Wren Ohmsford gähnte. Sie saß auf einer Klippe und sah über die Blaue Spalte, den Rücken an den glatten Stamm einer uralten Weide gelehnt. Das Meer erstreckte sich vor ihr, ein schimmerndes Kaleidoskop von Farben am Rande des Horizonts, wo der Sonnenuntergang das Wasser mit roten und goldenen und purpurfarbenen Spritzern zierte und tiefhängende Wolken seltsame Muster vor dem dunkler werdenden Himmel bildeten. Ein Halbdunkel breitete sich geruhsam aus, ein Grauwerden des Lichts, das Wispern einer Abendbrise vom Wasser her, ein ruhiges Herabsinken. Grillen begannen zu zirpen, und flimmernd kamen Glühwürmchen in Sicht.
Wren zog die Knie bis zur Brust hoch, denn sie kämpfte darum, aufrecht sitzen zu bleiben, da sie sich in Wirklichkeit viel lieber hingelegt hätte. Sie hatte jetzt schon fast zwei Tage lang nicht geschlafen, und die Müdigkeit holte sie allmählich ein. Es war schattig und kühl auf diesem Platz unter dem Baldachin der Weide, und es wäre leicht gewesen, loszulassen, hinabzusinken, sich neben ihrer Rinde zusammenzurollen und zu entgleiten. Ihre Augen schlössen sich unfreiwillig bei diesem Gedanken, wurden aber dann sofort wieder aufgerissen. Sie konnte nicht schlafen, solange Garth nicht zurückgekehrt war, das wußte sie. Sie mußte wachsam bleiben.
Sie erhob sich und verließ den Rand der Klippe. Sie spürte die Brise auf ihrem Gesicht und ließ die Wohlgerüche des Meeres ihre Sinne erfüllen. Kraniche und Möwen glitten über das Wasser und stießen herab, anmutig und träge in ihrem Flug. Weit draußen, zu weit, als daß man es deutlich hätte sehen können, zerteilte irgendein großer Fisch mit kraftvollem Schwung das Wasser und verschwand. Sie ließ ihren Blick wandern. Ohne Unterbrechung führte die Küstenlinie von der Stelle, wo sie stand, soweit, wie sie sehen konnte: zerklüftete, baumbestandene Klippen, von den starren, weißbehüteten Bergen des Rock Spur im Norden und dem Irrybis im Süden gestützt. Eine Reihe felsiger Strande trennte die Klippen vom Wasser, am Flutsaum waren sie mit Treibholz und Muscheln und Strängen von Meeresalgen übersät.
Jenseits der Strände war nur die leere Weite der Blauen Spalte. Ich bin bis ans Ende der bekannten Welt gereist, dachte sie bekümmert, und noch immer dauerte die Suche nach den Elfen an.
Eine Eule schrie in den tiefen Wäldern hinter ihr und brachte sie dazu, sich umzuwenden. Sie spähte vorsichtig umher, ob sich etwas bewegte, suchte nach einem Hinweis auf eine Störung und fand keinen. Es gab auch kein Zeichen auf Garth. Er war noch immer draußen auf Spurensuche...
Sie schlenderte zurück zu der verglimmenden Asche der Kohlen und trat die Überreste mit ihrem Stiefel aus. Garth hatte jede Art offenen Feuers verboten, bis er sich versichert hatte, daß sie in Ruhe gelassen wurden. Er war den ganzen Tag gereizt und mißtrauisch gewesen, beunruhigt durch etwas, das keiner von ihnen sehen konnte. Ihn quälte ein Gefühl, daß irgend etwas nicht richtig sei. Wren neigte dazu, seine Unruhe seinem Mangel an Schlaf zuzuschreiben. Andererseits waren Garths Vorahnungen selten falsch gewesen. Wenn er beunruhigt war, dann spürte sie es, ohne ihn fragen zu müssen.
Sie wünschte, er würde zurückkehren.
Inmitten der Bäume hinter der Klippe befand sich ein Teich, und sie ging hin, kniete sich nieder und benetzte ihr Gesicht mit Wasser. Die Oberfläche des Teichs kräuselte sich bei der Berührung durch ihre Hände und glättete sich wieder. Sie konnte sich selbst auf dem Wasser gespiegelt sehen, als sich die Verzerrung auflöste, bis ihr Bild fast einem Spiegelbild entsprach. Sie starrte darauf hinab – auf ein kaum erwachsenes Mädchen, mit entschieden elfischen Zügen, mit scharf gespitzten Ohren, schrägstehenden Brauen, einem schmalen Gesicht mit hohen Wangenknochen und nußbrauner Haut. Sie sah haselnußbraune Augen, die selten stillstanden, ein halbes Lächeln, das zeigte, daß sie sich einen ganz persönlichen Spaß machte, und aschblondes Haar, das kurz geschnitten und stark gelockt war. Es war eine Gespanntheit in ihr, so dachte sie – eine Anspannung, die nicht vergehen würde, unabhängig davon, wie sehr auch immer sie sich darum bemühen würde.
Sie wippte auf ihren Fersen und erlaubte sich noch ein leichtes Lächeln, während sie entschied, daß sie das, was sie sah, genug mochte, um noch ein wenig länger damit zu leben.
Sie faltete die Hände im Schoß und senkte den Kopf. Die Suche nach den Elfen – wie lange dauerte sie nun schon? Wir lange war es her, daß der alte Mann – der behauptete, Cogline zu sein – zu ihr gekommen war und von den Träumen gesprochen hatte? Wochen? Aber wie viele? Sie hatte das Zeitgefühl verloren. Der alte Mann hatte von den Träumen gewußt und sie aufgefordert, selbst die dahinter liegende Wahrheit herauszufinden. Und sie hatte beschlossen, seine Herausforderung anzunehmen, zum Hadeshorn im Tal von Shale zu gehen und den Schatten Allanons zu treffen. Warum sollte ich dies nicht tun, hatte sie sich gesagt. Vielleicht würde sie etwas darüber erfahren, woher sie kam, über ihre Eltern, die sie nie gekannt hatte, oder über ihre Geschichte.
Seltsam. Bis der alte Mann aufgetaucht war, war sie an ihrer Herkunft nicht interessiert gewesen. Sie hatte sich selbst davon überzeugt, daß dies nicht wichtig sei. Aber etwas an der Art, in der er zu ihr sprach, an den Worten, die er gebrauchte, irgend etwas hatte sie verändert.
Sie streckte die Hand aus, um voller Befangenheit den Lederbeutel an ihrem Hals zu betasten und fühlte die harten Linien der bemalten Steine, der Elfensteine, ihrem einzigen Verbindungsglied zur Vergangenheit. Woher kamen sie? Warum hatte man sie ihr gegeben?
Elfenzüge, Ohmsfordblut und das Herz und das Können einer Fahrenden – das alles gehörte ihr. Aber wie war sie dazu gekommen?
Wer war sie?
Sie hatte es am Hadeshorn nicht herausgefunden. Allanon war gekommen, wie versprochen, dunkel und drohend sogar im Tod. Aber er hatte ihr nichts gesagt. Statt dessen hatte er ihr eine Aufgabe aufgetragen – hatte jedem von ihnen eine Aufgabe aufgetragen, den Kindern von Shannara, wie er sie nannte, Par und Walker und ihr selbst. Aber ihre Aufgabe? Sie schüttelte bei dieser Erinnerung den Kopf. Sie sollte die Elfen suchen, sie finden und zurückbringen in die Welt der Menschen. Die Elfen, die über hundert Jahre lang von niemandem gesehen worden waren, von denen die meisten glaubten, sie hätten überhaupt nie existiert und die für ein Kindermärchen gehalten wurden – die sollte sie finden.
Sie hatte zunächst nicht suchen wollen. Sie war verwirrt gewesen durch das, was sie gehört hatte und was es an Gefühlen in ihr auslöste, nicht gewillt, sich einzulassen oder sich selbst für etwas zu opfern, das sie nicht verstand und das ihr gleichgültig war. Sie hatte die anderen verlassen und war mit Garth als ihrem einzigen Begleiter wieder zurück ins Westland gegangen. Sie hatte vorgehabt, ihr Leben als Fahrende wiederaufzunehmen. Die Schattenwesen waren nicht ihre Sorge. Die Probleme der Rassen waren nicht ihre eigenen. Aber die Ermahnung des Druiden war ihr nicht aus dem Sinn gegangen, und fast ohne es zu merken, hatte sie dennoch mit ihrer Suche begonnen. Es hatte mit Fragen angefangen, die sie hier und dort stellte. Hatte jemand gehört, ob es wirklich Elfen gab? Hatte jemand sie überhaupt je gesehen? Wußte jemand, wo man sie finden konnte? Es waren Fragen, die sie zunächst mühelos stellte, ganz nebenbei, aber im Laufe der Zeit mit wachsender Neugier und schließlich fast mit Dringlichkeit.
Was, wenn Allanon recht hatte? Was, wenn die Elfen noch immer irgendwo da draußen waren? Was, wenn nur sie besaßen, was gegen die Schattenwesenplage half?
Aber die Antworten auf ihre Fragen waren alle gleich gewesen. Niemand wußte etwas von den Elfen. Niemand kümmerte sich darum.
Und dann hatte es angefangen, daß etwas ihnen folgte – jemand oder etwas, ihr Schatten, wie sie es schließlich nannten, ein Wesen, das klug genug war, ihnen trotz all ihrer Vorsichtsmaßnahmen zu folgen, und listig genug, dabei nicht erwischt zu werden. Zweimal hatten sie vorgehabt, es zu fangen, waren aber gescheitert. Mehrere Male hatten sie versucht, denselben Weg zurückzugehen, um hinter das Wesen zu gelangen, und konnten es nicht. Sie hatten niemals sein Gesicht gesehen, niemals auch nur einen flüchtigen Blick darauf erhascht. Sie hatten keine Vorstellung davon, wer oder was es war.
Es war noch immer bei ihnen gewesen, als sie den Wilderun betraten und nach Grimpen Ward hinuntergingen. Dort hatten sie zwei Nächte zuvor die Addershag gefunden. Ein Fahrender hatte ihnen von der alten Frau erzählt, einer Seherin, wie es hieß, die Geheimnisse kannte und etwas von den Elfen wissen könnte. Sie hatten sie im Keller eines Wirtshauses gefunden, angekettet und gefangen von einer Gruppe von Männern, die aus ihrer Gabe Geld schlagen wollten. Wren hatte die Männer dazu gebracht, sie mit der alten Frau sprechen zu lassen, einem Lebewesen, das weitaus gefährlicher und listiger war, als die Männer je vermutet hätten, die sie gefangen hielten.
Die Erinnerung an dieses Treffen war noch immer lebendig und erschreckend.
Der Leib der alten Frau war eine trockene Hülle, ihr Gesicht zu einem Netz aus Linien und Runzeln geschrumpft. Zerzaustes, weißes Haar fiel über die gebrechlichen Schultern. Wren näherte sich und kniete sich neben sie. Die Alte hob den Kopf, und Wren sah ihre milchigen, starren Augen.
»Bist du die Seherin, die man Addershag nennt, altes Mütterchen?« fragte Wren leise.
Die toten Augen blinzelten, und eine dünne Stimme krächzte.
»Wer will das wissen? Sag mir deinen Namen.«
»Mein Name ist Wren Ohmsford.«
Die Alte hob ihre Hände und berührte Wrens Gesicht und erforschte ihre Züge. Die alten Hände strichen über die Haut des Mädchens wie trockene Blätter. Schließlich zog die Alte die Hände wieder zurück.
»Du bist ein Elf.«
»Ich habe Elfenblut.«
»Ein Elf.« Die Stimme der alten Frau war rauh und eindringlich, ein Zischen in der Stille des Bierhauskellers. Das runzlige Gesicht neigte sich zur Seite, als denke sie nach. »Ich bin die Addershag. Was willst du von mir?«
Wren schaukelte ein wenig auf ihren Stiefelabsätzen hin und her. »Ich suche die Westlandelfen. Ich erfuhr vor einer Woche, daß du wissen könntest, wo sie zu finden sind – falls es sie noch gibt.«
Die Addershag kicherte. »Oh, es gibt sie noch. Allerdings. Aber sie zeigen sich nicht jedem – seit vielen Jahren überhaupt niemandem. Ist es so wichtig für dich, sie zu sehen, Elfenmädchen?
Suchst du sie, weil du ein Bedürfnis nach deinesgleichen hast?«
Die milchigen Augen starrten blind auf Wrens Gesicht. »Nein, du nicht. Warum dann?«
»Weil es ein Auftrag ist, der mir erteilt wurde – ein Auftrag, den anzunehmen ich mich bereiterklärt habe«, antwortete Wren vorsichtig.
»Ein Auftrag also!« Die Falten und Runzeln im Gesicht der Alten vertieften sich. »Beug dich näher, Elfenmädchen.«
Wren zögerte und lehnte sich dann zaghaft vor. Die Addershag hob wieder ihre Hände und betastete noch einmal Wrens Gesicht, dann strich sie über ihren Hals und ihren Körper. Als die alte Frau die Bluse auf der Brust des Mädchens berührte, riß sie die Hände zurück, als habe sie sich verbrannt. »Magie!« keuchte sie.
Wren schrak zusammen. Dann packte sie impulsiv die Handgelenke der Alten. »Welche Magie? Was meinst du damit?«
Aber die Addershag schüttelte heftig den Kopf, kniff die Lippen zusammen und ließ den Kopf auf ihre eingefallene Brust sinken. Wren hielt sie noch einen Moment fest und ließ sie dann los.
»Elfenmädchen«, flüsterte die alte Frau. » Wer hat dich auf die Suche nach den Westlandelfen geschickt?«
Wren atmete tief ein, um ihre Angst zu bezwingen. »Der Schatten Allanons«, erwiderte sie dann.
Der Kopf der Alten richtete sich mit einem heftigen Ruck wieder auf. »Allanon!« Sie stieß den Namen wie einen Fluch aus.
»So! Ein Druidenauftrag also, wie? Nun gut. Hör mir also zu.
Geh nach Süden durch den Wilderun, überquere das Irrybisgebirge und folge der Küste der Blauen Spalte. Wenn du zu den Rock-Höhlen gelangt bist, entzünde ein Feuer und lasse es drei Tage und drei Nächte ununterbrochen brennen. Jemand wird kommen und dir helfen. Verstanden?«
»Ja«, antwortete Wren und fragte sich gleichzeitig, ob das wirklich der Fall sein würde.
»Hüte dich, Elfenmädchen«, warnte die Alte und hob ihre magere Hand. »Ich sehe Gefahren, harte Zeiten, Verrat und unvorstellbar Böses auf dich zukommen. Visionen sind in meinem Kopf, Wahrheiten, die mich mit ihrem Wahnsinn heimsuchen. Hör auf mich. Folge deinem eigenen Verstand, Mädchen. Traue niemandem!«
Traue niemandem!
Wren hatte die alte Frau schließlich verlassen, denn sie war gedrängt worden zu gehen, obwohl sie angeboten hatte, zu bleiben und zu helfen. Sie war zu Garth zurückgekehrt, und dann hatten die Männer versucht, sie zu töten, weil das natürlich die ganze Zeit ihre Absicht gewesen war. Ihr Versuch war fehlgeschlagen, und sie hatten für ihre Dummheit bezahlt – vielleicht inzwischen mit ihrem Leben, wenn die Addershag ihrer müde geworden war.
Nachdem Wren und Garth unbehelligt aus Grimpen Ward herausgekommen waren, hatten sie sich nach Süden gewandt, den Anweisungen der alten Seherin folgend, noch immer auf der Suche nach den verschwundenen Elfen. Sie waren zwei Tage ohne Unterbrechung gereist. Sie waren bemüht gewesen, soviel Wegstrecke wie möglich zwischen sich und Grimpen Ward zu legen, und auch erpicht darauf, einen weiteren Versuch zu unternehmen, ihren Schatten abzuschütteln. Wren hatte etwas eher an diesem Tag gedacht, daß es ihnen vielleicht schon gelungen sei. Garth war sich nicht so sicher gewesen. Seine Unruhe verging nicht. Daher war er, als sie für die Nacht haltgemacht hatten, weil sie letztendlich schlafen und ihre Kräfte wieder auffrischen mußten, noch einmal denselben Weg zurückgegangen. Vielleicht würde er etwas entdecken, was die Angelegenheit klären könnte, hatte er gesagt. Vielleicht auch nicht. Aber er wollte es versuchen.
Das war Garth. Nie irgend etwas dem Zufall überlassen. Hinter ihr, in den Wäldern, scharrte eines der Pferde unruhig, doch es beruhigte sich bald wieder. Garth hatte die Tiere hinter den Bäumen versteckt, bevor er gegangen war. Wren wartete einen Moment, um sicher zu sein, daß alles still war, stand dann wieder auf und ging erneut hinüber zu der Weide. Sie verlor sich in den tiefen Schatten, die von deren Baldachin gebildet wurden, und ließ sich erneut entspannt gegen den breiten Stamm sinken. Weit im Westen, wo Wasser und Himmel aufeinander trafen, war das Licht zu einem silbernen Schimmern verblaßt. Magie, hatte die Addershag gesagt. Wie konnte das sein? Wenn es noch Elfen gab und wenn sie sie finden konnte, würden die ihr sagen, was die alte Frau ihr nicht hatte erklären können?
Sie lehnte sich zurück, schloß für einen Moment die Augen und fühlte, wie sie davonglitt, und ließ es geschehen. Als sie wieder aufschreckte, hatte die Nacht die Dämmerung aufgesaugt, die Dunkelheit lag rundum, außer dort, wo Mond und Sterne einen Weg durch das Blattwerk fanden und alles in einen Silberglanz hüllten. Das Lagerfeuer war kalt geworden, und sie zitterte in der Kälte, die die Küstenluft erfüllte. Sie erhob sich, ging hinüber zu ihrem Gepäck, nahm ihren Reiseumhang heraus und schlang ihn wärmend um sich. Dann kehrte sie unter den Baum zurück und ließ sich erneut nieder.
Du bist eingeschlafen, schalt sie sich selbst. Was würde Garth sagen, wenn er das herausfinden würde?
Danach blieb sie wach, bis er zurückkam. Es war fast Mitternacht. Die Welt um sie herum war ruhig geworden bis auf das einschläfernde Rauschen der Meereswogen, die unter ihr auf den Strand aufliefen. Garth tauchte lautlos auf, und doch hatte sie gespürt, daß er kam, bevor sie ihn sah. Aber das bereitete ihr nur geringe Befriedigung. Er trat unter den Bäumen hervor und kam direkt auf die Stelle zu, wo sie sich verborgen hielt, regungslos in der Nacht, ein Teil der alten Weide. Er setzte sich vor sie, groß und dunkel, gesichtslos in den Schatten. Dann hob er seine großen Hände und begann in der Zeichensprache zu reden. Seine Finger bewegten sich rasch.
Ihr Schatten war noch immer irgendwo hinter ihnen und folgte ihnen.
Wren spürte Kälte in ihrem Bauch, und sie schlang ihre Arme fest um sich.
»Hast du es gesehen?« fragte sie und machte entsprechende Zeichen.
Nein.
»Weißt du schon, was es ist?«
Nein.
»Nichts? Überhaupt nichts davon?«
Er schüttelte den Kopf. Es verwirrte sie, daß sie es zugelassen hatte, daß sich ihre Enttäuschung so offensichtlich in ihrer Stimme widerspiegelte. Sie wäre gern so ruhig, wie er es war, würde gern so klar denken können, wie er es ihr beigebracht hatte. Sie wollte eine gute Schülerin sein.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie.
»Greift es uns schon an, Garth? Oder wartet es noch ab?«
Es wartet noch ab, signalisierte er. Er zuckte die Achseln, sein schroffes, bärtiges Gesicht war ausdruckslos, beherrscht. Sein Jägerblick. Wren kannte diesen Blick. Er erschien immer dann, wenn Garth sich bedroht fühlte, eine Maske, die verdecken sollte, was in ihm vorging. Es wartet noch ab, wiederholte sie still für sich selbst. Warum? Wofür?
Garth erhob sich, schlenderte zu seinem Gepäck hinüber, zog ein großes Stück Käse und etwas zu trinken heraus und setzte sich. Wren ging zu ihm, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er aß und trank, ohne sie anzusehen. Statt dessen schaute er hinaus in die schwarze Weite der Blauen Spalte und schien alles andere vergessen zu haben. Wren betrachtete ihn nachdenklich. Er war ein Riese von einem Mann, stark wie ein Bär, schnell wie eine Katze, erfahren im Jagen und Spurenlesen, erfahren im Überleben, wie sie sonst niemanden kannte. Er war ihr Beschützer und Lehrer, seit sie ein kleines Mädchen war. Nachdem sie ins Westland zurückgebracht worden war, war sie nach ihrem kurzen Aufenthalt bei der Ohmsfordfamilie der Obhut der Fahrenden überantwortet worden und damit Garth. Wie war das alles gekommen? fragte sie sich erneut. Ihr Vater war ein Ohmsford gewesen, ihre Mutter eine Fahrende, doch sie konnte sich an beide nicht erinnern. Warum hatte man sie zu den Fahrenden zurückgebracht, anstatt ihr zu erlauben, bei den Ohmsfords zu bleiben? Wer hatte diese Entscheidung getroffen? Es war niemals richtig erklärt worden. Garth behauptete, es nicht zu wissen. Garth behauptete, er wisse nur, was andere ihm gesagt hätten, und das sei wenig, denn seine einzige Anweisung, der Auftrag, den er übernommen habe, sei, daß er für sie zu sorgen habe. Er hatte dies getan, indem er ihr sein Wissen vermittelt und sie in den Fähigkeiten, die er beherrschte, unterwiesen hatte und sie in allem so gut werden ließ, wie er selbst es war. Er hatte hart daran gearbeitet, dafür zu sorgen, daß sie ihre Lektionen lernte. Das war ihr gelungen. Was auch immer Wren Ohmsford wissen mochte, sie wußte als Wichtigstes und Entscheidendes, wie man am Leben blieb. Garth hatte dies sichergestellt. Aber es war keine Ausbildung, wie sie normalerweise ein Kind eines Fahrenden erhielt – besonders ein Mädchen –, und Wren hatte das von Anfang an gewußt. Daher vermutete sie, daß Garth mehr wußte, als er sagte. Nach einiger Zeit war sie sogar überzeugt davon. Doch Garth wollte nichts preisgeben, wenn sie das Thema auch noch so dringlich zur Sprache brachte. Er schüttelte einfach den Kopf und signalisierte ihr, daß sie besondere Fähigkeiten brauche, daß sie eine Waise und allein sei und daß sie stärker und klüger sein müsse als andere. Er sagte es, aber er weigerte sich, das zu erklären.
Sie bemerkte, daß er seine Mahlzeit beendet hatte und sie beobachtete. Sein verwittertes, bärtiges Gesicht wurde nicht mehr von Schatten verdeckt. Sie konnte die Umrisse seiner Züge klar erkennen und in ihnen lesen. Sie sah, daß sich seine Augenbrauen vor Anteilnahme furchten. Sie sah Freundlichkeit, die sich in seinen Augen spiegelte. Sie spürte Entschlossenheit rundum. Es war seltsam, dachte sie, aber er war immer in der Lage gewesen, ihr mit einem einzigen Blick mehr zu übermitteln, als andere mit einem Wortschwall übermitteln konnten.
»Ich mag es nicht, auf diese Art gejagt zu werden«, sagte sie in der Zeichensprache. »Ich hasse dies Abwarten, um herauszufinden, was geschieht.«
Er nickte, seine dunklen Augen verrieten Angespanntheit.
»Es hat etwas mit den Elfen zu tun«, fuhr sie impulsiv fort.
»Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl habe, daß es so ist, aber es ist so. Ich bin mir sicher.«
Dann werden wir bald etwas erfahren, antwortete er.
»Wenn wir zu den Rock-Höhlen kommen«, stimmte sie zu.
»Ja. Denn dann werden wir wissen, ob die Addershag die Wahrheit gesagt hat, ob dort wirklich noch Elfen sind.«
Und was uns folgt, wird es vielleicht auch wissen wollen.
Ihr Lächeln war angespannt. Sie betrachteten einander einen Moment lang stumm und ergründeten, was sie in den Augen des anderen sahen, und dachten darüber nach, was vor ihnen liegen könnte.
Schließlich erhob sich Garth und deutete auf den Wald. Sie nahmen ihr Gespräch auf und gingen zurück zu der Weide. Nachdem sie sich am Fuße ihres Stammes niedergelassen hatten, breiteten sie ihre Schlafmatten aus und wickelten sich in ihre Umhänge. Trotz ihrer Müdigkeit bot Wren an, die erste Wache zu übernehmen, und Garth war einverstanden. Er rollte sich in seinem Umhang zusammen, legte sich dann neben sie und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Wren lauschte seinem ruhiger werdenden Atem und richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf die nächtlichen Geräusche hinter ihnen. Es blieb ruhig auf der Klippe, die Vögel und Insekten waren still geworden, der Wind war nur noch ein Flüstern und der Ozean ein besänftigendes, entferntes Murmeln. Was auch immer ihnen dort draußen folgte, schien weit entfernt. Doch das war eine Täuschung, warnte sie sich selbst und wurde noch wachsamer.
Sie berührte den Beutel auf ihrer Brust, der angeblich Elfensteine enthielt. Er war ihr Talisman, dachte sie, ein Zauber, der Böses abwehrte, der vor Gefahren schützte und sie sicher durch alle Herausforderungen bringen würde, die ihnen begegnen würden. Drei bemalte Steine, die Symbole einer Magie, die einst allgegenwärtig, jetzt aber verloren war wie die Elfen, wie ihre Vergangenheit. Sie fragte sich, ob irgend etwas davon wiedergefunden werden könnte.
Oder auch, ob es das sollte.
Sie lehnte sich gegen den Stamm der Weide zurück, starrte hinaus in die Nacht und suchte vergeblich nach einer Antwort.