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Bei Sonnenaufgang des nächsten Tages nahmen Wren und Garth ihre Reise Richtung Süden und ihre Suche nach den Höhlen der Rocks wieder auf. Es war eine Reise, die viel Vertrauen verlangte, denn während sie Teile der Küstenlinie bereisten, hatten sie beide keine Höhlen gesehen, die groß genug gewesen wären, um das zu sein, wonach sie suchten. Und sie hatten auch niemals einen Rock gesehen. Beide hatten sie Geschichten über die legendären Vögel gehört – Lebewesen mit breiten Flügeln, die einst Menschen getragen hatten. Aber die Geschichten waren eben nur Geschichten, Erzählungen an den Lagerfeuern, die die Zeit vertrieben und Bilder von Dingen heraufbeschworen, die es vielleicht gegeben hatte, aber wahrscheinlich wohl doch nie. Es wurde natürlich erzählt, sie seien gesehen worden, wie das bei jedem Märchenmonster üblich ist. Aber keine dieser Aussagen war zuverlässig. Wie die Elfen hatten sich auch die Rocks offensichtlich den Blicken entzogen. Und dennoch, es mußte keine Rocks geben, damit es auch Elfen gab. Die Hinweise der Addershag könnten sich in jedem Fall als richtig erweisen. Sie mußten nur die Höhlen entdecken, ob mit Rocks oder ohne, das Signalfeuer entfachen und drei Tage warten. Dann würden sie die Wahrheit erfahren. Es war sehr gut möglich, daß die Wahrheit sie enttäuschen würde, natürlich, aber da sie beide diese Möglichkeit sahen und akzeptierten, gab es keinen Grund, nicht weiterzumachen. Ihr einziges Eingeständnis der Mühsal, die ihr Vorhaben für sie bedeutete, war, daß sie entschieden das Gespräch darüber vermieden.

Der Tag zog klar und frisch herauf, der Himmel war wolkenlos und blau, der Sonnenaufgang eine helle Woge über dem östlichen Horizont, von dem sich die Berge als starres, gezacktes Relief abhoben. Die Luft war von den verschiedenen Gerüchen des Meeres und des Waldes erfüllt, und der Gesang von Staren und Spottdrosseln stieg aus den Bäumen empor. Der Sonnenschein vertrieb schnell die Kühle der Nacht und wärmte das unter ihm liegende Land. Hitze breitete sich aus, dicht und drückend, wo sie von den Bergen aufgehalten wurde, und sengend über den Ebenen und Hügeln, wo sie das Gras immer mehr zu einem staubigen Braun verbrannte, wie schon den ganzen Sommer über. An der Küste jedoch blieb es kühl und angenehm, da eine ständige Brise vom Wasser her blies. Wren und Garth hielten ihre Pferde in Bewegung und folgten den engen, gewundenen Pfaden, die an den den östlichen Bergen vorgelagerten Klippen und Stranden entlangführten. Sie hatten es nicht eilig. Sie hatten soviel Zeit, wie sie brauchten, um an ihr Ziel zu gelangen. Es war genug Zeit, um beim Durchqueren dieses unbekannten Landes vorsichtig zu sein – genug Zeit, ein Auge auf ihren Schatten zu haben, falls er ihnen noch immer folgte.

Aber sie waren entschlossen, auch darüber nicht zu sprechen. Diese Entscheidung, nicht darüber zu sprechen, hielt Wren jedoch nicht davon ab, darüber nachzudenken. Sie bemerkte, daß sie während des Rittes darüber nachsann, was dort hinter ihnen sein könnte. Sie ließ ihre Gedanken frei wandern, während sie über die Weite der Blauen Spalte hinwegschaute und ihr Pferd seinen Weg suchen ließ. Ihre schlimmste Ahnung warnte sie, daß das, was ihnen folgte, etwas Ähnliches sein könnte, wie das, was Par und Coll auf ihrer Reise von Culhaven nach Hearthstone gefolgt war, als sie Walker Boh suchten – ein Wesen wie der Gnawl. Aber konnte selbst ein Gnawl ihnen so vollständig aus dem Weg gehen, wie es ihrem Schatten bisher gelungen war? Konnte etwas, das seinem Wesen nach ein Tier war, sie wieder und wieder finden, wo sie doch so sehr bemüht gewesen waren, ihm zu entkommen? Es war eigentlich wahrscheinlicher, daß das, was ihnen folgte, ein Mensch war – mit der Verschlagenheit und Intelligenz und den Fähigkeiten eines Menschen. Ein Sucher vielleicht – gesandt von Felsen-Dall, einem Fährtensucher mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, oder auch ein gedungener Mörder, obwohl der mehr als das sein müßte, um ihnen so erfolgreich auf den Fersen bleiben zu können.

Es war auch denkbar, dachte sie, daß es überhaupt kein Feind war, der da hinter ihnen war, sondern etwas anderes. »Freund« war wohl kaum das richtige Wort, vermutete sie, aber vielleicht jemand, der ein Ziel verfolgte, das dem ihren ähnlich war, jemand, der ein Interesse an den Elfen hatte, jemand, der... Sie verwarf den Gedanken. Schließlich war da jemand, der darauf bestand, im Verborgenen zu bleiben, obwohl er wußte, daß Garth und sie entdeckt hatten, daß sie verfolgt wurden. Jemand, der fortfuhr, ganz bewußt mit ihnen Katz und Maus zu spielen. Ihr schlimmster Verdacht tauchte wieder auf und verdrängte alle anderen Möglichkeiten.

Um die Mittagszeit hatten sie den nördlichen Rand des Irrybis erreicht. Die Berge teilten sich in zwei Richtungen, die hohe Bergkette verlief nach Osten, parallel zu dem im Norden liegenden Rock Spur, und umschloß den Wilderun, die niedrige Bergkette an der Küstenlinie entlang, der sie auf ihrem Weg nach Süden folgten. Der an der Küste gelegene Teil des Irrybis war dicht bewaldet und weniger gewaltig, in Stufen an der Blauen Spalte entlang angelegt, Täler und Grate schützend und Pässe bildend, die die Hügel im Inland mit den Stranden verbanden. Dennoch kamen sie langsamer voran, weil die Wege kaum noch zu erkennen waren und auf langen Strecken oft völlig verschwanden. Manchmal ragten die Berge direkt am Wasser auf und fielen in abschüssigen, unpassierbaren Klippen ab, so daß Wren und Garth vorsichtig zurückreiten mußten, um einen anderen Weg zu suchen. Auch große Holzhaufen blockierten ihren Weg und zwangen sie, um sie herum zu gehen. Sie stellten fest, daß sie sich von den Stranden entfernten und sich den Bergpässen näherten, wo das Land offener und zugänglicher war. Sie arbeiteten sich langsam voran, während sie zusahen, wie die Sonne gen Westen trieb und schließlich im Meer versank. Die Nacht verging ohne Zwischenfälle und bei Tagesanbruch waren sie bereits wieder auf den Beinen und machten sich auf den Weg.

Die Morgenkälte wich erneut der Mittagshitze. Die Meeresbrise, die den Tag zuvor für Kühlung gesorgt hatte, war auf den Pässen weniger spürbar, und Wren stellte fest, daß sie stark schwitzte. Sie schob ihr zerzaustes Haar zurück, band sich ein Tuch um den Kopf, schüttete sich Wasser ins Gesicht und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Erinnerungen an ihre Kindheit in Shady Vale stiegen in ihr hoch und sie versuchte erneut, sich daran zu erinnern, wie ihre Eltern gewesen waren. Wie schon so oft stellte sie fest, daß sie es nicht konnte. Denn das, woran sie sich erinnerte, war vage und bruchstückhaft – Teile von Unterhaltungen, kleine Augenblicke oder Wörter oder aus dem Zusammenhang gerissene Sätze. Alles, was sie sich in Erinnerung rief, konnte genauso gut etwas mit Pars Eltern zu tun haben wie mit ihren eigenen. Hing es mit ihren Eltern zusammen – oder hing es mit Jaralan und Mirianna Ohmsford zusammen? Hatte sie ihre Eltern jemals richtig gekannt? Waren sie jemals mit ihr in Shady Vale gewesen? Man hatte ihr das erzählt. Man hatte ihr erzählt, sie wären gestorben. Sie konnte sich jedoch nicht daran erinnern. Warum nur? Warum war ihr nichts über sie in Erinnerung geblieben?

Sie schaute zurück zu Garth, und ihre Verwirrung spiegelte sich in ihren Augen. Rasch sah sie wieder woanders hin, denn sie wollte nichts erklären müssen.

Mittags machten sie eine Pause, um zu essen, und ritten dann weiter. Wren fragte Garth nach ihrem Schatten. Folgte er noch immer? Spürte er etwas? Garth zuckte die Achseln und signalisierte, daß er nicht mehr sicher war und sich in diesem Punkt selbst nicht traute. Wren runzelte die Stirn, aber Garth wollte nicht mehr sagen. Sein dunkles Gesicht war undurchdringlich. Der Nachmittag verging, während sie einen Grat überquerten, über den vor einem Jahr ein wütendes Waldfeuer hinweggefegt war. Das hatte das Land so eingeebnet, daß nur noch die geschwärzten Stümpfe des alten Bewuchses und die ersten grünen Sprößlinge des neuen zu sehen waren. Von der obersten Kante des Grates konnte Wren meilenweit über das Land hinter ihnen zurückschauen, ohne daß ihr Blick irgendwo aufgehalten wurde. Es gab nichts, wo sich ihr Schatten hätte verstecken können, keinen Weg, den er ungesehen hätte nehmen können. Wren hielt sorgfältig Ausschau nach ihm und sah nichts.

Und doch wollte das Gefühl, daß er noch immer dort hinter ihnen war, sie nicht verlassen.

Beim Einbruch der Nacht gelangten sie wieder an den Rand einer hohen, engen Klippe, die steil zum Meer hin abfiel. Unterhalb des Pfades, den sie entlangritten, krachten und donnerten die Wasser der Blauen Spalte gegen die Klippen, und Meeresvögel kreisten und schrien über dem weißen Schaum. Sie schlugen ihr Lager in einem Erlenhain auf, in der Nähe eines Flusses, der aus den Gebirgsfelsen herabrann und sie mit Trinkwasser versorgte. Zu Wrens Überraschung entfachte Garth ein Feuer, so daß sie eine warme Mahlzeit zubereiten konnten. Als Wren ihn fragend anschaute, hob der hochgewachsene Fahrende den Kopf und bedeutete ihr, daß ihr Schatten, sofern er ihnen immer noch folgte, auch weiterhin abwarten würde. Sie hatten noch nichts zu befürchten. Wren war nicht so sicher, aber Garth schien zuversichtlich, so daß sie das Thema fallenließ.

In dieser Nacht träumte sie von ihrer Mutter, der Mutter, an die sie sich nicht erinnern konnte und von der sie nicht wußte, ob sie sie jemals gekannt hatte. Im Traum hatte ihre Mutter keinen Namen. Sie war eine kleine, wendige Frau mit demselben aschblonden Haar, wie Wren es hatte, und den haselnußbraunen Augen. Ihr Gesicht war warm und offen und besorgt. Ihre Mutter sagte zu ihr: »Erinnere dich an mich.« Wren konnte sich aber nicht an sie erinnern. Sie hatte nichts, was sie an ihre Mutter erinnert hätte. Und doch wiederholte sie die Worte immer und immer wieder. Erinnere dich an mich. Erinnere dich an mich.

Als Wren aufwachte, blieb ihr das Bild vom Gesicht ihrer Mutter und der Klang ihrer Worte. Garth schien nicht zu bemerken, wie aufgewühlt sie war. Sie zogen sich an, frühstückten, packten ihre Sachen und ritten erneut los – und die Erinnerung an den Traum blieb. Wren begann sich zu fragen, ob der Traum die Wiederbelebung einer Wahrheit sein konnte, die sie über die Jahre irgendwie in sich verschlossen gehalten hatte. Vielleicht war es wirklich ihre Mutter gewesen, von der sie geträumt hatte, das Gesicht ihrer Mutter, an das sie sich nach all den Jahren erinnert hatte. Sie zögerte, es zu glauben, es widerstrebte ihr aber gleichzeitig auch, diese Möglichkeit von sich zu weisen. Sie ritt schweigend weiter und versuchte vergeblich, sich klarzuwerden, welche Möglichkeit sie am Ende mehr verletzen würde.

Der frühe Morgen kam und ging, und die Hitze wurde drückend. Als die Sonne hinter den Berggipfeln aufstieg, erstarb die Brise vom Meer vollständig. Die Luft wurde bleischwer. Wren und Garth führten ihre Pferde, um ihnen eine Verschnaufpause zu verschaffen, und folgten der Klippe, bis sie vollständig verschwand und sie sich auf einem felsigen Pfad wiederfanden, der zu einer riesigen Ansammlung von Felsen hinaufführte. Schweiß perlte und trocknete auf ihrer Haut, während sie wanderten, und ihre Füße wurden müde und wund. Die Meeresvögel verschwanden. Sie hatten ihre Rastplätze aufgesucht und warteten auf die Kühle des Abends, um sich dann wieder hervorzuwagen und erneut zu fischen. Das Land wurde still, wie auch sein verborgenes Leben. Als einziger Laut war das träge Aufschlagen der Wellen der Blauen Spalte auf die felsigen Strande zu hören. Weit draußen am Horizont begannen sich dunkel und bedrohlich Wolken zusammenzuballen. Wren schaute zu Garth. Vor Einbruch der Nacht würde ein Sturm aufkommen.

Der Pfad, dem sie folgten, schlängelte sich weiter aufwärts zu den Gipfeln der Klippen. Die Bäume wurden immer spärlicher, zuerst die Fichten und Tannen und Zedern, dann auch die kleinen, biegsamen Erlen. Der Fels lag nackt und offen unter der Sonne und strahlte die Hitze in dichten, schwerfälligen Wogen wieder ab. Vor Wrens Augen begann die Umgebung zu verschwimmen, und sie machte eine Pause, um ihr Stoffstirnband zu tränken. Garth wandte sich um und wartete ruhig auf sie. Als sie nickte, setzten sie ihren Weg eilig fort. Sie waren bemüht, diese anstrengende Kletterpartie hinter sich zu bringen.

Es war fast Mittag, als sie es schließlich geschafft hatten. Die Sonne stand direkt über ihnen, weißglühend und brennend. Die Wolken, die sich zuvor zusammengeballt hatten, zogen schnell landeinwärts, und es lag eine greifbare Ruhe in der Luft. Als sie am Ende des Pfades angelangt waren, schauten Wren und Garth sich prüfend um. Sie standen am Rande einer Gebirgsebene, die von schweren Gräsern zugewachsen und mit Reihen gekrümmter, windgebeugter, tannenähnlicher Bäume bestanden war. Die Ebene verlief zwischen hohen Gebirgszügen und dem Meer nach Süden, so weit das Auge reichte, eine weite, ungleichmäßige Ansammlung von Niederungen, über der dicht und unbeweglich schwüle Luft hing.

Wren und Garth schauten sich erschöpft an und begannen dann, die Ebene zu durchqueren. Über ihnen schoben sich die sturmbeladenen Wolken langsam vor die Sonne. Schließlich verhüllten sie diese vollständig, und eine schwache Brise kam auf. Die Hitze nahm ab, und Schatten begannen das Land zu überziehen, rastlose Wanderer durch das anhaltende Hitzeflimmern. Wren ließ das Stirnband in ihre Tasche gleiten und wartete darauf, daß ihr Körper abkühlte.

Sie entdeckten das Tal danach: einen tiefen Einschnitt in der Ebene, der versteckt lag, bis man fast darüber stand. Das Tal war fast eine halbe Meile breit, wettergeschützt durch eine Reihe wulstähnlicher Hügel im Osten und eine Erhöhung der Klippen im Westen sowie durch dichte Baumgruppen, die es von Wand zu Wand ausfüllten. Flüsse rannen durch das Tal. Sogar von oberhalb des Randes aus konnte Wren das Gurgeln hören, das an den Felsen entlang in Rinnen hinablief. Sie folgte Garth, der sie führte, in das Tal, fasziniert von der Aussicht, was sie dort vielleicht finden würden. Nach kurzer Zeit kamen sie auf eine Lichtung. Die Lichtung war dicht mit Gräsern und kleinen Bäumen bestanden, zeigte aber keinen alten Bewuchs. Ein schneller Blick zeigte ihnen die Überreste von Steinfundamenten, die unter dem Gestrüpp verborgen lagen. Der alte Bewuchs war entfernt worden, um Platz für Behausungen zu schaffen. Hier hatten einst Menschen gelebt – viele Menschen.

Wren schaute sich nachdenklich um. War es das, was sie suchten? Sie schüttelte den Kopf. Es gab keine Höhlen – zumindest nicht hier, aber...

Sie überlegte nicht weiter, sondern machte Garth eilig ein Zeichen, bestieg ihr Pferd und ritt auf die Klippen im Westen zu. Sie ritten aus dem Tal heraus zu den Felsen, die es vom Meer trennten. Die Felsen waren fast baumlos, aber Gestrüpp und Gräser wuchsen aus jedem Riß und jedem Spalt. Wren steuerte auf den höchsten Punkt zu, der wie ein Sims über die Klippen und das Meer hinausragte. Als sie oben waren, stieg sie ab. Sie ließ ihr Pferd zurück und ging zu Fuß weiter. Der Felsen war hier nackt, eine weite Landsenke, auf der anscheinend nichts wachsen konnte. Sie betrachtete sie einen Moment. Sie erinnerte sie an eine Feuergrube, von den Flammen blankgefegt und gereinigt. Sie vermied es, Garth anzuschauen, sondern trat an den Rand. Der Wind blies jetzt beständig und fuhr ihr in plötzlichen Böen ins Gesicht, als sie hinabschaute. Garth trat leise neben sie. Die Klippen fielen steil ab. Gestrüpp wuchs in dichten Inseln aus den Felsen heraus. Kleine blaue und gelbe Blumen blühten. Sie wirkten seltsam fehl am Platze. Weit unten rollte das Meer auf einer schmalen, leeren Küstenlinie aus. Wellen türmten sich auf, als der Sturm herannahte, und verwandelten sich in weißen Schaum, als sie sich an den Felsen brachen.

Wren betrachtete das Gefälle lange Zeit. Die zunehmende Dunkelheit machte es schwer, alles deutlich zu sehen. Schatten überlagerten die Sicht, und die Bewegung der Wolken trieb das Licht über die Felsen.

Die Fahrende runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte nicht mit dem, worauf sie schaute. Irgend etwas war falsch. Sie konnte nicht sagen, was es war. Sie ließ sich auf die Fersen nieder und wartete auf eine Antwort.

Schließlich wußte sie es. Es gab nirgends Meeresvögel – nicht einen einzigen.

Sie überlegte, was das bedeuten könnte, wandte sich dann Garth zu und signalisierte ihm, er solle warten. Sie erhob sich und ging zu ihrem Pferd zurück, entnahm ihrem Gepäck ein Seil und kehrte zurück. Garth beobachtete sie neugierig. Sie machte schnelle, aufgeregte Handzeichen. Sie wollte, daß er sie über den Rand hinunterließ. Sie wollte sehen, was dort unten war. Schweigend banden sie ein Seilende als Schlinge unter Wrens Arme und das andere Ende um einen Vorsprung nahe am Rand der Klippe. Wren prüfte die Knoten und nickte. Garth stützte sich ab und begann das Mädchen langsam über den Rand hinabzulassen. Wren stieg vorsichtig ab, wobei sie jeden Halt für ihre Füße und Hände nutzte. Garth war für sie bald nicht mehr zu sehen, und sie begann wie vereinbart am Seil zu ziehen, um ihm zu signalisieren, was sie wollte.

Der Wind bedrängte sie. Er wurde nun stärker und zog ärgerlich an ihrem Körper. Sie klammerte sich an die Klippe, um nicht hinabgeweht zu werden. Die Wolken verdeckten den Himmel über ihr vollständig und türmten sich übereinander auf. Ein paar vereinzelte Regentropfen fielen.

Sie biß die Zähne zusammen. Die Aussicht, im Freien festzusitzen, wenn der Sturm losbrach, gefiel ihr nicht. Sie mußte ihre Entdeckungstour beenden und schnell wieder hinaufklettern. Sie duckte sich in ein Gestrüpp. Dornen zerkratzten ihre Arme und Beine, und sie schob sie ärgerlich beiseite. Durch das Gestrüpp arbeitete sie sich abwärts. Als sie über die Schulter sah, konnte sie etwas erkennen, was vorher nicht zu sehen gewesen war, eine Dunkelheit vor der Felswand, eine Einsenkung. Sie kämpfte gegen ihre Erregung an. Dabei signalisierte sie Garth, ihr mehr Seil zu geben, und stieg schnell an den Felsen hinab. Die Dunkelheit wurde dichter. Sie dehnte sich weiter aus, als sie geglaubt hatte, ein großes, schwarzes Loch in der Felswand. Wren spähte durch die Dunkelheit. Sie konnte nicht sehen, was darin lag, aber da waren noch andere, dort, weiter seitlich, auch noch zwei davon, und dort ein weiteres, halb vom Gestrüpp verborgen, vom Fels versteckt... Höhlen!

Sie signalisierte, daß sie mehr Seil brauchte.

Es gab nach, und sie glitt langsam auf die nächstgelegene Öffnung zu, gelangte schnell in deren Schwärze und sah sich blinzelnd um...

Auf einmal hörte sie das Geräusch, ein Rauschen direkt unter ihr und darin. Es erschreckte sie, und einen Moment lang erschauerte sie. Sie spähte erneut hinab. Schatten umhüllten alles, Schichten von Dunkelheit. Sie konnte nichts sehen. Der Wind blies scharf und erstickte andere Geräusche.

Hatte sie sich geirrt?

Sie ließ sich unsicher einige Fuß weiter hinab.

Dort, etwas...

Sie zog wild an dem Seil, um ihren Absturz aufzuhalten, denn sie hing nur Zentimeter über der dunklen Öffnung.

Der Rock brach unter ihr hervor, explodierte aus der Schwärze heraus, als sei er von einem Katapult abgeschossen worden. Er schien den Himmel auszufüllen, die Flügel weit vor den grauen Wassern der Blauen Spalte, über die Schatten und die Wolken ausgebreitet. Er flog so nahe an ihr vorbei, daß sein Körper ihre Füße streifte und sie herumwarf wie ein Stück Stoff. Sie rollte sich instinktiv zu einer Kugel zusammen, schlug an dem Seil, ihrem Lebensfaden jetzt, gegen die rauhe Oberfläche des Felsens und hatte Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken, wobei sie die ganze Zeit über betete, daß der Vogel sie nicht sehen möge. Der Rock erhob sich in die Lüfte, vergaß ihre Gegenwart oder kümmerte sich nicht darum, ein goldfarbener Körper mit einem feuerfarbenen Kopf. Er sah wild und gefährlich aus, sein Gefieder war struppig, die Flügel gezeichnet und mit Narben übersät. Er stieg hoch in den sturmerfüllten Himmel im Westen und verschwand.

Darum gibt es hier keine Meeresvögel, bestätigte sich Wren benommen in ihrem Schreck.

Sie hing längere Zeit wie betäubt an der Wand der Klippe, wartete, bis sie sicher sein konnte, daß der Rock nicht zurückkehren würde, zog dann vorsichtig am Seil und ließ sich von Garth in Sicherheit bringen.

Kurz nachdem sie den Rand der Klippen wieder erreicht hatte, begann es zu regnen. Garth wickelte sie in seinen Umhang und brachte sie hastig zurück zum Tal, wo sie in einem Tannenhain vorläufig Schutz fanden. Dort entfachte er ein Feuer und bereitete eine Suppe zu, um sie zu wärmen. Sie fror noch lange Zeit und zitterte bei der Erinnerung daran, wie hilflos sie dort gehangen hatte, während der Rock unter ihr vorbeigestrichen war, nahe genug, um sie fortzureißen und sie zu töten. Ihr Denken drehte sich um nichts anderes. Sie hatte beabsichtigt, bei ihrem Abstieg die Höhlen der Rocks zu finden. Sie hätte sich aber niemals träumen lassen, daß sie auch die Rocks finden würde.

Nachdem sie sich weit genug erholt hatte, daß sie sich wieder bewegen konnte, nachdem die Suppe die Kälte aus ihrem Inneren vertrieben hatte, begann sie sich mit Garth zu unterhalten.

»Wenn es Rocks gibt, konnte es auch Elfen geben«, sagte sie, und ihre Hände übersetzten ihre Worte. »Was glaubst du?«

Garth verzog das Gesicht. Ich denke, du wärest fast getötet worden.

»Ich weiß«, gab sie zerknirscht zu. »Können wir das jetzt weglassen? Ich fühle mich auch so ziemlich dumm.«

Gut, zeigte er gleichmütig an.

»Wenn die Addershag recht hatte, was die Höhlen der Rocks angeht, denkst du nicht auch, daß sie dann mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch mit dem recht hat, was sie über die Elfen sagte?« Wren sann weiter nach. »Ich glaube schon. Sicher wird jemand kommen, wenn wir ein Signalfeuer entzünden. Direkt auf diesem Sims. In dieser Senke. Dort sind schon früher Feuer entfacht worden. Das hast du doch auch gesehen. Vielleicht war dieses Tal einmal die Heimat der Elfen. Vielleicht ist es das noch immer. Morgen werden wir dieses Signalfeuer entfachen und abwarten, was geschieht.«

Sie ignorierte sein Achselzucken und lehnte sich bequem zurück, ihre Decken eng um sich gewickelt, die Augen strahlend vor Entschlossenheit. Der Zwischenfall mit dem Rock begann bereits in die hinteren Winkel ihres Bewußtseins zu sinken. Sie schlief bis weit nach Mitternacht und übernahm die Spätwache, denn Garth hatte sie nicht wecken wollen. Sie war für den Rest der Nacht munter und sinnierte, was kommen mochte. Der Regen hörte auf, und bei Tagesanbruch kam die Sommerhitze zurück, dampfend und dicht. Sie suchten trockenes Holz, brachen Äste ab, die klein genug waren, daß sie sie aufladen konnten, bauten einen Schlitten und benutzten die Pferde, um das Holz an den Rand der Klippe zu ziehen. Sie arbeiteten rastlos in der Hitze, blieben aber dennoch bemüht, sich selbst und ihre Tiere nicht zu überanstrengen. Sie machten oft halt und tranken viel Wasser, um einen Hitzschlag zu vermeiden.

Der Tag blieb klar und schwül, der Regen eine entfernte Erinnerung. Eine gelegentliche Brise blies vom Wasser landeinwärts, konnte ihnen aber kaum Kühlung bringen. Das Meer erstreckte sich vom Land als glatte Fläche wie Glas fort und wirkte von der Höhe der Klippen aus flach und hart wie Eisen.

Sie sahen nichts mehr von den Rocks. Garth meinte, sie seien wohl Nachtvögel, Jäger, die den Schutz der Dunkelheit bevorzugten, bevor sie sich hinauswagten. Ein- oder zweimal glaubte Wren ihren Schrei gehört zu haben, schwach und gedämpft. Sie hätte gern gewußt, wie viele in den Höhlen hausten und ob sie Junge hatten. Aber ihr Zusammenprall mit dem riesigen Vogel war ihr genug, wenn ihre Neugier auch unbefriedigt blieb. Sie errichteten ihr Signalfeuer in der Senke auf dem Felsvorsprung, der über die Blaue Spalte hinausragte. Als der Sonnenuntergang einsetzte, benutzt Garth seinen Feuerstein, um das Anmachholz zu entzünden, und bald brannten auch die größeren Holzstücke. Die Flammen stiegen himmelwärts, ein roter und goldener Glanz vor dem schwächer werdenden Licht, der in der Stille knisterte. Wren sah sich zufrieden um. Von dieser Höhe aus konnte das Feuer in allen Richtungen auf Meilen gesehen werden. Wenn dort draußen jemand Ausschau hielt, würde er es sehen.

Sie aßen schweigend zu Abend, saßen nahe bei dem Signalfeuer, schauten auf die Flammen und waren mit ihren Gedanken ganz woanders. Wren bemerkte, daß sie über ihre Cousins, Par und Coll, nachdachte und über Walker Boh. Sie fragte sich, ob sie wie sie dazu überredet worden waren, Aufträge von Allanon anzunehmen. Finde das Schwert von Shannara, hatte der Schatten Par befohlen. Finde die Druiden und das verlorene Paranor, hatte er Walker befohlen. Und ihr hatte er befohlen, die vermißten Elfen zu finden. Wenn sie es nicht taten oder wenn es einem von ihnen mißlänge, dann würde die Vision einer öden und leeren Welt, die er ihnen gezeigt hatte, wahr werden, und die menschlichen Rassen würden zum Spielzeug der Schattenwesen werden. Ihr mageres Gesicht straffte sich, und sie strich gedankenverloren eine Locke zurück, die sich gelöst hatte. Die Schattenwesen – was waren sie? Cogline hatte von ihnen gesprochen, überlegte sie, ohne wirklich etwas zu enthüllen. Die Geschichte, die er ihnen in jener Nacht am Hadeshorn erzählt hatte, war überraschend ungenau gewesen. Lebewesen formten sich in der Leere, die durch das Vergehen der Magie nach Allanons Tod entstanden war. Lebewesen, die aus verirrter Magie geboren worden waren. Was bedeutete das?

Sie beendete ihre Mahlzeit, erhob sich und trat hinaus an den Rand der Klippe. Die Nacht war klar und der Himmel von Tausenden von Sternen erfüllt, deren Licht auf der Oberfläche des Ozeans schimmerte und einen glitzernden Teppich aus Silber zurückließ. Wren verlor sich eine Weile in dieser Schönheit, wärmte sich in der Abendkühle und vergaß für kurze Zeit ihre dunklen Gedanken. Als sie wieder zu sich selbst fand, wünschte sie, sie wüßte genauer, was vor ihr lag. Ihre einst sehr sichere, planvolle Existenz war erstaunlich phantastisch geworden. Sie ging zurück zum Feuer und zu Garth. Der große Mann breitete die Schlafdecken aus, die sie vom Tal herauf gebracht hatten. Sie würden beim Feuer schlafen und es unterhalten, bis die drei Tage verstrichen waren oder bis jemand kam. Die Pferde waren hinter ihnen am Ende des Tals zwischen den Bäumen angepflockt. Solange es nicht regnete, würden sie lieber im Freien schlafen.

Garth bot an, die erste Wache zu übernehmen, und Wren war einverstanden. Sie wickelte sich am Rande der Feuerwärme in ihre Decken und legte sich hin. Sie beobachtete, wie die Flammen vor der Dunkelheit tanzten, verlor sich in ihre hypnotisierenden Bewegungen und ließ sich treiben. Sie dachte erneut an ihre Mutter, an deren Gesicht und ihre Stimme im Traum und fragte sich, ob irgend etwas davon real war.

Erinnere dich an mich.

Warum konnte sie es nicht?

Sie grübelte noch immer darüber nach, als sie schließlich einschlief.

Sie erwachte von Garths Hand auf ihrer Schulter. Er hatte sie über die Jahre Hunderte von Malen geweckt, und sie hatte gelernt, allein von seiner Berührung her sagen zu können, was er empfand. Seine jetzige Berührung sagte ihr, daß er besorgt war. Sie rollte sich sofort auf die Füße, und der Schlaf war vergessen. Es war noch früh, soviel konnte sie nach einem schnellen Blick auf den nächtlichen Himmel sagen. Das Feuer brannte noch immer neben ihnen, sein Schein war unvermindert hell. Garth sah vom Feuer fort in die Nacht, zum Tal zurück, dem Geräusch entgegen, das sich näherte. Wren konnte es kommen hören – ein Kratzen, ein Klicken, das Geräusch von Klauen auf dem Fels. Was auch immer dort draußen war, es versuchte nicht, sein Kommen zu verbergen.

Garth wandte sich zu ihr um und signalisierte, daß bis vor wenigen Augenblicken alles völlig ruhig gewesen war. Ihr Besucher mußte zunächst auf Katzenpfoten herangeschlichen sein und dann seine Meinung geändert haben. Wren stellte nicht in Frage, was ihr gesagt wurde. Garth hörte mit seiner Nase und seinen Händen und vor allem mit seinen Instinkten. Obwohl er taub war, hörte er besser als sie. Ein Rock?, überlegte sie kurz und erinnerte sich seiner klauenähnlichen Füße. Garth schüttelte den Kopf. Dann war es vielleicht, was auch immer gemäß dem Versprechen der Addershag kommen sollte? Garth antwortete nicht. Er brauchte es nicht. Was sich näherte, war etwas anderes, etwas Gefährliches...

Ihre Augen trafen sich, und plötzlich wußte sie es. Es war ihr Schatten, der schließlich kam, um sich ihnen zu zeigen.

Das Kratzen wurde lauter, anhaltender, als würde sich das, was sich da näherte, vorwärts ziehen. Wren und Garth traten einige Schritte vom Feuer zurück und versuchten ein wenig von dem Licht zwischen sich und ihren Besucher und ein wenig Dunkelheit hinter sich zu bringen.

Wren tastete nach dem langen Messer an ihrer Taille. Keine allzu gute Waffe. Garth ergriff seinen gehärteten, viereckigen Knüppel. Sie wünschte, sie hätte daran gedacht, den ihren mitzunehmen, aber sie hatte ihn bei den Pferden gelassen. Und dann schob sich ein mißgestaltetes Gesicht ins Licht, das aus der Dunkelheit herankroch, als befreie es sich aus etwas. Ein muskulöser Körper folgte. Wren spürte Kälte, die sich in ihrer Magengrube ausbreitete. Was vor ihr stand, war nicht wirklich. Es sah aus wie ein riesiger Wolf mit gesträubten, grauen Haaren, einer dunklen Schnauze und Augen, die im Licht des Feuers glitzerten. Aber es war auch auf groteske Art menschlich. Es hatte die Arme eines Menschen, mit Händen und Fingern, obwohl auch dort überall Haare wuchsen und die Finger in Klauen endeten und mißgebildet und dick voller Schwielen waren. Der Kopf hatte etwas von einem Menschen und war auch so geformt – als habe ihn jemand mit einer Wolfsmaske zusammengefügt und wie Ton bearbeitet, um ihn passend zu machen.

Das Lebewesen hatte sich zum Feuer hin bewegt und dann wieder davon weg. Seine harten Augen fixierten sie. Das also war ihr Schatten. Wren atmete tief ein. Das also war das Lebewesen, das sie durch das ganze Westland so unermüdlich verfolgt hatte, das Lebewesen, das ihnen wochenlang gefolgt war. Es hatte sich die ganze Zeit verborgen gehalten. Warum zeigte es sich jetzt?

Sie beobachtete, wie sich seine Schnauze öffnete und lange Reihen gekrümmter Zähne sichtbar wurden. Die glitzernden Augen schienen sich zu erhellen. Es gab keinen Laut von sich, als es vor ihnen stand.

Es zeigt sich jetzt, weil es beschlossen hat, uns zu töten, erkannte Wren und hatte plötzlich Angst.

Garth warf ihr einen schnellen Blick zu, einen Blick, der alles sagte. Er machte sich keine Illusionen darüber, was jetzt geschehen würde. Er machte einen Schritt auf die Bestie zu. Die griff ihn sofort mit einem Sprung an, der sie mit dem großen Fahrenden zusammenprallen ließ, bevor er sich sammeln konnte. Garth warf den Kopf gerade rechtzeitig genug zurück, damit er ihm nicht von den Schultern gerissen wurde, wirbelte den Knüppel herum und schleuderte seinen Angreifer zur Seite. Das Wolfswesen landete mit einem Grunzen, gewann in einem Gewirr von Klauenfüßen wieder Halt und wirbelte mit gefletschten Zähnen herum. Es griff Garth ein zweites Mal an, ignorierte Wren jedoch vollständig. Dieses Mal war Garth vorbereitet und stieß das Ende des schweren, viereckigen Knüppels in den gekrümmten Körper. Wren hörte das Geräusch brechender Knochen. Das Wolfswesen taumelte davon, kam wieder auf die Füße und begann sich zu drehen. Es schenkte Wren weiterhin keine Beachtung, abgesehen davon, daß es sich vergewisserte, was sie tat. Es hatte offensichtlich beschlossen, daß Garth die größere Bedrohung war und zuerst beseitigt werden müßte.

Was bist du? wollte Wren rufen. Welche Art Wesen?

Die Bestie prallte erneut auf Garth gegen den wartenden Knüppel. Schmerz schien sie nicht zu stören. Garth schleuderte sie von sich, doch sie griff mit gebleckten Zähnen sofort wieder an. Und wieder griff sie an, eines um das andere Mal, und nichts, was Garth tat, schien sie zu bremsen. Wren duckte sich und beobachtete das Geschehen hilflos, weil sie nicht eingreifen konnte, ohne ihren Freund zu gefährden. Das Wolfswesen bot ihr keine Angriffsfläche und ließ ihr keine Gelegenheit, ebenfalls anzugreifen. Und es war so flink, daß es nie länger als einen Augenblick am Boden war, und es bewegte sich mit einer geschmeidigen Anmut, die sowohl an die Behendigkeit eines Menschen als auch an die eines Tieres erinnerte. Noch nie hatte sich ein Wolf auf diese Weise bewegt, dessen war sich Wren gewiß. Der Kampf ging weiter. Beide Gegner waren verwundet. Aber während bei Garth Blut aus den Schnitten strömte, die er erlitten hatte, schienen die Verletzungen des Wolfswesens fast sofort zu verheilen. Seine gebrochenen Rippen hätten es behindern und seine Bewegungen hemmen müssen, aber sie taten es nicht. Das Blut in seinen Wunden verschwand in Sekunden. Seine Verletzungen schienen es nicht zu beunruhigen, fast als ob... Und plötzlich erinnerte sich Wren an die Geschichte, die Par ihr von den Schattenwesen erzählt hatte, denen er und Coll und Morgan Leah während ihrer Reise nach Culhaven begegnet waren – jenem fürchterlichen Menschending, das seine abgetrennten Arme wieder befestigt hatte, als habe es keinen Schmerz empfunden.

Dieses Wolfswesen war ein Schattenwesen!

Diese Erkenntnis trieb sie, fast ohne zu denken, vorwärts. Sie griff das Wesen mit ihrem gezogenen, langen Messer an, wütend und entschlossen, während sie auf es zusprang. Es wandte sich um, und ein Flackern der Überraschung spiegelte sich in seinen harten Augen und lenkte es vorübergehend von dem Mann ab. Sie erreichte es zur gleichen Zeit wie Garth, so daß sie die Bestie zwischen sich gefangen hatten. Garths Knüppel hämmerte auf deren Schädel ein, und er zersplitterte bei der Macht des Aufpralls. Wrens Klinge bohrte sich in die behaarte Brust und glitt leicht hinein. Das Wesen sprang auf und zurück und gab zum ersten Mal einen Laut von sich. Es schrie, den Schmerzensschrei einer Frau. Dann wirbelte es abrupt herum, warf sich auf Wren und drückte sie zu Boden. Es war unglaublich kräftig. Sie taumelte zurück und stieß mit den Füßen aufwärts, während sie die gefletschten Zähne daran zu hindern versuchte, ihr das Gesicht zu zerfleischen. Die Wucht des Wolfswesens rettete sie, denn sie beförderte es kopfüber in die Dunkelheit. Wren rappelte sich hoch. Das lange Messer war fort, noch immer im Körper der Bestie versenkt. Garths Knüppel war zerschmettert. Er packte bereits sein kurzes Schwert.

Das Wolfswesen kam zurück ins Licht. Es bewegte sich ohne Schmerzen, ohne Anstrengung, die Zähne in einem furchterregenden Grinsen entblößt.

Das Wolfswesen.

Das Schattenwesen.

Wren wußte plötzlich, daß sie nicht fähig sein würden, es zu töten – sondern daß sie getötet werden würden.

Sie trat schnell zurück neben Garth. Sie war jetzt wahnsinnig vor Angst und hatte Mühe, ihren Verstand beisammen zu halten. Er zog sein langes Messer und gab es ihr. Sie konnte das abgerissene Geräusch seines Atems hören. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihn anzusehen.

Das Schattenwesen griff sie erneut an und prallte mit einem Sprung auf sie. Im letzten Moment drehte es zu Garth ab. Der große Fahrende begegnete seinem Stoß und erwiderte ihn, aber die Wucht des Angriffs riß ihn von den Füßen. Sofort war das Schattenwesen über ihm und knurrte. Garth drängte mit seinem Schwert die Wolfsschnauze zurück. Er war stärker als jeder andere Mann, den Wren je gekannt hatte. Aber nicht stärker als dieses Monster. Sie konnte bereits sehen, daß seine Kraft nachließ.

Garth!

Sie warf sich auf das Wolfswesen und stieß das lange Messer in seinen Körper. Es schien nichts davon zu bemerken. Sie klammerte sich an die Bestie und bemühte sich, sie wegzuziehen. Darunter konnte sie Garths dunkles Gesicht erkennen, schweißgetränkt und hart. Sie schrie vor Wut.

Dann schüttelte sich das Schattenwesen, und sie wurde abgeworfen. Sie blieb verrenkt liegen, ohne Waffe und hilflos. Sie zog sich auf die Knie und merkte plötzlich, daß sie von der Hitze des Feuers brannte. Das Brennen – wie lange war es schon da? – hatte sich auf ihrer Brust verstärkt. Sie untersuchte ihren Körper, denn sie glaubte, irgendwie Feuer gefangen zu haben. Nein, da waren keine Flammen, wie sie feststellte, nichts außer... Ihre Finger zuckten zurück, als sie auf den kleinen Lederbeutel mit den bemalten Steinen stießen. Das Brennen war dort! Sie riß den Beutel los und schüttete die Steine, fast ohne darüber nachzudenken, in ihre Handfläche.

Sofort explodierten sie in einem erschreckenden Licht, das sie benommen machte. Sie bemerkte, daß sie sie nicht loslassen konnte. Die Farbe, die die Steine bedeckt hatte, verschwand, und die Steine wurden... Sie konnte es nicht über sich bringen, das Wort zu denken, und es war auch keine Zeit, überhaupt zu denken. Das Licht flackerte und sammelte sich zu einer Art Lebewesen. Jenseits der Lichtung sah sie den wolfsähnlichen Kopf des Schattenwesens hochschrecken. Sie sah das Glitzern in seinen Augen. Sie und Garth hatten vielleicht noch eine Chance zu überleben, wenn...

Sie handelte instinktiv, als sie das Licht mit einem einzigen Gedanken vorwärts schießen ließ. Es warf sich mit erschreckender Schnelligkeit nach vorne und prallte in das Schattenwesen. Es wurde von Garth fortgeschleudert, drehte sich und schrie. Das Licht wickelte sich um das Wolfswesen herum. Feuer war überall, es versengte und verbrannte es schließlich. Wren streckte ihre Hand aus und dirigierte das Feuer. Die Magie erschreckte sie, aber sie bezwang ihre Panik. Macht durchpulste sie, düster und heiter, beides zugleich. Das Schattenwesen wehrte sich, rang mit dem Licht und kämpfte darum, wieder freizukommen. Es gelang ihm nicht. Wren schrie triumphierend auf, als das Schattenwesen starb. Sie beobachtete, wie es explodierte, sich zu Staub verwandelte und verschwand.

Dann verschwand auch das Licht, und sie war mit Garth allein.

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