5

Tiger Ty wollte rasch fortkommen, aber er mußte fast eine Stunde warten, während Wren und Garth ins Tal zurückgingen, um ihre Ausrüstung und die Waffen einzusammeln, die sie auf ihrer Reise mit sich nehmen wollten, und ihre Pferde zu versorgen. Die Pferde waren angepflockt, aber Garth ließ sie jetzt frei, so daß sie ungehindert grasen und trinken konnten. Das Tal bot genug Gras und Wasser zum Überleben, und die Pferde waren darauf abgerichtet, nicht fortzulaufen. Wren sah ihre Vorräte durch und wählte aus, was sie brauchen würden und tragen konnten. Die meisten der Vorräte waren zu unhandlich, und sie versteckte sie für ihre Rückkehr.

Wenn sie überhaupt zurückkehren würden, dachte sie düster.

Was hatte sie getan? Ihre Gedanken drehten sich wirbelnd, so ungeheuer war die Verpflichtung, die sie da gerade einging, und das veranlaßte sie, sich zu fragen, wenn auch nur in ihren geheimsten Gedanken, ob sie wohl Grund dazu haben würde, ihr Ungestüm zu bedauern.

Als sie wieder oben auf den Klippen anlangten, wartete Tiger Ty bereits ungeduldig. Er befahl Spirit, sich aufzustellen, und half Wren und Garth, auf den Riesenvogel zu klettern und sich mit den Riemen des Harnischs auf ihren Plätzen festzubinden. Es gab Fußschlaufen, verknotete Handgriffe und einen Taillengurt. Das alles diente dazu, sie auf ihrem Platz zu halten. Der Flugreiter verbrachte einige Zeit damit, ihnen zu erklären, wie der Rock beim Flug reagieren würde und wie sie sich beim Fliegen fühlen würden. Er gab jedem von ihnen ein Stück einer bitteren Wurzel zum Kauen und erklärte ihnen, daß sie dadurch keine Übelkeit verspüren würden.

»Nicht, daß zwei so erfahrene, mit dem Leben der Fahrenden vertraute Veteranen durch derlei Dinge zu beunruhigen wären«, spottete er und brachte ein Grinsen zustande, das noch schlimmer war als sein Stirnrunzeln.

Er kletterte auch auf den Rock und machte es sich vor ihnen bequem, zog seine schweren Handschuhe an, stieß ohne Vorwarnung einen Schrei aus und schlug Spirit auf den Hals. Der Riesenvogel kreischte zur Erwiderung, breitete seine Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Sie überflogen den Rand der Klippen, tauchten scharf abwärts, nutzten eine Luftströmung und erhoben sich himmelwärts. Wren spürte ihren Magen schlingern. Sie schloß die Augen, als er ihr zu schaffen machte, öffnete sie aber bald wieder und wurde sich bewußt, daß Tiger Ty sie über seine Schulter hinweg ansah und kicherte. Sie lächelte tapfer zurück. Spirit schwebte im Gleitflug über die Blaue Spalte, seine Flügel bewegten sich kaum und er überließ alles dem Wind. Die Küstenlinie hinter ihnen wurde klein und verlor schnell ihre Konturen. Bald war sie nicht mehr als eine dünne, dunkle Linie vor dem Horizont.

Die Zeit verrann. Sie sahen nichts unter sich außer verstreute, felsige Eilande und gelegentlich das Aufplatschen eines großen Fisches. Seevögel wirbelten umher und tauchten als kleine weiße Blitze durch die Luft, und Wolken zogen wie Streifen Gaze über den westlichen Horizont. Der Ozean erstreckte sich endlos, eine weite blaue Oberfläche, die mit Streifen schäumender, ewig in Richtung entfernter Strande rollender Wellenkämme besetzt war. Nach einiger Zeit verlor Wren ihr anfängliches Unbehagen und entspannte sich. Garth hatte größere Anpassungsschwierigkeiten. Er saß dicht hinter ihr, und wann immer sie zu ihm zurückschaute, sah sie sein dunkles Gesicht angespannt und seine Hände um die Halteriemen geklammert. Wren hörte auf, ihn anzusehen, und konzentrierte sich auf den Ozean, der unter ihnen vorbeiflog.

Wenig später begann sie auch über Morrowindl und die Elfen nachzudenken. Tiger Ty schien niemand zu sein, der die Gefahren übertrieb, die sie erwarten würden, wenn sie tatsächlich herausfinden wollte, was mit den Elfen geschehen war. Er hatte auch recht, daß ihre Entdeckung wenig Sinn haben würde, wenn sie nicht überlebte. Wer sollte sie dann nutzen? Was genau hatte sie eigentlich vor? Angenommen, die Elfen waren noch immer dort auf Morrowindl? Angenommen, sie lebten? Wenn zehn Jahre lang niemand hinein oder hinaus gekommen war, wie sollte es dann etwas ändern, wenn sie dort auftauchte? Warum sollten die Elfen, wie auch immer ihre gegenwärtigen Lebensumstände sein mochten, über den Vorschlag nachdenken, mit dem Allanon sie geschickt hatte – den Vorschlag, ihr Leben außerhalb der Vier Länder aufzugeben und zurückzukehren?

Sie hatte natürlich keine Antworten auf diese Fragen. Und es war sinnlos, Antworten suchen zu wollen. Sie hatte ihre Entscheidung bisher allein nach ihrem Instinkt getroffen – vorrangig nach den Elfen zu forschen, die Addershag in Grimpen Ward aufzusuchen, ihren Anweisungen zu folgen und Tiger Ty davon zu überzeugen, daß er sie nach Morrowindl brachte. Jetzt mußte sie sich fragen, ob ihr Instinkt sie irregeleitet hatte. Garth war bei ihr geblieben, eigentlich ohne Diskussion, aber Garth tat dies vielleicht aus Loyalität oder aus Freundschaft. Er mochte fest entschlossen sein, sich dieser Sache anzunehmen, aber das bedeutete nicht, daß er sich bei dem, was sie taten, auch nur einen Deut besser fühlte als sie selbst. Sie überschaute die leere Weite der Blauen Spalte und fühlte sich klein und verletzlich. Morrowindl war eine Insel inmitten des Ozeans, ein kleiner Fleck Erde inmitten all des Wassers. Wenn sie und Garth erst einmal dort waren, würden sie von allem abgeschnitten sein, was ihnen vertraut war. Ohne die Hilfe des Rock oder eines Bootes gab es sicher keine Möglichkeit, die Insel wieder zu verlassen, und es war auch ungewiß, ob jemand dort sein würde, der ihnen helfen konnte. Vielleicht waren dort keine Elfen mehr. Vielleicht waren dort nur die Monster.

Monster. Sie dachte kurz über die Frage nach, welche Art Monster dort wohl sein würden. Tiger Ty hatte versäumt, sie ihnen zu beschreiben. Waren sie so gefährlich wie die Schattenwesen? Wenn das so war, würde das erklären, warum die Elfen verschwunden waren. Eine größere Anzahl dieser Monster hätte sie fangen oder sogar zerstören können, vermutete sie. Aber wie hatten die Elfen so etwas geschehen lassen können? Und wenn die Monster sie nicht gefangen hatten, warum blieben die Elfen dann noch immer auf Morrowindl? Warum war nicht zumindest einer von ihnen von dort aufgebrochen, um Hilfe zu holen? Wieder gab es so viele Fragen. Sie schloß die Augen und verbannte sie aus ihren Gedanken.

Es war fast Mittag, als sie über eine Gruppe kleiner Inseln hinwegflogen, die wie im Meere schwimmende Smaragde wirkten, strahlend grün vor dem Blau. Spirit kreiste unter Tiger Tys Führung einen Moment und stieß dann zu der größten der Inseln hinab, wobei er eine schmale, mit Gras bewachsene Klippe als Landeplatz auswählte. Als der große Vogel gelandet war, lösten seine Reiter ihre Sicherheitsgurte und kletterten hinab. Wren und Garth waren bereits steif und wund, und es dauerte einige Augenblicke, bis ihre Beine ihnen wieder gehorchten. Wren rieb sich die schmerzenden Gelenke und sah sich um. Die Insel schien aus einem dunklen, porösen Gestein zu bestehen, auf dem eine Vegetation wuchs, wie sie auch auf fruchtbarer Erde zu finden war. Das Gestein lag überall und knirschte, als sie darüber gingen. Wren beugte sich hinab, hob ein Stück auf und bemerkte, daß es erstaunlich leicht war.

»Lavagestein«, sagte Tiger Ty mit einem Grunzen, als er ihren überraschten Gesichtsausdruck sah. »All diese Inseln sind Teil einer Inselkette, die irgendwann in der Vergangenheit, vor Hunderten oder vielleicht Tausenden von Jahren, durch Vulkane entstanden ist.« Er machte eine Pause, zog eine Grimasse und streckte die Hand aus. »Die Inseln, auf denen die Himmelselfen leben, liegen genau südlich. Natürlich werden wir dort nicht hingehen, Ihr versteht. Ich möchte nicht, daß jemandem auffällt, daß ich Euch nach Morrowindl bringe. Ich möchte nicht, daß sie erfahren, wie dumm ich bin.«

Er ging zu einer grasbewachsenen Kuppe hinüber und setzte sich. Nachdem er seine Handschuhe und seine Stiefel ausgezogen hatte, begann er seine Füße zu massieren. »Wir werden gleich etwas essen und trinken«, grummelte er.

Wren sagte nichts. Garth hatte sich in voller Länge im Gras ausgestreckt und hielt die Augen geschlossen. Er ist glücklich, wieder auf der Erde zu sein, dachte sie. Sie legte den Gesteinsbrocken, den sie untersucht hatte, hin und ging zu Tiger Ty hinüber.

»Ihr habt von Monstern auf Morrowindl gesprochen«, sagte sie kurz darauf. Eine leichte Brise zerzauste ihr Haar und blies ihr die Locken ins Gesicht. »Könnt Ihr mir etwas über sie erzählen?«

Die scharfen Augen sahen sie fest an. »Es gibt dort alle Arten, mein Fräulein. Große und kleine, vierbeinige und zweibeinige, fliegende, kriechende und einherstolzierende. Es gibt jene mit Haaren, jene mit Schuppen und jene mit Haut. Einige entspringen den schlimmsten Alpträumen. Einige, so sagt man, sind keine Lebewesen. Sie jagen in Rudeln. Jedenfalls einige von ihnen. Einige graben sich in die Erde und warten.« Er schüttelte seinen ergrauten Kopf. »Ich habe selbst erst eines oder zwei davon gesehen. Die meisten sind mir nur beschrieben worden. Aber sie sind dort, das ist ziemlich sicher.« Er machte eine Pause und überlegte. »Es ist recht seltsam, nicht wahr, daß es so viele verschiedene Arten gibt? Und es ist auch seltsam, daß zuerst überhaupt keine Monster dort waren und dann so plötzlich die ersten aufgetaucht sind.«

»Ihr glaubt also, daß die Elfen etwas damit zu tun hatten.« Wie sie es sagte, war es eine Feststellung.

Tiger Ty schürzte nachdenklich die Lippen. »Ich mußte einfach zu dem Schluß kommen. Es muß etwas mit ihrer Magie zu tun haben – ihrer Rückkehr zu den alten Riten. Sie haben es allerdings nicht gesagt und es nicht im mindesten zugegeben, die wenigen, mit denen ich gesprochen habe. Das war vor zehn Jahren. Vielleicht ist es auch noch länger her. Sie behaupteten, das alles habe etwas mit dem Vulkan zu tun und mit den Veränderungen der Erde und des Klimas. Stellt Euch das vor!«

Er lächelte entwaffnend. »So sieht es aus, wißt Ihr. Niemand wird Euch die Wahrheit sagen. Jeder will Geheimnisse bewahren.« Er machte eine Pause und rieb sein Kinn. »Nehmt Euch doch selbst. Ihr seid auch so ein Beispiel. Ich glaube nicht, daß Ihr mir erzählen werdet, was dort hinten am Wing Hove geschehen ist, nicht wahr, während ihr darauf gewartet habt, daß ich Euer Feuer entdecke?« Er beobachtete Wrens Gesicht. »Seht Ihr, ich bemerke Dinge ziemlich schnell. Mir entgeht so leicht nichts. Wie zum Beispiel, daß Euer großer Freund dort drüben so schwer bandagiert ist. Zerkratzt und von einem Kampf gezeichnet, der erst kürzlich stattgefunden hat. Ein harter Kampf. Auch Ihr selbst tragt einige Male. Und da war eine dunkle Stelle auf den Felsen, so wie sie durch ein sehr heißes Feuer entsteht. Sie war nicht dort, wo das Signalfeuer normalerweise brennt, und sie war neu. Und der Fels war an ein oder zwei Stellen ziemlich schlimm zerkratzt. Von schleifendem Metall, vermute ich. Oder von Klauen.«

Wren mußte wider Willen lächeln. Sie betrachtete Tiger Ty mit plötzlicher Bewunderung. »Ihr habt recht – Euch entgeht wirklich nicht viel. Es gab einen Kampf, Tiger Ty. Irgend etwas war uns seit Wochen gefolgt, ein Wesen, das wir Schattenwesen genannt haben. Es griff uns an, als wir das Signalfeuer entfachten. Wir haben es vernichtet.«

»Ach wirklich?« murmelte der kleine Mann spöttisch. »Nur Ihr beide? Ein Schattenwesen. Ich weiß ein wenig über Schattenwesen. Soweit ich weiß, ist immer etwas Besonderes nötig, um eines dieser Wesen zu vernichten. Feuer vielleicht. Von der Art, die der Elfenmagie entspringt. Das würde auch den Brandfleck auf den Felsen erklären, nicht wahr?«

Er wartete. Wren nickte langsam. »Vielleicht.«

Tiger Ty lehnte sich vor. »Ihr seid irgendwie wie die anderen, nicht wahr, mein Fräulein. Ihr seid eine Ohmsford wie die anderen. Ihr verfügt wahrscheinlich auch über die Magie.«

Er sagte es vorsichtig, formulierte es als Vermutung, und dabei spiegelte sich in seinen Augen eine Neugier, die vorher nicht zu sehen gewesen war. Er hatte natürlich wieder recht. Sie verfügte über die Magie, eine Erfahrung, über die sie, seit sie sie entdeckt hatte, bewußt nicht nachdachte, denn sonst wäre sie in gewisser Weise für ihren Besitz und Gebrauch verantwortlich. Sie sagte sich immer wieder, daß die Elfensteine nicht wirklich ihr gehörten, sondern daß sie sie lediglich hütete, und noch dazu, ohne es zu wollen. Ja, sie hatten Garth das Leben gerettet. Und ihr eigenes. Und natürlich war sie dankbar. Aber ihre Magie war gefährlich. Jeder wußte das. Sie hatte ihr ganzes Leben lang gelernt, selbstgenügsam zu sein, sich auf ihre Instinkte und ihre Ausbildung zu verlassen und nie zu vergessen, daß das Überleben überwiegend von ihren eigenen Fähigkeiten und Gedanken abhing. Sie wollte nicht auf die Magie der Elfensteine vertrauen und damit ihre Erziehung untergraben.

Tiger Ty sah sie noch immer an und wartete darauf, daß sie antwortete. Wren erwiderte seinen Blick unerschrocken und antwortete nicht.

»Nun«, sagte er schließlich und zuckte die Achseln. »Wir sollten etwas essen.«

Die Inseln waren üppig mit Obstbäumen bestanden, und sie erhielten eine sättigende Mahlzeit aus dem, was sie ernteten. Danach tranken sie aus einem Süßwasserfluß, den sie landeinwärts fanden. Überall blühten Blumen, und es gab dicke Büsche voller Blüten. Die Farben leuchteten durch das Grün, und ihre Düfte wurden bei jeder Bewegung durch die Luft getragen. Es gab Palmen, Akazien, Banyans und jenen Baum, der Gingko genannt wurde. Fremdartige Vögel, deren Gefieder in Regenbogenfarben leuchtete, spähten aus den stacheligen Zweigen dorniger Bäume herab. Tiger Ty beschrieb ihnen alles, während sie umhergingen, zeigte ihnen alles, benannte und erklärte es. Wren schaute sich staunend um und erlaubte ihrem Blick nicht, irgendwo länger als einige Sekunden zu verweilen, weil sie Angst hatte, dafür etwas anderes zu verpassen. Sie hatte noch niemals solche Schönheit gesehen, solchen Überfluß unglaublich wundervoller Lebewesen. Es war überwältigend.

»War Morrowindl wie die Insel hier?« fragte sie Tiger Ty irgendwann.

Er schaute sie kurz an. »Einst«, erwiderte er. Mehr erfuhr sie nicht.

Sie kletterten bald darauf wieder auf Spirits Rücken und setzten ihren Flug fort. Es war jetzt leichter, ein wenig vertrauter, und sogar Garth schien eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Reise für sich erträglich zu gestalten. Sie flogen in Richtung Nordwesten, von der Sonne fort, die über ihnen vorbeizog. Es gab andere Inseln, klein und meist felsig, obwohl alle zumindest teilweise bewachsen waren. Die Luft streichelte warm und sanft ihre Haut, und die Sonne brannte aus einem wolkenlosen Himmel herab und ließ die Blaue Spalte erstrahlen, bis sie funkelte. Sie sahen große Meerestiere, die Tiger Ty Wale nannte und von denen er behauptete, sie seien die größten Lebewesen im Meer. Es gab Vögel in allen Größen und Formen. Es gab Fische, die in Gruppen, die er als Schulen bezeichnete, schwammen und in Formation aus dem Wasser heraussprangen, silberne Körper, die einen Bogen vor der Sonne bildeten. Wren lernte ungeheuer viel auf dieser Reise, und sie versenkte sich in ihre Lektionen.

»So etwas habe ich noch nie gesehen!« rief sie Tiger Ty enthusiastisch zu.

»Wartet, bis wir Morrowindl erreichen«, brummte er zurück. Am Nachmittag flogen sie ein zweites Mal zu einer kurzen Rast hinab und wählten dafür eine einsame Insel mit weiten, weißen Sandstränden und kleinen Buchten, die so flach waren, daß das Wasser helltürkis wirkte. Wren fiel auf, daß Spirit den ganzen Tag nichts gefressen hatte, und fragte danach. Tiger Ty sagte, Rock fresse Fleisch und jage es selbst. Er brauche nur einmal in sieben Tagen Nahrung.

»Ein sehr selbstgenügsamer Vogel, der Rock«, sagte der Flugreiter mit unverhüllter Bewunderung. »Er verlangt nicht viel mehr, als in Ruhe gelassen zu werden. Das ist mehr, als man von den meisten Menschen sagen kann.«

Sie setzten ihre Reise schweigend fort, denn sowohl Wren als auch Garth begannen zu ermüden. Sie waren steif von der Anstrengung, den ganzen Tag über in derselben Haltung sitzen zu müssen, erschöpft von der ständigen, schaukelnden Bewegung des Fluges, und ihre verkrampften Finger schmerzten vom Umklammern der geknüpften Handgriffe. Das Wasser der Blauen Spalte floß beständig unter ihnen vorbei, eine endlose Bewegung von Wellen. Sie konnten das Festland schon seit Stunden nicht mehr ausmachen, dagegen schien sich das Meer endlos zu erstrecken. Wren fühlte sich dadurch klein werden, von seinem Ausmaß reduziert zu etwas so Unbedeutendem, daß sie zu verschwinden drohte. Das anfängliche Gefühl der Verlassenheit hatte mit jeder Stunde, die verstrich, beständig zugenommen, und sie fühlte zum ersten Mal Zweifel aufkommen, ob sie ihre Heimat jemals wiedersehen würde.

Die Sonne versank schon fast, als sie schließlich in Sichtweite an Morrowindl herankamen. Die Sonne war im Westen zum Rande des Horizonts hinabgeglitten, ihr Licht war milde geworden und hatte sich von Weiß zu einem hellen Orange gewandelt. Ein purpur- und silberfarbener Streifen säumte eine lange Reihe seltsam geformter Wolken, die über den Himmel promenierten wie fremdartige Tiere. Vor diesem Panorama hob sich die Insel als Silhouette ab, dunkel umwölkt und drohend. Sie war bedeutend größer als jede andere Landfläche, auf die sie bisher gestoßen waren, und erhob sich vor ihnen wie eine Mauer, als sie näher kamen. Der Killeshan hob seinen gezackten Schlund himmelwärts, Dampf sickerte aus seiner Kehle, und seine Hänge waren bedeckt von einer dicken Decke aus Nebel und Asche, hinter der sie für Hunderte von Fuß verschwanden, bis sie an einer Küstenlinie wieder sichtbar wurden, die aus felsigen Vorsprüngen und zerklüfteten Klippen bestand. Wellen krachten gegen die Felsen, weiße Schaumkessel, deren Gischt himmelwärts stob.

Spirit flog näher heran und stieß auf das Leichentuch aus Vog hinab. Gestank erfüllte die Luft und der Geruch von Schwefel drang dort aus der Erde herauf, wo das Feuer des Vulkans Fels zu Asche verbrannte. Durch die Wolken und den Nebel konnten sie Täler und Grate, Pässe und Schluchten sehen, die alle dicht bewaldet waren: einen dichten, beengenden Dschungel. Tiger Ty schaute über die Schulter zurück und machte ihnen Zeichen. Sie würden die Insel umrunden. Spirit wandte sich auf sein Kommando nach rechts. Das Nordende der Insel war in strömendem Regen verschwunden, in einem Monsun, der alles überflutete und riesige Wasserfälle bildete, die von mehreren Tausend Fuß Höhe die Klippen hinabstürzten. Im Westen dagegen war die Insel so karg wie eine Wüste. Es war nur Lavagestein zu sehen mit einigen verstreut stehenden, strahlend blühenden Sträuchern und verkrüppelten, knorrigen, windgepeitschten Bäumen. Im Süden und Osten bestand die Insel aus einer Vielzahl einzelner Felsformationen und aus Stranden mit schwarzem Sand, wo die Küstenlinie mit dem Wasser der Blauen Spalte zusammentraf, bevor sie sich erhob, um im Dschungel und im Nebel zu verschwinden.

Wren starrte angestrengt auf Morrowindl hinab. Es war ein bedrohlicher, wenig gastfreundlicher Ort, ein scharfer Kontrast zu den anderen Inseln, die sie gesehen hatten. Wolkentürme trafen aufeinander und brachen auseinander. Jede Seite der Insel bot unterschiedliche Bedingungen. Die Insel insgesamt war schattig und bewölkt, als sei Killeshan ein Dämon, der Feuer atmet und sich in einen Umhang gewickelt hat, der aus seinem eigenen erstickenden Atem besteht.

Tiger Ty dirigierte Spirit noch ein letztes Mal um die Insel herum und befahl ihm dann, er solle landen. Der Rock setzte am Rande eines breiten Strandes mit schwarzem Sand vorsichtig auf, seine Klauen bohrten sich in das geborstene Lavagestein, und er legte widerstrebend seine Flügel an. Dabei wandte der Riesenvogel sein Gesicht dem Dschungel zu, und seine spähenden Augen suchten den Nebel zu durchdringen.

Tiger Ty wies sie an, sie sollten absteigen. Sie lösten ihre Harnischriemen und glitten zu Boden. Wren schaute landeinwärts. Die Insel aus Felsen, Bäumen und Nebel erhob sich vor ihnen. Sie konnten die Sonne nicht mehr sehen. Schatten und Halblicht lag über allem.

Der Flugreiter sah das Mädchen an. »Ich vermute, Ihr wollt es immer noch? Starrsinnig wie eh und je?«

Sie nickte schweigend, denn sie wollte im Moment nicht reden.

»Dann hört zu. Und überlegt Euch, ob Ihr Eure Meinung noch ändern wollt, während Ihr das tut. Ich habe Euch aus gutem Grund alle vier Seiten von Morrowindl gezeigt. Im Norden regnet es ständig, jeden Tag, jede Stunde des Tages. Manchmal regnet es stark, manchmal nieselt es. Aber das Wasser ist überall. Sumpf und Teiche, Wasserfalle und Rinnsaale. Wenn Ihr nicht schwimmen könnt, ertrinkt Ihr. Und es gibt ohnehin unendlich viele Wesen, die Euch dort hinabziehen wollen.«

Er machte eine Geste. »Im Westen gibt es nur Wüste. Das habt Ihr gesehen. Nichts als offenes Land, heiß und trocken und öde. Ihr denkt wahrscheinlich, Ihr könntet es bis zur Spitze des Berges durchwandern. Das Dumme ist nur, daß Ihr keine Meile weit kommt, ohne den Wesen über den Weg zu laufen, die unter den Felsen leben. Ihr würdet sie jedoch gar nicht sehen. Sie würden Euch erwischen, bevor Ihr denken könnt. Es gibt Tausende von ihnen, in allen Größen und Formen, die meisten davon mit einem Gift, das Euch schnell töten kann. Nichts und niemand gelangt dort hindurch.«

Das Stirnrunzeln von Tiger Ty vertiefte die Linien seines zerfurchten Gesichtes noch weiter. »Also bleiben der Süden und der Osten, die zufälligerweise ziemlich ähnlich sind. Felsen und Dschungel und Vog und viele unerfreuliche Wesen, die darin leben. Wenn Ihr erst einmal diesen Strand verlassen habt, seid Ihr bis zu Eurer Rückkehr nicht mehr sicher. Ich habe Euch schon einmal gesagt, daß das Inland eine Todesfalle ist. Ich sage es Euch noch einmal, falls Ihr es nicht gehört habt.«

»Mein Fräulein«, sagte er weich. »Tut es nicht. Ihr habt keine Chance.«

Sie streckte impulsiv die Hand aus und nahm seine knorrigen Hände in ihre eigenen. »Garth und ich werden aufeinander aufpassen«, versprach sie. »Das tun wir schon seit langer Zeit.«

Er schüttelte den Kopf. »Das wird nicht genügen.«

Sie festigte ihren Griff. »Wie weit müssen wir ziehen, um die Elfen zu finden? Könnt Ihr uns das ungefähr sagen?«

Er entzog ihr seine Hände und deutete landeinwärts. »Ihre Stadt, wenn es sie noch gibt, liegt auf halbem Weg auf dem Berghang in einer Nische, die vor den Lavaströmen geschützt ist. Die meisten der Ströme verlaufen nach Osten, und einige davon graben Tunnel unter den Fels zum Meer. Von hier aus sind es vielleicht dreißig Meilen. Ich kann jetzt nicht mehr sagen, wie das Land dort drinnen beschaffen ist. Zehn Jahre verändern vieles.«

»Wir werden unseren Weg finden«, sagte sie. Sie atmete tief ein, um sich selbst zu beruhigen, und bemerkte, wie nutzlos dieser Versuch war. Sie schaute zu Garth, der in ihr versteinertes Gesicht blickte. Dann sah sie erneut Tiger Ty an. »Ich muß Euch noch etwas fragen. Werdet Ihr hierher zurückkommen? Werdet Ihr uns genügend Zeit für unsere Suche geben und dann zurückkommen?«

Tiger Ty verschränkte die Arme. Sein ledriges Gesicht sah sowohl traurig als auch unnachgiebig aus. »Ich werde kommen, mein Fräulein. Ich werde drei Wochen warten – genug Zeit für Euch, hineinzugelangen und wieder herauszukommen. Dann werde ich vier Wochen lang einmal pro Woche nach Euch Ausschau halten.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich muß Euch sagen, daß ich das für Zeitverschwendung halte. Ihr werdet nicht zurückkommen. Ich werde Euch niemals wiedersehen.«

Sie lächelte tapfer. »Ich werde einen Weg finden, Tiger Ty.«

Die Augen des Flugreiters verengten sich. »Nur einen Weg. Ihr solltet lieber boshafter und stärker sein als alles, was Euch über den Weg läuft. Und...« Er stupste sie mit seinem knochigen Finger an. »... Ihr solltet lieber darauf vorbereitet sein, Eure Magie zu gebrauchen!«

Er wandte sich abrupt um und stolzierte zu dem wartenden Spirit hinüber. Ohne innezuhalten zog er sich an den Harnischriemen hinauf und nahm seinen Platz ein. Als er seine Sicherheitsgurte befestigt hatte, schaute er zu ihnen zurück.

»Versucht nicht, bei Nacht hineinzugehen«, riet er. »Reist zumindest am ersten Tag im Hellen. Laßt Killeshans Krater zu Eurer Rechten, wenn Ihr aufsteigt.« Er hob die Hände. »Bei Dämons Blut! Ihr seid im Begriff, etwas ganz Dummes zu tun!«

»Vergeßt uns nicht, Tiger Ty!« rief Wren als Antwort. Der Flugreiter sah sie einen Augenblick stirnrunzelnd an und stieß Spirit dann leicht in die Seite. Der Rock erhob sich in die Luft, seine Flügel breiteten sich vor dem Wind aus, und er stieg langsam auf und wandte sich gen Süden. Innerhalb von Sekunden war der Riesenvogel zu nicht mehr geworden als einem Fleck im verblassenden Licht.

Wren und Garth standen schweigend auf dem leeren Strand und sahen ihm nach, bis der Fleck verschwunden war.

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