Bis zum Mittag des folgenden Tages erfuhr jedermann in Arborlon von Ellenroh Elessedils Entscheidung, die Macht des Loden anzurufen, um die Elfen und ihre Heimatstadt ins Westland zurückzubringen. Die Königin hatte die Nachricht beim ersten Morgengrauen verbreiten lassen, indem sie ausgewählte Boten in jeden Winkel ihres bedrängten Königreiches sandte – Barsimmon Oridio zu den Offizieren und Soldaten des Heeres, Triss zu den Elfenjägern der Leibgarde, Eton Shart zu den restlichen Mitgliedern des Hohen Konzils und von dort zu den Angehörigen des Hofstaates, die in den Verwaltungsbüros der Regierung dienten, und Gavilan zum Marktbezirk, um die Führer des Handels und der Bauerngemeinschaften zu versammeln. Zu dieser Stunde war Wren längst aufgewacht. Sie hatte sich angezogen und gefrühstückt und war in die Stadt gegangen, in der von nichts anderem gesprochen wurde. Sie fand die Reaktion der Elfen bemerkenswert. Es gab keine Panik, kein Gefühl der Verzweiflung und keine Drohungen oder Anklagen gegen die Königin wegen ihrer Entscheidung. Natürlich war Unsicherheit zu spüren und ein gesundes Maß an Zweifeln. Keiner der Elfen hatte schon gelebt, als Arborlon aus dem Westland fortgetragen worden war, und obwohl alle die Geschichte der Auswanderung nach Morrowindl gehört hatten, hatten nur wenige wirklich daran gedacht, erneut auszuwandern. Selbst als die Stadt von Dämonen umringt wurde und das Leben sich im Vergleich zu den Zeiten von Ellenrohs Vater drastisch verändert hatte, hatten ihre Sorgen um die Zukunft sie nie die Möglichkeit überdenken lassen, die Magie des Loden erneut einzusetzen. Daher sprachen die Leute von dem Gedanken, fortzugehen, wie von etwas völlig Neuem, von einem neuen Argument, und bei den Unterhaltungen, die Wren mitbekam, wurde größtenteils gesagt, daß es sicher so sein mußte, wenn Ellenroh Elessedil es für das beste hielt. Hier wurde dem Vertrauen, das die Elfen ihrer Königin entgegenbrachten, Tribut gezollt, indem sie ihren Vorschlag so bereitwillig annahmen – besonders, wo er so weitgehend war wie dieser.
»Es wird schön sein, wieder aus der Stadt hinausgehen zu können«, sagte mehr als einer. »Wir haben schon zu lange hinter Mauern gelebt.«
»Wir werden die Straßen bereisen können und die Welt sehen«, stimmten andere zu. »Ich liebe mein Zuhause, aber ich vermisse auch, was jenseits liegt.«
Mehr als einmal wurde ein Leben ohne die beständige Bedrohung durch die Dämonen erwähnt, eine Welt, in der die dunklen Wesen nur noch eine Erinnerung sein würden und die Jungen aufwachsen könnten, ohne akzeptieren zu müssen, daß sie nur durch den Keel überleben konnten und daß es für sie niemals irgendeine Art von Leben jenseits des Keels geben konnte. Einige drückten Besorgnis darüber aus, wie die Magie funktionieren würde und ob sie überhaupt funktionieren würde, aber die meisten schienen mit der Versicherung der Königin zufrieden zu sein, daß das Leben in der Stadt während der Reise weitergehen würde wie immer, daß die Magie sie beschützen und gegen alles, was auch immer außerhalb geschehen würde, abschirmen würde. Sie gingen davon aus, daß es wie bisher sein würde, außer daß anstelle des Keels eine Dunkelheit herrschen würde, die niemand würde durchdringen können, bis die Magie des Loden erneut angerufen würde.
Auf dem Marktplatz traf Wren Aurin Striate. Die Eule war bereits seit der Dämmerung auf den Beinen und stellte zusammen, was die Neunergruppe auf ihrer Reise über die Hänge des Killeshan zum Strand hinab benötigen würde. Seine Aufgabe wurde vor allem durch die Entschlossenheit der Königin erschwert, nur das mitzunehmen, was sie auf ihren Rücken tragen konnten, weil List und Schnelligkeit ihnen am ehesten ermöglichen würden, den Dämonen auszuweichen.
»Soweit ich es verstehe, funktioniert die Magie folgendermaßen«, erklärte er, während sie zum Palast zurückgingen. »Sie hüllt uns ein und trägt uns davon, wenn sie angerufen wird. Wenn sie erst einmal an ihrem Platz ist, schützt sie gegen das Eindringen von außen wie eine Schale. Gleichzeitig bringt sie uns – die Stadt und alles – an einen anderen Ort und hält uns dort, bis der Zauber entlassen wird. Dabei gibt es so etwas wie ein Aussetzen der Zeit. Dadurch spüren wir auch nichts von dem, was während der Reise geschieht. Wir verspüren keine Bewegung.«
»Also geht alles einfach so weiter wie zuvor?« fragte Wren und versuchte sich vorzustellen, wie das wohl sein würde.
»Weitgehend. Es gibt weder Tag noch Nacht, nur eine Düsterkeit, als wäre der Himmel bewölkt, sagte mir die Königin. Es gibt Luft und Wasser und alles andere, was man zum Überleben braucht. Alles wird sorgfältig in diese Art Kokon eingehüllt sein.«
»Und was geschieht, wenn ihr erst dort ankommt, wo ihr hinwollt?«
»Die Königin entläßt den Zauber, und die Stadt ist wiederhergestellt.«
Wrens Augen suchten die der Eule. »Vorausgesetzt natürlich, daß das, was man Ellenroh über die Magie erzählt hat, tatsächlich wahr ist.«
Die Eule seufzte. »So jung und schon so skeptisch.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn das nicht wahr ist, Wren, welche Rolle spielt das denn schon? Sind wir nicht auf Morrowindl hoffnungslos gefangen? Einige könnten sich vielleicht retten, indem sie an den dunklen Wesen vorbeischlüpfen, aber die meisten würden umkommen. Wir müssen einfach glauben, daß die Magie uns rettet, Mädchen, denn die Magie ist alles, was wir haben.«
Sie verließ ihn, als sie sich den Palasttoren näherten, und ließ ihn allein weitergehen. Er hatte müde Augen und zog die Schultern nach vorn, und sein dünner, verzerrter Schatten auf dem Boden war ein Spiegel seiner selbst. Sie mochte Aurin Striate. Wie in alter Kleidung, die zur zweiten Haut geworden ist, fühlte sie sich in seiner Nähe angenehm entspannt. Sie traute ihm. Wenn jemand ihnen bei dieser Reise, die da vor ihnen lag, wirklich beistehen konnte, dann war das die Eule.
Sie wandte sich vom Palast ab und schlenderte gedankenverloren auf die Gärten des Lebens zu. Sie hatte nicht nach Garth geschaut, als sie aufgestanden war, sondern war aus ihrem Raum geschlüpft, um die Königin aufzusuchen. Aber Ellenroh war erneut nirgendwo zu finden gewesen, und so hatte sie beschlossen, allein in die Stadt zu gehen. Jetzt, wo ihr Spaziergang beendet war, stellte sie fest, daß sie noch immer allein sein wollte. Sie ließ ihre Gedanken schweifen, während sie die einsamen Gärten betrat, und stieg den leichten Abhang zum Ellcrys hinauf. Von dem Moment an, in dem sie aufgewacht war, wurden ihre Gedanken an diesem Morgen hartnäckig von Gavilan Elessedil angezogen. Sie blieb kurz stehen und sah ihn vor sich. Als sie die Augen schloß, konnte sie spüren, wie er sie küßte. Sie atmete tief ein und langsam wieder aus. Sie war in ihrem Leben erst ein- oder zweimal geküßt worden, denn sie hatte immer zu viel mit ihrer Ausbildung zu tun gehabt und war zu sehr allein, unnahbar und mit anderen Dingen befaßt gewesen, um sich um junge Männer zu kümmern. Es war keine Zeit gewesen für eine Beziehung zu irgend jemand. Sie hatte kein Interesse daran gehabt. Warum war das so? fragte sie sich plötzlich. Aber sie wußte, daß sie genausogut hätte fragen können, warum der Himmel blau war, wie danach, warum sie so geworden war.
Sie öffnete die Augen wieder und ging weiter.
Als sie zum Ellcrys kam, betrachtete sie ihn eine Weile, bevor sie sich in seinen Schatten setzte. Gavilan Elessedil. Sie mochte ihn. Vielleicht zu sehr. Es schien instinktiv so zu sein, und sie mißtraute der plötzlichen Stärke ihrer Gefühle. Sie kannte ihn kaum und dachte bereits mehr an ihn, als sie sollte. Er hatte sie geküßt, und es hatte ihr gefallen. Dennoch ärgerte es sie, daß er verschwieg, was er über die Magie und die Dämonen wußte. Es gab da eine Wahrheit, die er nicht mit ihr teilen wollte, ein Geheimnis, das so viele Elfen verbargen – nicht nur Ellenroh, Eowen und die Eule. Aber Gavilans Verschlossenheit beunruhigte sie mehr, weil er angeblich als Freund zu ihr gekommen war. Er hatte versprochen, ihr alle Fragen zu beantworten, die sie stellen würde, er hatte sie geküßt, und sie hatte es zugelassen, und trotzdem hatte er sein Wort nicht gehalten. Sie glühte innerlich wegen dieses Verrats und bemerkte dennoch, daß sie bemüht war, ihm zu vergeben. Sie suchte Entschuldigungen für ihn zu finden und ihm eine Chance zu geben, es ihr dann zu sagen, wenn er es für richtig hielt.
Aber war es mit Gavilan denn anders, als es mit ihrer Großmutter gewesen war, fragte sie sich plötzlich. Waren nicht bei beiden die gleichen Gedanken in ihr hochgekommen?
Vielleicht waren ihre Gefühle für beide nicht sehr unterschiedlich.
Der Gedanke beunruhigte sie stärker, als sie zugeben wollte, und sie schob ihn hastig beiseite.
Es war still innerhalb der Gärten, in denen man zwischen Bäumen und Blumenbeeten allein sein konnte und unter dem lieblichen Schutz des Ellcrys Kühle und Zurückgezogenheit genießen konnte. Sie ließ ihre Augen über die Decke aus Farben schweifen, als die die Gärten angelegt waren, und beobachtete, daß die Erde wie mit Pinselstrichen überzogen wirkte, einige kurz und breit, andere dünn und gebogen, und daß es Ränder aus Helligkeit gab, die im Licht schimmerten. Über ihr schien die Sonne aus einem wolkenlosen, blauen Himmel herab. Die Luft war warm und duftete süß. Sie sog sie langsam tief in sich hinein und war sich währenddessen bewußt, daß dies am selben Abend alles vorbei sein würde und daß sie einmal mehr in das wilde Dunkel von Morrowindl hinausgestoßen werden würde, wenn der Loden angerufen wurde. Sie hatte für eine Weile den Schrecken vergessen können, der jenseits des Keels lag, hatte ihre Erinnerung an den Schwefelgestank, an die dampfenden Risse in der Kruste aus Lavagestein, an die Hitze aus der Glut von Killeshan, wie sie der Erde entstieg, die Dunkelheit und den Vog und das Keuchen und Knurren der Dämonen auf der Jagd verdrängen können. Sie zitterte und preßte die Arme an ihren Körper. Sie wollte nicht wieder dort hinaus gehen. Sie spürte, daß es wartete wie ein geduldig zusammengekauertes Lebewesen. Entschlossen, sie zu bekommen, sicher, daß sie kommen würde. Sie schloß die Augen wieder, wartete darauf, daß die negativen Gefühle abflauten und sammelte nach und nach wieder all ihre Entschlossenheit. Sie beruhigte sich, indem sie sich sagte, daß sie nicht allein sein werde, daß andere bei ihr sein würden, daß sie sich alle gegenseitig beschützen würden, und daß die Reise von den Bergen herab schnell vorbei sein werde und daß sie dann sicher sein würden. Sie war doch unbeschadet nach Arborlon heraufgestiegen. Sicherlich würde sie auch wieder hinabsteigen können.
Und doch blieben ihre Zweifel und flüsterten bohrend Warnungen, in denen die Warnung der Addershag von Grimpen Ward widerhallte: Hüte dich, Elfenmädchen. Ich sehe Gefahren auf dich zukommen, harte Zeiten und Verrat und Böses jenseits aller Vorstellungen.
Traue niemandem.
Aber wenn sie dem Rat der Addershag folgte, wenn sie sich auf sich selbst verließ und niemand anderem Beachtung schenkte, würde sie ohnmächtig sein. Sie würde von allen anderen abgeschnitten sein. Würde sie das überleben können? Sie glaubte es nicht.
Wieviel von ihrer Zukunft hatte die Addershag überhaupt gesehen, fragte sie sich grimmig. Wieviel hatte sie gar nicht entdecken können?
Sie erhob sich, schaute ein letztes Mal auf den Ellcrys und wandte sich ab. Langsam stieg sie die Gärten des Lebens hinab und nahm dabei schwache Erinnerungen an ihren Trost und ihre Ruhe mit, um sie für eine Zeit wegzustecken, wo sie sie brauchen würde. Für die Zeit, wo Dunkelheit sie umgeben und sie allein sein würde. Sie wollte glauben, daß das nicht eintrat. Sie hoffte, daß sich die Addershag geirrt hatte.
Aber sie wußte, daß sie sich dessen nicht sicher sein konnte. Garth traf sie kurz darauf, und sie blieb den Rest des Tages mit ihm zusammen. Sie sprachen ausführlich über das, was vor ihnen lag, listeten die Gefahren auf, denen sie bereits begegnet waren, und überlegten gemeinsam, was sie brauchen würden, um ihre Reise zurück durch den Wahnsinn, der dort draußen lag, zu überstehen. Garth schien entspannt und zuversichtlich, aber das schien er eigentlich immer zu sein. Sie vereinbarten, daß sie nahe beieinander bleiben würden, was auch immer geschehen mochte. Sie sah Gavilan nur einmal und nur für einen Moment. Es war am Spätnachmittag, und er verließ den Palast zu einem weiteren Botengang, als sie über den Rasen kam. Er lächelte ihr zu und winkte, als sei alles, wie es sein sollte, als sei die ganze Welt noch im Gleichgewicht. Trotz ihrer Verwirrung über seine sorglose Art lächelte sie und winkte zurück. Sie hätte gern mit ihm gesprochen, wenn es möglich gewesen wäre, aber Garth war da und auch mehrere Begleiter von Gavilan, und es gab keine Gelegenheit. Er tauchte danach nicht wieder auf, obwohl sie eifrig nach ihm Ausschau hielt. Als die Dämmerung hereinbrach, war sie wieder allein in ihrem Raum, schaute aus den Fenstern auf das ersterbende Licht, dachte, daß sie etwas tun sollte. Ein Gefühl, als sei sie gefangen, machte sich in ihr breit, und sie fragte sich, ob sie darum kämpfen sollte, davon freizukommen. Garth hatte sich wieder in den angrenzenden Raum zurückgezogen. Sie wollte gerade zu ihm gehen, als sich die Tür öffnete und die Königin erschien.
»Großmutter«, begrüßte sie sie und konnte die Erleichterung in ihrer Stimme nicht völlig verbergen.
Ellenroh eilte wortlos durch den Raum, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Wren«, flüsterte sie, und ihre Arme legten sich fester um das Mädchen, als hätte sie Angst, Wren könne fliehen.
Schließlich trat sie zurück, lächelte, nachdem zuvor noch ein Schatten von Traurigkeit ihr Gesicht überzogen hatte, nahm dann Wrens Hand und führte sie zum Bett, wo sie sich setzten.
»Ich habe dich den ganzen Tag beschämend vernachlässigt. Bitte entschuldige das. Es schien, als sei mir jedes Mal, wenn ich mich umwandte, etwas anderes eingefallen, das zuerst getan werden mußte. Es waren zwar nur kleine Aufgaben, die ich vergessen hatte, sie mußten aber noch vor heute abend erledigt werden.«
Sie hielt inne. »Wren, es tut mir leid, daß ich dich in diese Angelegenheit hineingezogen habe. Die Probleme, die wir uns selbst geschaffen haben, sollten nicht auch deine werden. Aber es hilft nichts. Ich brauche dich, Kind. Vergibst du mir?«
Wren schüttelte verwirrt den Kopf. »Es gibt nichts zu vergeben, Großmutter. Als ich mich entschloß, Allanons Botschaft zu euch zu bringen, beschloß ich auch, mich darauf einzulassen. Ich wußte, daß ich mit euch kommen würde, wenn ihr dieser Botschaft folgen würdet. Ich habe noch nie anders darüber gedacht.«
»Wren, du gibst mir soviel Hoffnung! Ich wünschte, Alleyne wäre hier und könnte dich sehen. Sie würde stolz sein. Du hast ihre Kraft und ihre Entschlossenheit.« Die glatten Brauen zogen sich zusammen. »Ich vermisse sie so sehr. Es ist Jahre her, daß sie fortgegangen ist, und noch immer scheint es mir, als sei es nur für einen Moment. Manchmal ertappe ich mich auch jetzt noch dabei, daß ich nach ihr Ausschau halte.«
»Großmutter«, sagte Wren ruhig und wartete, bis sie sie ansah.
»Erzähle mir von der Magie. Was ist es, worüber du Bescheid weißt und Gavilan und Eowen und die Eule und jeder andere auch, nur ich nicht? Warum ängstigt es jedermann so?«
Einen Moment lang antwortete Ellenroh Elessedil nicht. Ihre Augen wurden hart, und ihr Körper versteifte sich. Wren konnte in diesem Augenblick die eiserne Entschlossenheit erkennen, auf die ihre Großmutter immer dann zurückgriff, wenn sie sie brauchte, eine Entschlossenheit, die das jugendliche Gesicht und die schlanke Gestalt Lügen strafte. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Wren hielt ihrem Blick stand. Sie wollte nicht wegsehen, denn sie wollte die Geheimnisse zwischen ihnen unbedingt beenden.
Das Lächeln der Königin kam unerwartet und bitter. »Wie gesagt, du bist wie Alleyne.« Sie ließ Wrens Hände los. Es schien, als habe sie Angst, es könne eine Schranke zwischen ihnen errichtet werden. »Es gibt einige Dinge, die ich dir gern erzählen würde, die ich dir aber nicht erzählen kann, Wren. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich habe meine Gründe, und du wirst es akzeptieren müssen. Aber ich kann dir versichern, daß es gute Gründe sind. Also werde ich dir nur erzählen, was ich dir heute erzählen kann, und dabei muß es bleiben.«
Sie seufzte und verdrängte die Bitterkeit aus ihrem Lächeln.
»Die Magie ist unberechenbar, Wren. So war es am Anfang, und so ist es bis heute geblieben. Aus Erzählungen über das Schwert von Shannara und die Elfensteine weißt du selbst, daß die Magie nicht immer gleich bleibt, daß sie nicht immer tut, was man von ihr erwartet, daß sie sich auf überraschende Weise offenbaren kann und sich nach längerer Zeit und häufigerem Gebrauch entfaltet. Dies ist eine Wahrheit, die uns scheinbar immer wieder entgeht und die immer wieder neu gelernt werden muß. Als die Elfen nach Morrowindl kamen, beschlossen sie, die Magie neu zu erschließen, die alte Art wieder zu entdecken und sich selbst nach dem Bild der Vorväter zu formen. Das Problem war natürlich, daß es das Vorbild schon lange nicht mehr gab und niemand die Entwürfe aufbewahrt hatte. Die Rückgewinnung der Magie wurde dann jedoch leichter erreicht, als sie erwartet hatten. Sie dann auch zu beherrschen, als man sie erst einmal bei der Hand hatte, war jedoch wieder etwas anderes. Viele Versuche wurden unternommen, und viele davon schlugen fehl. Jenen Versuchen verdanken die Dämonen ihre Existenz. Es geschah ohne Absicht, und es war ein Unglück, aber es ist trotzdem eine Tatsache. Als sie erst einmal da waren, konnten sie nicht wieder fortgeschickt werden. Sie gediehen und vermehrten sich und überlebten alle Versuche, sie wieder zu zerstören.«
Sie schüttelte den Kopf, als sehe sie diese Versuche vor ihren Augen vorbeiziehen. »Du willst mich fragen, warum man sie nicht wieder dahin zurückschicken kann, von wo auch immer sie gekommen sind, nicht wahr? Aber die Magie funktioniert nicht so. Sie erlaubt keine so einfache Lösung. Gavilan und einige andere glauben, daß weitere Experimente mit der Magie bessere Ergebnisse bringen könnten und daß uns Versuche und Irrtümer zufällig einen Weg weisen könnten, die Wesen zu besiegen. Ich halte das für falsch. Ich verstehe die Magie, Wren, denn ich habe sie benutzt, und ich kenne ihre Macht. Ich habe Angst vor dem, was sie bewerkstelligen kann. Es gibt tatsächlich keine Grenzen. Sie macht uns zu nichts anderem als sterblichen Wesen. Ihr fehlen die Schranken, die uns unser Menschsein auferlegt. Sie ist großartiger als wir. Sie wird überleben, wenn wir alle längst tot sind. Ich habe kein Vertrauen in sie, abgesehen von dem Teil, der aus Erfahrung bekannt ist und den die Notwendigkeit erfordert. Ich glaube, daß wir neuen Schrecken in unser Leben lassen, wenn wir sie weiter erproben, wenn wir weiterhin glauben, daß sie die Lösung für all unsere Probleme in sich birgt. Dann werden wir eines Tages vielleicht wünschen, daß wir es nur mit den Dämonen zu tun haben.«
»Was ist mit den Elfensteinen?« fragte Wren ruhig.
Ellenroh nickte, lächelte und schaute fort. »Ja, Kind, was ist mit den Elfensteinen? Was ist mit ihrer Magie? Wir wissen, was sie tun können, wir haben es ja bereits erfahren. Wenn das Elfenblut fehlschlägt, wenn es nicht stark genug ist, wie es bei Will Ohmsford war, schafft die Magie unerwartete Ergebnisse. Der Wunschgesang. Er ist gut und schlecht, beides.« Ihr Blick kehrte zurück. »Aber die Magie der Elfensteine ist bekannt, und sie ist eingeschlossen. Niemand glaubt oder vermutet, daß sie für einen anderen Zweck mißbraucht werden könnte. Dasselbe gilt für den Loden. Wir wissen einiges über diese magischen Kräfte und werden sie einsetzen, weil wir das tun müssen, wenn wir überleben wollen. Aber noch viel größere Magie wartet darauf, erst noch entdeckt zu werden, Kind. Magie, die unter der Erde lebt, die in der Luft zu finden ist und die nach Erkennen schreit. Das ist die Magie, die Gavilan heranziehen möchte. Es ist die gleiche Magie, die ein Druide namens Brona vor mehr als tausend Jahren nutzbar zu machen versuchte – die gleiche Magie, die ihn dazu trieb, Herr aller Zauberer zu werden, und die ihn dann zerstörte.«
Wren verstand die Angst ihrer Großmutter vor der Magie. Sie sah die Gefahren, wie sie sie sah, und konnte die Gefühle, die die Beschwörung der Magie bei ihr hervorrief – die der Elfensteine und des Loden – nachempfinden wie niemand sonst. Sie kannte die Macht, die überwältigen konnte, die zerstören und jemanden besitzen konnte, bis er verloren war.
»Du hast gesagt, daß die Elfen wieder zu der Lebensweise zurückkehren sollen, die sie bevorzugt haben, bevor sie die Magie zurückgewannen«, sagte sie und dachte dabei an die vergangene Nacht, als Ellenroh das Hohe Konzil einberufen hatte.
»Ist das so einfach? Werden nicht einige unter den Elfen das alles wiederhaben wollen und es vielleicht auf andere Weise finden?«
»Nein.« Ellenrohs Augen wurden plötzlich starr. »Nicht noch einmal. Niemals wieder.«
Sie verschwieg etwas. Wren spürte es sofort – und spürte auch, daß Ellenroh darüber nicht reden wollte. »Und was ist mit der Magie, die du bereits beschworen hast, die Magie, die die Stadt beschützt?«
»Sie wird verschwinden, wenn wir erst einmal fortziehen – alle Magie außer der, die benötigt wird, um den Gebrauch des Loden zu sichern und die Elfen und Arborlon ins Westland zurückzubringen. Alle außer dieser.«
»Und die Elfensteine?«
Die Königin lächelte. »Es gibt nichts Absolutes, Wren. Die Elfensteine sind schon lange Zeit in unserem Besitz.«
»Ich könnte sie wegwerfen, wenn wir erst einmal in Sicherheit sind.«
»Ja, Kind, das kannst du tun, falls du dich dazu entschließt.«
Wren spürte, daß da noch etwas zwischen ihnen war, aber es blieb unausgesprochen, und sie konnte seine Bedeutung nicht erkennen. »Wird die Magie des Loden wirklich das tun, was du glaubst, Großmutter? Wird sie die Elfen sicher von Morrowindl fortbringen?«
Auf dem glatten Gesicht der Königin erschien ganz kurz ein Schatten von Zweifel und mehr, ja sogar Hoffnungslosigkeit.
»Oh, die Magie ist da. Das ist sicher. Ich habe sie gespürt, als ich den Stab gebrauchte. Ich habe ihre Geheimnisse kennengelernt, und ich weiß, daß sie vorhanden ist.« Ihr Gesicht erhellte sich abrupt. »Aber wir sind es, Wren, wir müssen sie fortbringen. Wir sind es, die dafür sorgen müssen, daß alle, die durch den Zauber des Loden versammelt werden, daß unser Volk der Welt wieder zurückgegeben wird, daß allen eine neue Chance im Leben gegeben wird. Die Magie allein ist nicht genug. Sie ist niemals genug. Unser Leben, und besonders das Leben all derjenigen, die von uns abhängig sind, liegt für immer in unserer Verantwortung. Die Magie ist nur ein Werkzeug. Verstehst du das?«
Wren nickte schwermütig. »Ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen«, sagte sie weich. »Aber ich sage dir auch, daß ich wünschte, die Magie wäre tot und gestorben, alle Magie, jedes kleine bißchen, alles, von den Schattenwesen über die Dämonen bis hin zum Loden und den Elfensteinen. Ich möchte das alles vernichtet sehen.«
Die Königin erhob sich. »Und wenn sie vernichtet wären, Wren, was würde dann an ihre Stelle treten? Würden die Wissenschaften der Alten Welt wiederbelebt werden? Oder eine noch größere Macht? Irgend etwas würde es sein, weißt du. Es wird immer etwas geben.«
Sie streckte die Hand aus und zog Wren mit sich hoch. »Rufe jetzt Garth, wir wollen zusammen essen. Und lächele. Was auch immer sich aus dem allen ergeben wird, wir haben einander gefunden. Ich bin sehr froh, daß du hier bist.«
Sie umarmte Wren noch einmal und drückte sie. Wren erwiderte die Umarmung und sagte: »Ich bin auch froh, Großmutter.«
Alle Mitglieder des inneren Kreises des Hohen Konzils nahmen an diesem Abend am Abendessen teil – Eton Shart, Barsimmon Oridio, Aurin Striate, Triss, Gavilan und die Königin, außerdem Wren, Garth und Eowen Cerise. Sie alle waren dabeigewesen, als die Entscheidung fiel, die Macht des Loden zu beschwören und Morrowindl aufzugeben. Sogar Cort und Dal waren da und hielten in den Gängen außerhalb des Raumes Wache. Sie hinderten jeden am Eintreten, sogar die Diener, nachdem erst einmal das Essen auf dem Tisch stand. So blieben sie ungestört und konnten die Aufgaben für den nächsten Tag besprechen. Ein lebhaftes Gespräch war im Gange, und die Diskussion über Ausrüstung, Vorräte und vorgeschlagene Routen bestimmten die Unterhaltung. Nachdem sie sich mit der Eule beraten hatte, hatte Ellenroh entschieden, daß die beste Zeit für einen Fluchtversuch unmittelbar vor Tagesanbruch sei, wenn die Dämonen vom Umherstreifen in der Nacht träge waren und nach Schlaf verlangten und sie für ihre Reise das Licht eines ganzen Tages vor sich hatten. Die Nacht war die gefährlichste Zeit dort draußen, weil die Dämonen immer dann auf Jagd gingen. Die Neuner-Gruppe würde etwas mehr als eine Woche Zeit benötigen, um den Strand zu erreichen, wenn alles reibungslos lief. Daran wollte zwar niemand wirklich glauben, aber zumindest behielten sie ihre Zweifel für sich.
Gavilan saß Wren schräg gegenüber und lächelte sie häufig an. Sie war sich seiner Aufmerksamkeit bewußt und erkannte sie höflich an, richtete aber ihre Worte und ihre Aufmerksamkeit auf ihre Großmutter und die Eule und auf Garth. Sie aß etwas, konnte sich hinterher jedoch nicht mehr erinnern, was es war, hörte den Gesprächen der anderen zu und schaute häufig zu Gavilan hinüber, als würde das Geheimnis seiner Anziehungskraft auf irgendeine Weise enthüllt, wenn sie ihn beobachtete. Verwirrt dachte sie darüber nach, was die Königin ihr zuvor erzählt hatte.
Oder, besser gesagt, sie grübelte, was sie ihr nicht erzählt hatte.
Die Enthüllungen der Königin waren alles in allem ein wenig dürftig gewesen. Es war ja schön und gut, daß sie gesagt hatte, daß die Magie zurückgewonnen war, aber woher war sie zurückgewonnen worden? Es war schön und gut, daß sie eingestand, daß dabei auf irgendeine Weise die Dämonen freigelassen worden waren, die sie jetzt belagerten, aber was war mit der Magie, die sie befreit hatte? Und woher befreit hatte? Wren hatte noch immer nicht erfahren, wie es bei dem Gebrauch der Magie zu Mißverständnissen gekommen war oder warum keinerlei Magie verfügbar war, die das rückgängig machen könnte. Was ihre Großmutter ihr gegeben hatte, war wie eine Skizze ohne Schattierungen oder Farben oder Hintergrund irgendeiner Art. Es genügte ihr nicht annähernd.
Und doch hatte Ellenroh darauf bestanden, daß es so sein sollte.
Wren saß da, und ihre Gedanken summten in ihr wie Mücken. Die Gespräche erhoben sich hitzig um sie herum, während sich die Gesichter hierhin und dorthin wandten. Das Licht draußen wurde schwächer, als sich die Dunkelheit herabsenkte, und die Zeit machte sich mit leisen Schritten davon. Es war ein Rückzug von der Vergangenheit und eine verstohlene Annäherung an eine Zukunft, die sie alle für immer verändern konnte. Sie fühlte sich von dem allen rundherum losgelöst, als wäre sie völlig unerwartet auf diesem Platz am Tisch abgesetzt worden, ein ungeladener Gast, der das Leben rundherum belauschte. Sogar Garths vertraute Gegenwart konnte sie nicht trösten. Daher sprach sie auch mit ihm kaum.
Als das Abendessen beendet war, ging sie sofort in ihren Raum, um sich schlafen zu legen, zog sich aus, schlüpfte unter die Bettdecke und lag dann wartend in der Dunkelheit. Sie wartete darauf, daß sich alles wieder rückverwandelte. Doch nichts dergleichen geschah. Ihr Atem verlangsamte und ihre Gedanken zerstreuten sich, und schließlich schlief sie ein.
Allerdings war sie schon wieder wach und angezogen, als das Klopfen an der Tür erklang, das sie wecken sollte. Gavilan stand davor. Er trug eine graubraune Jagdkleidung mit vielen Waffen. Sie vermißte das vertraute Grinsen an ihm. Auf einmal sah er wie jemand völlig anderes aus.
»Ich dachte, du würdest vielleicht gern mit mir zur Mauer hinuntergehen«, sagte er einfach.
Ihr Lächeln, mit dem sie ihm antwortete, brachte auch eine Spur des seinen zurück. »Das würde ich gern«, stimmte sie zu. Mit Garth im Schlepptau verließen sie den Palast und gingen durch die dunklen, verlassenen Straßen der Stadt. Wren hatte gedacht, die Menschen würden wach und aufmerksam sein und beobachten wollen, was geschehen würde, wenn die Magie des Loden beschworen würde. Aber die Häuser der Elfen waren dunkel und ruhig, und jene Elfen, die beobachteten, taten dies aus den Schatten heraus. Vielleicht hatte Ellenroh ihnen gar nicht gesagt, wann die Verwandlung stattfinden würde, überlegte sie. Sie bemerkte, daß ihnen jemand folgte und schaute zurück. Ein Dutzend Schritte hinter ihnen entdeckte sie Cort. Triss hatte ihn wohl geschickt, um sicherzugehen, daß sie den Versammlungsort rechtzeitig erreichten. Triss ging wohl mit der Königin dorthin. Oder mit Eowen Cerise oder mit Aurin Striate. Vielleicht hatte das auch Dal übernommen. Sie alle scharten sich unten am Keel an jener Tür zusammen, die in die jenseitige Trostlosigkeit hinausführte, in die rauhe und karge Leere, die sie durchqueren mußten, um zu überleben.
Sie gelangten ohne Zwischenfall dorthin. Die Dunkelheit war noch ungebrochen, das Licht der Dämmerung noch unter dem Horizont verborgen. Alle waren versammelt – die Königin, Eowen, die Eule, Triss, Dal und jetzt sie vier. Nur neun, dachte Wren. Plötzlich wurde sie sich der Tatsache bewußt, wie wenige sie waren und daß das Schicksal von vielen von ihnen abhing. Sie tauschten Umarmungen und verstohlene Worte der Ermutigung aus und waren nicht mehr als eine Handvoll Schatten, die geflüsterte Worte in die Nacht schickten. Sie alle trugen Jagdkleidung, die bequem und robust war, die Schutz bot vor dem Wetter und vielleicht auch ein wenig gegen die Gefahren, die sie draußen erwarteten. Sie alle trugen Waffen, außer Eowen und der Königin. Ellenroh trug den Ruhkstab, dessen dunkles Holz schwach schimmerte. Auch in der fast vollständigen Schwärze blinkte und schimmerte der Loden noch in unzähligen Farben. Auf dem Keel lag die Magie als beständiges Glühen, das die Festungsmauern erhellte und himmelwärts strebte. Elfenjäger patrouillierten in Sechsergruppen an den Mauern, und weitere Wachen waren auf ihren Türmen postiert. Das Grollen und Zischen von außerhalb drang nur selten aus der Ferne zu ihnen, als seien die Wesen, die es verursachten, uninteressiert und wollten eher schlafen.
»Wir werden ihnen eine Überraschung bereiten, bevor diese Nacht vorüber ist, nicht wahr?« flüsterte Gavilan Wren ins Ohr. Ein zögerndes Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Wenn wirklich sie diejenigen sind, die am Ende überrascht sein werden«, flüsterte sie zurück.
Sie sah Aurin Striate an der Tür, die in die Tunnel hinunterführte, und trat neben ihn. Seine zerknitterte Gestalt bewegte sich in der Dunkelheit. Er sah sie an und nickte ihr zu.
»Augen und Ohren geschärft, Wren?«
»Ich glaube schon.«
»Die Elfensteine bereit?«
Sie preßte die Lippen zusammen. Die Elfensteine lagen in einem neuen Lederbeutel, der um ihren Hals hing – sie konnte ihr Gewicht auf ihrer Brust ruhen spüren. Es war ihr bis jetzt gelungen, nicht an sie zu denken. »Denkt Ihr denn, ich werde sie brauchen?«
Er zuckte die Achseln. »Du hast sie das letzte Mal doch auch gebraucht.«
Sie war einen Augenblick ruhig und überdachte, was da auf sie zukam. Irgendwie hatte sie geglaubt, sie könne Morrowindl entkommen, ohne die Magie erneut beschwören zu müssen.
»Es scheint dort draußen ruhig zu sein«, sann sie hoffnungsvoll.
Er nickte. Seine schlanke Gestalt lehnte gegen die Mauer. »Sie werden uns nicht erwarten. Wir werden unsere Chance bekommen.«
Sie rückte neben ihn, so daß sich ihre Schultern berührten.
»Wie groß wird die Chance sein, Eule?«
Er lachte tonlos. »Welchen Unterschied macht das schon? Es ist unsere einzige Chance!«
Barsimmon Oridio tauchte aus der Dunkelheit auf. Er ging direkt zur Königin, sprach ein paar Minuten lang gedämpft mit ihr und verschwand dann wieder. Er wirkte abgezehrt und erschöpft, aber sein Schritt zeigte Entschlossenheit.
»Wie lange geht Ihr schon dort hinaus?« fragte Wren die Eule plötzlich, ohne ihn dabei anzusehen. »Zu denen da hinaus.«
Er zögerte. Er wußte, was sie meinte. Sie konnte spüren, daß er sie prüfend ansah. »Ich weiß es nicht mehr.«
»Was ich wohl am meisten wissen will, ist, was Euch dazu gebracht hat, daß Ihr es überhaupt getan habt. Ich kann mich kaum dazu überwinden, auch nur dieses eine Mal dort hinauszugehen, weil ich weiß, was dort draußen ist.« Sie schluckte, als sie dieses Geständnis machte. »Ich glaube, ich kann es tun, weil es die einzige Möglichkeit ist und weil ich es nicht wieder tun muß. Aber Ihr hattet jedes Mal die Wahl. Bis auf heute. Ihr müßt mehr als einmal gründlich darüber nachgedacht haben. Ihr wart nicht gezwungen, dort hinauszugehen.«
»Wren.« Sie wandte sich ihm zu, als er ihren Namen nannte, und sah ihn an. »Laß mich dir etwas sagen, was du noch nicht gelernt hast. Du wirst es erst lernen, wenn du länger gelebt hast. Wenn du älter wirst, merkst du, daß dich das Leben langsam ermüdet. Es spielt keine Rolle, wer du bist oder was du tust, es geschieht einfach. Erfahrung, Zeit, Ereignisse – sie alle sind gegen dich verschworen, um deine Energie zu stehlen, dein Vertrauen zu zersetzen, dich dazu zu bringen, die Fragen über Dinge zu stellen, an die du keinen zweiten Gedanken verschwendet hast, als du jung warst. Es geschieht allmählich. Es ist ein Abbröckeln, daß du zuerst nicht einmal bemerkst, und dann ist es eines Tages da. Du wachst auf, und du hast ganz einfach das Feuer nicht mehr.«
Er lächelte schwach. »Dann mußt du dich entscheiden. Du kannst entweder deinem Gefühl nachgeben und einfach sagen ›In Ordnung, genug ist genug‹, und dann bist du damit durch, oder du kannst es bekämpfen. Du kannst akzeptieren, daß du jeden Tag, den du lebst, dagegen angehen mußt. Dann mußt du zu dir selbst sagen, daß es dir egal ist, was du fühlst, daß es egal ist, was mit dir geschieht, denn früher oder später geschieht es ohnehin. Dann wirst du tun, was du tun mußt, weil du sonst besiegt werden wirst und das Leben keinen wahren Sinn mehr hat. Wenn du soweit bist, kleine Wren, wenn du die Ermüdung und die Zersetzung akzeptieren kannst, dann kannst du alles. Wie ich es geschafft habe, nachts immer wieder hinauszugehen? Ich habe mir einfach gesagt, es sei nicht so wichtig und die Menschen hier drinnen seien wichtiger. Weißt du was? Es ist in Wirklichkeit gar nicht so schwer. Du mußt nur an der Angst vorbeikommen.«
Sie dachte einen Moment darüber nach und nickte dann. »Ich finde, bei Euch klingt es viel leichter, als es ist.«
Die Eule stieß sich von der Mauer ab. »Ist das so?« fragte er. Dann lächelte er erneut und ging davon.
Wren schlenderte zurück zu Garth. Der große Fahrende deutete auf die Festungsmauern des Keels. Von seiner Höhe kamen verstohlene, leise Gestalten herab. Elfenjäger, die sich aus dem Licht lösten und in die Schatten hinabstiegen. Wren schaute ostwärts und sah die erste schwache Färbung der Dämmerung vor der Dunkelheit.
»Es ist Zeit«, sagte Ellenroh plötzlich und drängte sie zur Mauer.
Sie bewegten sich schnell. Aurin Striate führte sie. Sie zogen die Tür auf, die hinunter in die Tunnel führte, und blieben dann am Eingang stehen, um zur Königin zurückzusehen. Ellenroh war von der Mauer zu einem Brückenkopf hinübergegangen und kurz vor seinem Aufgang stehengeblieben. Dort steckte sie das untere Ende des Ruhkstabes fest in die Erde. Von irgendwoher aus Arborlon läutete eine Glocke. Sie war ein Signal, und jene wenigen Elfenjäger, die auf dem Keel geblieben waren, glitten jetzt schnell davon. Innerhalb von Sekunden lag die Mauer verlassen da.
Ellenroh Elessedil schaute zurück zu den acht, die auf dem Sprung waren, und wandte sich dann der Stadt zu. Ihre Hände umklammerten den polierten Schaft des Ruhk, und sie senkte den Kopf.
Sofort begann der Loden zu glühen. Seine Helligkeit wuchs rasch zu einem weißen Feuer an, das ausströmte, bis die Königin darin eingehüllt war. Das Licht breitete sich ständig weiter aus, erhob sich vor der Dunkelheit und erfüllte den Raum innerhalb der Mauern, bis ganz Arborlon hell wie der Tag erleuchtet war. Wren versuchte zu sehen, was geschah, aber die Intensität des Lichts wuchs so sehr, daß es sie blendete und sie zwang, sich abzuwenden. Das weiße Feuer floß zu den Befestigungen des Keels und begann sich zu verdichten. Wren konnte mehr spüren, daß es geschah, als daß sie es sah, denn sie hielt ihre Augen gegen den Glanz geschlossen. Außerhalb des Keels begannen die Dämonen zu schreien. Ein Windstoß kam aus dem Nichts und wuchs zu einem Heulen an. Wren fiel auf die Knie. Sie spürte, daß Garth seine starken Arme um ihre Schultern legte und hörte Gavilans Stimme, der ihr etwas zurief. Bilder formten sich in ihrem Geist. Sie wurden durch Ellenrohs Beschwörung hervorgerufen. Es waren wilde und außergewöhnliche Visionen einer Welt im Chaos. Die Magie bewegte sich an ihr vorbei wie ein Vorbeistreichen flüsternder und singender Finger.
Alles endete in einem Schrei. Es war ein Geräusch, das von keiner menschlichen Stimme herrühren konnte. Und dann eilte das Licht davon. Es schnellte zurück in die Dunkelheit, zog sich zurück, als sei es in einen Wasserstrahl hinabgezogen worden. Wrens Augen hoben sich ruckartig. Sie folgten der Bewegung und versuchten, etwas zu erkennen. Sie war gerade schnell genug, um einen letzten Rest des Lichts zu erhäschen, wie es in der strahlenden Kugel des Loden verschwand. Sie blinzelte, und es war fort.
Auch die Stadt Arborlon war fort – die Menschen, die Gebäude, die Straßen und Wege, die Gärten und Rasen, die Bäume. Alles, was zwischen den Mauern des Keels gewesen war, war verschwunden. Es war nichts übriggeblieben als ein flacher Krater in der Erde – als habe eine Riesenhand Arborlon einfach aufgehoben und es verschwinden lassen.
Ellenroh Elessedil stand allein am Rande dessen, was einst der Graben gewesen und jetzt der Rand eines Kraters war, lehnte sich schwer auf den Ruhkstab, und ihre Energie verließ sie. Über ihr stand der Loden wie ein vielfarbiges Feuer. Die Königin rührte sich und versuchte sich zu bewegen, aber es mißlang, und sie stolperte und fiel auf die Knie. Triss eilte zu ihr, hob sie hoch, als sei sie ein müdes Kind, und eilte wieder zurück. Im selben Augenblick erkannte Wren, daß die Magie, die den Keel geschützt hatte, auch versiegt war, genau wie ihre Großmutter es vorhergesagt hatte. Der Glanz war völlig verschwunden. Der Himmel über ihnen war in einen Dunst aus Vog gehüllt, und der Sonnenaufgang zeigte sich als ein trübes Hellerwerden des Himmels im Osten, das kaum die Schwärze der Nacht durchdrang. Wren atmete ein und bemerkte, daß der Schwefelgestank zurückgekehrt war. Alles, was zum Schutze Arborlons dagewesen war, war verschwunden.
Die Stille des Augenblicks machte einem Durcheinander von Dämonengeheul und Schreien Platz, als die Wesen erkannten, was geschehen war. Das Geräusch von Körpern erhob sich, die auf die Mauern zukrochen, und von Klauen, die von allen Seiten näher kamen.
Triss hatte sie erreicht. Er hielt die Königin und den Ruhkstab krampfhaft mit seinen Armen.
»Hinein, schnell!« rief die Eule und eilte voraus.
Sie wollten nichts lieber, als ihm zu folgen, und so verschwand der Rest der kleinen Gesellschaft, die mit der sicheren Übergabe Arborlons und seiner Elfen betraut war, durch die geöffnete Tür hinunter in die Dunkelheit.