, daß es sehr gefährlich geworden wäre, die Zukunft entgegen einer Prophezeiung zu beeinflussen. Sie hätte versuchen können, dich in Sicherheit zu bringen und dich daran zu hindern, nach Morrowindl zuriickzukehren. Sie hätte bei dir bleiben und dir berichten können, was vorausgesagt worden war. Aber welchen Schaden hätte sie angerichtet, wenn sie so gehandelt hätte? Sie wußte genug über Prophezeiungen, um die Bedrohung zu erkennen. Es war besser, so glaubte sie, daß du zur Frau aufwachsen konntest, ohne die Einzelheiten dessen zu kennen, was Eowen vorausgesagt hatte. Sie glaubte, daß du deine Bestimmung selbst herausfinden solltest, wie auch immer sie aussehen würde. Es wurde mir überlassen, dich darauf vorzubereiten.

»Also hast du alles gewußt? Alles? Du wußtest auch von den Elfensteinen?«

Nein. Nicht von den Elfensteinen. Genau wie du glaubte ich, es seien bemalte Steine. Es wurde mir nur gesagt, ich solle sicherstellen, daß du wüßtest, wo sie hergekommen waren und daß sie dein Erbe von deinen Eltern waren. Ich sollte dafür sorgen, daß du sie niemals verlierst. Ich vermute, deine Mutter war davon überzeugt, daß sich die Macht der Elfensteine genau wie deine Bestimmung beizeiten offenbaren würde.

»Aber du wußtest alles andere und das die ganze Zeit über, während ich aufwuchs? Und auch später, als ich zum Hadeshorn ging, als ich auf die Suche nach den Elfen geschickt wurde?«

Ich wußte es.

»Und hast es mir nicht gesagt?« Eine Spur Verärgerung schwang jetzt zum ersten Mal in ihrer Stimme mit. Die Wirkung dessen, was er ihr erzählte, begann langsam einzusetzen. »Niemals ein Wort, nicht einmal, als ich gefragt habe?«

Ich konnte es nicht.

»Was meinst du damit, du konntest es nicht?« Wren war erregt. »Warum?«

Weil ich es deiner Mutter versprochen hatte. Ich mußte ihr Verschwiegenheit geloben. Du solltest nichts von deinem wahren Erbe erfahren, nichts von den Elessedils, nichts von Arborlon oder Morrowindl, nichts von der Prophezeiung. Du solltest es selbst entdecken oder auch nicht, wie das Schicksal es bestimmen würde. Ich sollte dir auf keinen Fall helfen. Ich sollte mit dir gehen, wenn es Zeit dazu sein würde und ich es wollte. Ich sollte dich so gut beschützen, wie ich kann. Aber ich sollte dir nichts sagen.

»Niemals?«

Der Atem des großen Mannes rasselte in seiner Brust, und seine Finger zögerten. Ich habe einen Eid geschworen. Ich habe geschworen, dir nichts zu sagen, bis sich die Prophezeiung erfüllt hätte, wenn sie das denn jemals tun würde – ich durfte nichts sagen, bis du nach Arborlon zurückgekommen warst, bis du die Wahrheit selbst entdeckt hattest, bis du getan hattest, was auch immer das Schicksal von dir zu tun verlangte, um deinem Volk zu helfen. Das habe ich versprochen.

Wren hockte sich wieder auf ihre Fersen, und Verzweiflung durchströmte sie. Vertraue niemandem, hatte die Addershag sie gewarnt. Niemandem. Sie hatte geglaubt, die Reichweite dieser Worte zu kennen. Sie hatte geglaubt, sie würde sie verstehen.

Aber dies...

»Oh, Garth«, flüsterte sie verzweifelt. »Ich habe dir vertraut!«

Du hast dadurch nichts verloren, Wren.

»Habe ich das nicht?«

Sie sahen einander schweigend und bewegungslos an. Alles, was Wren widerfahren war, seit Cogline vor so vielen Wochen das erste Mal zu ihr gekommen war, schien sich zu sammeln und sich auf ihre Schultern zu setzen wie ein ungeheures Gewicht. So viele schmerzliche Fluchten, so viele Tode, so vieles, was sie verloren hatte – sie spürte es alles, alles schien ihr auf einmal zusammengekommen zu sein in dieser Wahrheit, die aus dem Verborgenen kam und furchtbar und unerwartet war.

Wenn du das alles gewußt hättest, bevor du hierher kamst, hätte es vielleicht alles geändert. Deine Mutter wußte das. Dein Vater auch. Vielleicht hätte ich es dir erklärt, wenn ich gekonnt hätte, aber mein Versprechen hat mich gebunden. Der Umriß des großen Mannes bewegte sich, und seine scharfkantigen Züge waren jetzt im Licht. Sage mir, wenn du kannst, daß ich es anders hätte handhaben sollen. Sage mir, Wren, daß ich mein Versprechen hätte brechen sollen.

Ihr Mund bildete eine zusammengepreßte, verbitterte Linie. »Das hättest du tun sollen.«

Er hielt ihren Blick fest, und seine dunklen Augen waren stumpf und ausdruckslos.

»Nein«, gab sie schließlich mit Tränen in den Augen zu. »Das hättest du nicht.« Sie schaute fort, und ihr Blick war leer und verloren. »Aber das ändert nichts. Alle haben mich belogen. Alle. Sogar du. Die Addershag hatte recht, Garth, und das tut weh. Es waren zu viele Lügen, zu viele Geheimnisse, und ich hatte an nichts davon Anteil.«

Sie weinte leise mit gesenktem Kopf vor sich hin. »Irgend jemand hätte mir vertrauen sollen. Mein ganzes Leben ist verändert worden, und ich hatte nichts dazu zu sagen. Sieh doch, was damit geschehen ist!«

Seine große Hand streichelte über die ihre. Denk nach, Wren. Du hast immer wählen können. Niemand hat das für dich getan, niemand hat dir den Weg gezeigt. Wenn du die Wahrheit gekannt hättest, wenn du die Erwartungen an dich erkannt hättest, wäre es dann dasselbe gewesen? Hättest du in solch einem Fall sagen können, daß die Wahl deine eigene gewesen ist?

Sie schaute ihn zögernd an.

Wäre es besser gewesen, wenn du gewußt hättest, daß du Ellenroh Elessedils Enkelin bist, daß die Elfensteine, die du für bemalte Steine hieltest, echt waren, daß man, wenn du erwachsen wärest, eines Tages von dir erwarten würde, nach Morrowindl zu reisen und dort aufgrund einer Prophezeiung, die vor deiner Geburt gemacht wurde, die Elfen zu retten? Was wäre dann mit deiner Entscheidungsfreiheit gewesen? Wie hättest du dich dann entwickelt? Was wäre aus dir geworden?

Sie atmete tief ein. »Ich weiß es nicht. Aber vielleicht hätte ich doch die Möglichkeit haben sollen, das herauszufinden.«

Das Licht wurde jetzt heller, als die Dämmerung von irgendwo jenseits des Leichentuchs aus Nebel und der Bäume hereinbrach. Faun hob den Kopf aus Wrens Schoß, wo er bewegungslos gelegen hatte. Triss war vom Rande der Dunkelheit zurückgekommen. Er stand da und betrachtete sie schweigend. Die Nachtgeräusche waren verklungen, und die hektischen Bewegungen hatten aufgehört. In der Ferne hörte man unverändert die Geräusche vom Ausbruch des Killeshan. Er grollte beständig, und das Lärmen hielt bedrohlich an. Die Erde schüttelte sich leicht, und das Feuer der Lava erhob sich in grauem Rauch und Asche himmelwärts.

Garth bewegte sich, und seine Hände formten Worte. Wren, seufzte er. Ich habe getan, um was ich gebeten worden war und was ich versprochen hatte. Ich habe mein Bestes getan. Ich wünschte, es wäre nie nötig gewesen, dich zu täuschen. Ich wünschte, ich wäre in der Lage gewesen, dir die Chance zu gewähren, die du dir erbeten hast.

Sie sah ihn lange Zeit an und nickte schließlich. »Ich weiß.«

Sein starkes, dunkles Gesicht war vor Konzentration angespannt. Sei deiner Mutter und deinem Vater nicht böse. Sie haben getan, was sie für richtig hielten.

Sie nickte erneut. Sie konnte jetzt nicht sprechen.

Du mußt einen Weg finden, uns allen zu vergeben.

Sie schluckte hart. »Ich wünschte... ich wünschte, es würde nicht so weh tun.«

Wren, sieh mich an.

Das tat sie. Widerwillig und vorsichtig.

Wir sind noch nicht fertig. Es gibt noch etwas.

Sie spürte, wie ein Frösteln sich in ihrer Magengrube festsetzte. Da war ein Schmerz wegen etwas, das man spürt, aber noch nicht vollständig erkennt. Sie sah Stresa seitlich unter den Bäumen auftauchen. Erschöpft und feucht schleppte er sich schwer dahin. Er verlangsamte seinen Schritt, als er sich ihnen näherte, und wußte offenbar, daß da etwas im Gange war, eine Konfrontation vielleicht, eine Enthüllung, ein Geheimnis.

»Stresa«, begrüßte Wren ihn schnell, weil sie vermeiden wollte, noch mehr von Garth hören zu müssen.

Der Stachelkater schwang sein plumpes Katzengesicht von einem Menschen zum anderen. »Wir können jetzt gehen«, sagte er. »Wir sollten das auch wirklich tun. Der Berg bröckelt ab. Früher oder später wird es auch hierher gelangen.«

»Wir müssen uns beeilen«, stimmte Wren ihm zu und erhob sich. Sie nahm den Ruhkstab auf und schaute dann besorgt auf ihren verletzten Freund hinab. »Garth?«

Wir müssen zuerst noch ein wenig allein miteinander reden.

Ihre Kehle verengte sich erneut. »Warum?«

Bitte die anderen, ein kurzes Stück vorauszugehen und auf uns zu warten. Erkläre ihnen, daß es nicht lange dauern wird.

Sie zögerte und sah dann Stresa und Triss an. »Ich brauche einen Moment mit Garth allein. Wartet weiter vorn auf uns. Bitte.«

Sie sahen sie wortlos an und nickten dann widerwillig, zuerst Triss, dessen hageres Gesicht ausdruckslos blieb, und dann Stresa mit hellsichtigem Mißtrauen.

»Nehmt Faun mit«, setzte sie noch schnell hinzu, nahm den Baumschreier von seinem Ausguck auf ihrer Schulter herab und netzte ihn sanft auf den Boden.

Stresa fauchte das kleine Wesen an, so daß es unter die Bäume floh. Er sah sie mit traurigen, wissenden Augen an. »Rufe uns – Hrrrrr –, Wren von den Elfen, wenn du uns brauchst.«

Als sie gegangen waren und das Geräusch ihrer Schritte verklungen war, sah Wren Garth erneut an. Den Stab hielt sie dabei fest in beiden Händen. »Was willst du mir noch sagen?«

Der große Mann winkte sie zu sich. Hab keine Angst. Hier. Setz dich neben mich. Hör mir einen Moment zu, und unterbrich mich nicht.

Sie tat, wie ihr geheißen, kniete sich nahe genug neben ihn, daß ihr Bein seinen Körper berührte. Sie konnte die Hitze seines Fiebers spüren. Nebel und schwaches Licht ließen ihn zu einem gräulichen Schatten werden, die Welt um sie herum war verschwommen und träge vor Hitze.

Sie legte den Ruhkstab neben sich ab, und Garth begann mit seinen großen Händen mit ihr zu sprechen.

Irgend etwas geschieht mit mir. Innerlich. Es ist das Gift des Wisteron, denke ich. Es kriecht durch mich hindurch wie ein Lebewesen, ein Feuer, das verbrennt und schwächt. Ich kann spüren, wie es umherschleicht und mich verändert. Es ist ein böses Gefühl.

»Ich werde deine Wunden erneut auswaschen und neu verbinden.«

Nein, Wren. Was jetzt geschieht, liegt jenseits davon, jenseits von allem, was du tun könntest. Das Gift ist längst in meinem Kreislauf, überall in mir.

Sie atmete hastig und besorgt. »Wenn du zu schwach bist, werden wir dich tragen.«

Zuerst war ich schwach, aber die Schwäche vergeht. Ich werde jetzt wieder kräftiger. Aber die Kraft ist nicht meine eigene.

Sie sah ihn an, verstand ihn nicht wirklich, war aber gleichzeitig doch erschreckt. Sie schüttelte den Kopf. »Was sagst du da?«

Er sah sie mit grimmiger Entschlossenheit an, seine dunklen Augen glänzten hart, sein Gesicht zeigte Kanten und Flächen, als sei es in Stein gemeißelt. Der Wisteron war ein Schattenwesen. Wie die Drakuls. Erinnerst du dich an Eowen?

Sie erschauerte, schrak zurück und versuchte aufzustehen. Er ergriff sie, hielt sie fest und sah sie unverwandt an. Sieh mich an.

Sie versuchte es und konnte es doch nicht. Sie sah ihn und sah ihn gleichzeitig nicht. Sie war sich seines Gesichts bewußt, konnte aber nicht die Farben und Schattierungen, die darinnen lagen, erkennen, als wenn dies bedeutet hätte, die gefürchtete Wahrheit offenzulegen. »Laß mich los!«

Dann brach alles in ihr zusammen, und sie begann zu weinen. Sie weinte lautlos, und nur das Heben und Senken ihrer Schultern verriet sie. Sie schloß die Augen vor dem Ansturm der Gefühle in ihr, vor dem Entsetzen der Welt um sie herum, vor dem furchtbaren Preis, der offenbar schon wieder von ihr gefordert wurde. Sie sah Garth vor sich, wie sie ihn immer vor sich sah – das dunkle Vertrauen und die Kraft, die von seinem Gesicht ausstrahlte, das Lächeln, das er ausschließlich ihr schenkte, seine Weisheit, seine Freundschaft und seine Liebe.

»Ich kann dich nicht verlieren«, flüsterte sie und machte sich nicht mehr die Mühe, ihm Zeichen zu machen. Ihre Worte waren nur ein Murmeln. »Ich kann es nicht!«

Seine Hände ließen sie los, und sie öffnete die Augen. Sieh mich an.

Sie atmete tief ein und tat es.

Schau mir in die Augen.

Sie tat es. Sie sah hinab in die Seele ihres ältesten und vertrautesten Freundes. Ein böses, rotes Glühen leuchtete ihr entgegen.

Es beginnt bereits, signalisierte er.

Sie schüttelte in wilder Abwehr den Kopf.

Ich kann es nicht zulassen, Wren. Aber ich kann es nicht allein tun. Nicht das und dabei wirklich sicher sein. Du wirst mir helfen müssen, jetzt loszulassen.

»Nein.«

Seine Hand glitt zu seinem Gürtel hinab und zog das lange Messer hervor, und dessen rasiermesserscharfe Klinge glitzerte im Halblicht. Sie erschauerte und wich zurück, aber er ergriff ihr Handgelenk und zwang den Griff des Messers in ihre Hand.

Seine Hände machten beständig schnelle Zeichen. Es bleibt uns keine Zeit mehr. Was wir gehabt haben, war gut. Ich bedaure keinen Augenblick davon. Ich bin stolz auf dich, Wren. Du bist meine Kraft, meine Weisheit, mein Können, meine Erfahrung, mein Leben, alles, was ich bin, das Beste von mir. Und dennoch bist du eine eigenständige Persönlichkeit, in jeder Beziehung anders. Du bist, was du sein solltest – eine Fahrende, die zur Königin der Elfen wurde. Ich kann dir nichts mehr geben. Das ist ein guter Zeitpunkt, sich zu verabschieden.

Wren konnte nicht atmen. Sie konnte nicht klar sehen. »Das kannst du nicht von mir verlangen! Das kannst du nicht!«

Ich muß es. Es ist niemand sonst da. Bei niemandem sonst könnte ich mich darauf verlassen, daß er es richtig macht.

»Nein!« Sie ließ das Messer fallen, als hätte sie sich die Haut verbrannt. »Ich wäre lieber selbst tot!« sagte sie schluchzend.

Er griff nach dem Messer und legte es behutsam erneut in ihre Hand. Sie schüttelte wieder und wieder den Kopf und lehnte ab, was er von ihr verlangte. Er berührte sie und zog ihren Blick erneut auf sich. Er zitterte jetzt, vielleicht wegen der Kälte, aber vielleicht auch wegen mehr. Das rote Glühen war jetzt viel deutlicher, viel stärker.

Ich entgleite, Wren. Ich werde aus mir selbst heraus gestohlen, Du mußt dich beeilen. Tu es schnell. Laß mich nicht zu einem... Er konnte den Satz nicht beenden, und selbst seine großen, starken Hände zitterten jetzt. Du kannst es tun. Wir haben es oft genug geübt. Ich kann mir selbst nicht vertrauen. Ich könnte...

Wrens Muskeln waren so angespannt, daß sie sich kaum bewegen konnte. Sie schaute über ihre Schulter zurück, dachte daran, Stresa oder Triss zurückzurufen. Sie suchte verzweifelt nach irgend jemandem. Aber es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Es blieb nichts, was irgend jemand anders tun konnte.

Sie wandte sich rasch wieder um. »Es gibt doch sicher ein Gegenmittel?« Ihre Worte verrieten ihre Panik. »Ich werde Stresa fragen! Er wird es wissen! Ich werde ihn zurückholen!«

Garths große Hände unterbrachen sie. Stresa kennt die Wahrheit bereits. Du hast es selbst in seinen Augen gesehen. Es gibt nichts, was er tun kann. Es gab niemals etwas. Laß es sein. Hilf mir. Nimm das Messer und gebrauche es.

»Nein!«

Du mußt.

»Nein!«

Seine Hand fuhr plötzlich hoch, als wolle er sie schlagen, und sie reagierte instinktiv, indem sie abblockte, die Hand mit dem Messer hob und erstarrte. Die Schneide war noch Zentimeter von seiner Brust entfernt. Ihre Blicke verbanden sich. Einen Moment lang wurde alles in Wren fortgeschwemmt, außer der furchtbaren Erkenntnis, was sie zu tun hatte. Die Wahrheit lahmte sie. Sie atmete ein und hielt die Luft an.

Schnell, Wren... Sie bewegte sich nicht. Er nahm ihre Hand und senkte sie langsam, bis die Messerklinge an seiner Tunika, an seiner Brust ruhte. Tu es.

Ihr Kopf bewegte sich langsam von einer Seite zur anderen, beständig von einer Seite zur anderen, eine kaum wahrnehmbare Bewegung.

Wren, hilf mir.

Sie schaute auf ihn hinab, sah tief in seine Augen und sah das rote Glühen, das ihn überwältigte, vor dem in ihm anwachsendes Entsetzen aufstieg. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind neben ihm gestanden hatte, als sie das erste Mal zu den Fahrenden gekommen war und kaum bis an sein Knie gereicht hatte. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie zehn Jahre alt war, gertenschlank und zäh wie Leder, und wie sie gerannt war, um ihn im Wald zu fangen. Sie erinnerte sich an immer neue, endlose Spiele, die alle ihrer Ausbildung dienten.

Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Sie spürte seine Nähe und dachte daran, wieviel Trost diese ihr in ihrer Kindheit gebracht hatte.

»Garth«, flüsterte sie verzweifelt und spürte, wie sich seine großen Hände hoben und sich über ihre legten.

Dann stieß sie das lange Messer hinein.

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