29

Sie brauchten den Rest des Tages, um das Festland zu erreichen. Die Sonne war ein schwacher Silberschmelz am westlichen Horizont, als die Küstenlinie schließlich sichtbar wurde, eine gezackte, schwarze Wand vor der hereinbrechenden Nacht. Die Dunkelheit war herabgesunken, und der Mond und die Sterne erschienen, als sie auf den Fels hinabsanken, der dem verlassenen Wing Hove vorgelagert war. Ihre Körper waren verkrampft und müde, und ihre Augen waren schwer. Die Sommergerüche von Blättern und Erde wehten aus dem Wald hinter ihnen heran, als sie sich zum Schlafen niederlegten. »Phfffttt! Ich könnte dieses Land lieben lernen, Wren von den Elfen«, sagte Stresa zu ihr, bevor sie einschlief.

Beim Morgengrauen flogen sie wieder hinaus und nördlich an der Küstenlinie entlang. Tiger Ty ritt eng an Spirits glatten Hals gepreßt, die Augen nach vorn gerichtet, und sprach mit niemandem. Er hatte Wren mit langem, rauhem Blick angesehen, als sie ihm gesagt hatte, wo sie hinwollte, und er hatte seitdem nicht mehr in ihre Richtung geschaut. Sie ritten auf den Luftströmen westlich über den Irrybis und Rock Spur und in den Sarandanon. Das Land schimmerte unter ihnen – grüne Wälder, schwarze Erde, azurblaue Seen, silberne Flüsse und regenbogenfarbene Wildblumenfelder. Die Welt unter ihnen erschien makellos und wie gemeißelt. Von dieser Höhe herab war die Krankheit nicht sichtbar, die das Land mit den Schattenwesen befallen hatte. Die Stunden vergingen langsam und träge, und waren für die Freunde erfüllt mit Erinnerungen. An solchen perfekten Tagen war ein Schmerz im Herzen spürbar, eine Sehnsucht danach, daß sie für immer andauern sollten. Sie quälte allein das Wissen, daß das Morgen anders sein würde, daß im Leben nur wenige Versprechen gehalten wurden.

Sie landeten am Mittag auf einer Wiese am Südrand des Sarandanon und aßen Obst und Käse und tranken Ziegenmilch, die Tiger Ty besorgt hatte. Vögel huschten durch die Bäume, und kleine Tiere huschten von Zweigen und verbargen sich in Erdlöcher. Faun beobachtete alles, als sähe der Schreier es zum ersten Mal. Stresa schnüffelte in die Luft, sein Katzengesicht verzog sich und legte sich in Falten. Triss hatte sich weit genug erholt, um jetzt allein sitzen und stehen zu können, obwohl er noch immer bandagiert und geschient war und sein kräftiges Gesicht von Narben und Verbrennungen gezeichnet blieb. Er lächelte Wren oft an, aber seine Augen blieben traurig und abwesend. Tiger Ty blieb weiterhin für sich. Wren wußte, daß er über ihre Pläne nachgrübelte und daß er sie danach fragen wollte, sich aber auch gleichzeitig dagegen sträubte. Sie lächelte über den wunderlichen Mann.

Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, setzten sie ihre Reise fort. Sie flogen das Tal hinab auf den Rill Song zu. Am frühen Nachmittag folgten sie in langsamem, stetigem Gleitflug dem Flußlauf in nördlicher Richtung dem Sonnenuntergang entgegen.

Die Dämmerung sank bereits herab, als sie den Carolan erreichten. Die Felswand richtete sich als scharfer Umriß vor dem östlichen Ufer des Flusses zu einem riesigen, leeren Felsen auf, der aus einer schützenden Wand aus aufragenden Hartholzbäumen und Klippen, die noch höher aufragten, hervorstieß. Der Fels bestand aus rohem Gestein, auf dem nur vereinzelte Flecken struppigen Grases wuchsen.

Auf dem Carolan war Arborlon entstanden. Von hier war die Stadt vor mehr als hundert Jahren fortgetragen worden.

Tiger Ty lenkte Spirit hinab, und der riesige Rock ließ sich weich in der Mitte des Felsens nieder. Die Reiter stiegen einer nach dem anderen ab. Wren und Tiger Ty waren Seite an Seite schweigend damit beschäftigt, Stresa auszuwickeln und ihn auf den Boden zu setzen. Sie standen einen Moment dicht beieinander und schauten über die leere Ebene auf die Dunkelheit des Waldes im Osten und den Felsabhang im Westen. Das Land dahinter war verschwommen von Schatten, und der Himmel war schwach purpurfarben und golden getönt.

»Ssssttt! Was für ein Ort ist das?« fragte Stresa unbehaglich und schaute über den verwüsteten Felsen.

»Die Heimat«, antwortete Wren wie aus weiter Ferne, irgendwo tief in sich selbst verloren.

»Die Heimat! Sssffft!« Der Stachelkater war entsetzt.

»Und was tun wir hier, wenn die Frage erlaubt ist?« fragte Tiger Ty bissig, denn er konnte sich nicht länger zurückhalten.

»Worum Allanons Schatten mich gebeten hat«, sagte sie.

Sie griff zu Spirits Geschirr hinauf und zog den Ruhkstab hervor. Das Walnußheft war beschädigt und verschmutzt und die einst glänzende Oberfläche stumpf und abgewetzt. In seiner Halterung schimmerte der Loden im verblassenden Licht mit dumpfer, schwacher Beständigkeit.

Sie hielt den Stab mit dem schweren Ende nach unten über die Erde und umfaßte ihn mit beiden Händen. Ihre Blicke richtete sie fest auf den Stein, und ihre Gedanken reisten wieder zurück nach Morrowindl, zu den langen, endlosen Tagen des Nebels und der Dunkelheit, zu den Dämonen, den Monstern und Fallgruben und all dem Schrecken, der aus der Elfenmagie entstanden war. Die Inselwelt erhob sich aus der Erinnerung und nahm sie mit sich, ein wilder, verdammter Geliebter, der für jedermann zu gefährlich war, um ihn zu halten. Die Gesichter der Toten zogen an ihr vorbei – Ellenroh Elessedil, der die Sorge für die Elfen übertragen worden war und die sie wiederum ihr übergeben hatte, Eowen, die zu vieles von dem gesehen hatte, was sein würde, Aurin Striate, der ihr Freund gewesen war, und Gavilan Elessedil, der es hätte sein können, Cort und Dal, ihre Beschützer, und Garth, der für sie all das auf einmal gewesen war. Sie grüßte sie still und ehrfurchtsvoll und versprach ihnen allen, daß ein gewisses Maß von dem, was gegeben worden war, zurückgegeben werden würde, daß sie die an sie weitergegebene Verantwortung übernehmen und nie vergessen würde, was es gekostet hatte, die Elfen in Sicherheit zu bringen.

Sie schloß die Augen und sperrte damit die Vergangenheit aus, öffnete sie wieder und sah in die Gesichter derer, die um sie versammelt waren. Ihr Lächeln war einen Augenblick lang das ihrer Großmutter. »Triss, Stresa, Tiger Ty und du, kleiner Faun – ihr seid jetzt meine besten Freunde, und ich möchte euch bitten, bei mir zu bleiben, wenn ihr könnt, mit mir zu leben, so lange ihr es könnt. Ich werde euch nicht festhalten – nicht einmal dich, Triss. Ich beanspruche euch in keiner Weise. Ich möchte, daß ihr euch frei entscheidet.«

Niemand sagte etwas. Unsicherheit schimmerte in ihren Augen und verriet ihre Verwirrung. Faun kam zu ihr und zog ängstlich an ihrem Bein.

»Nein, Kleiner«, sagte sie. Sie winkte den anderen. »Geht mit mir.«

Sie gingen über den Carolan – das Mädchen, der Elf, der Flugreiter, sein Rock und die zwei Geschöpfe von Morrowindl – und ihre Schatten folgten ihnen im Staub. Vogelgesang erhob sich aus den Bäumen und dem Felsgestein, als die Dunkelheit herniedersank, und der Gesang des Rill schäumte beständig unter ihnen.

Als sie den Rand der Klippe erreichten, wandte Wren sich um, trat dann mehrere Schritte zur Seite, so daß sie die anderen hinter sich ließ. Sie stand wieder mit Blickrichtung auf den gegenüberliegenden Fels und den Wald und schaute zurück in die Nacht, die sie umschloß. Über den Bäumen kamen Sterne hervor, helle Punkte vor der tiefer werdenden Dunkelheit. Wrens Hände legten sich fester um den Ruhkstab. Sie hatte diesen Moment seit Tagen erwartet, und jetzt, wo es soweit war, stellte sie fest, daß sie weder ängstlich noch aufgeregt, sondern lediglich erschöpft war. Einst hatte sie sich gefragt, ob sie in der Lage sein würde, die Magie des Loden anzurufen, wenn es an der Zeit wäre – wie sie sich entscheiden würde, wie sie sich fühlen würde. Sie hatte sich dies ohne Grund gefragt, dachte sie. Sie verspürte jetzt kein Zögern. Vielleicht hatte sie das schon immer gewußt. Oder vielleicht hatten sich alle Fragen im Laufe der Zeit von selbst gelöst. Es war auf jeden Fall nicht wichtig. Sie war im Frieden mit sich selbst. Sie wußte sogar, wie die Magie wirkte, obwohl ihre Großmutter es ihr nie erklärt hatte. Weil es nicht notwendig gewesen war? Weil es instinktiv geschah? Wren war sich nicht sicher. Es war genug, daß die Magie von ihr angerufen werden konnte und daß sie sich entschieden hatte, dies auch zu tun.

Sie atmete die warme Luft ein, als sauge sie das verblassende Licht auf. Sie lauschte auf den Klang ihres Herzens.

Dann stieß sie den Ruhkstab in die Erde, drehte ihn in ihren Händen und versenkte ihn in den Boden. Erdenmagie, hatte Eowen ihr gesagt. Alle Elfenmagie war Erdenmagie, ihre Macht wurde aus den Elementen in ihr gezogen. Was von dort kam, mußte notwendigerweise auch wieder an sie zurückgegeben werden.

Ihr Blick konzentrierte sich auf die schimmernden Facetten des Loden. Die Welt um sie herum wurde ruhig und still.

Ihre Hände lockerten den Griff um den Stab, ihre Finger lagen federleicht auf dem knorrigen, polierten Holz wie die Liebkosung einer Liebenden. Sie mußte sie nur anrufen, wie sie wußte. Es nur denken, nicht mehr. Es nur wollen. Einfach ihren Geist ihrer Existenz öffnen, ihrem Leben jenseits der Beschränkungen des Steins. Erwäge es nicht, stelle es nicht in Frage. Rufe sie an. Bring sie zurück. Bitte um sie.

Ja.

Ich tue es.

Der Loden flammte hell auf wie eine Quelle weißen Lichts, das aus der Dunkelheit hervorsprang wie Feuer und sich dann mit blendender Helligkeit aufbaute. Wren fühlte den Ruhkstab in ihren Händen erzittern und heiß werden. Sie festigte ihren Griff darum, ihre Augen blinzelten gegen die Helligkeit an und senkten sich dann in die Schatten. Das Licht erhob sich und begann sich auszubreiten. Umrisse und Bewegung waren darin zu sehen. Und plötzlich kam Wind auf, ein Wind, der aus dem Nichts zu kommen schien, der über den Fels peitschte, das Licht mit sich riß und es über die kahle Ebene zu den Bäumen und Felsen trug und wieder zurück und es von einem Ende zum anderen verbreitete. Der Wind brüllte, und doch fehlte es ihm an Kraft und Wirkung, während er vorbeirauschte, ganz Klang und Helligkeit, während er das Licht verschlang.

Wren versuchte zu ihren Begleitern zurückzuschauen, um sich zu versichern, daß sie in Sicherheit waren, daß die Magie ihnen keinen Schaden zugefügt hatte, aber sie konnte ihren Kopf anscheinend nicht drehen. Ihre Hände waren jetzt fest um den Ruhkstab geklammen, und sie wurde damit verbunden, in seine Wirkung verstrickt, ihm allein übergeben.

Das Licht füllte die Felsenebene jetzt vollständig aus, baute sich auf sich selbst auf, erhob sich, bis die Bäume und die Klippen, die sie umgeben hatten, gänzlich verschwunden waren, bis der Himmel sich darunter gemischt hatte und alles silbern angehaucht war. Es gab ein Geräusch, wie ein Aufreißen der Erde und der Felsen, und dann ließ sich etwas Schweres nieder. Durch ihre Lider konnte sie die Umrisse im Licht groß werden und Gestalt als Gebäude und Bäume, Straßen und Wege annehmen sehen. Wiesen und Parks erschienen. Arborlon entstand erneut. Sie beobachtete, wie es sich materialisierte, als sehe sie es verschwommen und unbestimmt von einem regennassen Fenster aus. In seiner Mitte stand der Ellcrys, wie ein silbern und scharlachrot glühender Bogen im Nebel. Sie spürte, wie ihre Kraft nachließ, wie die Macht der Magie sie zu ihrem eigenen Gebrauch von ihr nahm, und sie bemerkte, daß es sie Mühe kostete, aufrecht stehen zu bleiben. Weißes Licht wirbelte umher und drehte sich wie Wolken vor einem Sturm. Es nahm an Kraft zu, bis es schien, als müsse es mit brüllendem Donner über allem explodieren.

Dann begann es zu verblassen und in die Dunkelheit zurückzusickern wie Wasser in den Sand.

Es war vorbei. Wren wußte es. Sie konnte Arborlon im Dunst erkennen, konnte die Leute ausmachen, die in Gruppen am Rande der Helligkeit standen und zu erkennen versuchten, was außerhalb lag. Sie hatte getan, um was ihre Großmutter sie gebeten hatte, um was Allanon sie gebeten hatte, und hatte all das ausgeführt, womit sie von anderen beauftragt worden war – aber noch nicht das, was sie sich selbst aufgetragen hatte. Denn es würde niemals genug sein, die Elfen und ihre Stadt einfach dem Westland zurückzugeben. Es würde niemals genug sein, sie den Vier Ländern zurückzugeben, ein Volk, das aus dem selbstauferlegten Exil zurückgekehrt war. Nicht nach der Zeit auf Morrowindl. Nicht, solange sie die Wahrheit über die Schattenwesen kannte. Nicht, solange sie mit dem Entsetzen der Möglichkeit lebte, daß die Magie erneut mißbraucht werden könnte. Die Leben der Elfen waren ihr unter anderen Bedingungen anvertraut worden, doch sie würde sie ihnen zu ihren eigenen Bedingungen zurückgeben.

Sie legte ihre Hände fest um den Ruhkstab und sandte, was von seiner Magie geblieben war, hoch hinauf in das Licht, so daß sie sich in die Erde brannte, alles, was davon übriggeblieben war, alles, was jemals sein konnte. Sie leitete die Magie in einen letzten Zornesausbruch, der ein Feuerprasseln explodierend durch die schimmernde Luft sandte. Sie schoß hinaus wie ein Blitz. Es hörte nicht auf. Wren gab alles, leerte den Stab und den Stein, leitete die Macht fort wie totes Holz in einem Feuer, bis die Reste davon schließlich ein letztes Mal aufflackerten und erstarben.

Die Dunkelheit kehrte zurück. Dunst hing kurze Zeit in der Nachtluft, verteilte sich zu Staubteilchen und begann sich niederzulassen. Sie folgte den Wirbeln mit dem Blick, sah jetzt Gras unter ihren Füßen, wo vorher kein Gras gewesen war, roch die Düfte der Bäume und Blumen, von Essen auf dem Feuer, von Holz und Eisen und von Leben. Sie schaute an der dunklen Linie des Ruhkstabes vorbei zur Stadt, zu Arborlon, das zurückgekehrt war, zu erleuchteten Gebäuden, Straßen und Alleen, die sich in der Länge und der Breite ausstreckten wie dunkle Bänder.

Und ihr Volk, die Elfen, stand vor ihr, Tausende von ihnen waren am Rande der Stadt versammelt und schauten mit großen Augen und wunderten sich. Elfenjäger standen mit gezogenen Waffen in vorderster Front. Sie stand ihnen gegenüber, sah ihre Augen, die auf sie gerichtet waren, sah auf den Stab in ihrer Hand. Sie war sich des ungläubigen Gemurmels von Tiger Ty bewußt, war sich bewußt, daß Triss herankam und sich neben sie stellte, war sich der Gegenwart von Stresa und Faun bewußt. Sie konnte ihre Hitze an ihrem Rücken spüren, kleine Berührungen, die auf ihrer Haut züngelten.

Barsimmon Oridio und Eton Shart lösten sich aus der Menge und kamen langsam auf sie zu. Als sie bis auf ein Dutzend Schritte herangekommen waren, blieben sie stehen. Keiner von beiden schien sprechen zu können.

Wren nahm das schwere Gewicht von dem Ruhkstab und richtete sich auf. Zum ersten Mal schaute sie zum Loden hinauf. Die schimmernden Facetten waren in Dunkelheit getaucht. Die Magie war in die Erde zurückgeflossen. Der Loden hatte sich in einen gewöhnlichen Stein verwandelt.

Sie hielt den Ruhkstab nahe an ihr Gesicht und sah, daß er verkohlt war, brüchig und tot. Nachdem sie ihn fest in beide Hände genommen hatte, führte sie ihn hinunter über ihr Knie, zerbrach ihn und warf die Überreste zu Boden.

»Die Elfen sind zu Hause«, sagte sie zu den beiden, die mit offenem Mund vor ihr standen, »und wir werden niemals wieder fortgehen.«

Triss trat hinter sie, sein Körper noch immer geschient und bandagiert, aber seine Augen waren von Stolz und Entschlossenheit erfüllt. Er trat an eine Stelle, an der er von allen gesehen werden konnte, trat nahe zu dem Hauptmann der Leibgarde und dem Ersten Minister und rief: »Leibwache!«

Sie erschienen sofort, Dutzende von ihnen, und versammelten sich aufgereiht vor ihrem Hauptmann. Ein Murmeln erhob sich aus der Menge. Eine Ahnung.

Dann wandte Triss sich nach Wren um, fiel langsam auf ein Knie und legte seine rechte Hand als Ehrenbezeigung über sein Herz. Hinter ihm flackerten die Laternen der Stadt wie Glühwürmchen in der Dunkelheit. »Wren Elessedil, Königin der Elfen!« verkündete er. »Die Leibgarde steht zu Eurer Verfügung!«

Seine Elfenjäger folgten seinem Beispiel wie ein Mann, knieten nieder und wiederholten seine Worte in einem wirren Gemurmel. Einige Elfen in der Menge taten es ihnen gleich. Es wurden immer mehr. Eton Shart kniete sich hin und dann nach einem Moment des Zögerns auch Barsimmon Oridio. Ob sie es aus Erkenntnis der Wahrheit oder einfach als Antwort auf Triss taten, sollte Wren niemals erfahren. Sie stand regungslos da, während sie vor ihr knieten: Das ganze Elfenvolk, die Aufgabe, die Ellenroh ihr übertragen hatte, ihr wiedergefundenes Volk.

Tränen standen in ihren Augen, als sie vortrat, um sie zu begrüßen. Der Keep des Druiden erschauerte ein letztes Mal wie ein massiver Steinriese, der sich im Schlaf bewegt. Dann wurde er still.

Cogline wartete gegen den schweren Lesetisch gelehnt, die Augen geschlossen, den Kopf gebeugt, und vergewisserte sich, daß seine Kraft zurückgekehrt war. Er stand einmal mehr innerhalb des Gewölbes, das die Druidengeschichten umschloß. Hier hatte er nach seiner Suche nach Walker Boh wieder zu sich selbst gefunden, nachdem er seinen Körper auf die alte Druidenart verlassen hatte. Er hatte Walker gefunden und ihn gewarnt, hatte aber nicht bleiben können – er war jetzt zu schwach, zu alt, ein Gewirr aus Knochen voller Steifheit und Schmerz. Es hatte ihn all seine Kraft gekostet, nur so viel zu tun, wie er getan hatte.

Er wartete, und die Erschütterungen kehrten nicht wieder.

Schließlich stieß er sich hoch, löste seinen Griff um den Tisch, öffnete seine Augen und sah sich aufmerksam um. Das erste, was er sah, war er selbst – seine Hände und Arme, dann seinen Körper. Er sah sich ganz – und er war wieder vollständig er selbst. Er hielt den Atem an, rieb versuchsweise seine Hände gegeneinander und berührte sich, um sich zu vergewissern, daß das, was er sah, real war. Die Transparenz war fort, er bestand wieder aus Fleisch und Blut. Rumor drängte sich gegen ihn. Sein großer Kopf stieß so hart gegen seinen vogelscheuchenartigen Körper, daß er den alten Mann umzuwerfen drohte. Die Moorkatze war auch wieder sie selbst, nicht mehr nur schwache Linien und Schatten, nicht mehr gespensterhaft.

Und der Raum war verändert. Seine Steinmauern waren hart und deutlich, seine Farben scharf abgegrenzt, und seine Umrisse und Oberflächen wurden von Materie und Licht gebildet.

Cogline atmete tief und langsam durch. Walker hatte es erreicht. Er hatte Paranor in die Welt der Menschen zurückgebracht.

Cogline ging aus dem kleinen Raum durch das Studierzimmer und weiter zu den Gängen des Keep. Rumor trottete hinter ihm her. Sonnenlicht erfüllte die Gänge und strömte durch die hochgelegenen Fenster. Staubteilchen tanzten in dem Glühen. Der alte Mann erhaschte einen Blick auf weiße Wolken an einem blauen Himmel. Der Geruch von Bäumen und Gräsern wehte durch die Sommerluft.

Zurück.

Lebend.

Er begann nach Walker zu suchen und ging durch die Gänge des Keep. Seine Schritte schabten leise auf dem Gestein. Vor sich konnte er das schwache Rauschen von etwas hören, das sich aus dem Innern des Schlosses erhob, ein leise polterndes Geräusch, ein Aufbrausen wie... Und dann wußte er es. Es war das Feuer, das den Keep vom Kern der Erde her unterhielt, Feuer, das all diese Zeit kalt und tot gewesen war und jetzt mit der Rückkehr von Paranor wieder zum Leben erwachte.

Er wandte sich dem Gang zu, der zu dem Schacht unter dem Keep führte.

In den Schatten vor ihm bewegte sich etwas.

Cogline verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen. Rumor kauerte sich nieder und knurrte. Eine Gestalt materialisierte sich aus der Dunkelheit und trat aus einer Nische hervor, die das Sonnenlicht nicht erreichen konnte. Sie war ganz schwarz und ohne bestimmte Züge. Die Gestalt näherte sich, das Licht ließ sie deutlicher werden, und ein Mann in einer Kutte mit einer Kapuze trat groß und dünn vor die Dunkelheit und bewegte sich langsam, aber zielbewußt auf ihn zu.

»Walker?« fragte Cogline.

Der andere antwortete nicht. Als er nur noch kaum ein Dutzend Fuß von ihm entfernt war, blieb er stehen. Rumors Knurren war nur noch ein schwerer Atem. Der Arm des Mannes hob sich, und er zog die Kapuze zurück.

»Sage mir, was du siehst«, sagte Walker Boh.

Cogline sah ihn an. Es war Walker, und doch war er es auch wieder nicht. Seine Züge waren dieselben, aber er war irgendwie größer, und sogar mit seiner weißen Haut schien er so schwarz wie nasse Asche, sein Gesichtsausdruck so dunkel, daß es schien, als würde er jegliches herannahende Licht aufsaugen. Sein Körper machte sogar unter der Kleidung den Eindruck, als sei er gepanzert. Sein linker Arm fehlte noch immer. Seine rechte Hand hielt den Schwarzen Elfenstein.

»Sage es mir«, bat Walker ihn erneut.

Cogline schaute in seine Augen. Sie waren eben und hart und ohne Tiefe, und er hatte das Gefühl, als schauten sie direkt durch ihn hindurch.

»Ich sehe Allanon«, antwortete der alte Mann weich.

Ein Schaudern durchlief Walker Boh und verging wieder. »Er ist jetzt ein Teil von mir, Cogline. Das war es, was er zur Bewachung des Keep zurückgelassen hat, als er ihn aus den Vier Ländern fort sandte. Das war es, was mich in dem Nebel erwartete. Sie waren alle da, alle Druiden – Galaphile, Bremen, Allanon, alle. So haben sie ihr Wissen weitergegeben, einer an den anderen – es ist eine Art Verbindung des Geistes mit dem Fleisch. Bremen trug alles in sich, als er der letzte Druide wurde. Er gab es an Allanon weiter, der es dann wiederum an mich weitergab.«

Seine Augen strahlten, und es brannten Feuer darin, die Cogline sich nicht erklären konnte. »An mich!« schrie Walker Boh plötzlich auf. »Ihre Lehren, ihr Wissen, ihre Geschichte, ihren Wahnsinn – all das, dem ich so lange Zeit mißtraut und das ich umgangen habe! Er hat das alles an mich weitergegeben!«

Er zitterte, und Cogline hatte plötzlich Angst. Dieser Mann, den er so gut gekannt hatte, sein Schüler, zeitweise sein Freund, war jetzt jemand anderer, ein Mann, der so endgültig ein anderer war, wie der Tag sich zur Nacht wandelt.

Walkers Hand schloß sich über dem Schwarzen Elfenstein, als er ihn vor sich ausstreckte. »Es ist vollbracht, alter Mann, und es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Allanon hat seine Druiden und seinen Keep jetzt wieder in der Welt der Menschen. Er hat die Aufgabe, die er mir gestellt hat, erfüllt bekommen. Und er hat seine Seele in mich versenkt!« Seine Hand senkte sich, als würde sie von einem Gewicht zu Boden gedrückt. »Er will, daß die Druiden in mir weiterleben. Brin Ohmsfords Vermächtnis. Er gab mir die Macht, sein Wissen, sein Verständnis, seine Geschichte. Er gab mir sogar sein Gesicht. Du siehst mich an, und du siehst ihn.«

Ein verträumter Blick trat in seine dunklen Augen. »Aber ich habe meine eigene Kraft, eine Kraft, die ich dadurch gewonnen habe, daß ich die Riten jenes Übergangs, den er für mich festgesetzt hat, überlebt habe. Ich habe das Entsetzen überwunden, zu erkennen, was es bedeutet, ein Druide zu werden. Ich bin nicht vollständig verändert worden, auch in diesem Punkt nicht.«

Er sah Cogline hart an, trat dann auf ihn zu und legte seinen Arm um die dünnen Schultern. »Du und ich, Cogline«, flüsterte er. »Die Vergangenheit und die Zukunft, wir sind alles, was von den Druiden übriggeblieben ist. Es wird interessant sein zu sehen, ob wir etwas bewirken können.«

Er wandte den alten Mann langsam um, und zusammen begannen sie den Gang zurückzugehen. Rumor schaute einen Moment hinter ihnen her, beschnüffelte den Boden, wo Walker Boh entlanggegangen war, als versuche er, seinen Geruch auszumachen, und trottete dann vorsichtig hinterher.

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