Wren Ohmsford konnte sich nicht daran erinnern, daß sie jemals große Angst vor irgend etwas gehabt hätte. Das lag einfach nicht in ihrer Natur. Sogar als sie klein und die Welt für sie noch neu und fremd war und eigentlich alles darin entweder größer oder stärker oder schneller oder böser war als sie, hatte sie niemals Angst gehabt. Egal, wie groß die Gefahr auch war oder welche Widrigkeiten es gab, sie hatte immer darauf vertraut, daß sie schon irgendwie einen Weg finden würde, sich zu schützen. Dieses Vertrauen war ihr angeboren. Es war eine Mischung aus einer Entschlossenheit, die einem eisernen Willen entsprang, und Selbstsicherheit, die ihr das ganze Leben lang eine besondere Art innerer Stärke verliehen hatte. Als sie größer wurde und besonders nachdem sie zu den Fahrenden gekommen war und mit Garth trainiert hatte, hatte sie sich so viel Können und Erfahrung angeeignet, wie notwendig war, um sicher zu sein, daß ihr Vertrauen niemals fehl am Platze war und sie niemals ihre Fähigkeiten überschätzte.
All das hatte sich geändert, seit sie mit der Suche nach den Elfen begonnen hatte. Zweimal hatte sie seitdem unerwartet bemerkt, daß sie ängstlich war. Das erste Mal in jener ersten Nacht am Signalfeuer, als sich das Schattenwesen, das ihnen durch das ganze Westland gefolgt war, schließlich gezeigt hatte und sie zu ihrem Entsetzen feststellen mußte, daß es ihr überlegen war. All ihr Training und all ihr Können hatten ihr nichts genützt. Sie hätte wissen müssen, daß es so kommen würde. Schließlich hatte Par sie gewarnt, als er so genau über sein Zusammentreffen mit den dunklen Wesen berichtete. Aber aus irgendeinem Grunde hatte sie gedacht, daß es bei ihr anders sein würde – oder vielleicht hatte sie ganz einfach überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie es bei ihr sein würde. Wie dem auch sei, dort war sie ohne Garth gewesen, den sie für stärker und schneller als jeden anderen gehalten hatte, von Angesicht zu Angesicht mit etwas, das von keinem noch so großen Vertrauen und keiner der von ihr erworbenen Fertigkeiten überwunden werden konnte, seien sie auch noch so groß.
Sie wäre in jener Nacht gestorben, hätte sie nicht die Magie der Elfensteine anrufen können. Die Magie allein hatte sie beide retten können.
Als sie jetzt mit ihren Begleitern durch die Dunkelheit und den Vog von Morrowindl schritt, als sie langsam in eine alptraumhafte Welt voller Schatten und Monster hineinkrochen, stellte sie wieder fest, daß sie Angst hatte. Sie versuchte, dieses Gefühl durch Vernunft loszuwerden, sie versuchte, Gründe dagegen zu finden. Nichts half. Sie kannte die Wahrheit, denn diese Wahrheit war dieselbe wie in jener Nacht auf Wing Hove, als sie dem Schattenwesen begegnete. Vertrauen, Können, Erfahrung und Garths beschützende Gegenwart, die doch so gewaltig war, boten ihr hier wenig Beruhigung. Morrowindl war ein Hexenkessel unvorstellbarer Magie und nicht durch Vernunft geleitetes Übel, und sie besaß eine einzige Waffe, die sich wahrscheinlich als nützlich dagegen erweisen würde: die Elfensteine. Einzig Magie hielt die Elfen in den Mauern von Arborlon am Leben. Magie, wie fehlgeleitet sie auch sein mochte, hatte offensichtlich das Übel heraufbeschworen, das sie belagerte. Magie hatte die Insel und die Wesen, die auf ihr lebten, für immer verändert. Es gab für Wren keinen Grund für die Annahme, daß sie auf Morrowindl sehr lange überleben könnte, ohne selbst die Magie zu gebrauchen.
Aber der Gedanke, von der Magie Gebrauch zu machen, machte ihr genauso angst wie die Monster, gegen die die Magie sie beschützen sollte. Wie verrückt das war! Als Fahrende hatte sie ihr ganzes Leben damit verbracht, zu lernen, daß sie sich auf ihr eigenes Können und ihre Ausbildung verlassen mußte, und zu glauben, daß es nichts gab, was sie nicht besiegen könnte. Das hatten Garth und das Leben als Fahrende sie gelehrt, aber wichtiger war das, wovon sie bisher überzeugt gewesen war: Die Welt und die Dinge darin werden von einem Netz von Verhaltensvorschriften regiert. Lerne diese Vorschriften, und du kannst allem widerstehen. Zeichen zu lesen, Gebräuche zu verstehen, die Schwächen und Stärken eines anderen zu kennen, seine Sinne dazu zu gebrauchen, zu entdecken, was es überall gab – das alles waren die Grundsätze, die einen am Leben erhielten. Aber Magie? Was war Magie? Sie war unsichtbar, eine Macht jenseits der Naturgesetze, eine Unbekannte, die dem Verstehen trotzte. Sie war eine Macht ohne erkennbare Grenzen. Wie konnte man auf so etwas vertrauen? Die Geschichte ihrer Familie, der Ohmsfords, legte schon vor zehn Generationen nahe, daß man es nicht konnte. Was hatte die Magie Will und Brin und Jair nicht angetan! Welche Sicherheit gab es, wenn sie gezwungen war, sich auf etwas so Unvorhersagbares zu verlassen? Was würde es für sie bedeuten, wenn sie die Magie einsetzte? Es stimmte, daß sie bei ihrem Kampf mit dem Schattenwesen ziemlich leicht herbeizurufen gewesen war. Sie war so weich aus den Steinen geflossen und fast ohne Anstrengung erschienen, und als sie zuschlug, hatte sie sie nur mit einem Gedanken gelenkt. Sie hatte dabei auch nicht das Gefühl gehabt, daß es falsch sei, sie zu gebrauchen – tatsächlich war es so, als habe die Macht nur darauf gewartet, angerufen zu werden. Es war gewesen, als gehöre sie zu ihr. Sie erschauerte bei der Erkenntnis, was dies bedeutete. Sie hatte die Elfensteine offenbar bekommen, weil klar war, daß sie sie eines Tages brauchen würde. Ihre Macht war für sie bestimmt.
Sie nahm alle ihre Entschlossenheit zusammen, um sich gegen diese Gedanken zur Wehr zu setzen.
Sie wollte sie nicht. Sie wollte die Magie nicht. Sie wollte, daß ihr Leben so blieb, wie es war, und nicht unwiderruflich geändert würde. Denn das würde geschehen, wenn sie sich auf eine Macht einließ, die ihr Verständnis und, wie sie glaubte, auch ihr Bedürfnis danach überstieg.
Außer natürlich jetzt, hier auf den Hängen von Killeshan, umgeben von Dämonen. Sie waren Wesen, die aus Magie und böser Absicht entstanden waren. Sie war einer Landschaft des Feuers und des Dunstes ausgesetzt, wo sie in Sekunden verloren sein konnte, es sei denn...
Sie brach diesen Gedanken ab und weigerte sich, ihn fortzuführen. Statt dessen konzentrierte sie sich auf Stresas stacheligen Körper. Der Stachelkater grub sich vor ihr seinen Weg durch die Dämmerung. Schatten wehten überall umher, als sich der Vog verlagerte und neu bildete, sie umhüllte und sich vor Inseln von Dschungel, Gestrüpp und nacktem Lavagestein abhob. Es war, als seien sie die Substanz einer ständig neu verschwimmenden Welt, die sich nicht entscheiden konnte, was sie sein wollte. Ein Grollen erklang irgendwoher. Es war körper- und richtungslos, tief und drohend, während es lauter wurde und wieder verklang. Sie kauerte sich im Dunst zusammen, und eine innere Stimme schrie ihr wild zu, sie solle verschwinden und sich in den Felsen verbergen, sie solle unsichtbar werden und irgend etwas tun, um zu entkommen. Sie ignorierte die Stimme und schaute statt dessen zu Garth zurück und sah, daß er beruhigend nahe war. Im nächsten Moment dachte sie, daß es keinen Unterschied machte, daß seine Gegenwart nicht genügte, daß nichts genügte. Stresa fror. Irgend etwas jagte in den Schatten vor ihnen davon. Sie hörten Krallen, die auf Fels treffen. Sie warteten. Faun hing erwartungsvoll auf ihrer Schulter, den Kopf vorgestreckt, die Ohren aufgerichtet, und lauschte. Seine sanften, braunen Augen sahen sie kurz an und wandten sich dann ab.
Welche Mondphase haben wir gerade, fragte sie sich plötzlich. Wie lange war es her, daß Tiger Ty sie zurückgelassen hatte? Sie stellte fest, daß sie es nicht wußte.
Stresa ging wieder weiter. Sie erreichten die Kuppe eines Hügels, auf der nur verkümmertes, blattloses Gestrüpp wuchs, und stiegen dann im Winkel in eine Senke hinab. Dunst sammelte sich auf dem felsigen Boden, durch den sie sich unsicher ihren Weg bahnten. Stresas Stacheln schimmerten feucht, und die Luft wurde kalt. Es war Licht zu sehen, aber sie konnten nicht sagen, woher es kam. Wren hörte ein krachendes Geräusch, als breche etwas auseinander, dann ein Zischen wie von eingeschlossenem Dampf und eingeschlossenen Gasen, die entweichen. Ein Schrei erklang und verschwand. Das Grollen verstummte und begann dann erneut. Wren zwang sich, langsam zu atmen. So vieles geschah, und sie konnte nichts davon sehen. Die Geräusche kamen von überall und ließen sich nicht genau ausmachen und zuordnen. Es gab keine Zeichen, keine Spuren, nur eine endlose Landschaft aus Felsen und Feuer und den Vog.
Faun schnatterte auf einmal leise und drängend.
Im selben Moment blieb Stresa plötzlich stehen. Die Stacheln des Stachelkaters entfalteten sich, und seine wuchtige Gestalt kauerte sich nieder. Wren ging in die Hocke, griff nach ihrem kurzen Schwert. Sie fuhr zusammen, als Garth gegen sie prallte. Da war etwas Dunkles im Nebel vor ihnen. Stresa wich zurück. Er wandte sich halb um und sah sich nach einem anderen Weg um. Aber die Senke war schmal, und es blieb kein Platz zum Ausweichen. Er wich mit ausgebreiteten Stacheln zurück. Das dunkle Bild verschmolz und begann eine Form anzunehmen. Ein Wesen auf zwei Beinen kam auf sie zu. Garth scherte so lautlos wie ein Schatten zu einer Seite aus. Wren löste ihr Schwert aus der Scheide und hielt den Atem an.
Die Gestalt trat aus dem Nebel hervor und wurde langsamer. Es war ein Mann, der in eng anliegende, erdfarbene Kleidung gehüllt war. Die Kleidung war zerknittert und zerschlissen, mit Asche und Ruß beschmutzt und hatte keine Metallösen oder Schnallen. Seine weichen Lederstiefel, die direkt über dem Knöchel endeten, waren abgetragen, und ihre oberen Ränder waren einmal umgeschlagen. Der Mann selbst war ein Spiegelbild seiner Kleidung. Er war mittelgroß, wirkte aber eher größer, weil er so kantig war. Er hatte ein schmales, runzeliges und bartloses Gesicht mit einer Hakennase, und sein dunkles Haar war fast völlig unter einer seltsamen Kappe verborgen, die an eine Zipfelmütze erinnerte. Alles in allem sah er so aus wie etwas, das hoffnungslos zerknittert und fadenscheinig geworden ist, weil es so lange zusammengefaltet und weggelegt worden war.
Er schien nicht überrascht zu sein, sie zu sehen. Und er schien auch keine Angst zu haben. Er sagte nichts, sondern legte einen Finger an seine Lippen, sah kurz über seine Schulter und deutete dann zurück auf den Weg, den sie gekommen waren.
Eine Minute lang rührten sie sich nicht, weil sie noch nicht sicher waren, was sie tun sollten. Dann erkannte Wren, was sie zuvor übersehen hatte. Unter der Kappe und dem zerzausten Haar waren spitze Ohren und schräge Augenbrauen zu sehen. Der Mann war ein Elf.
Nach all dieser Zeit, dachte sie. Nach so vielen Mühen.
Erleichterung durchflutete sie und gleichzeitig eine Fremdheit, die sie selbst nicht verstehen konnte. Es schien irgendwie seltsam, schließlich einem Ziel gegenüberzustehen, das zu finden sie sich so sehr bemüht hatte. Sie stand da, schaute und war gefangen in ihren Gefühlen.
Er machte erneut eine Geste, diesmal ein wenig eindringlicher als zuvor. Er war älter, als es ihnen zunächst vorgekommen war, und so verwittert, daß Wren unmöglich sagen konnte, inwieweit sein betagtes Aussehen natürlich entstanden war und was davon auf einem harten Leben beruhte.
Als sie schließlich wieder zu sich selbst fand, suchte sie Garths Aufmerksamkeit. Sie bedeutete ihm, zu tun, um was der Elf sie gebeten hatte. Sie erhob sich und begann den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren, und die anderen folgten. Der Elf ging scheinbar mühelos ein Dutzend Schritte den Weg entlang an ihnen vorbei und bedeutete ihnen zu folgen. Er führte sie erneut in die Senke und wieder heraus, über eine Fläche mit Lavagestein und schließlich in ein Wäldchen von verkümmerten Bäumen. Dort kauerte er sich mit ihnen in einem Kreis zusammen. Er beugte sich nahe zu ihnen heran und richtete seine scharfen, grauen Augen auf Wren. »Wer bist du?« flüsterte er.
»Wren Ohmsford«, flüsterte sie zurück. »Dies sind meine Freunde – Garth, Stresa und Faun.« Sie stellte sie alle reihum vor. Der Elf schien belustigt zu sein. »Solch seltsame Gesellschaft. Wie bist du hierher gekommen, Wren?«
Er hatte eine freundliche Stimme, die genauso zerknittert und zerschlissen war wie der Rest und so behaglich wie alte Schuhe.
»Ein Flugreiter namens Tiger Ty brachte Garth und mich vom Festland hierher. Wir sind gekommen, um die Elfen zu finden.«
Sie machte eine Pause. »Und du siehst so aus, als seist du einer.«
Die Linien auf seinem Gesicht vertieften sich bei seinem Lächeln. »Es gibt keine Elfen. Jeder weiß das.« Die Bemerkung amüsierte ihn. »Aber wenn man mich drängte, würde ich vermutlich zugeben, einer zu sein. Ich bin Aurin Striate. Jedermann nennt mich die Eule. Vielleicht könnt ihr euch vorstellen, warum?«
»Du jagst bei Nacht?«
»Ich kann im Dunkeln sehen. Darum bin ich hier draußen, wo sich niemand anderer hinwagt. Jenseits der Mauern der Stadt. Durch mich hat die Königin hier Augen.«
Wren blinzelte. »Die Königin?«
Die Eule überging diese Frage mit einem Kopfschütteln. »Du bist den ganzen Weg hierher gekommen, um die Elfen zu finden, Wren Ohmsford? Wozu? Warum solltest du wissen wollen, was aus uns geworden ist?« Als er lächelte, sahen sie Lachfalten um seine Augen. »Du hast großes Glück, daß ich dich gefunden habe. Du hast auch Glück, daß du überhaupt noch lebst. Oder vielleicht auch nicht. Du hast selbst etwas von einem Elfen, wie ich sehe.« Das Lächeln verblaßte. »Ist es möglich... ?«
Er brach zweifelnd ab. Da war etwas in seinen Augen, das Wren nicht verstehen konnte. Unglaube, Hoffnung, was war es? Sie wollte etwas sagen, aber er bedeutete ihr, sie solle ruhig bleiben. »Wren, ich werde dich in die Stadt bringen, aber deine Freunde werden hier warten müssen. Genauer gesagt hinten beim Fluß, wo es ein wenig sicherer ist.«
»Nein«, sagte Wren sofort. »Meine Freunde kommen mit.«
»Das können sie nicht«, erklärte die Eule, und seine Stimme blieb geduldig und freundlich. »Es ist mir nur erlaubt, Elfen in die Stadt zu bringen. Ich würde es anders machen, wenn ich könnte, aber das Gesetz darf nicht gebrochen werden.«
»Phfffft. Ich kann am – grrrrr – Fluß warten«, knurrte Stresa.
»Ich für mein Teil habe getan, was ich versprochen habe.«
Wren ging nicht auf ihn ein. Sie hielt ihren Blick fest auf die Eule gerichtet. »Es ist nicht sicher hier draußen«, erklärte sie hartnäckig.
»Es ist nirgendwo sicher«, erwiderte der andere traurig.
»Stresa und Faun sind es gewohnt, auf sich selbst aufzupassen. Und dein Freund Garth scheint auch robust zu sein. Einen Tag oder zwei, Wren – nicht länger. Bis dahin hast du das Konzil vielleicht überredet, sie hineinzulassen. Oder du kannst wieder zu ihnen zurückkehren.«
Wren wußte nicht, über welche Art Konzil er sprach, aber unabhängig davon, was wegen Stresa und Faun entschieden wurde, würde sie Garth nicht zurücklassen. Der Stachelkater und der Baumschreier konnten vielleicht allein überleben, aber für Garth war diese Insel genauso fremd und gefährlich wie für sie, und sie würde ihn nicht im Stich lassen.
»Es muß eine andere...« begann sie.
Und plötzlich war da ein Schrei, und eine Woge vielbeiniger Wesen schwärmte aus dem Nebel heran. Wren hatte kaum Zeit, aufzuschauen, als sie schon über ihr waren. Sie erhaschte einen Blick auf Faun, der in der Nacht verschwand, und auf Stresas stacheligen Körper, der sich bog. Garth war aufgesprungen, um sie zu verteidigen. Auf einmal flog sie durch die Luft. Sie konnte ihr Schwert jedoch rechtzeitig herausreißen, um den nächstbesten Angreifer zu erwischen. Blut floß, und das Wesen taumelte davon. Überall waren gebeugte, schwarze Körper, die umhersprangen und an ihnen allen zerrten und zogen. Stresas Stacheln durchbohrten einen der Angreifer und jagten ihn schreiend davon. Garth schlug einen weiteren zurück und trat kämpfend an Wrens Seite. Sie stand Rücken an Rücken mit ihm und kämpfte, während die Wesen sie angriffen. Sie konnte sie nicht deutlich sehen, sondern nur kurze Blicke auf ihre mißgebildeten Körper und die funkelnden Augen werfen. Sie suchte die Eule, aber er war nirgends zu sehen.
Dann sah sie ihn plötzlich. Er war wie ein Schatten, als er sich von der Erde erhob. Dabei schlug er zwei der Angreifer zurück, bevor sie erkannten, was geschah. Im nächsten Moment war er wieder fort, dann wieder an einer anderen Stelle. Er hatte jetzt ein Paar langer Messer in Händen, obwohl Wren sich nicht daran erinnern konnte, zuvor irgendwelche Waffen an ihm gesehen zu haben. Der Elf war wie Rauch, als er unter die Angreifer glitt, und war schon wieder fort, bevor man ihn richtig sehen konnte. Garth drängte vorwärts, und seine gewaltigen Arme stießen die Angreifer beiseite. Die Dämonen hielten ihm kurzzeitig stand, fielen dann zurück und sprangen fort, um sich neu zu formieren. Geheul erhob sich aus der Dunkelheit um sie herum. Aurin Straite erschien unvermittelt neben Wren. Seine Worte kamen barsch und drängend. »Schnell. Hier entlang, ihr alle. Wir werden uns später Gedanken über das Konzil machen.«
Er führte sie über die Fläche aus Lavagestein zurück in die Senke. Die Geräusche der Verfolger erklangen von überall her. Sie rannten tief gebückt über Geröll und Spalten das Felsenbecken entlang. Die Eule führte sie. Es schien ihnen bei jeder Biegung, als ob er in die Nacht verschwinden würde.
Sie waren erst ein kurzes Stück gelaufen, als sich etwas Kleines und Pelziges auf Wrens Schulter schwang. Sie keuchte, warf sich ausweichend zur Seite und richtete sich erst wieder auf, als sie erkannte, daß Faun zurückgekehrt war. Der Baumschreier verbarg sich an ihrer Schulter und schnatterte leise.
Sekunden später holten die Dämonen sie ein und drangen ein weiteres Mal aus der Dunkelheit auf sie ein. Sie schössen an Stresa vorbei, der sich sofort zu einer Kugel zusammenrollte und seine Stacheln in alle Richtungen streckte, und stürzten sich auf die Menschen. Garth nahm dem Angriff die Spitze, indem er die Wesen eines nach dem anderen zurückschlug. Wren kämpfte schnell und wenig neben ihm und bewegte die Klinge des kurzen Schwertes ruckartig nach rechts und links.
Behütet mit ihrem Lederbeutel, begannen an ihrer Brust die Elfensteine zu brennen.
Erneut zogen sich die Angreifer zurück, aber dieses Mal nicht so weit und nicht so bereitwillig. Die Nacht und der Nebel verwandelten sie zu Schatten, aber ihr Geheul war nahe und gierig, als sie darauf warteten, daß sich noch andere zu ihnen gesellten. Der Elf und die Gefährten drängten sich zusammen. Sie rangen nach Atem, und ihre Waffen glänzten feucht.
»Wir müssen weiterlaufen«, drängte die Eule. »Es ist jetzt nicht mehr weit.«
Nicht weit von ihnen rollte sich Stresa zischend auf.
»Sssssttffft! Lauft, wenn ihr müßt, aber mir reicht es jetzt! Phfffft!« Er wandte seinen Katzenkopf Wren zu. »Ich werde – grrrrrr – auf deine Rückkehr warten, Wren. Ich werde am Fluß sein. Vergiß dein Versprechen nicht!«
Dann war er plötzlich fort. Er glitt in die Dunkelheit und wurde zu einem der Schatten um sie herum.
Die Eule winkte, und Wren und Garth fingen wieder an zu rennen, wobei sie noch immer dem Verlauf der Senke folgten. Rings um sie herum waren schnelle und verstohlene Bewegungen im Nebel zu erkennen. Dampfsäulen strömten durch Risse in der Lava aus der Erde hervor, und der Gestank von Schwefel erfüllte die Luft. Ein Felsrutsch blockierte ihren Weg, und sie krochen eilig daran vorbei. Vor ihnen glühte Arborlon hinter seiner Schutzmauer. Sie sahen das Schimmern von Gebäuden und Türmen inmitten eines Waldes. In der Helligkeit vom Licht der Magie der Stadt und dem Feuer des Vulkans war zu erkennen, daß Killeshans Hang mit Inseln von Gestrüpp und Bäumen gesprenkelt war, die irgendwie der ursprünglichen Verwüstung entgangen und jetzt zu langsamem Ersticken durch die Hitze verurteilt waren. Vog hing wie ein gezackter Vorhang über der Landschaft, und die Monster, die sich darin verbargen, glitten durch seinen Aschedunst wie Bohrwürmer durch die Erde. Vor ihnen lag eine weitere Landsenke, eine Fortführung der Senke, der sie bisher gefolgt waren. Die Eule trieb sie darauf zu, als die Dämonen erneut angriffen. Sie warfen sich dieses Mal von beiden Seiten auf die kleine Gruppe und tauchten aus der Dämmerung auf, als seien sie der Erde entstiegen. Die Eule wurde zu Boden geworfen, und Wren versank unter einem Hagel von Klauen und Zähnen. Nur Garth blieb stehen. Die Dämonen drangen von allen Seiten auf ihn ein, hängten sich an ihn, zogen an ihm und versuchten, ihn zu Fall zu bringen. Wren trat heftig um sich und kämpfte sich frei. Faun war bereits verschwunden. Schnell wie ein Gedanke war er in die Nacht zurückgetaucht. Wrens Schwert schlug blind zu, schnitt in irgend etwas, hielt kurz inne und riß sich wieder los. Sie rappelte sich auf, wurde jedoch wieder zurückgedrängt und gegen den Fels geschmettert. Sie konnte spüren, daß hinten an ihrem Kopf und Nacken klaffende Wunden aufplatzten. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie rollte sich herum, kam wieder auf die Füße und fand sich von Dämonen umzingelt. Die Nacht und der Nebel hatten die Eule verschluckt. Garth lag am Boden, und die Dämonen bildeten auf ihm eine sich windende Masse schwarzer Beine. Sie schrie und kämpfte darum, zu ihm zu gelangen, aber Krallenhände zogen rauh an ihr und hielten sie zurück.
Die Elfensteine brannten an ihrer Brust wie Feuer.
Von dem Gewicht ihrer Angreifer niedergedrückt, begann sie zu fallen. Sie wußte instinktiv, daß sie dieses Mal nicht wieder hochkommen würde und daß dies das Ende für sie alle sein würde.
Sie konnte sich selbst irgendwo tief innen lautlos schreien hören.
Die Vernunft floh vor ihrem Lebenswillen, und ihre Angst wich der Wut. Überall um sie herum waren Körper, Klauen und reißende Zähne. Übelriechender Atem kroch über ihre Haut. Ihre Finger versenkten sich in ihrer Tunika, und sie riß die Steine heraus.
Die flackerten sofort in einem Ausbruch von Licht und Feuer lebhaft auf. Der Lederbeutel löste sich auf. Die Magie explodierte zwischen den Fingern der Fahrenden hindurch, als sei sie zu ungeduldig und zu bereitwillig, als daß sie darauf warten könnte, daß sich die Hand öffnete. Sie fuhr durch die Luft wie ein Messerregen, schnitt die schwarzen Wesen auseinander und verwandelte sie in Staub, bevor ihre Schreie noch ganz verklungen waren. Wren war sofort wieder frei. Sie richtete sich taumelnd auf, streckte die Elfensteine vor, und Feuer und Licht drängten jetzt aus ihr heraus und vereinten sich mit der Magie, bis kein Unterschied mehr erkennbar war. Sie warf den Kopf zurück, als die Magie durch sie hindurchfuhr – hart, herausfordernd und heiter. Sie veränderte sich und ihre Ängste, was als Folge des Gebrauchs der Magie aus ihr werden würde, zerstreuten sich und waren vorbei. Es war unwichtig, wer oder was sie gewesen war oder wie sie ihr Leben gelebt hatte. Die Magie war alles. Die Magie war alles, was zählte.
Sie lenkte die Kraft der Magie auf die Masse der Körper auf Garth, und dort schlug sie ein. Sie lösten sich in Sekundenschnelle auf. Einige widerstanden der Wucht des Angriffs einige Augenblicke länger als die anderen, jene nämlich, die größer und fester waren, aber schließlich starben sie alle. Garth erhob sich blutüberströmt. Seine Kleider hingen in Fetzen, und sein dunkles, bärtiges Gesicht war aschfahl. Worauf starrte er nur, fragte sie sich vage. Sie wunderte sich über seinen Gesichtsausdruck, als sie die Macht der Steine einsetzte, um die Landschaft leerzufegen. Die Eule tauchte wieder aus dem Dunst auf, und auch auf seinem ledrigen Gesicht wurde Ehrfurcht sichtbar. Und Angst. Sie hatten beide so große Angst...
Plötzlich verstand sie es. Sie schloß erschreckt ihre Finger, und die Magie war fort. Die Heiterkeit und das Feuer verließen sie, fielen im Handumdrehen von ihr ab, und es war, als hätte man sie nackt ausgezogen und hingestellt, damit jedermann sie sehen könnte. Müdigkeit durchflutete sie und sie fühlte sich beschämt. Die Magie hatte sie gefangen und hatte sie für sich eingenommen. Sie hatte ihren Vorsatz, ihrem Zauber zu widerstehen, zerstört und all ihre Versprechen begraben, daß sie sie nicht zulassen würde und daß sie nicht eine weitere Ohmsford werden würde, die sie beanspruchte.
Aber sie hatte ihre Macht nun doch gebraucht. Hatte sie sie nicht am Leben erhalten – sie alle am Leben erhalten? Hatte sie sie nicht gewollt, sie nicht sogar genossen? Was sonst hätte sie tun können?
Garth war neben ihr, hatte sie an den Schultern gefaßt und hielt sie aufrecht. Seine dunklen Augen hatte er intensiv in ihre eigenen versenkt. Sie bestätigte mit einem vagen Nicken, daß sie sich seiner Gegenwart bewußt war und daß es ihr gutging. Aber das stimmte natürlich nicht. Die Eule war auch da und sagte:
»Wren, du bist diejenige, auf die sie gewartet hat, diejenige, die versprochen war. Du bist wirklich willkommen. Komm jetzt schnell, bevor sich die dunklen Wesen wieder formieren und erneut angreifen. Beeile dich!«
Sie schwieg und folgte ihm gehorsam. Ihr Körper war ein fremdes Ding, das sie vorwärts trug, wobei sie ihn von irgendwo außerhalb beobachtete. Hitze und Erschöpfung quälten sie, aber sie fühlte sich wie losgelöst davon. Sie sah die Landschaft in den Nebel zurücksinken, durch den jetzt eine seltsame Schar von Schatten schwebte. Bäume erhoben sich blattlos und kahl in Gruppen himmelwärts wie brüchige Stiele, die bald zerfallen würden. Vor ihnen lag die Stadt der Elfen, glitzernd wie etwas, das hinter einem regenüberströmten Fenster gefangen ist. Sie ähnelte einem juwelenbesetzten Schatz, der vor Versprechen und Hoffnung schimmerte.
Eine Lüge. Dieser Gedanke traf sie plötzlich. Er war widersinnig, und doch war sie von der Intensität des Gedankens überrascht. Alles ist Lüge.
Endlich hatte die Eule sie durch ein Gewirr von Gestrüpp und einen engen Hohlweg hinuntergeführt, in dem die Schatten so dicht lagen, daß es so gut wie unmöglich war, etwas zu erkennen. Er kauerte sich auf den Boden, machte sich an einem Haufen von Felsbrocken zu schaffen und öffnete eine Falltür. Schnell kletterten sie hinein. Die Luft war heiß und stickig. Der Elf faßte nach oben, zog die Falltür wieder an ihren Platz und sicherte sie. Die Dunkelheit hielt nur einen Moment an, und dann war durch den Tunnel, der vor ihnen lag, ein Schimmer des seltsamen Lichts der Stadt zu sehen. Die Eule führte sie hindurch. Er bewegte sich wortlos, mager und schattenhaft vor dem schwachen Schimmern der Helligkeit. Wren spürte, daß das Gefühl der Losgelöstheit allmählich nachließ. Sie war wieder in sich selbst. Sie war zurückgekehrt zu dem, wer und was sie war. Sie wußte, was geschehen war und was sie getan hatte, aber sie wollte sich nicht erlauben, darüber nachzudenken. Es gab nichts zu tun, als vorwärts zu gehen und die Reise zu vollenden, die sie sich selbst auferlegt hatte. Die Stadt lag vor ihnen – Arborlon. Und die Elfen, die sie endlich gefunden hatte. Das war es, worauf sie sich konzentrieren mußte.
Sie bemerkte plötzlich, daß Faun nicht zu ihr zurückgekommen war. Der Baumschreier war noch immer draußen, in diese glühende Wirrnis geflohen... Sie schloß einen Moment die Augen. Auch der Stachelkater war dort. Er war ebenfalls aus eigenem Willen gegangen. Sie fürchtete um die beiden. Aber sie konnte nichts tun.
Unendlich lange, wie ihr schien, bahnten sie sich ihren Weg den Tunnel hinab. Sie schritten tief gebückt durch den engen Durchgang, ohne zu sprechen. Das Licht wurde heller, je weiter sie gingen, bis es in den Felsen so hell leuchtete wie Tageslicht. Die Welt außerhalb blieb immer mehr zurück, bis der Vog, die Hitze, die Asche und der Gestank verschwunden waren. Plötzlich gab es auch keinen Fels mehr. Er hatte sich abrupt in schwarze und fruchtbare Erde verwandelt, die an die Wälder des Westlandes, an ihre Heimat, erinnerte. Sie atmete tief den Geruch ein und fragte sich, wie das sein konnte. Sie sagte sich dann, daß die Magie das erhalten hatte.
Der Tunnel endete an einer Reihe von Felsstufen, die zu einer schweren, eisenbeschlagenen Tür in einer Felswand hinaufführten. Als sie die Tür erreichten, wandte sich die Eule plötzlich um und sah sie an.
»Wren«, sagte er sanft, »hör mir zu.« Die grauen Augen leuchteten intensiv. »Ich weiß, ich bin für dich ein Fremder, und du hast keinen besonderen Grund, auf irgend etwas zu hören, was ich sage. Aber du solltest dich zumindest dieses eine Mal auf mich verlassen. Erst wenn du mit der Königin sprichst, und nur wenn du mit ihr allein bist, solltest du enthüllen, daß du die Elfensteine besitzt. Erzähle es vorher niemandem. Hast du verstanden?«
Wren nickte langsam. »Warum verlangst du das von mir, Aurin Striate?«
Die Eule lächelte traurig, und die Falten in seinem alten Gesicht vertieften sich. »Obwohl ich wünschte, es wäre anders, Wren, wird nicht jeder deine Ankunft willkommen heißen.«
Dann wandte er sich um und klopfte fest gegen die Tür. Er wartete und klopfte erneut – dreimal und dann zweimal, dreimal und dann zweimal. Wren lauschte. Es war Bewegung auf der anderen Seite spürbar. Schwere Schlösser wurden gelöst und öffneten sich.
Langsam schwang die Tür auf, und sie traten hindurch.