18

Ellenroh Elessedil starb, als der Morgen anbrach. Wren war bei ihr, als sie noch einmal zu sich kam. Die Dunkelheit begann sich gerade zu lichten, und ein hellvioletter Farbton wurde im Dunst sichtbar, als sich die Augen der Königin öffneten. Sie schaute zu Wren auf. Ihr Blick war ruhig und fest, und sie schien jenseits des ängstlichen Gesichts ihrer Enkelin irgend etwas zu sehen. Wren nahm ihre Hand und hielt sie mit wilder Entschlossenheit fest, und für einen kleinen Augenblick erschien ein ganz schwaches Lächeln auf Ellenrohs Gesicht. Dann atmete sie einmal durch, schloß die Augen und war von ihnen gegangen.

Wren fand es seltsam, daß sie nicht weinen konnte. Es schien, als habe sie keine Tränen mehr übrig. Es war, als seien sie verbraucht worden, als sie Angst gehabt hatte, daß das Unmögliche passieren könnte, und als sei jetzt, wo es passiert war, nichts mehr übrig, was sie geben konnte. Ausgelaugt von ihren Gefühlen, blieb sie in ihrem Kummer um ihren Verlust auch eigenartig ungeschützt zurück, und da sie niemanden hatte, an den sie sich gerne gewandt hätte, und nirgendwohin fliehen konnte, nahm sie Zuflucht darin, sich für die Verantwortung zu rüsten, die ihre Großmutter ihr übertragen hatte.

Es war gut, daß sie dies tat. Es schien, als wisse niemand sonst, was zu tun sei. Eowen war untröstlich. Sie war eine gebeugte, zerbrechliche Gestalt, wie sie dort neben der Frau kauerte, die ihre engste Freundin gewesen war. Rotes Haar fiel ihr über Gesicht und Schultern, ihr Körper bebte, und sie konnte nicht einmal sprechen. Triss und Dal standen hilflos und wie betäubt daneben. Selbst Gavilan konnte anscheinend nicht die Kraft aufbringen, die Dinge in die Hand zu nehmen, wie er es vielleicht zuvor getan hätte. Sein hübsches Gesicht wirkte betroffen, als er auf die Gestalt der Königin hinabsah. Zuviel war geschehen, das das Vertrauen der anderen in sich selbst zerstört hatte, das jeglichen Glauben daran erschüttert hatte, daß sie ihre Aufgabe, das Elfenvolk zu retten, zu Ende bringen könnten. Aurin Striate und die Königin waren beide von ihnen gegangen – die beiden Menschen, die zu verlieren sie sich am wenigsten leisten konnten. Gefangen in den Sümpfen von Eden’s Murk auf der falschen Seite des Blackledge, wurden sie von einer ständig wachsenden Vorahnung kommenden Unheils gepackt, die sich selbst zu erfüllen drohte.

Aber Wren entdeckte an diesem Morgen in sich selbst eine Kraft, die sie vorher nicht gekannt hatte. Etwas von dem, wer und was sie einst gewesen war, von der Fahrenden, als die sie erzogen worden war, vom Elessedil- und Shannarablut, das sie von Geburt an besaß, fing in ihr Feuer und zwang sie, nicht zu verzweifeln.

Sie erhob sich von der Seite der Königin und trat vor die anderen. Den Ruhkstab hielt sie mit beiden Händen vor sich wie eine Standarte, als eine Erinnerung daran, was sie verpflichtete.

»Sie ist tot«, sagte Wren leise, und alle sahen sie an. »Wir müssen sie jetzt verlassen. Wir müssen weiterziehen, denn das haben wir geschworen, und das ist es auch, was sie wollen würde. Wir sind gefordert, etwas zu tun, was zunehmend schwieriger wird, etwas, wovon wir alle wünschten, nicht darum gebeten worden zu sein. Aber es hat keinen Sinn, unsere Verpflichtung jetzt in Frage zu stellen. Wir sind daran gebunden. Ich behaupte nicht, daß ich die Frau sein könnte, die meine Großmutter war, aber ich werde mein Bestes versuchen. Dieser Stab gehört in eine andere Welt, und wir werden alles tun, was wir können, um ihn dorthin zu bringen.«

Sie wandte sich von der Königin fort. »Ich habe meine Großmutter nur kurze Zeit gekannt, aber ich habe sie so geliebt, wie ich meine Mutter geliebt hätte, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, sie kennenzulernen. Sie war alles, was ich von meiner Familie hatte. Sie war die Beste, die sie für uns alle sein konnte. Sie verdient es, durch uns weiterzuleben. Ich möchte sie nicht enttäuschen. Werdet ihr mir helfen?«

»Hoheit, danach müßt Ihr nicht fragen«, antwortete Triss sofort. »Sie hat Euch den Ruhkstab übergeben, und solange Ihr lebt, ist die Leibgarde darauf eingeschworen, Euch zu beschützen und zu gehorchen.«

Wren nickte. »Danke, Triss. Und was ist mit dir, Gavilan?«

Die blauen Augen senkten sich. »Du befiehlst, Wren.«

Sie schaute zu Eowen, die nur nickte, da sie noch immer in ihrem Kummer verloren war.

»Tragt die Königin zurück nach Eden’s Murk«, wies Wren Triss und Dal an. »Sucht eine Stelle mit Treibsand und gebt sie der Insel zurück, damit sie ihre Ruhe findet.« Ihre Worte kämpften sich deutlich, rauh und scharf ihren Weg. »Nehmt sie mit.«

Sie trugen die Königin der Elfen in den Sumpf, fanden hundert Fuß weit entfernt eine geeignete Stelle und ließen sie hinab. Sie verschwand schnell. Jetzt war sie für immer gegangen.

Schweigend kehrten sie zurück. Eowen weinte leise. Die Männer waren stumme Geister, die von den Schatten und dem Dunst silbern und grau angehaucht wurden.

Als sie den Fuß des Blackledge erreichten, sammelte Wren sie alle um sich. »Ich denke folgendes: Wir haben schon wieder jemanden aus unserem Kreis verloren und sind kaum von Killeshans Hängen fortgekommen. Die Zeit rennt uns davon. Wenn wir uns nicht beeilen, wird keiner von uns von der Insel entkommen. Garth und ich wissen ein wenig über das Überleben in der Wildnis, aber wir sind hier auf Morrowindl fast genauso verloren wie ihr anderen. Es gibt nur einen unter uns, der eine Chance hat, den Weg zu finden.«

Sie wandte sich um und sah Stresa an. Der Stachelkater blinzelte.

»Du hast uns sicher hineingebracht«, sagte sie ruhig. »Kannst du uns auch wieder hinausbringen?«

Stresa musterte sie lange Zeit mit einem seltsamen Blick.

»Grrrr, Wren von den Elfen, Trägerin des Ruhkstabes, mit dir werde ich es wagen, obwohl ich keinen besonderen Grund habe, den Elfen zu helfen. Aber du hast mir den Übergang in die größere Welt versprochen, und ich verlasse mich auf dein Versprechen. Ja, ich werde euch führen.«

»Kennst du den Weg, Stachel«, fragte Gavilan wachsam, »oder spielst du nur mit uns?«

Wren schaute ihn scharf an, aber Stresa sagte nur: »Sstsst. Ihr kommt mit und findet es heraus, nicht wahr?« Dann wandte er sich an Wren. »Dies ist kein Gebiet, durch das ich oft gereist bin. Hier ist der Blackledge unpassierbar. Hssstt. Wir werden – grrrr – eine Weile nach Süden ziehen müssen, um einen Paß zu finden, der uns hinüber bringt. Kommt.«

Sie sammelten die Reste ihrer Ausrüstung ein, schulterten sie und zogen entschlossen los. Sie wanderten durch die Morgendämmerung in die Hitze und den Vog, an der Linie der Klippen und der Grenze von Eden’s Murk entlang. Um die Mittagszeit machten sie Rast, um auszuruhen und etwas zu essen. Es war eine Versammlung von hartgesichtigen, schweigenden Männern und Frauen, deren Augen verstohlen und unbehaglich unaufhörlich den Sumpf absuchten. Die Erde war heute ruhig, und der Vulkan ruhte. Aber tief aus dem Innern des Sumpfes erklangen die Geräusche jagender Wesen, entfernte Schreie und ein Heulen, das Aufspritzen von Wasser, das Grunzen von Körpern, die im Kampf ineinander verschlungen waren. Die Geräusche folgten ihnen, während sie sich mühsam weiter voranschleppten, und waren eine unheilvolle Warnung, daß rund um sie herum ein Netz zugezogen wurde.

Am frühen Nachmittag hatten sie den Zugang gefunden, den Stresa im Sinn gehabt hatte, einen steilen, gewundenen Pfad, der in den Felsen verschwand wie die Zunge einer Schlange in ihrem Maul. Sie begannen schnell ihren Aufstieg, da sie eine gewisse Entfernung zwischen sich und die sie verfolgenden Geräusche bringen wollten. Die Hoffnung, daß sie den Gipfel vor Einbruch der Nacht erreichen würden, trieb sie voran.

Das gelang ihnen jedoch nicht. Die Dunkelheit umfing sie irgendwo in der Mitte des Weges, und Stresa ließ sie auf einem schmalen Sims innehalten, der teilweise im Schutz eines Überhanges lag. Von dort hätten sie ein weites Gebiet von Eden’s Murk überschauen können, wenn nicht der Vog gewesen wäre, der alles wie mit einem unendlich großen Leichentuch schmutzigen Graus bedeckte.

Das Abendessen nahmen sie schnell und teilnahmslos ein, dann stellten sie eine Wache auf und richteten sich für die Nacht ein. Das Zusammenspiel von Dunkelheit und Nebel war so vollständig, daß selbst auf kurze Entfernung nichts zu sehen war, wodurch der beklemmende Eindruck entstand, die ganze Insel sei direkt neben ihnen verschwunden, und sie hingen nun in der Luft. Geräusche erhoben sich dunkel und drohend aus dem Nebel, ein schrilles Konzert von Stimmen, die sowohl körperlos als auch richtungslos waren. Sie lauschten schweigend darauf und spürten ringsum, daß sie verfolgt wurden.

Wren versuchte an andere Dinge zu denken. Sie zog ihre Decke fest um sich und zitterte trotz der Hitze, die der Sumpf abgab. Ihre Gedanken waren wirr und irrten umher, und in ihr wuchs das Gefühl, daß sie von allem, was real war, losgelöst waren. Sie war der Sicherheit beraubt, wer und was sie war, und mit einem nur vagen Eindruck dessen zurückgelassen worden, was sie vielleicht sein würde – und das war etwas, das jenseits ihres Verstehens und ihrer Kontrolle lag. Ihr Leben war aus seiner sicheren Bahn geworfen worden und auf einer leeren Fläche gelandet, um wie ein Blatt im Wind hingeweht zu werden, wohin der Zufall es trieb. Der Schatten Allanons und ihre Großmutter hatten ihr Verantwortung auferlegt, doch sie wußte von allem nicht genug, um zu wissen, wie sie diese Aufgaben erfüllen sollte. Sie erinnerte sich daran, wie sie vor vielen Wochen Coglines Aufforderung, zuerst zum Hadeshorn zu gehen, angenommen hatte. Sie hatte geglaubt, etwas über sich selbst erfahren zu können, wenn sie dorthin ginge, und die Wahrheit entdecken zu können. Wie seltsam dieser Gedanke ihr jetzt schien. Wer sie war und was sie tun sollte, schien sich genauso schnell zu ändern wie Tag und Nacht. Die Wahrheit war wie ein schwer bestimmbares Stück Stoff, das sich nicht fassen lassen würde, sondern sich ständig weigerte, offenbart zu werden. Es flatterte jedesmal, wenn sie sich ihm näherte, zerfasert, verschlissen und abgenutzt, ein diffuses Schimmern von Farbe und Licht. Dennoch war sie entschlossen, den Fäden zu folgen, die in seinem Sog hängengeblieben waren, dünne Reste des Glanzes, der eines Tages zu dem Wandteppich führen würde, aus dem sie sich gelöst hatten.

Finde die Elfen, und bringe sie zurück in die Welt der Menschen.

Sie würde es versuchen.

Rette mein Volk, und gib ihm eine neue Chance zu leben.

Ja, auch diesmal, sie würde es versuchen.

Und während sie es versuchte, würde sie für sich vielleicht einen Weg finden zu überleben.

Sie döste eine Weile, mit dem Rücken gegen die Klippenwand gelehnt, die Beine an die Brust hinaufgezogen und die Arme schützend über die polierte Vollkommenheit des Ruhkstabes geschlungen. Faun schlief zu ihren Füßen in den Falten ihrer Decke, und Stresa lag als gestaltloser Ball zusammengerollt in den Schatten einer Felsennische. Sie bemerkte Bewegung ringsum, während die Zeit voranschritt. Sie überlegte sogar, die nächste Wache zu übernehmen, ließ den Gedanken aber wieder fallen. Sie hatte in den letzten zwei Nächten wenig geschlafen und mußte ihre Kräfte zurückgewinnen. Es war noch Zeit genug, in einer anderen Nacht die Wache zu übernehmen. Sie legte ihre Wange auf ihre Knie und verlor sich in der Dunkelheit hinter ihren Augenlidern.

Später in der Nacht – sie war sich nicht sicher, wann genau es war – wurde sie von dem rauhen Kratzen eines Stiefels auf Fels geweckt, als sich jemand näherte. Sie hob leicht den Kopf und spähte unter dem Schutz ihrer Decke hervor. Die Nacht war schwarz und dick von Vog verhangen. Der Dunst kroch den Berghang hinab und setzte sich auf dem Sims ab wie eine Schlange auf der Jagd. Eine Gestalt tauchte aus der Dämmerung auf und kauerte sich mit schnellen und verstohlenen Bewegungen in ihrer Nähe wieder hin.

Wrens Hand griff langsam nach dem Griff ihres Messers.

»Wren«, flüsterte die Gestalt ruhig ihren Namen.

Es war Eowen. Wren hob den Kopf, als sie sie erkannte, und beobachtete, wie die andere vorwärts kroch und sich vor ihr niederließ. Eowen war in ihren Kapuzenumhang gehüllt, ihr rotes Haar hing wirr herab, ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen weit geöffnet, und sie schaute, als habe sie gerade etwas Erschreckendes gesehen. Ihre Lippen zitterten, als sie zu sprechen begann, und dann fing sie an zu weinen. Wren streckte die Hand nach ihr aus und zog sie zu sich heran. Sie war überrascht über die Verwundbarkeit der anderen und darüber, wie deren Kräfte nachließen, was bis zum Tode der Königin noch nie sichtbar geworden war.

Eowen versteifte sich, wischte sich über die Augen und atmete tief die Nachtluft ein. Sie bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen. »Ich kann anscheinend nicht aufhören«, flüsterte sie. »Jedes Mal, wenn ich an sie denke, jedes Mal, wenn ich mich erinnere, beginne ich mich erneut zu grämen.«

»Sie hat dich sehr geliebt«, besänftigte Wren sie. Sie versuchte, Eowen etwas Trost zu spenden, und erinnerte sich dabei an ihre eigene Liebe.

Die Seherin nickte, senkte kurz die Augen und schaute dann wieder auf. »Ich bin gekommen, um dir die Wahrheit über die Elfen zu erzählen, Wren.«

Wren blieb still, sagte nichts, sondern wartete nur ab. Sie spürte, wie sich in ihr ein kalter, bodenloser Abgrund öffnete.

Eowen schaute zurück in die neblige Nacht, in das Nichts, das sie umgab, und seufzte. »Ich hatte vor langer Zeit einmal eine Vision, in der ich mich mit Ellenroh sah. Sie war lebendig und kraftvoll und strahlte vor einem blassen Hintergrund, der wie die Dämmerung im Winter wirkte. Ich war ihr Schatten, mit ihr verknüpft und an sie gebunden. Was auch immer sie tat, ich tat es auch – ich bewegte mich wie sie, sprach, wenn sie sprach, spürte ihr Glück und ihre Qual. Wir waren zu einer Einheit verschmolzen. Aber dann begann sie zu verblassen und zu verschwinden. Ihre Farbe begann zu verwischen, und ihre Umrisse begannen zu zerfließen. Sie verschwand – doch ich blieb. Ich war noch immer ein Schatten, der jetzt allein war und nach einem Körper suchte, an den ich mich würde binden können. Dann tauchtest du auf – ich kannte dich da noch nicht, aber ich wußte, wer du warst, Alleynes Tochter, Ellenrohs Enkelin. Du sahst mich an, und ich näherte mich dir. Während ich das tat, wurde die Luft um mich herum düster und drohend. Ein Nebel fiel über meine Augen, und ich konnte nur Rot sehen, einen leuchtenden, scharlachroten Dunst. Ich fror bis auf die Knochen, und es war kein Leben mehr in mir.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Dann war die Vision vorbei, aber ich nahm ihre Bedeutung mit hinüber. Die Königin würde sterben, und wenn das geschah, würde auch ich sterben. Du würdest da sein, um es zu bezeugen – vielleicht auch, um daran teilzuhaben.«

»Eowen.« Wren sprach den Namen der Seherin sanft und erschreckt aus.

Die Seherin wandte sich schnell um, und ihre grünen Augen umwölkten sich: »Ich habe keine Angst, Wren. Die Gabe einer Seherin ist sowohl ein Geschenk als auch ein Fluch, aber immer die Richtschnur ihres Lebens. Ich habe gelernt, weder zu fürchten noch zu verleugnen, was sich mir zeigt, sondern es nur zu akzeptieren. Ich akzeptiere jetzt, daß meine Zeit in dieser Welt fast vorbei ist, aber ich will nicht sterben, ohne dir die Wahrheit gesagt zu haben, die du so verzweifelt wissen willst.«

Sie zog den Umhang fester um sich. »Die Königin konnte es nicht tun, weißt du. Sie konnte sich nicht dazu überwinden. Sie wollte sprechen. Sie hätte es vielleicht noch rechtzeitig getan. Aber es war das Entsetzen ihres Lebens, daß die Magie der Elfen soviel Unheil angerichtet und so sehr verletzt hat. Ich war Ellenroh mein ganzes Leben lang treu ergeben, aber ich bin jetzt durch ihren Tod dieser Treue entbunden – zumindest was das betrifft. Du mußt es wissen, Wren. Du mußt es wissen, und dann mußt du es beurteilen, wie du willst, denn du bist tatsächlich die Tochter deiner Mutter und dazu bestimmt, die Königin der Elfen zu sein. Das Elessedilblut spricht deutlich aus dir, und während du noch daran zweifelst, daß es so sein könnte, möchte ich dir versichern, daß es so ist. Ich habe es in meinen Visionen gesehen. Du bist die Hoffnung aller Elfen, jetzt und in Zukunft. Du bist gekommen, um sie zu retten, wenn es ihr Schicksal ist, gerettet zu werden. Und nachdem ich gesehen habe, daß du den Ruhkstab und den Loden angenommen hast, und weil ich weiß, daß die Elfensteine dich beschützen werden, sehe ich, daß dir nun nur noch alles erzählt werden muß, was vor dir verborgen wurde – das Geheimnis der Wiedergeburt der Elfenmagie und die Gründe für die Verseuchung von Morrowindl.«

Wren schüttelte schnell den Kopf. »Eowen, ich habe mich noch nicht wirklich entschieden...«, begann sie.

»Entscheidungen werden meist für uns getroffen, Wren Elessedil«, unterbrach Eowen sie. »Ich weiß das besser als du. Ich weiß das besser, als die Königin es je wußte, glaube ich. Sie war ein guter Mensch, Wren. Sie tat ihr Bestes, und du darfst ihr wegen dem, was ich dir jetzt erzählen werde, keinerlei Vorwürfe machen. Du mußt über das nachdenken, was ich sage. Wenn du das tust, wirst du erkennen, daß Ellenroh von Anfang an gefangen war und daß all ihre Entscheidungen, die sie scheinbar aus eigenem Willen getroffen hat, tatsächlich für sie getroffen wurden. Wenn sie die Wahrheit vor dir geheimhielt, dann war das so, weil sie dich so sehr liebte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie dich verlieren könnte. Du warst alles, was ihr geblieben war.«

Das blasse Gesicht leuchtete im Dunst wie das eines Geistes. Ihre Stimme hatte sich wieder zu einem Flüstern gesenkt.

»Ja, Eowen«, erwiderte Wren weich. »Sie war ja auch alles, was mir geblieben war.«

Die schlanken Hände der Seherin streckten sich aus, um Wren zu berühren. Ihre Haut war so kalt wie Eis. Wren fröstelte gegen ihren Willen. »Dann höre gut zu, was ich sage, Tochter von Alleyne, wiedergefundenes Elfenkind. Höre sehr gut zu!«

Smaragdgrüne Augen glitzerten wie gefrorene Blätter bei Sonnenaufgang. »Als die Elfen das erste Mal nach Morrowindl kamen, war die Insel rein und unverdorben. Es war ein Paradies jenseits von allem, was sie sich je vorgestellt hatten, ganz sauber und neu und sicher. Die Elfen dachten daran, was sie zurückgelassen hatten – eine Welt, die bereits zu verderben begann, die überall kränkelte, wo die Schattenwesen ans Tageslicht geklettert waren und sich nährten, die niedergedrückt wurde durch das Gewicht der Föderation und bedroht war durch den Vormarsch der Heere, die nur Gehorsam kannten und niemals Fragen stellten. Es war eine alte Geschichte, Wren, und die Elfen hatten sie bereits endlose Generationen lang erduldet. Sie wollten davon nichts mehr wissen, sie wollten, daß es vorbei wäre.

Und so begannen sie zu beraten, wie sie ihre neu entdeckte Welt behüten und sich schützen könnten. Die Föderation würde eines Tages vielleicht beschließen, sich sogar über die Grenzen der Vier Länder hinaus auszudehnen. Die Schattenwesen würden dies sicherlich tun. Sie erkannten, daß nur die Magie sie beschützen konnte. Aber die Magie, auf die sie jetzt bauten, kam nicht aus dem Druidenwissen oder den Lehren der neuen Welt, sondern aus der wiederentdeckten Macht ihrer Anfänge. Magie wie diese war unermeßlich und ungezähmt und für diese Generation noch im Anfangsstadium. Aber sie vergaßen die Lektionen der Druiden, des Herrn der Zauberer und seiner Schädelträger, und all jener, die ihr schon zuvor zum Opfer gefallen waren. Sie wollten nicht weichen, so etwas müssen sie sich gesagt haben. Sie wollten klüger sein, vorsichtiger und geschickter, wenn sie sie anwandten.«

Eowen atmete noch einmal tief durch, und ihre Hände entließen Wrens, um das Gewirr von Haaren zurückzuschieben. »Einige hatten... Erfahrungen im Umgang mit der Magie. Sie schufen lebende Wesen, Wren – neue Arten, die ihren Bedürfnissen dienen konnten. Sie hatten eine Möglichkeit gefunden, die Substanz der Wesen aus der Natur herauszuziehen, und konnten sie unter Zuhilfenahme der Magie nähren, so daß sie, als sie wuchs, eine Abart des Wesens wurde, nach dessen Bild sie geformt worden war. Sie konnten von Hunden Hunde machen und von Katzen Katzen, nur daß sie größer, stärker, schneller und klüger waren. Aber das war erst der Anfang. Sie fanden schnell heraus, daß sie Lebensformen miteinander verbinden und so Tiere erschaffen konnten, die die wünschenswertesten Züge zweier Rassen aufwiesen. So entstanden die Stachelkatzen und Dutzende anderer Spezies in den ersten Experimenten mit dem neuen Gebrauch der Magie, Tiere, die denken und sprechen konnten wie Menschen, Tiere, die sich Nahrung suchen, jagen und gegen Feinde Wache stehen konnten, während die Elfen in Sicherheit blieben.

Anfangs war alles in Ordnung, wie es schien. Die Tiere gediehen und dienten den Elfen, wie es vorgesehen war, und alles war gut. Aber im Laufe der Zeit begannen einige derjenigen, die die Macht ausübten, neue Ideen für den Gebrauch der Magie zu entwickeln. Sie hatten einmal Erfolg gehabt, argumentierten sie. Warum sollte das nicht wieder möglich sein? Wenn Tiere aus der Magie gebildet werden konnten, warum dann nicht etwas noch höher Entwickeltes? Warum sollten sie sich nicht selbst verdoppeln? Vielleicht konnten sie ja ein Heer von Menschen bilden, das im Falle eines Angriffs an ihrer Stelle kämpfen würde, während sie hinter den Mauern Arborlons in Sicherheit blieben?«

Eowen schüttelte langsam den Kopf, und ihre feinen Züge verzerrten sich, als sie an irgend etwas Entsetzliches dachte. »Daraufhin gestalteten sie die Dämonen – oder die Wesen, die dann zu Dämonen wurden. Sie nahmen Teile von sich selbst, Fleisch und Blut zunächst, aber dann auch Erinnerungen und Gefühle und alle unsichtbaren Teile ihres Seins, und sie gaben ihnen Leben. Diese neuen Elfen – denn es waren damals noch Elfen – sollten die Soldaten und Jäger und Wächter des Königreichs sein. Sie wußten nicht mehr und hatten keine anderen Bedürfnisse oder Wünsche, als zu dienen. Sie schienen ideal zu sein. Diejenigen, die sie gemacht hatten, sandten sie aus, damit sie an den Küsten der Insel Wachtposten einrichteten. Sie waren nicht auf fremde Hilfe angewiesen. Man mußte sich keine Sorgen um sie machen.«

Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Eine Zeitlang gerieten sie fast in Vergessenheit, wie man mir erzählt hat – als hätte ihre Existenz keine weiteren Auswirkungen.«

Wieder ergriff sie Wrens Hände. »Doch dann begannen die Veränderungen. Nach und nach veränderten sich die Elfen, ihre äußere Erscheinung und auch ihre Persönlichkeit, Es geschah weit entfernt von der Stadt und außerhalb der Sicht und des Bewußtseins der Menschen, und so war niemand da, der es hätte aufhalten oder davor warnen können. Einige der ersten Tiere, die durch die Magie geschaffen worden waren, wie die Stachelkatzen, kamen zu den Elfen und erzählten ihnen, was geschah, aber niemand hörte auf sie. Sie waren immerhin nur Tiere, trotz ihrer Fähigkeiten, und ihre Warnungen wurden in den Wind geschlagen.

Die neuen Elfen, die sich langsam in Dämonen zu verwandeln begannen, fingen an, ihre Posten zu verlassen, sich in die Dschungel zurückzuziehen und alles zu jagen und zu töten, was ihnen über den Weg lief. Die Stachelkatzen und andere waren die ersten Opfer. Die Elfen von Arborlon sollten die nächsten sein. Es wurden Anstrengungen unternommen, dem Treiben dieser Monster ein Ende zu machen, aber die Anstrengungen waren zaghaft und halbherzig, denn die Elfen erkannten immer noch nicht, daß die Probleme nicht nur durch einige wenige, sondern durch alle ihre Schöpfungen entstanden waren. Erst allmählich wurde ihnen bewußt, wie falsch sie die Wirkung der Magie beurteilt hatten, und die Situation geriet außer Kontrolle.

Damals war Ellenroh schon Königin. Ihr Vater hatte dem Keel die Magie des Loden eingegeben, um einen Schild zu schaffen, hinter dem sich die Elfen verbergen konnten, und sie schienen tatsächlich ziemlich sicher zu sein. Aber Ellenroh hatte ihre Zweifel. Sie war entschlossen, den Dämonen ein Ende zu bereiten, und sandte ihre Elfenjäger in die Dschungel, damit sie sie aufstöberten. Aber die Magie hatte zu gut gewirkt, und die Dämonen waren zu stark. Immer wieder drängten sie die Elfen zurück. Der Krieg ging jahrelang weiter. Es war ein furchtbarer, endloser Kampf um die Herrschaft über die Insel, der Morrowindl verwüstete und das Leben hier zu einem unvorstellbaren Alptraum werden ließ.«

Die Hände verkrampften sich. »Schließlich, als Ellenroh durch die Unlenksamkeit der Magie und die Wildheit der Dämonen alle anderen Möglichkeiten genommen worden waren, rief sie die letzten der Elfen in die Stadt. Das war vor zehn Jahren. Es war das Ende jeglichen Kontaktes mit der Außenwelt.«

»Aber warum konnte dieselbe Magie, die diese Wesen entstehen ließ, nicht auch gebraucht werden, um sie zu vernichten?« fragte Wren.

»Oh, Wren, dafür war es viel zu spät.« Eowen wiegte sich, als tröste sie ein Kind. »Die Magie war fort!« Ihre Augen hatten einen entfernten, entstellten Ausdruck. »Alle Magie hat einen Ursprung. Mit der Elfenmagie ist es nicht anders. Das meiste davon kommt aus der Erde und ist ein Geflecht des Lebens, das hier ansässig ist. Die Insel war der Ursprung der Magie, die benutzt wurde, um die Dämonen und vor ihnen die anderen zu erschaffen – ihre Erde, ihre Luft, ihr Wasser, die Elemente ihres Lebens. Aber die Magie ist wertvoll und existiert nicht unbegrenzt. Die Zeit ergänzt, was gebraucht wird, aber nur langsam. Was die Elfen nicht erkannten, war, daß die Dämonen die Magie selbst nötig hatten, als sie sich veränderten. Sie waren daraus erschaffen, und allmählich wurde klar, daß sie sie benötigten, um zu überleben. Sie begannen sie daher systematisch aus der Erde und den Wesen, die darauf lebten, zu saugen, und töteten alles, um davon zu leben. Sie verschlangen die Magie schneller, als sie sich regenerieren konnte. Die Insel begann sich zu verändern, zu verfallen, zu kränkeln und zu sterben. Es war, als könne sie sich nicht mehr vor den Wesen schützen, die sie zerstörten, sowohl Dämonen als auch Elfen. Als die Elfen die Wahrheit erkannten, war nicht mehr genug Magie übriggeblieben, um etwas zu ändern. Es gab schon zu viele Dämonen, als daß man sie hätte vernichten können. Alles jenseits der Stadt war ihnen überlassen. Morrowindl überlebte, wenn auch nur knapp, aber es war zerrüttet und verwandelt, war entweder Ödland oder fleischfressender Dschungel, so daß fast alles, was darauf lebte, so schnell und sicher getötet wurde wie durch die Dämonen. Die Natur war nicht mehr im Gleichgewicht. Killeshan erwachte und kochte in seinem Kessel. Und schließlich begann sich die Magie der Insel fast vollständig zu erschöpfen, und das zwang die Dämonen dazu, Arborlon zu belagern. Der Geruch der Magie des Keel war für sie unwiderstehlich. Er zog sie an, wie ein Magnet Eisen anzieht, und sie entschlossen sich, sich davon zu ernähren.«

Wren erblaßte. »Und jetzt werden sie auch uns angreifen, nicht wahr? Wir haben die Magie des Keel und alle Magie Arborlons und der Elfen im Loden aufbewahrt, und sie werden sie aufspüren.«

»Ja, Wren, das müssen sie.« Eowens Stimme war ein Hauch. »Aber das ist noch nicht das Schlimmste, was ich dir sagen muß. Da ist noch mehr. Hör mir zu. Es ist schlimm genug, daß die Elfen die Monster erschaffen haben, die sie dann vernichten wollten, daß sie Morrowindl über die Möglichkeit einer Rettung hinaus zerrüttet haben, daß sie sich vielleicht sogar selbst als Volk vernichtet haben. Ellenroh konnte es kaum ertragen, daran zu denken: an die Rolle, die sie selbst bei dem Verlust der Magie der Insel gespielt hat, oder an ihr eigenes Versagen, die Dinge wieder zurechtzurücken. Aber was sie vernichtet hat, war die Erkenntnis, warum die Elfen hauptsächlich nach Morrowindl gekommen waren. Ja, es geschah, um der Föderation und den Schattenwesen und allem, was sie verkörperten, zu entkommen und sich von dem Wahnsinn zu befreien und in einer neuen Welt neu zu beginnen. Aber, Wren, die Elfen waren es, die die alte Welt ruiniert haben!«

Wren sah sie ungläubig an. »Die Elfen? Wie denn? Was sagst du da, Eowen?«

Eowens Hände entließen ihre eigenen und legten sich entschlossen zusammen, so daß die Knöchel weiß hervortraten. »Nachdem die Dämonen faktisch alles auf Morrowindl beansprucht hatten, nachdem klar war, daß die Insel verloren war und das Elfenvolk zu Gefangenen seiner eigenen Torheit geworden war, hat die Königin jene aufgespürt und zu sich bestellt, die noch immer mit der Macht zu spielen versuchten, einfältige Männer und Frauen, die anscheinend nicht aus ihren Fehlern lernen konnten und beharrlich glaubten, die Magie könne beherrscht werden. Unter ihnen waren jene, die die Dämonen geschaffen hatten. Sie ließ sie von den Mauern der Stadt hinabwerfen. Sie tat dies nicht aufgrund dessen, was sie getan hatten, sondern aufgrund dessen, was sie außerdem versucht hatten. Sie hatten versucht, die Magie auf andere Weise zu gebrauchen, auf eine Weise, die fast dreihundert Jahre vorher nach Allanons Tod zur Zeit des Verschwindens der Druiden aus den Vier Ländern angewendet worden war.«

Sie atmete tief ein. »Nicht alle, die die alten Methoden zurückgewinnen wollten, kamen mit uns nach Morrowindl. Nicht alle Elfen verließen die Vier Länder. Eine Handvoll jener Machthaber der Magie blieben zurück, verleugnet von ihrem Volk und von den Elessedilherrschern verstoßen.« Eowens Stimme senkte sich, bis sie fast unhörbar war. »Diese Handvoll, Wren, schuf Monster einer anderen Art.«

Es entstand eine lange, furchtbare Stille, während sich die Seherin und die Fahrende in der Dämmerung ansahen. Die Kälte in Wrens Bauch begann in ihre Glieder zu kriechen. »Schatten!« flüsterte sie entsetzt und erkannte jetzt die Wahrheit, eine Wahrheit, die die ganze Zeit vor jenen verborgenen gehalten worden war, die von Allanons Schatten zum Hadeshorn gerufen worden waren. »Du meinst also, daß die Elfen die Schattenwesen erschaffen haben?«

»Nein, Wren.« Eowens Stimme drohte zu ersticken, als sie sich bemühte, zum Ende zu kommen. »Die Elfen haben die Schattenwesen nicht erschaffen. Die Elfen sind die Schattenwesen.«

Wren stockte der Atem. Es gab da einen Knoten, der sie zu ersticken drohte. Sie erinnerte sich des Schattenwesens am Wing Hove, an den, der sie so lange verfolgt hatte, an den, der sie schließlich getötet hätte, wenn nicht die Elfensteine gewesen wären. Sie versuchte, sich dieses Wesen als Elf vorzustellen, aber es gelang ihr nicht.

»Elfen, Wren.« Eowens wispernde Stimme verlangte erneut ihre Aufmerksamkeit. »Mein Volk. Ellenrohs. Dein eigenes. Nur einige wenige, weißt du, aber dennoch Elfen. Jetzt gibt es auch andere, vermute ich, aber am Anfang waren es nur Elfen. Sie versuchten, etwas Besseres zu sein, glaube ich, sie wollten wohl mehr sein. Aber alles ging schief, und sie wurden..., was sie sind. Selbst dann noch weigerten sie sich, etwas zu ändern und Hilfe zu suchen. Ellenroh wußte das. Alle Elfen wußten das, zumindest früher einmal. Darum gingen sie, darum ließen sie ihre Heimat im Stich und flohen. Sie waren entsetzt über das, was ihre Brüder getan hatten. Sie waren entsetzt darüber, daß die Magie so mißbraucht worden war. Denn es war irregeleitete und unbeständige Magie, und was sie schufen, war nicht immer das, was sie wollten.«

Eowen lächelte bitter. »Verstehst du jetzt, warum die Königin dir die Wahrheit nicht offenbaren konnte? Verstehst du, welche Last sie trug? Sie war eine Elessedil, und ihre Vorfahren hatten das alles zugelassen! Sie hatte bei dem Mißbrauch der Magie selbst geholfen, obwohl es ihr nur darum ging, ihr Volk zu retten. Sie konnte es dir nicht sagen. Ich ertrage es kaum, es jetzt tun zu müssen! Ich frage mich auch jetzt noch, ob ich einen Fehler begangen habe...«

»Eowen!« Wren ergriff die Hände der Seherin und wollte sie gar nicht wieder loslassen. »Es war richtig, daß du es mir gesagt hast. Großmutter hätte das gleich zu Anfang tun sollen. Es ist eine furchtbare, widerliche Sache. Aber...«

Sie brach hilflos ab, und ihre Augen hefteten sich an die der Seherin. Vertraue niemandem, hatte die Addershag sie gewarnt. Jetzt verstand sie, warum. Die Geheimnisse von dreihundert Jahren lagen ausgebreitet vor ihr, und erst angesichts des Todes war sie in sie eingeweiht worden.

Eowen stand auf und befreite ihre Hände. »Ich habe dir heute nacht genug von der Wahrheit erzählt«, flüsterte sie. »Ich wünschte, es wäre nicht nötig gewesen.«

»Nein, Eowen...«

»Sei lieb, Wren Elessedil. Vergib der Königin. Und mir. Und den Elfen, wenn du kannst. Erinnere dich der Wichtigkeit der Verantwortung, die dir übertragen wurde. Bringe den Loden zurück in die Vier Länder. Laß die Elfen neu beginnen. Laß sie helfen, die Dinge wieder zurechtzurücken.«

Sie wandte sich um, ignorierte Wrens geflüsterte Bitte, sie solle doch bleiben, und eilte davon.

Wren blieb danach bis zur Dämmerung wach, beobachtete, wie der Nebel vor der Leere umherwirbelte, und sah hinaus in die undurchdringliche Nacht. Sie lauschte auf die Bewegungen der Wachen, auf das Atmen der Schlafenden, auf das leere Flüstern ihrer Gedanken, während sie mit der Wahrheit rangen, die Eowen ihr hinterlassen hatte.

Die Schattenwesen sind Elfen.

Die Worte wiederholten sich wie das warnende Zischen einer Schlange. Sie war die einzige, die es wußte, die einzige, die die anderen warnen konnte. Aber sie mußte erst von Morrowindl fortkommen. Sie mußte überleben.

Die Nacht schien sich um sie herum zu verdichten. Sie hatte die Wahrheit haben wollen. Jetzt hatte sie sie. Es war ein bitterer, verdrehter Triumph, und der Preis dafür, daß sie ihn errungen hatte, mußte noch festgelegt werden.

Oh, Großmutter!

Ihre Hände ergriffen den Ruhkstab, und Enttäuschung, Ärger und Traurigkeit breiteten sich in ihr aus. Sie hatte ihr Geburtsrecht gefunden, ihre Identität entdeckt, die Geschichte ihres Lebens kennengelernt, und jetzt wünschte sie, das alles würde für immer verschwinden. Es war abscheulich und verdorben und an allen Ecken von Verrat und Wahnsinn gezeichnet. Sie haßte es.

Und dann, als die Düsternis ihrer Stimmung einen Punkt erreicht hatte, wo sie vollständig zu sein schien, wo es schien, als ob nichts Schlimmeres mehr passieren könnte, flüsterte ihr ein Gedanke etwas zu, das noch schwärzer war.

Die Schattenwesen sind Elfen – und du bringst das gesamte Elfenvolk zurück in die Vier Länder.

Warum?

Die Frage hing wie eine Anklage in der Stille ihres Bewußtseins.

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