22

Die Nacht brach herein.

Wren Ohmsford ging durch die zunehmende Dämmerung zurück durch den Harrow. Sie fühlte nichts.

Schatten von den Gerippen der zerstörten Bäume und den wabernden Nebeln lagen auf dem Lavagestein. Das Tageslicht war im Westen nur noch als Ungewisse Helligkeit sichtbar, wie der sanfte Schimmer einer Kerze vor der Dunkelheit. Um sie herum erstreckte sich schweigend und leblos der Harrow. Er war ein Spiegel ihrer selbst. Die Magie der Elfensteine hatte sie gereinigt. Eowens Tod hatte sie hart gemacht.

Wer bin ich ? fragte sie sich.

Sie wählte ihren Weg, ohne wirklich darüber nachzudenken, und bewegte sich in die Richtung, aus der sie gekommen war, weil das der einzige Weg war, den sie kannte. Sie schaute einfach nur geradeaus, ohne etwas wahrzunehmen, und sie lauschte, ohne wirklich zu hören.

Wer bin ich?

Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Antwort auf diese Frage gekannt. Das war ihre einzige Sicherheit gewesen. Sie war eine Fahrende gewesen, frei von den Beschränkungen einer persönlichen Geschichte, von den Banden und Verpflichtungen einer Familie und von der Notwendigkeit, nach den Erwartungen anderer und nicht den eigenen zu leben. Sie hatte Garth gehabt, und der hatte sie gelehrt, was sie wissen mußte, aber sie hatte mit sich tun können, was sie wollte. Die Zukunft hatte sich faszinierend vor ihr ausgebreitet wie ein blankes Stück Schiefer, auf das ihr Leben mit den Worten, die sie erwählte, geschrieben werden konnte.

Jetzt war diese Sicherheit dahin, so sicher verschwunden wie die falschen Auffassungen ihrer Jugend davon, wer und was sie sein würde. Sie würde nie wieder sein, wie sie gewesen war oder sich selbst verstanden hatte. Niemals. Sie hatte alles verloren. Und was hatte sie gewonnen? Sie lachte beinahe. Sie war ein Nichts geworden. Seht sie euch nur an, sie konnte jedermann sein. Sie konnte sich nicht einmal ihres Namens sicher sein. Sie war nicht nur eine Ohmsford, sondern auch eine Elessedil. Was man auch wählte – es würde passen. Sie war ein Elf und ein Mensch. Sie war das Kind mehrerer Familien, einer, die sie geboren hatte, und zweier weiterer, die sie aufgezogen hatten.

Wer bin ich?

Sie war ein Wesen der Magie, Erbin der Elfensteine, Wächterin des Ruhkstabes und des Loden. Sie trug dies alles. Es waren Verpflichtungen, die ihr auferlegt worden waren, Verantwortlichkeiten, die sie hatte übernehmen sollen. Die Magie gehörte ihr, und sie haßte schon allein den Gedanken daran. Sie hatte niemals darum gebeten, sie mit Sicherheit niemals gewollt und konnte sie anscheinend doch nicht loswerden. Die Magie war ein Schatten in ihr, ein dunkles Spiegelbild ihrer selbst, das auf Kommando zu ihrer Verfügung stand, und sie gewinnen wollte, indem es ihr Gefühle vermittelte, wie nichts sonst es konnte, und gleichzeitig ihre Vernunft und ihren Verstand stahl. Es drohte sie vollständig einzunehmen. Die Magie tötete sogar für sie – Feinde natürlich, aber auch Freunde. Eowen. Hatte die Magie nicht Eowen getötet? Wren kämpfte gegen ihre Verzweiflung an. Die Magie brachte Zerstörung – was in Ordnung war, weil sie das ja von ihr erwartete, aber gleichzeitig war das alles falsch, weil es wahllos geschah, und selbst wenn sie die richtige Wahl traf, beraubte sie sie ein wenig mehr solcher Fähigkeiten wie Mitgefühl, Empfindsamkeit, Reue und Liebe, jener Weichheit, die das Harte ausglich. Sie wütete wie ein Feuer unter der Vielfalt ihrer Möglichkeiten und ließ sie mit wenigem zurück.

Sie erkannte, daß sie auch jetzt keine Wahlmöglichkeit hatte.

Wind war aufgekommen, zuerst leicht und unregelmäßig, aber inzwischen heftig und rauh, als er über die Ebenen blies, die Skelette der Bäume erzittern und die Schluchten summen und klagen ließ. Er blies über ihre Schultern und drängte sie so zur Seite, wie es einem gedankenverlorenen Fremden in einer Menschenmenge ergehen mochte. Sie senkte abwehrend den Kopf gegen diese weitere Belastung, die sie erdulden mußte, gegen dies neue Hindernis. Das Licht im Westen war verschwunden, und sie war in Dunkelheit gehüllt. Es war nicht mehr sehr weit, sagte sie sich matt. Die anderen warteten genau vor ihr am Rande des Harrow.

Genau vor ihr.

Sie lachte. Was machte es schon aus, ob sie da waren oder nicht? Was machte denn überhaupt noch etwas aus? Ihr Leben würde mit ihr tun, was es wollte, genauso wie das schon die ganze Zeit gewesen war, seit sie auf die Suche nach sich selbst gegangen war. Nein, verbesserte sie sich, schon länger. Vielleicht schon immer. Sie lachte noch einmal auf. Die Suche nach sich selbst, ihrer Familie, den Elfen, der Wahrheit – was für eine Dummheit! Sie konnte den spöttischen Klang ihrer eigenen Stimme hören, während sich ihre Gedanken jagten.

Einer Stimme, die im Wind widerhallte.

Was macht es? flüsterte sie.

Welchen Unterschied?

Ihre Gedanken wandten sich ungebeten Eowen zu, die so sanft und freundlich gewesen war und trotz ihrer seherischen Gabe verdammt, von ihrem Schicksal verschlungen zu werden. Was hatte es Eowen genützt, ihre Zukunft zu kennen? Was würde es irgend jemandem von ihnen nützen? Was nützte es in der Tat, auch nur zu versuchen, auf sie Einfluß nehmen zu wollen? Alles sinnlos, wütete sie, weil sie letztendlich doch mit dir machen würde, was sie wollte. Sie wird dich zu dem machen, was sie will, dich hinführen, wohin sie will, und dort nach ihrem eigenen Dafürhalten zurücklassen.

Rund um sie herum heulte der Wind. Laß los!

Sie hörte es, nickte verstehend und begann zu weinen. Die Worte liebkosten sie wie die Hände einer Mutter, und sie hieß jede Berührung willkommen. Alles schien zu vergehen. Sie ging – wohin? Sie blieb nicht stehen, hielt nicht inne, um danach zu fragen, sondern ging einfach weiter, weil die Bewegung half, sie von dem Schmerz und der Qual fortzubringen. Sie hatte etwas zu tun – was? Sie schüttelte den Kopf, konnte es nicht bestimmen und wischte mit dem Handrücken ihre Tränen fort. Mit der Hand, die die Elfensteine festhielt.

Sie schaute verwundert auf sie hinab und entdeckte überrascht, daß die Steine noch immer da waren. Die Magie pulsierte in ihrer Faust, in den Fingern, die fest darum geschlossen waren, und ihr blaues Glühen drang durch die Ritzen und ergoß sich in die Dunkelheit. Warum tat sie das? Sie sah bestürzt hin und wurde von dem unbestimmten Gedanken gequält, daß etwas falsch war. Warum brannte es so?

Laß los, flüsterte die Windstimme.

Das will ich! schrie sie in der Stille ihres Bewußtseins.

Sie verlangsamte ihren Schritt und schaute von dem Weg auf, dem ihre Füße gefolgt waren, von der Leere des Bodens. Der Harrow hatte ein anderes Aussehen bekommen, ringsum war Helligkeit und Wärme. Gesichter waren überall um sie herum, seltsam lebendig vor dem Dunst und voller Verständnis für ihre Bedürfnisse. Die Gesichter waren vertraut, da waren Freunde und Mitglieder ihrer Familie, all jene, die sie geliebt und unterstützt hatten, Lebende und Tote, alle wurden sie aus ihrer Vorstellung lebendig. Sie war überrascht, als sie auftauchten, aber auch erfreut. Sie sprach mit ihnen zögernd und neugierig ein oder zwei Worte. Sie schauten in ihre Richtung und antworteten mit einem Flüstern.

Laß los.

Laß los.

Die Worte klangen in ihrem Geist nach wie ein Schimmer von Hoffnung. Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich stehen. Sie wußte nicht mehr, wo sie war, und kümmerte sich auch nicht mehr darum. Sie war so müde. Ihr Leben war durcheindergeraten. Sie konnte nicht einmal mehr tun, als hätte sie irgendeine Kontrolle darüber. Es ritt sie wie ein Reiter ein Pferd, aber ohne Pause oder Rast ziellos und endlos in die Nacht.

Laß los.

Sie blinzelte und lächelte dann. Verstehen durchflutete sie. Natürlich. So einfach war es. Laß die Magie los. Laß los, und die Erschöpfung und die Verwirrung und das Gefühl des Verlustes, das alles wird vorbei sein. Sie mußte nur loslassen, dann würde sie eine Chance haben, erneut zu beginnen, ihr Leben wieder in Besitz zu nehmen und zurückzukehren zu dem, wer und was sie gewesen war. Warum hatte sie das nicht eher erkannt?

Etwas zupfte warnend an ihr, ein Teil ihres Innersten, der durch die Stimme des Windes überdeckt worden war. Neugierig versuchte sie, es sich zurückzurufen, aber federleichte Berührungen auf ihrer Haut lenkten sie ab. Die Elfensteine brannten auf der Innenfläche ihrer Hand, aber sie achtete nicht darauf. Die Berührungen wurden eindringlicher und fordernder. Sie hob den Blick, um ihren Ursprung zu entdecken. Die Gesichter waren jetzt überall um sie herum, kreisten am Rande der Dunkelheit und des Nebels und nahmen Gestalt an. Sie kannte sie doch! Warum konnte sie sich bloß nicht erinnern?

Laß los.

Zur Antwort streckte sie die Hand aus, die die Elfensteine umklammert hielt. Sie war sich dieser Bewegung kaum bewußt, doch eine Spur blauen Lichts drang durch die Ritzen ihrer Finger und vertrieb die Dunkelheit. Sofort waren die Gesichter fort. Sie blinzelte verwirrt. Was tat sie? Warum war sie stehengeblieben? Sie schaute sich erschreckt um, sah die Dunkelheit und den Nebel des Harrow und erkannte, daß sie sich darin verirrt hatte.

Die Drakuls waren da und beobachteten sie. Sie konnte ihre Gegenwart spüren. Sie schluckte gegen ihre Angst an. Was hatte sie eben gedacht?

Sie ging weiter und versuchte herauszufinden, was geschehen war. Sie war sich schwach der Tatsache bewußt, daß sie eine Zeitlang den Bezug zu allem verloren hatte und ziellos umhergelaufen sein mußte. Sie erinnerte sich an Bruchstücke ihrer Gedanken. Sie waren wie Fragmente von Träumen beim Aufwachen. Sie hatte gerade etwas tun wollen, dachte sie besorgt. Aber was?

Die Minuten verstrichen. Weit voraus, hörte sie verloren im Heulen des Windes ihren Namen rufen. Es war dort, drang einen Augenblick lang zu ihr herüber und war dann fort. Sie bewegte sich darauf zu und fragte sich, ob sie noch immer in die richtige Richtung lief. Wenn sie dies nicht bald entscheiden konnte, würde sie die Elfensteine benutzen müssen. Schon der Gedanke daran quälte sie.

Sie wollte sie nie wieder benutzen. Alles, was sie vor ihrem inneren Auge sehen konnte, war, wie das Feuer über das Monster hereingebrochen war, das einst Eowen gewesen war, und es zu Asche verwandelt hatte.

Wieder begann sie zu weinen, und wieder hielt sie schnell inne. Das hatte überhaupt keinen Sinn. Bäume ohne Laub und vom Feuer kahlgefressenes Lavagestein breiteten sich vor ihr aus. Der Harrow war eine endlose, unveränderliche Weite und schien sich in die Ewigkeit zu erstrecken. Sie war verloren, glaubte sie, denn sie war irgendwie verwirrt. Sie blieb stehen und sah sich ermattet um. Erschöpfung durchflutete sie, und sie schloß gequält und verzweifelt die Augen.

Der Wind flüsterte. Laß los.

Ja, erwiderte sie still, das will ich.

Der Zauber dieser Worte legte sich um sie wie ein wärmender Umhang, hüllte sie ein und hielt sie fest. Sie widerstand nur einen Moment und überließ sich ihm dann. Als sie die Augen öffnete, waren da wieder die schwarzen Gesichter, umkreisten sie in einem Kreis schwachen Lichts und näherten sich mit federleichten Berührungen. Sie sah, daß sie sich am Rande einer Schlucht befand – der Ort kam ihr bekannt vor. Wieder begann alles zu verblassen. Sie vergaß, daß sie versuchen wollte, dem Harrow zu entkommen, daß die Gesichter um sie herum etwas anderes waren, als was sie zu sein schienen. Der Dunst des Nebels kroch in ihr Bewußtsein und setzte sich dort dicht und undurchdringlich fest. Ihre Gedanken, die wie gefroren waren, schmolzen und rannen wie flüssig durch ihren Körper. Sie konnte ihre Kälte spüren. Sie war müde und war das alles so leid.

Laß los.

Ihre Hand, die die Elfensteine umklammert hielt, senkte sich, und die Gesichter um sie herum begannen Gestalt und Maß anzunehmen. Lippen berührten ihre Kehle.

Laß los.

Sie ließ ihre Augen wieder zufallen. Ihre Finger begannen sich zu öffnen. Es wäre alles so leicht. Sie mußte nur die Elfensteine fallen lassen, dann würde sie der Kette der Magie für immer entkommen.

»Hoheit!«

Der Ruf war ein gequältes Schreien, doch einen Moment lang bedeutete es nichts. Dann öffneten sich ihre Augen ruckartig, und ihr Körper spannte sich an. Der seltsame Schlaf, der sie fast überwältigt hätte, schwebte in ihrer Nähe wie ein dringliches, geflüstertes Versprechen. Durch seinen Nebel sah sie jenseits seiner Dunkelheit zwei Gestalten am Rande des Lichts kauern. Sie hielten Schwerter in den Händen, deren Metall schwach schimmerte.

»Phffft! Bewege dich nicht, Wren von den Elfen!« hörte sie einen weiteren Warnruf. Stresa.

»Bleibt, wo Ihr seid, Hoheit«, warnte der andere voller Panik. Triss.

Der Hauptmann der Leibgarde kam langsam vorwärts. Er hielt seine Waffe vor sich, die von Feuer glühte. Sie erkannte jetzt sein Gesicht, es war mager und hart und von Entschlossenheit erfüllt. Hinter ihm stand Garth, eine größere Gestalt, dunkler und rätselhaft. Vor den beiden kam der Stachelkater mit hochgestellten Stacheln.

Sie fühlte einen Eisklumpen in ihrem Magen. Was taten die beiden hier? Was war geschehen, daß sie hier waren? Sie spürte, wie eine Woge der Angst sie traf, ein Gefühl, daß etwas geschehen war und sie es nicht einmal bemerkt hatte.

Sie kämpfte gegen die Mattigkeit an, gegen den Wunsch nach Ruhe und das Flüstern des Windes und zwang sich dazu, ihre Umgebung wiederzuerkennen. Die Kälte verwandelte sich zu Eis. Das Licht, das sie umgab, strömte von den Wesen aus, die sie umgaben. Überall um sie herum waren Drakuls. Sie waren so nahe, daß sie ihren Atem spüren konnte – oder es zumindest glaubte. Sie konnte ihre toten Augen sehen, ihre unheimlichen, fast formlosen Gesichter und ihre elfenbeinfarbenen Fänge. Dutzende von ihnen waren da, drängten sich um sie und ließen nur an der Stelle, wo Triss und Garth und Stresa sich zu nähern versuchten, Platz frei wie ein Fenster in die Dunkelheit des Harrow. Ihre Hände und Finger klammerten sich an sie und hielten sie fest, wie gefesselt durch ihre Gier nach Nahrung. Sie hatten sie zu sich gelockt und sie fast bis zum Schlaf eingelullt. So hatten sie es sicher auch mit Eowen gemacht. Nachdem sie von Phantomen zu Wesen mit Substanz geworden waren, wollten sie sich nähren.

Einen Augenblick lang schwebte Wren zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Sie konnte spüren, wie sie zwischen zwei Möglichkeiten, beide sehr unterschiedlich und beide zwingend, hin und her gerissen wurde. Die eine würde sie aus allem, was sie einlullen wollte, herausbrechen, aus diesen tödlichen Banden, die sie hielten, würde sie dazu bringen, sich in Abscheu und Zorn zu erheben und um ihr Leben zu kämpfen, denn das war, was ihr Instinkt ihr befahl. Die andere Möglichkeit war, daß sie tat, was die Windstimme ihr zugeflüstert hatte, daß sie einfach losließ, weil das der einzige Weg war, sich von der Magie zu befreien. Die Zeit gefror. Sie wog die Möglichkeiten ab, als sei sie nicht davon betroffen, und doch war es eine Entscheidung, die ihr ganzes Dasein, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in den Mittelpunkt rückte. Sie konnte ihre Retter näher kommen sehen, und deren Gesten waren unmißverständlich. Sie konnte auch die Drakuls kaum merkbar näher kommen spüren. Nichts davon schien wichtig zu sein. Beides war eine entfernte Realität, die sich wie in Zeitlupe bewegte und sich im Handumdrehen ändern konnte.

Auf einmal waren Fänge an ihrer Kehle – ein Flüstern von Hunger und Gier.

Drakuls.

Schattenwesen.

Elfen.

Welche Vielfalt des Schreckens – und nur sie wußte es.

Wenn ich Morrowindl nicht entkommen und in die Vier Länder gelangen kann, wer sonst wird es dann jemals erfahren?

»Hoheit!« Triss rief sie sanft, seine Stimme bettelte verzweifelt, ärgerlich und verloren.

Sie trat von dem Abgrund zurück und atmete tief durch. Sie konnte spüren, wie die Kraft in ihren Körper zurückkehrte, wie sie sich von der Benommenheit freimachte. Aber sie würde zu langsam sein. Sie streckte sich leicht, fast unmerklich und versuchte festzustellen, ob sie sich bewegen konnte. Sie prüfte die Grenzen ihrer Freiheit. Sie hatte keine, denn die Hände an ihr hielten sie so fest, als sollte sie an die Erde gefesselt werden.

Eine Chance also blieb nur. Eine einzige Hoffnung. Ihr Geist konzentrierte sich entschlossen und drängend nach tief drinnen. Ihre Finger öffneten sich.

Jetzt.

Blaues Feuer schoß in die Nacht, riß ihren Körper hoch und hüllte ihn in Flammen. Die Fänge um sie verschwanden, die Hände fielen ab, die Drakuls schrien entsetzt, und sie war frei. Sie stand in einem Feuerzylinder, die Hitze der Magie fuhr über sie hinweg und hüllte sie ein, während sie darauf wartete, daß der Schmerz begann, und zu wissen glaubte, wie es sich anfühlen würde, zu Asche verbrannt zu werden. Besser das, als eine von ihnen zu werden. Dieser Gedanke schoß ihr durch den Kopf, löschte alles Denken an ihre kleinlichen Bedürfnisse aus und wurde zur Gewißheit, die sie nie wieder in Frage stellen würde. Laß es nur schnell geschehen!

Das Feuer türmte sich über ihr auf, erhob sich vor der Dunkelheit und verbrannte den Vorhang aus Vog. Die Drakuls warfen sich in die Flammen. Sie versuchten verzweifelt, sie zu erreichen, wie kopflose Nachtfalter. Sie starben in plötzlichen Ausbrüchen von Licht und verbrannten gedankenschnell zu Asche. Wren beobachtete, wie sie auf sie zukamen, nach ihr griffen, im Feuer eingeschlossen wurden und verschwanden. Ihre Augen öffneten sich plötzlich und suchten die Elfensteine. Sie fand sie in der Höhlung ihrer geöffneten Hand. Sie waren weiß vor Magie und so strahlend wie kleine Sonnen.

Und dennoch brannte sie nicht. Das Feuer wütete um sie herum, verschlang ihre Angreifer und ließ sie unversehrt.

Oh, ja!

Und dann machte sich Erleichterung in ihr breit, das Gefühl der Macht, das die Magie ihr stets verlieh. Sie fühlte sich unbesiegbar und unzerstörbar. Das Feuer konnte sie nicht verletzen, es würde das nie tun – und sie mußte das gewußt haben. Sie warf ihre Hände hoch, hob das Feuer in einem Bogen von sich fort in dm Kreis von Drakuls um sie herum. Sie wurden eingeschlossen und schrien verzweifelt, als sie verschlungen wurden.

Für dich, Eowen! Sie sah sie sterben und empfand nichts außer der Freude, die der Gebrauch der Magie ihr brachte, wobei auch die Drakuls unwichtig wurden, genauso bedeutungslos wie Staub. Sie umarmte die Macht der Magie und ließ sich von ihr über alle Vernunft hinaus tragen, über alles Denken hinaus.

Gebrauche sie, sagte sie sich. Nichts anderes zählt.

Einen Augenblick lang war sie vollständig verloren. Vergessen waren Triss und Garth und die Notwendigkeit, Morrowindl zu entkommen und in die Vier Länder zurückzukehren, vergessen alle Wahrheiten, die sie erfahren und weiterzugeben geplant hatte, vergessen die Geschichte dessen, wer und was sie war, und die Leben, die ihr anvertraut worden waren. Alles. Vergessen war jeglicher Zweck jenseits des Gebrauchs der Elfensteine.

Doch dann machte sich ein kleiner Bereich ihres Bewußtseins wieder bemerkbar, ein Flüstern gesunden Verstandes, das an der Mischung aus Angst und Erschöpfung und Verzweiflung vorbeigelangt war, die ihre Entschlossenheit in Wahnsinn zu verwandeln drohte. Sie sah Triss und Garth und Stresa, die die angreifenden Drakuls Rücken an Rücken bekämpften, während sich der Kreis schloß. Sie hörte sie nach ihr rufen und hörte die Stimme in sich selbst, die als Antwort widerhallte. Sie spürte, daß die Insel des Selbst, auf die sie sich zurückgezogen hatte, im Feuer zu versinken drohte.

Ihre Hand mit den Elfensteinen senkte sich, und der Flammensturm erstarb zu einem Flackern von Licht, das sich um ihre Hand wand. Es war erneut unter Kontrolle gebracht. Sie sah wieder die Dunkelheit und den Nebel, die zerklüfteten Hänge der Schlucht, und das rauhe, schwarze Lavagestein. Sie roch die Nacht und die Asche, das Feuer und die Hitze. Sie fuhr zu den Drakuls herum und zischte sie an, wie eine Schlange es getan hätte. Sie schreckten ängstlich zurück. Sie ging auf ihre Freunde zu, und die Angreifer, die die drei umringten, wichen zurück. Sie trug den Tod in ihrer Hand, die sichere Vernichtung für jene Wesen, die nur zu gut verstanden, was Vernichtung bedeutete. Sie schimmerten um sie herum und verloren an Substanz. Sie trat furchtlos in ihre Mitte und wendete das Licht ihrer Magie hierhin und dorthin, drohend, herausfordernd, bebend vor tödlichem Versprechen. Die Drakuls wehrten sich nicht. Im selben Augenblick schwanden sie dahin und waren fort.

Sie trat an jenen Platz, wo Garth und Triss sich hingekauert hatten, die Waffen in der Hand und Unsicherheit in ihren Augen. Sie blieb vor Stresa stehen, der zu ihr hinauf schaute, als sei sie ein Wesen jenseits allen Begreifens. Sie schloß ihre Finger fest um die Elfensteine, und das Feuer erlosch.

»Helft mir aus der Schlucht heraus«, flüsterte sie. Sie war so erschöpft, daß sie zusammenzubrechen drohte, obwohl sie wußte, daß das nicht geschehen durfte, denn sie erkannte, daß die Drakuls sie noch immer beobachteten.

Triss legte sofort den Arm um sie. »Hoheit, wir dachten, Ihr wäret verloren«, sagte er und lenkte sie sanft in die richtige Richtung.

»Das war ich auch«, antwortete sie mit festem Lächeln.

Langsam, Schritt für Schritt, begannen sie den Aufstieg, während ihre Augen die Inselnacht absuchten.

Sie brauchten bis Mitternacht, um aus dem Harrow herauszukommen. Die Drakuls hatten Wren tief in ihr Versteck gelockt, weit weg von dem Weg, dem sie hatte folgen wollen, und hatten sie, nachdem sie Eowen entdeckt hatte, so vollständig verwirrt, daß sie schließlich in der falschen Richtung über die Ebenen gewandert war. Stresa war es gelungen, sie aufzuspüren, aber es war nicht leicht gewesen. Entgegen ihrem Befehl hatten sie bei Einbruch der Nacht begonnen, sie zu suchen. Sie hatte zwar gesagt, daß sie es nicht tun sollten, aber sie hatten sich Sorgen gemacht, weil sie schon so lange fort war, und hatten beschlossen, sich zu vergewissern, daß sie in Sicherheit war. Auch auf die Gefahr hin, ihr eigenes Leben zu verlieren. Sie wußten, daß sie keinen wirksamen Schutz gegen die Drakuls hatten, aber das war nicht mehr wichtig. Sowohl Garth als auch Triss waren fest entschlossen, die Suche aufzunehmen. Dal ließen sie zurück, damit er Gavilan und den Ruhkstab bewachte. Stresa war mitgekommen, weil niemand sonst Wrens Spur im Dunkeln hätte finden können. Sie hätten sie vielleicht überhaupt nicht gefunden, wenn die Drakuls nicht so mit ihrer Jagd beschäftigt gewesen wären. Schon eine Handvoll der Geister hätte genügt, den Rettungsversuch zu vereiteln. Aber Wren, die Besitzerin der Magie der Elfensteine, war für die Drakuls solch eine Verlockung, daß sie sich alle voller Gier nach Nahrung an der Jagd beteiligt hatten. Schattenwesen bis zum Ende. Stresa war es schließlich gelungen, sie aufzuspüren. Sie hatten sie, wie es schien, gerade noch rechtzeitig gefunden.

Wren berichtete ihnen dann von Eowens Schicksal und wie die Drakuls sie zerstört und zu einer ihresgleichen gemacht hatten. Sie beschrieb den Tod der Seherin, ohne ihn zu beschönigen. Es war, als würde sie selbst die Worte hören, mit denen sie ihrem Kummer Ausdruck verlieh. Es kam ihr vor, als spreche sie aus irgendeinem Hohlraum in sich, eingehüllt in einen Nebel der Leere und Erschöpfung. Sie war so müde. Und dennoch wollte sie ihren Schritt nicht verlangsamen. Sie wollte nicht ausruhen. Sie lehnte alle Hilfe ab, als sie erst einmal aus der Schlucht heraus waren. Sie ging selbst, weil sie nicht getragen werden wollte, denn das wäre ein weiteres Zeichen von Schwäche gewesen, und sie hatte für eine Nacht genug Schwäche gezeigt. Sie war erschreckt über das, was ihr widerfahren war, entsetzt darüber, wie leicht sie von der Windstimme irregeführt worden war, wie nahe sie dem Tod gewesen war und wie willig sie gewesen war, ihn zuzulassen – Wren Elessedil, auch Königin der Elfen genannt, die das Vertrauen eines ganzen Volkes besaß, Erbin von so viel Magie. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie verführerisch die Windstimme es ihr ausgemalt hatte, ihr Leben aufzugeben. Sie war so bereit gewesen, den Frieden willkommen zu heißen, den sie erwartet hatte. Ihr ganzes Leben lang war sie angesichts des Todes stark gewesen und hatte niemals der Möglichkeit Raum gegeben, daß er sie finden könnte. Sie war immer sicher gewesen, daß sie bis zum letzten Atemzug kämpfen würde. Was im Harrow geschehen war, hatte ihre Zuversicht stärker erschüttert, als sie es zugeben mochte. Es war ihr nicht gelungen, zu widerstehen, obwohl sie sich immer geschworen hatte, daß sie genau dies tun würde. Sie hatte Erschöpfung und Verzweiflung so gründlich in sich arbeiten lassen, daß sie sie ausgehöhlt hatten und sie beinahe zerfallen wäre. Sie erkannte, wie die Magie sie hin und her gezogen hatte, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, in die der Drakuls, in ihre eigene. Genauso wie Eowen eine Gefangene ihrer Visionen gewesen war, war Wren eine Gefangene der Elfenmagie geworden. Sie haßte sich dafür. Sie verachtete diejenige, zu der sie geworden war.

Ich bin nichts von dem, was ich zu sein geglaubt hatte, dachte sie verzweifelt. Ich bin eine Lüge.

Sie redete, um sich von diesen Gedanken freizumachen, sprach davon, was sie gesehen hatte, als sie den Harrow durchwandert hatte, und davon, wie die Windstimme der Drakuls sie eingeschläfert hatte. Sie erzählte auch, wie Eowen – so empfindsam für Visionen und Bilder – umgarnt worden sein mußte. Manchmal schweifte sie ab, denn der Klang ihrer Stimme half ihr, sich von düsteren Gedanken abzulenken, er hielt sie wach und in Bewegung. Sie dachte an die Toten von dieser Altptraumreise, besonders an Ellenroh und Eowen. Sie wurde von ihrem Verlust überwältigt, vom Gefühl der Hilflosigkeit zerstört, weil sie sie nicht hatte retten können. Sie fühlte Schuld, weil sie der Aufgabe, die die beiden ihr hinterlassen hatten, nicht gewachsen gewesen war. Sie umklammerte die Elfensteine in ihrer Hand und fühlte sich außerstande, sie wegzustecken, so sehr fürchtete sie, daß die Drakuls wiederkommen könnten. Sie taten es nicht. Nicht einmal die Windstimme flüsterte jetzt noch in der Dunkelheit. Sie war in die Erde zurückgeglitten und hatte sie allein gelassen. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit und empfand sie als eine Widerspiegelung der Leere in sich selbst. Die Welt war ein Ort geworden, den sie nicht mehr verstand. Sie konnte nicht einmal entscheiden, was das größere Übel war – die Monster oder die Erschaffer der Monster. Schattenwesen oder Elfen – wer sollte die Verantwortung tragen? Wo war das Gleichgewicht dem Leben gegenüber, das sich auf gelernten Lektionen und gewonnener Erfahrung gründete? Wo war das Gefühl, daß der Wahnsinn vergehen würde und daß ein Sinn hinter allem, was geschah, offenbart werden würde? Sie wußte keine Antworten. Die Magie hatte sie alle in ihren Strudel gezogen und würde sie fallenlassen, wo sie es für richtig hielt.

Diese Nacht schlug ihr größere Wunden, als sie für möglich gehalten hätte. Sie entkamen dem Harrow mit erschöpften und tauben Knochen. Sie waren erleichtert, ihm entflohen zu sein, und erpicht darauf, bald weiterzugehen. Sie wollten bis zur Dämmerung ausruhen und dann weiterziehen. Der größere Teil des Blackledge lag jetzt hinter ihnen, verborgen in den Schatten von Killeshans Vog. Vor ihnen, zwischen ihnen und dem Strand, war nur der In Ju. Sie würden den Dschungel schnell durchquert haben, in zwei Tagen, wenn sie sich beeilten, und in zwei weiteren würden sie die Ufer der Blauen Spalte erreichen. Schnell jetzt, drängten sie sich im stillen. Schnell, um freizukommen.

Sie erreichten die Stelle, an der sie ihre Begleiter zurückgelassen hatten, eine Lichtung mit einem Haufen von Lavabrocken im Schatten eines Gestrüpps aus dürrem Wein und verdorrten Sträuchern. Faun huschte durch die Dunkelheit. Er kam aus einiger Entfernung aus einem Versteck, schnatterte wild, sprang auf Wrens Schulter und kauerte sich dort hin, als gäbe es keinen anderen Zufluchtsort. Wren streichelte ihn beruhigend. Der Baumschreier zitterte vor Angst.

Dann fanden sie Dal. Er lag ausgestreckt am anderen Ende der Lichtung, ein lebloses Gewirr von Armen und Beinen mit tief gespaltenem Schädel. Triss beugte sich hinab und drehte den Elfenjäger um. Wie betäubt sah er dann wieder auf. Dals Waffen steckten noch immer in den Scheiden.

Wren wandte sich verzweifelt ab. Eine düstere Gewißheit hatte bereits von ihr Besitz ergriffen. Sie mußte nicht weitersuchen, um zu wissen, daß Gavilan Elessedil und der Ruhkstab verschwunden waren.

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