4

Wren arbeitete flink, als sie Garths Wunden versorgte. Er hatte keine Knochenbrüche erlitten, aber eine Reihe tiefer Fleischwunden an den Unterarmen und der Brust und war von Kopf bis Fuß zerschnitten und mit blauen Flecken übersät. Er hatte sich auf den Boden zurückgelegt, während sie über ihm kniete und die Heilsalben und Kräuter auftrug, die die Fahrenden überallhin mitnahmen. Sein dunkles Gesicht war ruhig: Eisen-Garth. Der riesige, muskulöse Körper zuckte ein- oder zweimal zusammen, als sie die Wunden säuberte und verband, nähte und umwickelte, aber das war alles. Sein Gesicht und seine Augen zeigten nichts von der Erschütterung und dem Schmerz, die er auszuhalten hatte.

Einen Augenblick lang traten ihr Tränen in die Augen, und sie senkte den Kopf, damit er es nicht sah. Er war ihr engster Freund, und sie hatte ihn fast verloren.

Wenn da nicht die Elfensteine gewesen wären...

Und es waren Elfensteine. Wirkliche Elfensteine.

Denk nicht darüber nach!

Sie konzentrierte sich noch mehr auf das, was sie tat, und drängte ihre besorgten, erschreckten Gedanken beiseite. Das Signalfeuer brannte noch immer, die Flammen stiegen in der Dunkelheit auf, und das Holz krachte, als es von der Hitze gespalten wurde. Sie arbeitete schweigend und konnte doch alles um sich herum hören – das Knistern des Feuers, das Anrollen der Wellen auf den Strand, das Summen von Insekten weit hinten im Tal und das Zischen ihres eigenen Atems. Es war, als wären alle Nachtgeräusche hundertfach verstärkt – als befände sie sich in einer riesigen, leeren Schlucht, in der selbst das leiseste Flüstern ein Echo hatte.

Sie beendete ihre Arbeit und fühlte sich einen Moment schwach, ein Schwärm Bilder verschwamm vor ihren Augen. Sie sah erneut das Wolfswesen, das Schattenwesen, nur aus Zähnen und Klauen und borstigem Haar bestehend. Sie sah Garth, wie er in den Kampf mit dem Monster verstrickt war. Sie sah sich selbst, wie sie herbeieilte, um ihm zu helfen, ein nutzloser Versuch. Sie sah den Feuerschein sich über sie alle ausbreiten wie Blut. Sie sah die Elfensteine zum Leben erwachen und weiß leuchten, eine uralte Macht, die die Nacht mit ihrem Strahlen erfüllte, sah sie hervorschießen, das Schattenwesen vernichten und es in Brand setzen, während es vergeblich darum kämpfte freizukommen...

Sie versuchte, sich zu erheben und fiel zurück. Garth, der sich irgendwie auf die Knie erhoben hatte, fing sie in seinen Armen auf und bettete sie auf den Boden. Er hielt sie einen Moment umfangen und wiegte sie, wie er ein Kind gewiegt hätte, und sie ließ es zu, ihr Gesicht an seiner Brust verborgen. Dann stieß sie sich sanft ab und atmete langsam und tief ein, um sich zu beruhigen. Sie erhob sich, ging zu ihren Umhängen hinüber und brachte sie zu der Stelle zurück, wo Garth wartete. Sie wickelten sich gegen die Nachtkälte darin ein, saßen dann da und schauten sich wortlos an.

Schließlich hob Wren ihre Hände und begann in der Zeichensprache zu sprechen. »Wußtest du von den Elfensteinen?« fragte sie.

Garth schaute sie offen an. Nein.

»Nicht, daß sie echt waren, nicht, was sie bewirken konnten, nichts?«

Nein.

Sie betrachtete sein Gesicht einen Moment lang regungslos. Dann griff sie in ihre Tunika und zog den Lederbeutel heraus, der um ihren Hals hing. Sie hatte die Elfensteine wieder hineingleiten lassen, nachdem sie Garth geholfen hatte. Sie fragte sich, ob sie sich wohl wieder verwandelt hatten, ob sie wieder zu den bemalten Steinen geworden waren, die sie zuvor gewesen waren. Sie fragte sich sogar, ob sie sich etwa bei all dem geirrt hatte, was sie gesehen hatte. Sie stellte den Beutel auf den Kopf und schüttelte ihn über ihrer Handfläche aus.

Drei hellblaue Steine fielen heraus, keine bemalten Steine mehr, sondern glitzernde Elfensteine – die Elfensteine, die Shea Ohmsford vor über fünfhundert Jahren von Allanon erhalten hatte und die seitdem der Ohmsfordfamilie gehört hatten. Sie betrachtete sie, von ihrer Schönheit überwältigt und voller Ehrfurcht, daß sie sie in Händen hielt. Sie zitterte bei der Erinnerung an ihre Macht.

»Garth«, flüsterte sie. Sie legte die Elfensteine in ihren Schoß. Ihre Finger bewegten sich. »Du mußt doch etwas wissen. Du mußt. Ich bin deiner Obhut übergeben worden, Garth. Ich hatte die Elfensteine damals schon. Sag es mir. Woher kamen sie wirklich?«

Das weißt du bereits. Deine Eltern haben sie dir gegeben.

Meine Eltern. Sie fühlte ein Aufwallen des Schmerzes und der Enttäuschung. »Erzähl mir von ihnen. Alles. Es gibt Geheimnisse, Garth. Es hat immer Geheimnisse gegeben. Ich muß es jetzt wissen. Erzähl es mir.«

Garths dunkles Gesicht wurde starr, während er zögerte und ihr dann signalisierte, daß ihre Mutter eine Fahrende und ihr Vater ein Ohmsford gewesen sei. Sie hatten Wren zu den Fahrenden gebracht, als sie noch ein Baby war. Man hatte ihm erzählt, daß sie ihr als letzte Handlung, bevor sie fortgingen, den Lederbeutel mit den bemalten Steinen um den Hals gelegt hatten.

»Du hast meine Mutter nicht gesehen. Oder meinen Vater?«

Garth schüttelte den Kopf. Er war fort, als sie kamen, und als er zurückkam, waren sie schon wieder gegangen. Sie kamen niemals zurück. Wren wurde nach Shady Vale gebracht, um bei Jaralan und Mirianna Ohmsford zu leben. Als sie fünf Jahre alt war, nahmen die Fahrenden sie wieder auf. Das war die Vereinbarung, die sie mit den Ohmsfords getroffen hatten. Darauf hatten ihre Eltern bestanden.

»Aber warum?« unterbrach Wren ihn verwirrt.

Garth wußte es nicht. Man hatte ihm auch niemals gesagt, wer den Handel im Namen der Fahrenden abgeschlossen hatte. Sie war von einem der Ältesten der Familie seiner Obhut übergeben worden, von einem Mann, der kurz darauf gestorben war. Niemand hatte ihm jemals erklärt, warum er sie so ausbilden sollte, wie er es tat – sondern nur, was getan werden sollte. Sie sollte schneller, stärker, klüger und lebensfähiger werden als jeder andere. Garth sollte sie soweit bringen.

Wren setzte sich bedrückt zurück. Was Garth ihr erzählte, wußte sie bereits alles. Er hatte es ihr alles schon zuvor erzählt. Ihr Kiefer spannte sich ärgerlich an. Da mußte noch mehr sein, etwas, das ihr zu der Erkenntnis verhelfen konnte, woher sie kam und warum sie die Elfensteine trug.

»Garth«, versuchte sie es erneut und jetzt eindringlich. »Gibt es etwas, was du mir nicht erzählt hast? Etwas über meine Mutter? Ich habe von ihr geträumt, weißt du. Ich habe ihr Gesicht gesehen. Sag mir, was du vor mir verbirgst!«

Der große Mann zeigte keinerlei Regung, aber in seinen Augen war Schmerz erkennbar. Wren hätte gern die Hand ausgestreckt, um ihn zu beruhigen, aber der Drang, alles wissen zu wollen, hielt sie davon ab. Garth sah sie lange Zeit wortlos an. Dann machten seine Finger kurz Zeichen.

Ich kann dir nichts sagen, was du nicht selbst erkennen kannst.

Sie zuckte zusammen. »Was meinst du?«

Du hast Elfenzüge, Wren. Mehr als jeder andere Ohmsford. Warum, glaubst du, ist das so?

Sie schüttelte den Kopf, denn sie vermochte nicht zu antworten.

Seine Brauen zogen sich zusammen. Es kommt daher, daß deine Eltern beide Elfen waren.

Wren sah ihn ungläubig an. Sie hatte keinerlei Erinnerung daran, daß ihre Eltern wie Elfen ausgesehen hatten, und sie hatte sich selbst immer für eine einfache Fahrende gehalten, »Woher weißt du das?« fragte sie verblüfft.

Es wurde mir von jemandem erzählt, der sie gesehen hat. Man hat mir auch erzählt, daß es für dich gefährlich wäre, das zu wissen.

»Dennoch hast du es mir jetzt erzählt?«

Garth zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Welchen Unterschied macht das nach dem, was geschehen ist, jetzt noch? Um wie vieles gefährlicher kann es für dich sein, es zu wissen?«

Wren nickte. Ihre Mutter eine Fahrende. Ihr Vater ein Ohmsford. Aber beide Elfen. Wie konnte das sein? Fahrende waren keine Elfen.

»Bist du sicher?« fragte sie noch einmal. »Elfen, keine Menschen mit Elfenblut, sondern Elfen?«

Garth nickte fest und signalisierte: Das wurde sehr deutlich ausgesprochen.

Jedem außer mir, dachte sie. Wieso waren ihre Eltern Elfen geworden? Keiner der Ohmsfords war ein Elf gewesen, sondern sie stammten höchstens von den Elfen ab und hatten nur einen geringen Prozentsatz Elfenblut. Bedeutete es, daß ihre Eltern bei den Elfen gelebt hatten? Bedeutete es, daß sie von ihnen abstammten, und war das auch der Grund dafür, daß Allanon sie auf die Suche nach den Elfen geschickt hatte? Weil sie eben selbst ein Elf war?

Sie schaute fort, einen Moment lang überwältigt von ihren Überlegungen. Sie sah wieder das Gesicht ihrer Mutter, wie sie es in ihrem Traum gesehen hatte – das Gesicht eines Mädchens von der Rasse der Menschen, nicht der Elfen. Der Teil von ihr, der zu den Elfen gehörte, diese andersartigen Züge, waren nicht sehr deutlich gewesen. Oder hatte sie sie einfach nicht erkannt? Was war mit ihrem Vater? Eigenartig, dachte sie. Er war bei ihren Überlegungen, was gewesen sein könnte, anscheinend niemals sehr wichtig gewesen, niemals sehr real, und sie wußte nicht, warum. Er hatte für sie kein Gesicht. Er war unsichtbar. Sie sah wieder Garth an. Er wartete geduldig. »Du wußtest nicht, daß die bemalten Steine Elfensteine waren?« fragte sie ein letztes Mal. »Du wußtest nichts darüber, was sie waren?«

Nichts.

Was, wenn sie sie weggeworfen hätte? fragte sie sich erschreckt. Was wäre dann aus den Plänen ihrer Eltern – wie auch immer sie aussahen – geworden? Aber sie kannte die Antwort auf diese Frage. Sie hätte die bemalten Steine niemals weggegeben, ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit, die einzige Erinnerung an ihre Eltern, die sie hatte. Hatten sie sich darauf verlassen? Warum hatten sie ihr zuerst die Elfensteine gegeben? Um sie zu schützen? Vor was? Vor Schattenwesen? Vor Schlimmerem? Vor etwas, das noch nicht einmal existiert hatte, als sie geboren wurde?

»Warum, glaubst du, haben sie mir die Elfensteine gegeben?« fragte sie Garth vollkommen verwirrt.

Garth senkte einen Moment den Blick und schaute dann wieder auf. Sein großer Körper bewegte sich nervös. Er signalisierte.

Vielleicht, um dich auf der Suche nach den Elfen zu beschützen.

Wren sah ihn offen an. Sie hatte diese Möglichkeit noch nicht erwogen. Aber wie hatten ihre Eltern wissen können, daß sie die Elfen suchen würde? Oder hatten sie ganz einfach gewußt, daß sie sich eines Tages von allein aufmachen würde, ihr Erbe ausfindig zu machen, daß sie darauf bestehen würde, zu erfahren, woher sie kam und wer ihre Leute waren?

»Garth, ich verstehe nicht«, gestand sie ihm. »Was bedeutet das alles?«

Aber der große Mann schüttelte nur den Kopf und sah traurig vor sich hin.

Sie schauten weiter in die Nacht hinaus, der eine dösend, während der andere wach blieb, bis die Dämmerung schließlich den östlichen Himmel erhellte. Garth schlief dann noch bis zum Mittag, denn seine Kräfte waren erschöpft. Wren saß da und dachte darüber nach, was sich aus ihrer Entdeckung ergab. Es waren die Elfensteine von Shea Ohmsford, sagte sie sich. Sie hatte deren Beschreibung oft genug gehört und Sagen über ihre Geschichte. Sie gehörten dem, dem sie gegeben wurden, wer auch immer es war, und sie waren der Ohmsfordfamilie gegeben – und dann vermutlich wieder verloren – worden. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte man sie ihnen einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt fortgenommen. Das war möglich. Es hatte nach Brin und Jair viele Ohmsfords gegeben und eine Zeitspanne von dreihundert Jahren, in denen die Magie verlorengegangen sein konnte – sogar eine so persönliche und mächtige Magie wie die der Elfensteine. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie niemand hatte benutzen können, erinnerte sie sich. Nur jene, die genügend Elfenblut in sich hatten, konnten die Magie ungestraft beschwören. Will Ohmsford war auf diese Weise vernichtet worden. Dadurch, daß er die Steine gebrauchte, war er gezwungen worden, einen Teil ihrer Magie in sich aufzunehmen. Als seine Kinder geboren wurden, Brin und Jair, hatte sich die Magie in das Wunschlied verwandelt. Also hatte vielleicht einer der Ohmsfords beschlossen, die Elfensteine zu jenen zurückzubringen, die sie ohne Gefahr gebrauchen konnten – zu den Elfen. Hatten sie dadurch den Weg zu ihren Eltern gefunden?

Die Fragen blieben, überwältigend, beständig und ohne Antwort. Was hatte Cogline zu ihr gesagt, als er sie im Tirfing gefunden und dazu überredet hatte, mit ihm zum Hadeshorn zu kommen, um Allanon zu treffen? Es ist nicht annähernd so wichtig zu wissen, was du bist, als zu wissen, was du sein könntest. Sie begann zu verstehen, daß dies möglicherweise auf eine Art wahr werden konnte, die sie sich niemals hätte vorstellen können. Garth stand mittags auf und aß den Gemüseeintopf und das frische Brot, das sie bereitgestellt hatte. Er war steif und wund, und seine Kräfte waren noch nicht wiederhergestellt. Dennoch hielt er eine Erkundungstour in dieser Gegend für notwendig, um sicherzugehen, daß kein weiteres Wolfswesen in der Nähe war. Wren hatte diese Möglichkeit noch nicht erwogen. Sie beide hatten ihren Angreifer als Schattenwesen erkannt – als ein Wesen, das einst ein Mensch gewesen war und dann zum Teil ein Tier geworden war, ein Wesen, das verfolgen und jagen konnte, das sich verbergen und heranpirschen konnte und das genauso gut denken konnte wie sie und ohne Gewissensbisse tötete. Kein Wunder, daß es ihnen so problemlos gefolgt war. Sie hatte angenommen, es sei allein gekommen. Das war eine Annahme, die für sie gefährlich werden konnte. Also erklärte sie, daß sie gehen würde. Es ging ihr im Moment besser als ihm, und sie hatte die Elfensteine. Sie würde beschützt werden.

Sie sagte ihm nicht, wie sehr die Elfenmagie sie erschreckte und wie schwer es ihr fallen würde, sie erneut anzurufen. Während sie die Gegend südlich und östlich nach Fußspuren, Zeichen oder außergewöhnlichen Merkmalen absuchte, wobei sie sich vor allem auf ihren Instinkt verließ, der sie vor jedweder Gefahr warnen würde, dachte sie darüber nach, was es bedeutete, solche Magie zu besitzen. Sie erinnerte sich daran, wie Par sie wegen ihrer Träume geneckt und erklärt hatte, sie habe sicher dasselbe Elfenblut wie er und vielleicht einen Teil der Magie. Sie hatte gelacht. Sie habe nur ihre bemalten Steine, hatte sie gesagt. Und ihr fiel wieder ein, wie die Addershag ihre Brust berührt hatte, wo die Elfensteine in ihrem Lederbeutel hingen, und wie sie unerwartet »Magie!« geschrien hatte. Damals hatte sie nicht einmal an die bemalten Steine gedacht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das Ohmsfordvermächtnis gekannt und die Magie, die zu ihnen als den Erben des Elfenhauses von Shannara gehörte. Doch sie hatte niemals daran gedacht, selbst von der Magie Gebrauch machen zu können. Sie hatte es sich nicht einmal gewünscht. Nun gehörte sie ihr, wie auch die Elfensteine ihr gehörten, und was sollte sie dagegen tun? Sie wollte die Verantwortung nicht, die die Steine oder ihre Magie ihr antrugen. Sie wollte das Vermächtnis nicht. Es war ein Mühlstein, der sie hinabziehen würde. Sie war eine Fahrende, frei geboren und erzogen, und das war es, was sie kannte und was für sie ein angenehmes Leben ausmachte – nichts von all dem anderen. Sie hatte ihr Elfenaussehen akzeptiert, ohne danach zu fragen, was es bedeuten könnte. Es war ein Teil von ihr, aber ein geringerer Teil, der absolut nicht zu dem Teil in ihr gehörte, der die Fahrende ausmachte. Sie fühlte sich, als sei sie bei der Entdeckung der Elfensteine von innen nach außen gekehrt worden, als habe ihr die Magie, als sie in ihr Leben getreten war, ihre Lebenskraft genommen und sie verändert. Sie mochte das Gefühl nicht. Sie war nicht begierig darauf, in jemand anderen verwandelt zu werden. Sie grübelte den ganzen Tag lang über ihr Unbehagen nach und war noch zu keinem Ergebnis gekommen, als sie zum Lager zurückkehrte. Das Signalfeuer war ein deutlich sichtbares Zeichen, und sie folgte seinem Glühen, bis sie dort ankam, wo Garth wartete. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht – sie konnte es in seinen Augen sehen. Aber er sagte nichts, reichte ihr Essen und ein Getränk und lehnte sich dann zurück, um sie schweigend beim Essen zu beobachten. Sie erzählte ihm, sie habe keine Spuren anderer Schattenwesen entdeckt. Sie erzählte ihm nicht, daß sie begann, ganz anders über die ganze Sache zu denken. Sie hatte sich schon zuvor gefragt, ganz am Anfang einmal, als sie sich gerade erst entschlossen hatte, etwas über ihre Herkunft herauszufinden, was wohl geschehen würde, wenn ihr nicht gefiel, was sie entdeckte. Sie hatte diese Möglichkeit ausgeschlossen. Doch jetzt befürchtete sie, einen sehr großen Fehler gemacht zu haben. Auch die zweite Nacht verging ohne Zwischenfälle. Sie hielten das Signalfeuer beständig am Brennen, indem sie neues Holz auflegten, wenn das alte verglüht war, und warteten geduldig. Ein weiterer Tag begann und endete, und noch immer erschien niemand. Sie suchten den Himmel und das Land von Horizont zu Horizont ab, aber es war kein Zeichen von irgend jemandem zu entdecken. Bei Einbruch der Nacht waren sie beide gereizt. Garths oberflächliche Wunden waren bereits geheilt, und die tieferen begannen sich zu schließen. Er schlich um das Lager herum wie ein gefangenes Tier und führte wiederholt nutzlose Tätigkeiten aus, um nicht einfach dasitzen zu müssen. Wren blieb sitzen, um nicht herumschleichen zu müssen. Sie schliefen, so oft es ging, ruhten sich aus, weil es notwendig war und weil die Zeit verging. Wren stellte fest, daß sie an der Addershag zu zweifeln, die Worte der alten Frau in Frage zu stellen begann. Wie lange war die Addershag schon von jenen Männern gefangengehalten worden, angekettet und eingesperrt in jenem Keller? Vielleicht war sie verwirrt. Aber sie hatte nicht schwach oder verwirrt geklungen. Sie hatte gefährlich geklungen. Und was war mit dem Schattenwesen, das ihnen durch das ganze Westland gefolgt war? All die Wochen hatte es sich verborgen gehalten und war ihnen nur in einiger Entfernung gefolgt. Es hatte sich erst gezeigt, nachdem sie das Signalfeuer entfacht hatten. Da war es hervorgekommen, um sie zu vernichten. War es nicht vernünftig, anzunehmen, daß sein Erscheinen durch das hervorgebracht worden war, was es sie hatte tun sehen, daß es das Signalfeuer als Bedrohung angesehen hatte, die beseitigt werden mußte? Warum sonst hatte es ausgerechnet in diesem Moment angegriffen?

Also gib nicht auf, sagte sich Wren immer wieder, und die Worte waren eine Litanei der Hoffnung, um ihr Vertrauen aufrechtzuerhalten. Gib nicht auf.

Die dritte Nacht schleppte sich dahin und ließ Minuten zu Stunden werden. Sie wechselten sich häufig mit Wachehalten ab, weil sie inzwischen beide nicht mehr lange schlafen konnten, ohne aufzuwachen. Sehr oft hielten sie zusammen Wache – unruhig, besorgt, ängstlich. Sie speisten das Feuer mit totem Holz und beobachteten, wie es vor der Dunkelheit tanzte. Sie schauten in den schwarzen Raum über der Blauen Spalte hinaus. Sie erforschten die Geräusche der Nacht und ihre wirren Gedanken. Nichts geschah. Niemand kam.

Es war fast Morgen, als Wren während der letzten Stunde ihrer Wache gegen ihren Willen einige Zeit einschlief. Sie saß noch immer aufrecht, mit gekreuzten Beinen, die Arme um die Knie geschlungen, aber ihr Kopf fiel vornüber. Es waren anscheinend nur Augenblicke verstrichen, als sie wieder hochschreckte. Sie sah sich verwirrt um. Garth schlief ein paar Meter entfernt, eingewickelt in seinen großen Umhang. Das Feuer brannte weiterhin munter. Das Land war in eine Decke aus Schatten und Dämmerung gehüllt, die Frostspitzen zierten. Der Sonnenaufgang war nur als schwaches silbernes Leuchten am Rand der Berge im Osten zu sehen. Ein Gewirr von Sternen erhellte noch immer den Himmel im Westen, obwohl der Mond schon lange verschwunden war. Wren gähnte und stand auf. Wolken trieben vom Ozean aufs Land, tiefhängend und dunkel...

Sie stutzte. Es gab da noch etwas anderes, wie sie erkannte, etwas Schwärzeres und Schnelleres, das sich aus der Dunkelheit heraus auf die Klippen zubewegte und direkt auf sie zu schoß. Sie blinzelte, um sicherzugehen, trat dann eilig zurück und griff nach Garth. Der große Fahrende war sofort auf den Beinen. Zusammen schauten sie über die Spalte hinaus und beobachteten, wie das schwarze Ding Gestalt annahm. Wie sie nach einigen weiteren Sekunden erkannten, war es ein Rock, der seinen Weg zum Feuer nahm wie eine von Flammen angelockte Motte. Er strich über die Klippe und schwebte wieder zurück, sein Umriß war kaum sichtbar in dem schwachen Licht. Er flog zweimal über sie hinweg, wandte sich jedesmal um und kreuzte hin und her, als erkunde er, was unter ihm lag. Wren und Garth beobachteten ihn schweigend. Sie waren unfähig, etwas zu tun. Schließlich schoß der Rock auf sie zu. Sein wuchtiger Körper pfiff über ihre Köpfe hinweg, so nah, daß er sie mit seinen großen Klauen hätte aufgreifen können, wenn er es gewollt hätte. Wren und Garth preßten sich an die Felsen und beobachteten, wie sich der große Vogel ruhig am Rand der Klippen niederließ, ein Riese mit einem schwarzen Körper, einem Kopf so scharlachrot wie Feuer und Flügeln, die noch größer waren als die des Tieres, dem Wren vor wenigen Tagen knapp entkommen war.

Wren und Garth kamen wieder auf die Füße und klopften sich die Kleidung ab.

Ein Mann, der von den Riemen eines Lederharnischs gehalten wurde, saß rittlings auf dem Rock. Sie beobachteten, wie er die Riemen löste und sanft zu Boden glitt. Er stand neben dem Vogel und beobachtete sie einen Moment lang. Dann kam er auf sie zu. Er war klein und gebeugt und trug eine Tunika, Hosen, Stiefel und Handschuhe aus Leder. Er ging mit merkwürdig rollendem Gang, als fühle er sich nicht allzu wohl bei seiner Aufgabe. Seine Gesichtszüge waren Elfenzüge, schmal und scharfgeschnitten, und sein Gesicht war tief zerfurcht. Er trug keinen Bart, sein braunes Haar war kurz geschnitten und von grauen Fäden durchzogen. Wilde, schwarze Augen blinzelten sie mit erschreckender Behendigkeit an.

Er blieb in ungefähr zwölf Fuß Entfernung stehen.

»Habt Ihr dieses Feuer entfacht?« fragte er. Seine Stimme war schrill und etwas rauh.

»Ja«, antwortete Wren.

»Warum habt Ihr das getan?«

»Weil man es mir befohlen hat.«

»Tatsächlich? Wer, wenn Euch meine Frage nichts ausmacht?«

»Es macht mir nichts aus. Die Addershag hat mir befohlen, es zu entzünden.«

Die Augen blinzelten doppelt so schnell. »Wer?«

»Eine alte Frau, eine Seherin, mit der ich in Grimpen Ward gesprochen habe. Sie wird die Addershag genannt.«

Der kleine Mann grunzte. »Grimpen Ward. Ach! Niemand, der alle seine Sinne beisammen hat, geht dorthin.« Er preßte die Lippen zusammen. »Nun, warum hat diese Addershag Euch befohlen, das Feuer zu entfachen, hm?«

Wren seufzte ungeduldig. Sie hatte drei Tage lang darauf gewartet, daß jemand käme, und sie wollte unbedingt herausfinden, ob dieser gebeugte kleine Kerl derjenige war, den sie erwartet hatte oder nicht. »Habt Ihr einen Namen?«

Das Stirnrunzeln vertiefte sich. »Vielleicht. Warum sagt Ihr mir nicht zuerst Euren?«

Wren stützte ihre Hände herausfordernd in die Hüften. »Mein Name ist Wren Ohmsford. Dies ist mein Freund Garth. Wir sind Fahrende.«

»Aha, tatsächlich? Fahrende seid Ihr?« Der kleine Mann kicherte, als amüsiere er sich über einen ganz persönlichen Scherz. »Ihr habt auch ein wenig Elfenblut in Euch, wie es scheint.«

»Ihr auch«, erwiderte sie. »Wie heißt Ihr?«

»Tiger Ty«, sagte der andere. »Zumindest nennt mich jeder so. Gut, Fräulein Wren. Wir haben uns einander vorgestellt und uns begrüßt. Was tut Ihr hier draußen, einmal abgesehen von dieser Addershag oder wem auch immer? Warum habt Ihr dieses Feuer entfacht?«

Wren lächelte. »Vielleicht, um Euch und Euren Vogel hierher zu bringen, wenn Ihr derjenige seid, der uns zu den Elfen führen kann.«

Tiger Ty grunzte und spuckte aus. »Dieser Vogel ist ein Rock, liebes Fräulein Wren. Er heißt Spirit. Er ist der beste von allen. Und es gibt keine Elfen. Das weiß jeder.«

Wren nickte. »Nicht jeder. Einige glauben, daß es Elfen gibt. Ich wurde ausgesandt, um zu überprüfen, ob das stimmt. Könnt Ihr und Spirit mir helfen?«

Es folgte ein langes Schweigen. Tiger Ty verzog sein Gesicht immer wieder anders, so daß es ein dutzendmal einen neuen Ausdruck bekam. »Ein großer Kerl, Euer Freund Garth, nicht wahr? Ich sehe, daß Ihr ihm mit Euren Händen vermittelt, was wir sagen. Ich wette, er hört besser als wir, ei der Daus.« Er machte eine Pause. »Wer seid Ihr denn, mein Fräulein, daß Ihr Euch darum Gedanken macht, ob es Elfen gibt oder nicht?«

Sie sagte es ihm, denn sie war sich jetzt sicher, daß er derjenige war, für den das Signalfeuer gedacht gewesen war, und daß er nur vorsichtig war mit dem, was er offenbarte, bis er herausgefunden hatte, mit wem er es zu tun hatte. Sie enthüllte ihre Herkunft und offenbarte, daß sie das Kind einer Elfe und eines Fahrenden war, das Verbindung zu seiner Herkunft suchte. Sie berichtete von ihrem Treffen mit dem Schatten Allanons und von der von dem Druiden gestellten Aufgabe, die vermißten Elfen zu suchen und herauszufinden, was mit ihnen geschehen war. Sie erzählte von der Hoffnung, sie in die Welt der Menschen zurückbringen zu können, damit sie teilhaben konnten an dem Kampf gegen die Schattenwesen.

Sie sagte nichts über die Elfensteine. Sie war noch nicht bereit, ihm in dieser Hinsicht zu trauen.

Tiger Ty bewegte sich unruhig, während sie sprach, und sein Gesicht verzog sich wieder besorgt in einem Dutzend verschiedener Grimassen. Er schien Garth nicht zu beachten, sondern konzentrierte sich offenbar ganz auf Wren. Er trug keine Waffen außer einem langen Messer, aber mit Spirit als Wächter benötigte er auch keine. Der Rock war eindeutig sein Beschützer.

»Wir sollten uns setzen«, sagte Tiger Ty, als sie geendet hatte, und zog seine Lederhandschuhe aus. »Habt Ihr etwas zu essen?«

Sie setzten sich neben das jetzt in Vergessenheit geratene Signalfeuer, und Wren brachte einige getrocknete Früchte, ein kleines Brot und etwas Bier zum Vorschein. Sie aßen und tranken schweigend. Wren und Garth tauschten gelegentlich Blicke aus. Tiger Ty ignorierte sie beide, so sehr genoß er das Essen. Als sie fertig waren, lächelte Tiger Ty zum ersten Mal. »Ein guter Beginn des heutigen Tages, mein Fräulein. Vielen Dank.«

Wren nickte. »Das ist in Ordnung. Nun erzählt. War unser Feuer für Euch gedacht?«

Das ledrige Gesicht legte sich in Falten. »Nun, das kommt darauf an, wißt Ihr. Ich muß Euch eines fragen: Wißt Ihr denn etwas über Flugreiter?«

Wren schüttelte verneinend den Kopf.

»Denn das ist es, was ich bin, müßt Ihr wissen«, erklärte der andere. »Ein Flugreiter. Einer, der die Himmelsstraßen befliegt, ein Wächter der Westlandküste. Spirit ist mein Rock. Er wurde von meinem Vater abgerichtet und mir überlassen, als ich alt genug war. Eines Tages wird er meinem Sohn gehören, wenn sich mein Sohn beweist. Das ist jetzt allerdings noch fraglich. Der dumme Junge fliegt ständig zu Orten, an denen er nichts zu suchen hat. Er hört nicht auf das, was ich ihm sage. Hitzig. Wie dem auch sei, Flugreiter fliegen mit ihren Rocks schon seit Hunderten von Jahren über die Blaue Spalte. Dieser spezielle Platz hier und dort hinten das Tal waren einst unsere Heimat. Er wurde Wing Hove genannt. Das war zur Zeit des Druiden Allanon. Ihr seht, daß ich ein paar Dinge weiß.«

»Kennt Ihr den Namen Ohmsford?« fragte Wren aufgeregt.

»Es gab vor mehreren hundert Jahren, als die Elfen gegen Dämonen kämpften, die aus dem Schrecklichen entkommen waren, eine Geschichte über einen Ohmsford. Es heißt, daß auch die Flugreiter an jenem Krieg beteiligt waren. Jedenfalls gab es einen Ohmsford, wie man mir gesagt hat. Verwandte von Euch?«

»Ja«, sagte sie. »Vor zwölf Generationen.«

Er nickte nachdenklich. »Das also seid Ihr? Ein Kind des Hauses Shannara?«

Wren nickte. »Ich vermute, daß ich deshalb ausgesandt wurde, die Elfen zu finden, Tiger Ty.«

Tiger Ty schaute sie zweifelnd an. »Flugreiter sind Elfen, wißt Ihr«, sagte er vorsichtig. »Aber wir sind nicht die Elfen, die Ihr sucht. Die Elfen, die Ihr sucht, sind Landelfen, keine Himmelselfen. Versteht Ihr den Unterschied?«

Sie schüttelte den Kopf nicht noch einmal. Er erklärte ihr dann, daß die Bewohner des Wing Hove Himmelselfen waren, und er vermutete, daß jene Elfen ein gesondertes Volk gewesen seien. Die Mehrheit der Elfen wurden Landelfen genannt, weil sie nicht die Rocks befehligen und daher auch nicht fliegen konnten.

»Deshalb haben sie uns nicht mit sich genommen, als sie fortgingen«, schloß er mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Deshalb wären wir ohnehin nicht mit ihnen gegangen.«

Wren spürte, daß sich ihr Puls beschleunigte. »Dann gibt es also noch immer Elfen, nicht wahr? Wo sind sie, Tiger Ty?«

Der gebeugte, kleine Mann blinzelte und hob sein ledriges Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich Euch das sagen sollte«, meinte er. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mit Euch sprechen sollte. Ihr könntet sein, wer Ihr zu sein behauptet. Aber Ihr könntet es auch nicht sein. Selbst wenn Ihr es seid, solltet Ihr vielleicht nichts über die Elfen erfahren. Der Druide Allanon hat Euch gesandt, sagt Ihr? Er hat Euch aufgetragen, die Elfen zu finden und zurückzubringen? Ein großer Auftrag, wenn Ihr mich fragt.«

»Ich könnte Hilfe dabei gebrauchen«, gab Wren zu. »Was würdet Ihr verlieren, wenn Ihr sie mir gewähren würdet, Tiger Ty?«

Er beendete seine Grübeleien und lehnte sich nachdenklich zurück.

»Nun ja, da habt Ihr recht, mein Fräulein«, erwiderte er und nickte zustimmend und wieder mit sich selbst im reinen. »Abgesehen davon mag ich irgendwie, was ich in Euch sehe. Mein Sohn könnte ein wenig von dem gebrauchen, was Ihr habt. Andererseits hat er davon vielleicht schon zuviel! Hmm!«

Er wandte ruckartig den Kopf, und seine scharfen Augen fixierten sie. »Dort draußen«, sagte er und deutete zur Blauen Spalte. »Dort sind sie, diejenigen, die übriggeblieben sind.« Er machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Es ist eine lange Geschichte, also hört gut zu, denn ich werde mich nicht wiederholen. Ihr auch, großer Bursche.« Er deutete mit einem drohenden Finger auf Garth.

Dann atmete er tief ein und setzte sich zurück. »Vor langer Zeit, vor mehr als hundert Jahren, hielten die Landelfen ein Konzil ab und beschlossen, aus dem Westland auszuwandern. Fragt mich nicht, warum. Ich maße mir nicht an, das zu wissen. Überwiegend der Föderation wegen, vermute ich. Die sich in alles einmischte, alles übernahm und erklärte, alles, was jemals gewesen war oder jemals sein würde, gehöre ihr. Und die alles auf die Magie schob und sagte, es sei alles der Fehler der Elfen. Ein Haufen Unsinn. Auf jeden Fall mochten die Landelfen dies nicht und beschlossen zu gehen. Das Problem war, wohin sie gehen sollten. Es war nicht so, daß ein ganzes Volk einfach irgendwohin gehen konnte, ohne jemanden aufzustören, der bereits dort wohnte. Ostland, Südland, Nordland – überall dasselbe. Also fragten sie uns. Himmelselfen kommen weiter herum als die meisten und sehen Orte, von denen andere noch nicht einmal wissen, daß sie existieren. Also erzählten wir ihnen, daß es ein paar Inseln dort draußen in der Blauen Spalte gab, auf denen niemand lebte, und sie dachten darüber nach, sprachen darüber, flogen mit Flugreitern auf den Rocks einige Male hinaus und trafen eine Entscheidung. Sie suchten sich einen Sammelplatz, bauten Boote, Hunderte davon, ganz heimlich – und zogen fort.«

»Alle?«

»Jeder einzelne von ihnen, wurde mir gesagt. Sie segelten davon.«

»Um auf den Inseln zu leben?« fragte Wren ungläubig.

»Auf einer Insel.« Tiger Ty hielt einen einzigen Finger hoch, um seine Worte zu unterstreichen. »Morrowindl.«

»Das war ihr Name? Morrowindl?«

Der andere nickte. »Die größte aller Inseln mit mehr als zweihundert Meilen im Durchmesser, ideal für Landwirtschaft und für Dinge, wie sie die Sarandanon bereits anpflanzten. Obst, Gemüse, Bäume, gute Erde, Schutz – alles war da. Auch zum Jagen war sie gut. Die Landelfen hatten die Vorstellung, sie könnten hinüberziehen, sich aus der alten Welt zurückziehen und in einer neuen Welt erneut beginnen. Sie wollten sich erneut vollständig isolieren und die anderen Rassen machen lassen, was die wollten. Und sie wollten auch ihre Magie wiedererlangen – das war ein Teil davon.«

Er räusperte sich. »Wie ich bereits sagte, war das vor langer Zeit. Nach einiger Zeit wanderten auch wir aus. Nicht so weit, versteht Ihr – nur auf die dem Land vorgelagerten Inseln, gerade weit genug fort, um der Verfolgung durch die Föderation zu entgehen. Elfen sind für sie Elfen. Wir hatten genug von dieser Denkungsart. Wir waren natürlich nicht so viele, die fortzogen, nicht so viele wie die Landelfen. Wir benötigten weniger Raum und konnten uns auf den kleineren Inseln ansiedeln. Dort sind wir noch immer, mein Fräulein. Dort draußen, ein paar Meilen vor der Küste. Wir kommen nur zurück zum Festland, wenn es nötig ist – wie zum Beispiel, wenn jemand ein Signalfeuer entfacht. Diese Vereinbarung haben wir getroffen.«

»Vereinbarung mit wem?«

»Mit den Landelfen. Einige Angehörige der Rassen, die zurückgeblieben sind, wußten, daß man das Feuer entfachen muß, wenn man uns zu sprechen wünscht. Auch einige der Elfen kamen über die Jahre zurück. Da wußten dann noch einige mehr von dem Feuer. Aber die meisten sind seitdem gestorben. Diese Addershag – ich weiß nicht, wie sie es herausgefunden hat.«

»Laßt uns das einen Moment zurückstellen, Tiger Ty«, bat Wren mit einer beschwichtigenden Geste. »Beendet zuerst Eure Geschichte über die Landelfen. Was geschah mit ihnen? Ihr sagtet, sie seien vor über hundert Jahren ausgewandert. Was wurde danach aus ihnen?«

Tiger Ty zuckte die Achseln. »Sie siedelten, bauten Häuser, gründeten Familien und waren glücklich. Alles wurde so, wie sie es sich vorgestellt hatten – zunächst. Vor ungefähr zwanzig Jahren allerdings begannen die Probleme. Es war nicht leicht zu sagen, was das eigentliche Problem war. Sie wollten es nicht mit uns besprechen. Wir sahen sie nur ab und zu, wißt Ihr. Wir hatten noch immer nicht viel miteinander zu tun, selbst nachdem wir auch ausgewandert waren. Wie dem auch sei, alles auf Morrowindl begann sich zu ändern. Es begann mit Killeshan, dem Vulkan. Er hatte Hunderte von Jahren geschlafen und erwachte plötzlich wieder zum Leben. Er begann zu rauchen, zu spucken und brach ein- oder zweimal aus. Vogwolken – Ihr wißt schon, vulkanische Asche – begannen den Himmel zu verdunkeln. Die Luft, das Land, das Wasser darum herum – alles wurde anders.«

Er machte eine Pause, und ein grimmiger Blick veränderte seinen Gesichtsausdruck. »Auch sie wurden anders – die Landelfen. Sie wollten es nicht zugeben, aber wir sahen, daß sich etwas verändert hatte. Man konnte es an ihrem Verhalten erkennen, wenn wir in der Nähe waren. Sie wurden heimlichtuerisch mit allem. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet, wo auch immer sie hingingen. Und seltsame Lebewesen begannen auf der Insel zu erscheinen, monströse Wesen, Wesen, die niemals zuvor dort gewesen waren. Sie erschienen einfach so, aus dem Nichts. Und das Land begann zu kränkeln und sich zu verändern wie alles andere.«

Er seufzte. »Die Landelfen begannen dann wegzusterben, einige auf einmal, nach einer Weile dann immer mehr. Sie hatten einst über die ganze Insel verteilt gelebt. Das wurde geändert, und sie zogen in ihre Stadt, alle zusammengedrängt wie Ratten auf einem sinkenden Schiff. Sie bauten Befestigungen und verstärkten sie mit Magie. Mit alter Magie, wißt Ihr, aus der alten Zeit und auf die alte Art zurückgeholt. Die Himmelselfen wollten nichts damit zu tun haben, und wir haben die Magie niemals auf solch eine Art wie sie gebraucht.«

Er lehnte sich zurück. »Vor zehn Jahren verschwanden sie vollständig.«

Wren erschrak. »Sie verschwanden?«

»Sie verschwanden. Sie sind wohl noch immer auf Morrowindl, im Geist. Aber wo nur? Die Insel war da längst ein Durcheinander aus Asche und Nebel und dampfender Hitze. Sie hatte sich so vollständig verändert, daß sie ein völlig anderer Ort hätte sein können.« Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Wir sind nicht hingelangt und konnten daher nicht herausfinden, was geschehen war. Ich habe ein halbes Dutzend Flugreiter ausgeschickt. Nicht einer kam zurück. Nicht einmal die Vögel. Und niemand kam heraus. Niemand, mein Fräulein. In all diesen Jahren niemand.«

Wren schwieg einen Moment und dachte nach. Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Warmes Licht fiel in Kaskaden von der Spitze des Irrybis hinab, und der wolkenlose Morgenhimmel war hell und freundlich. Seevögel flogen in großen Kreisen über die Blaue Spalte und fischten. Spirit hatte sich auf den Rand der Klippe gekauert und hatte sie scheinbar vergessen. Der Rock war zu einer Statue geworden. Nur seine scharfen, suchenden Augen zeigten Leben.

»Falls es also noch Elfen gibt«, sagte Wren schließlich, »Landelfen, meine ich, dann sind sie noch immer irgendwo auf Morrowindl. Seid Ihr Euch dessen sicher, Tiger Ty?«

Der Flugreiter zuckte die Achseln. »So sicher, wie man sein kann. Ich denke, sie könnten auch woandershin verschwunden sein, aber es ist seltsam, daß sie uns dann nicht verständigt haben.«

Wren atmete tief ein. »Könnt Ihr uns nach Morrowindl bringen?« fragte sie.

Es war eine impulsive Frage, geboren aus der wilden und phantastischen Entschlossenheit, die Wahrheit zu entdecken, die anscheinend nicht nur für sie, sondern auch für alle anderen im Verborgenen lag. Sie erkannte, daß sie selbstsüchtig dachte. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, Garth nach seiner Meinung zu fragen. Sie hatte es nicht einmal für nötig gehalten, sich daran zu erinnern, wie schwer er bei dem Kampf mit dem Schattenwesen verletzt worden war. Sie konnte ihn jetzt nicht ansehen. Sie hielt die Augen fest auf Tiger Ty gerichtet.

Es war völlig klar, was er von der Idee hielt. Der kleine Mann runzelte wild die Stirn. »Ich könnte euch nach Morrowindl bringen«, sagte er. »Aber ich werde es nicht tun.«

»Ich muß wissen, ob es dort noch Elfen gibt«, drängte sie und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. Erst jetzt riskierte sie einen kurzen Blick zu Garth. Das Gesicht des Fahrenden verriet nicht, was er dachte. »Ich muß herausfinden, ob sie in die Welt der Menschen zurückgebracht werden können. Das war Allanons Auftrag an mich, und ich glaube, ich halte ihn für wichtig genug, um ihn auszuführen.«

»Wieder Allanon!« schnappte Tiger Ty aufgebracht. »Ihr würdet Euer Leben riskieren für das Wort eines Schattens? Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung davon, wie Morrowindl aussieht? Nein, natürlich nicht! Warum frage ich überhaupt? Ihr habt kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe, nicht wahr? Ihr glaubt, Ihr könnt einfach dort hingehen, Euch umschauen und wieder weggehen? Das aber könnt Ihr nicht! Ihr würdet keine zwanzig Fuß weit kommen – Ihr oder Euer großer Freund! Diese ganze Insel ist eine Todesfalle! Sumpf und Dschungel, Vog, der alles erstickt, Killeshan, der Feuer spuckt. Und die Wesen, die dort leben, die Monster? Welche Chance glaubt Ihr gegen sie zu haben? Wenn kein Flugreiter mit seinem Rock landen und wieder herauskommen kann, dann könnt Ihr das auch nicht. Bei Dämons Blut!«

»Vielleicht ist es so«, stimmte Wren zu. »Aber ich muß es versuchen.« Sie schaute erneut zu Garth hinüber, der ihr kurz Zeichen machte, nicht als Tadel, sondern zur Warnung. Bist du sicher? Sie nickte heftig und sagte zu Tiger Ty: »Wollt Ihr nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist? Was ist, wenn sie Hilfe brauchen?«

»Was, wenn es so ist?« grollte er. »Was sollen die Himmelselfen tun? Wir sind nur eine Handvoll. Es gab Tausende von Landelfen. Wenn sie mit dem, was dort ist, nicht umgehen konnten, welche Chance hätten wir dann? Oder Ihr, Fräulein Retterin?«

»Werdet Ihr uns hinbringen?« wiederholte sie.

»Nein, das werde ich nicht! Vergeßt die ganze Angelegenheit!« Er stand verärgert auf.

»Sehr gut. Dann werden wir ein Boot bauen und Morrowindl auf diesem Weg erreichen.«

»Ein Boot bauen! Was wißt Ihr denn vom Bootebauen! Oder auch vom Segeln!« Tiger Ty war erzürnt. »Von allen einfältigen, dickschädeligen... !«

Er stürmte davon, hinüber zu Spirit, blieb dann stehen und stampfte mit dem Fuß auf die Erde, wirbelte herum und kam wieder zurück. Sein gefurchtes Gesicht war karmesinrot, die Hände hatte er zu Fäusten geballt.

»Ihr wollt es also wirklich tun, nicht wahr?« fragte er. »Ob ich Euch nun helfe oder nicht?«

»Ich muß es«, antwortete sie ruhig.

»Aber Ihr seid einfach... Ihr seid nur...« sprudelte er los, anscheinend unfähig, den Gedanken zu Ende zu bringen. Sie wußte, was er sagen wollte, und es gefiel ihr nicht. »Ich bin stärker, als Ihr denkt«, sagte sie zu ihm. Ihre Stimme hatte jetzt einen harten Unterton. »Ich habe keine Angst.«

Tiger Ty sah sie lange und streng an, sah dann kurz zu Garth hinüber und warf die Hände in die Luft. »Also gut!« Er warf ihr einen wütenden Blick zu. »Ich werde Euch hinbringen! Nur bis zum Strand, versteht Ihr, denn im Gegensatz zu Euch habe ich Angst und bin dagegen, meinen oder Spirits Hals zu riskieren, nur um Eure Neugier zu befriedigen!«

Sie begegnete seinem Blick gelassen. »Dies hat nichts damit zu tun, daß ich meine Neugier befriedigen will, Tiger Ty. Das wißt Ihr.«

Er kauerte sich vor sie hin, sein sonnengebräuntes Gesicht nur Zentimeter von ihrem eigenen entfernt. »Vielleicht. Aber hört zu. Versprecht mir, daß Ihr das Ganze noch einmal überdenkt, sobald Ihr seht, womit Ihr es zu tun habt. Denn trotz der Tatsache, daß Euch ein wenig gesunder Menschenverstand fehlt, mag ich Euch, und ich würde nicht gerne zusehen, wenn Euch etwas Schreckliches passiert. Es wird nicht so kommen, wie Ihr denkt. Das werdet Ihr bald genug merken. Also versprecht mir das. Einverstanden?«

Wren nickte bedächtig. »Einverstanden.«

Tiger Ty erhob sich, die Hände auf den Hüften, unverändert herausfordernd. »Dann kommt«, murrte er. »Wir wollen es hinter uns bringen.«

Загрузка...