24

Triss richtete sich auf. Seine Bewegungen waren auf einmal schwerfällig und steif. Sie sahen einander schweigend an, der Hauptmann der Leibgarde, Wren und Garth, ohne ihre Gesichter im Dunkel voller Vog erkennen zu können. Sie standen wie Statuen um die zusammengekrümmte Gestalt von Dal herum, als seien sie als Wachtposten um ihn herum aufgestellt worden und eingefroren in der Zeit. Sie waren die einzigen, die von jenen neun übriggeblieben waren, die aus Killeshans Schatten aufgebrochen waren, um Arborlon und die Elfen aus ihrem vulkanischen Grab wieder in ein Leben in den Wäldern des Westlandes zurückzubringen. Drei, machte sich Wren in ihrer Seelenqual deutlich, denn Gavilan war für so sicher verloren, wie sie sich ihrer eigenen Schuld bewußt war.

Wie hatte sie so dumm sein können?

Triss bewegte sich plötzlich und warf die imaginären Fesseln ab. Er machte ein paar Schritte und beugte sich hinab, um den Boden zu untersuchen. Dann richtete er sich wieder auf und schüttelte den Kopf. »Wer könnte das getan haben? Es muß Spuren geben...« Er schleppte sich davon.

Wren und Garth tauschten einen Blick. Triss wußte es offenbar noch immer nicht. »Es war Gavilan«, sagte sie leise.

»Gavilan?« Der Hauptmann der Leibgarde wandte sich um. Er sah sie offen an.

»Gavilan Elessedil«, wiederholte sie. Sie gebrauchte seinen vollen Namen in der Hoffnung, daß dadurch für sie real werden würde, was geschehen war. Faun zitterte auf ihrer Schulter noch immer. »Er hat Dal getötet und den Ruhkstab mitgenommen.«

Triss rührte sich nicht. »Nein«, sagte er sofort. »Eure Hoheit, das kann nicht passiert sein. Ihr irrt Euch. Gavilan ist ein Elf, und kein Elf würde einem anderen Schaden zufügen. Und außerdem ist er ein Prinz von Elessedilblut! Er ist darauf eingeschworen, seinem Volk zu dienen!«

Wren schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hätte damit rechnen müssen. Sie hätte es in seinen Augen erkennen müssen, in seiner Stimme und an seinem veränderten Verhalten. Und sie hatte sich einfach geweigert, es zu erkennen. »Stresa«, rief sie.

Der Stachelkater tauchte aus der Dunkelheit auf. Seine Stacheln waren herausfordernd aufgerichtet. »Hssssst! Ich habe dich vor ihm gewarnt!«

»Danke, daß du mich daran erinnerst. Erzähle mir einfach, was die Zeichen sagen. Deine Augen sind die schärfsten, deine Nase kann es besser beurteilen. Lies sie bitte für mich.«

Ihre Worte klangen sanft und schmerzerfüllt. Der Stachelkater erkannte es und ging leise fort. Sie beobachteten, wie er die Lichtung zu umkreisen begann, überall schnüffelte und jede Spur kritisch prüfte, wie er dabei häufig innehielt und dann weiterging.

»Das hätte er niemals tun können«, murmelte Triss erneut, und seine Stimme klang hart vor Unglauben. Wren antwortete nicht. Sie schaute ins Nichts. Der Harrow war eine graue Wand hinter ihnen, der In Ju ein schwarzes Loch vor ihnen und der Killeshan ein entferntes Rumpeln. Morrowindl krümmte sich über ihnen wie ein Tier über einem Knochen.

Dann kam Stresa zurück. »Niemand – phfffft – außer uns hat in den letzten Stunden den Platz hier überquert, auf dem wir stehen. Ssssst. Unsere Spuren führen aus dem Harrow heraus und wieder hinein und erneut heraus – dort drüben. Nur unsere – nicht die von Monstern, nicht die von Eindringlingen, nichts dergleichen.« Er hielt inne. »Und dort«, er deutete in die entgegengesetzte Richtung, »dort gibt es ein neueres Spurenmuster. Es führt von hier fort, westwärts auf den In Ju zu. Es ist sein Geruch. Es tut mir leid, Wren Elessedil.«

Sie nickte. Ihr eigener letzter Rest Hoffnung schwand dahin. Sie schaute Triss an.

»Warum?« fragte er mit erschütterndem, resigniertem Flüstern.

Weil er Angst hatte, dachte sie. Weil er ein Wesen war, das Ordnung und Wohlbefinden, Mauern und sichere Zufluchtsorte brauchte, und dies hier war alles zuviel für ihn, es hatte ihn überwältigt. Weil er sie alle für tot gehalten hatte und befürchtet hatte, daß auch er sterben müßte, wenn er nicht fortlief. Oder weil er gierig und verzweifelt gewesen war und die Macht des Ruhkstabes und dessen Magie für sich selbst haben wollte.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie erschöpft.

»Aber Dal... ?«

»Welchen Unterschied macht das?« unterbrach sie ihn ärgerlicher, als sie hätte sein sollen, und bedauerte ihre Schroffheit sofort. Sie atmete tief ein. »Wichtig ist, daß er den Ruhkstab und den Loden mitgenommen hat und wir sie zurückbekommen müssen. Wir müssen ihn finden, und zwar schnell.«

Sie wandte sich um. »Stresa?«

»Nein«, sagte der Stachelkater sofort. »Dieses Mal nicht. Hsssst. Es ist zu gefährlich, der Spur bei Nacht zu folgen. Bleibt bis zum Tagesanbruch hier.«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Soviel Zeit haben wir nicht.«

»Grrrrr. Wren Elessedil. Wir sollten lieber erst später auf die Suche gehen, wenn wir überleben wollen!« Stresas rauhe Stimme wurde zu einem Grollen. »Nur ein Narr würde es wagen, nachts vom Blackledge in den In Ju hinabzusteigen.«

Wren spürte Zorn in sich aufsteigen. Sie mochte gerade jetzt nicht herausgefordert werden. Sie konnte es nicht zulassen. »Ich habe die Elfensteine, Stresa!« fauchte sie. »Die Elfenmagie wird uns beschützen!«

»Die Elfenmagie? Ich dachte – hsssst – du bist wild entschlossen, sie nicht zu gebrauchen.«

Stresas Worte waren blanker Hohn. »Phfffft. Ich weiß, daß du dich um ihn sorgst, aber...«

»Stresa!« schrie sie.

»... die Magie wird dich nicht vor etwas beschützen, was du nicht sehen kannst«, beendete der Stachelkater seinen Satz ruhig und gelassen. »Ssstttppp! Wir müssen bis zum Morgen warten.«

Die Stille war undurchdringlich. Wren konnte sich innerlich schreien hören. Sie schaute auf, als Garth zu ihr kam. Der Stachelkater hat recht. Erinnere dich an das, was du gelernt hast, Wren. Erinnere dich daran, wer du bist.

Woran sie sich im Moment nur erinnern konnte, war der Ausdruck in Gavilan Elessedils Augen, als sie ihm den Ruhkstab gegeben hatte. Sie sah Garth an. Was sie in seinen Augen sah, dämpfte ihren Zorn. Widerwillig nickte sie. »Wir werden bis zum Morgen warten.«

Sie hielt dann auch Wache, während die anderen schliefen. Ihre Erschöpfung war vergessen, begraben unter ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung wegen Gavilan. Sie konnte nicht schlafen, solange sie so unruhig, ihr Geist verwirrt und ihre Gefühle in Unordnung waren. Sie saß allein, den Rücken gegen einen Felsen gelehnt, während die Männer in einiger Entfernung zusammengerollt schliefen und Stresa sich an den Rand der Lichtung gekauert hatte. Vielleicht schlief auch er, vielleicht auch nicht. Sie starrte in die Dunkelheit, streichelte Faun wie abwesend und quälte sich mit Gedanken, die dunkler waren als die Nacht.

Gavilan. Er war so freundlich gewesen, und sie hatte es so angenehm empfunden, mit ihm zusammen zu sein. Sie hatte ihn gemocht – vielleicht mehr als nur gemocht. Sie hatte sich Hoffnungen für sie beide gemacht, die sie sich selbst auch jetzt noch nicht einzugestehen wagte. Er hatte versprochen, ein Freund für sie zu sein, auf sie aufzupassen und ihr alle Fragen zu beantworten, so gut er konnte. Er wollte für sie dasein, wenn sie ihn brauchte. Er hatte so vieles versprochen. Vielleicht hätte er diese Versprechen halten können, wenn sie nicht gezwungen gewesen wären, den Schutz des Keel zu verlassen. Denn sie hatte sich nicht geirrt, als sie sich gesagt hatte, daß Gavilan schwach war. Er war nicht stark genug für das, was jenseits der Sicherheit der Mauern von Arborlon lag. Die Veränderungen an ihm waren sofort sichtbar geworden. Sein Charme hatte sich in Besorgnis gewandelt, dann in Schroffheit und schließlich in Angst. Er hatte die einzige Welt verloren, die er jemals gekannt hatte, und war nackt und ungeschützt Erfahrungen wie in einem Alptraum ausgesetzt worden. Gavilan war so tapfer gewesen, wie es ihm möglich gewesen war, aber alles, was er gekannt und worauf er sich verlassen hatte, war ihm genommen worden. Als die Königin starb und der Stab Wren anvertraut wurde, war das einfach zuviel für ihn gewesen. Er hatte sich immer selbstverständlich für den Nachfolger der Königin gehalten und geglaubt, mit der Macht der Elfensteine alles erreichen zu können. Er hatte sich darauf festgelegt und hatte an nichts anderes mehr gedacht. Er war davon überzeugt gewesen, daß er die Elfen retten würde, daß es ihm bestimmt war, dies zu tun, und daß die Magie ihm die Mittel dazu geben würde.

Laß mich den Stab nehmen, konnte sie ihn noch immer bitten hören.

Und sie hatte ihm diesen Stab gegeben. Das war dumm gewesen.

Tränen traten in ihre Augen. Er war wahrscheinlich in Panik geraten, dachte sie. Er war wahrscheinlich davon überzeugt gewesen, daß sie tot sei, daß sie alle tot seien. Und daß er allein sei. Er hatte wahrscheinlich versucht, fortzukommen. Der Elfenjäger hatte dabei seine Angst unterschätzt, seinen Wahnsinn. Er hatte sicher auch die Laute der Drakuls gehört, ihr Flüstern und ihre Lockungen. Das alles hatte ihn sicher erdrückt. Und dann hatte er Dal getötet, weil...

Nein! Sie weinte und konnte nicht aufhören. Sie ließ es zu, weil sie wütend war, daß sie versucht hatte, Entschuldigungen für ihn zu finden. Aber es schmerzte sie so sehr, sich die Wahrheit eingestehen zu müssen, die harte und unabweisliche Wahrheit – daß er schwach gewesen war, daß er gierig gewesen war, daß er berechnend gewesen war, anstatt logisch zu denken, und daß er einen Mann getötet hatte, der ihn hatte beschützen sollen. Dumm! Solch ein Wahnsinn! Aber die Dummheit und der Wahnsinn waren überall, überall um sie herum, ein so großes und undurchdringliches Labyrinth wie Eden’s Murk. Morrowindl nährte das alles, förderte beides, und für jedes gab es nur ein begrenztes Maß an Geduld. Wenn das erst einmal überschritten war, versuchte man, dem Wahnsinn ein Ende zu setzen. Gavilan hatte dieses Maß überschritten. Er konnte sich vielleicht nicht mehr selbst helfen und war jetzt fort, im Nebel verschwunden. Selbst wenn sie ihn fanden, was würde von ihm übrig sein?

Sie biß sich ins Handgelenk, damit sie den Schmerz spürte. Sie mußten ihn natürlich finden – auch wenn er nicht mehr wichtig war. Sie mußten wieder in den Besitz des Ruhkstabes und des Loden gelangen, oder alles, was sie durchgemacht hatten, um von Morrowindl fortzukommen, und alle Leben, die dafür gegeben worden waren – das ihrer Großmutter, das der Eule, Eowens und jene der Elfenjäger – wären umsonst geopfert worden. Dieser Gedanke brannte in ihr. Sie durfte das nicht zulassen. Sie wollte nicht zulassen, daß ihr Opfer vergebens war. Sie hatte es ihrer Großmutter versprochen. Sie hatte es sich selbst versprochen. Es war der Grund dafür, daß sie hergekommen war – sie wollte die Elfen ins Westland zurückbringen und mithelfen, einen Weg zu finden, die Schattenwesen zu vernichten. Das war Allanons Auftrag – und jetzt ihre Aufgabe, wie sie sich in dunkln Wut eingestand. Finde dich, und das hatte sie getan. Entdecke die Wahrheit, und das hatte sie getan. Zuviel von beidem, aber sie hatte es getan. Ihr Leben war jetzt offenbart, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und wie sie sich dabei auch fühlte, sie würde es sich nicht ohne ihre Zustimmung nehmen lassen.

Es ist mir gleich, was dazu noch nötig ist, schwor sie. Es ist mir gleich!

Sie war eingenickt, als Triss sie an der Schulter berührte und wieder weckte. »Hoheit«, flüsterte er sanft. »Legt Euch hin. Schlaft jetzt.«

Sie blinzelte und nahm die Decke entgegen, die er um ihre Schultern legte. »In einer Minute«, erwiderte sie. »Setz dich zuerst zu mir.«

Das tat er. Triss war ein schweigsamer Gefährte, sein hageres, braunes Gesicht war seltsam ruhig, und seine Blicke waren weit entfernt. Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als sie ihm von Gavilans Verrat berichtet hatte. Verrat, war es das nicht? Dieser Ausdruck war jetzt fort, im Schlaf weggewischt oder überwunden. Er hatte einen Weg gefunden, um damit zu Rande zu kommen. Triss, der letzte von denen, die aus Arborlons altem Leben hervorgekommen waren – wie allein mußte er sich fühlen.

Er schaute zu ihr herüber, und es schien, als könne er ihre Gedanken lesen. »Ich bin seit fast acht Jahren Hauptmann der Leibgarde«, setzte er kurz darauf an. »Eine lange Zeit, Hoheit. Ich habe Eure Großmutter, die Königin, geliebt. Ich hätte alles für sie getan.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mein ganzes Leben im Dienste der Elessedils und des Elfenthrones verbracht. Ich habe Gavilan schon als Kind gekannt. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich wuchs mit ihm ins Mannesalter hinein. Früher habe ich mit ihm gespielt. Meine Familie und seine warten noch immer im Loden, unsere Freunde, zumindest sie noch...« Er atmete tief ein, er suchte nach Worten und versuchte es zu verstehen. »Ich kannte ihn. Er hätte Dal niemals getötet, es sei denn... Könnte es sein, daß etwas geschehen ist, was ihn verändert hat? Könnte einer der Dämonen ihm etwas angetan haben?«

An diese Möglichkeit hatte sie noch nicht gedacht. Es hätte tatsächlich so gewesen sein können. Es hatte ausreichend Gelegenheit dazu gegeben. Oder vielleicht etwas anderes, ein Gift zum Beispiel oder eine Krankheit wie jene, die Ellenroh getötet hatte? Aber tief im Herzen wußte sie, daß es nichts davon gewesen war, daß einfach sein Geist erschöpft und seine Entschlossenheit zerbrochen war.

»Es hätte auch ein Dämon sein können«, log sie trotzdem.

Das verhärtete Gesicht neben ihr hob sich. »Er war ein guter Mann«, sagte er leise. »Er machte sich Gedanken über die Menschen und half ihnen. Er liebte die Königin. Sie hätte ihn vielleicht sogar eines Tages zum König ernannt.«

»Wenn ich nicht gewesen wäre.«

Er wandte sich verlegen ab. »Das hätte ich nicht sagen sollen. ihr seid die Königin.« Dann wandte er sich wieder ihr zu. »Eure Großmutter hätte den Ruhkstab nicht Euch gegeben, wenn sie es nicht für besser gehalten hätte. Sie hätte ihn statt dessen Gavilan gegeben. Vielleicht hatte sie an ihm schon etwas bemerkt, was wir indem nicht bemerkt haben. Ihr habt die Kraft, die das Elfenvolk braucht.«

Sie sah ihn an. »Ich wollte nichts davon, Triss. Nichts davon.« Er nickte und lächelte vage. »Nein. Warum solltet Ihr auch?« »Ich wollte nur herausfinden, wer ich bin.«

Sie sah ein Aufflackern der Verzweiflung in seinen dunklen Augen. »Ich behaupte nicht, daß ich verstehe, was Euch zu uns geführt hat«, sagte er. »Ich weiß nur, daß Ihr hier seid und daß Ihr die Königin der Elfen seid.« Er hielt seinen Blick fest auf sie gerichtet. »Laßt uns nicht im Stich«, sagte er leise und drängend. »Verlaßt uns nicht. Wir brauchen Euch.«

Sie wunderte sich über die Intensität seiner Bitte. Sie legte eine Hand beruhigend auf seinen Arm. »Mach dir keine Sorgen, Triss. Ich verspreche, daß ich nicht davonlaufe. Niemals.«

Dann verließ sie ihn und ging zu der Stelle hinüber, wo Garth schlief. Sie kuschelte sich eng an ihren großen Freund, denn sie brauchte in dieser Nacht sowohl seine Wärme als auch seinen Körper als Trost. Sie wünschte, sich in die Vergangenheit zurückziehen zu können, diesen Schutz und diese Sicherheit wiederzufinden, die sie ihr einst geboten hatte, und wiederzuerlangen, was unwiederbringlich verloren war. Doch nun richtete sie sich mit dem ein, was vorhanden war, und sank schließlich in Schlaf.

Beim Morgengrauen erwachte sie. Sie war jetzt ausgeruhter, als es ihr zustand. Das Licht schimmerte schwach und grau durch den Dunst, und die Welt um sie herum wirkte still und leer und roch nach Verwesung. Das Rumpeln vom Killeshan klang entfernt und schwach, und doch war es jetzt auch zum ersten Mal, seit sie ihre Reise begonnen hatten, ununterbrochen da, eine langsame Folge von Zuckungen, die Größeres ankündigten. Wren wußte, daß die Zeit verrann – schneller jetzt, unwiderbringlich mit jeder Stunde. Das Feuer des Vulkans erhob sich im Kern der Insel zu einer letzten Feuersbrunst, und wenn sie ausbrach, würde alles vernichtet werden.

Sie brachen sofort auf. Stresa ging voran, Garth folgte einen Schritt hinter ihm, und Wren mit Faun und Triss bildeten den Schluß. Wren war jetzt ruhiger. Sie überlegte sich, daß Gavilan nirgends hingehen konnte. Er konnte auf der Suche nach Tiger Ty und Spirit zum Strand laufen, aber wie groß war seine Chance schon, seinen Weg durch den In Ju zu finden? Er war kein Spurenleser und hatte keine Erfahrung im Überleben in der Wildnis. Er war bereits halb wahnsinnig vor Angst und Verzweiflung gewesen. Wie weit war er wohl gekommen? Er lief wahrscheinlich im Kreis, und sie würden ihn schnell finden.

Und doch lauerte in ihrem Unterbewußtsein das Hirngespinst, daß es ihm irgendwie gelingen könnte, aus dem Dschungel heraus und den Weg hinunter zum Strand zu finden. Daß er Tiger Ty davon überzeugen könnte, daß alle anderen tot seien, und er selbst den Ruhkstab sicher fortbringen müsse. Und dann würden sie auf Morrowindl zurückgelassen. Dieser Gedanke verlieh ihr ungeahnten Zorn, vor allem, wenn sie die Möglichkeit in Erwägung zog, daß Gavilan gar nicht wirklich glaubte, daß sie tot seien, sondern beschlossen hatte, eigenmächtig zu handeln, weil er von der Richtigkeit seiner Beweggründe und der Unvermeidbarkeit seine Machtübernahme überzeugt war.

Doch diesen Gedanken vermochte sie nicht weiter zu verfolgen, daher schob sie ihn rasch beiseite.

Der Blackledge begann hinter dem Harrow abrupt abzufallen, aber er war hier nicht so steil wie an jener Stelle, wo Garth und sie hinaufgestiegen waren. Seine Hänge waren zwar schroff und dicht bewachsen, aber es war nicht schwer für sie, einen Weg hinab zu finden. Sie stiegen schnell hinunter, wobei Stresa darauf achtete, ob Gavilans Geruch noch vor ihnen war, während sie weitergingen. Gebrochene Zweige und zerknitterte Blätter zeigten deutlich, wo der Elfenprinz entlanggegangen war. Wren hätte die Spur allein verfolgen können, so offensichtlich war sie. Ab und zu entdeckten sie Stellen, wo der Mann auf seiner Flucht gestürzt war. Offensichtlich war er ohne besondere Rücksicht auf seine Sicherheit nur bestrebt gewesen, rasch zu entkommen. Er muß außer sich sein, dachte Wren traurig. Er hat große Angst. Gegen Mittag erreichten sie den Rand des In Ju und legten eine Pause ein, um etwas zu essen. Stresa war auf mürrische Art zuversichtlich. Sie lägen nur wenige Stunden hinter Gavilan zurück, bedeutete er ihnen. Der Elfenprinz schwanke jetzt bereits sehr stark und sei eindeutig erschöpft. Sie würden ihn vor Einbruch der Nacht einholen, es sei denn, es geschähe etwas, was die Dinge ändern würde.

Stresas Voraussage war prophetisch – aber nicht so, wie sie es erhofft hatten. Kurz nachdem sie die Verfolgung von Gavilan, der offenbar viele nutzlose Versuche gemacht hatte, dem In Ju auszuweichen, wieder aufgenommen hatten, begann es zu regnen. Die Luft war während ihres Abstiegs vom Berg immer heißer geworden, eine Schwüle, die sich langsam aufgebaut hatte und nicht wieder gewichen war. Da der Regen anhielt, wurde die Schwüle zu einer Feuchtigkeit, die die Luft erfüllte, zu dichtem Dunst, der sich wie nasse Seide auf ihre Haut legte und über ihre Lederkleidung perlte. Nach einiger Zeit verwandelte sich die Feuchtigkeit in Nebel, dann in ein Tröpfeln und schließlich in einen Wolkenbruch, der mit grimmiger Entschlossenheit über sie hinwegfegte. Er nahm ihnen die Sicht und zwang sie, unter einem riesigen Banyanbaum Schutz zu suchen. Der Regen rauschte schnell herunter und nahm Gavilans Geruch mit sich. Stresa suchte sehr gründlich, aber alle Spuren waren fort.

Garth untersuchte das feuchte, grüne Gewirr des Dschungels. Er machte Wren ein Zeichen. Seine Spuren sind noch immer offenkundig. Ich kann ihn aufspüren.

Sie ließ Garth vorangehen und Stresa einen halben Schritt hinter ihm folgen, wobei der erste nach Zeichen dafür suchte, welchen Weg ihre Jagdbeute genommen hatte, und der letztere auf Pfeilschützen und andere Gefahren achtete. Jagdbeute, dachte Wren und wiederholte die Worte. Nichts anderes stellte Gavilan jetzt für sie da. Sie verspürte gegen ihren Willen Mitleid mit ihm. Sie dachte, daß er besser in der Stadt geblieben wäre, und überlegte, daß sie mehr für seine Sicherheit hätte sorgen sollen, denn sie wünschte sich noch immer, was niemals sein konnte.

Sie kamen jetzt langsamer voran. Gavilan hatte seine Versuche, den In Ju zu umgehen, offensichtlich aufgegeben, denn seine Spur führte sie geradewegs hinein. Die Zeichen, die sie fanden – abgebrochene Zweige, zertretene Pflanzen und manchmal ein Fußabdruck –, vermittelten den Eindruck, als habe er jeden Versuch, sich im Verborgenen zu bewegen, aufgegeben und versuche lediglich, den Strand auf dem kürzesten Weg zu erreichen. Schnelligkeit der Vorsicht vorzuziehen, war eine schlechte Wahl, dachte Wren bei sich. Sie verfolgten seine Spur beständig, ohne jede Schwierigkeit, und Wren erwartete bei jeder Biegung, auf ihn zu stoßen, so daß die Jagd beendet und das Unvermeidliche bestätigt wäre. Aber auf irgendeine Weise blieb er vor ihnen, umging die Fallgruben, die überall verstreut lagen, die sumpfigen Stellen und Senkgruben, die Pfeilschützen, die Wesen, die auf den Unbedachten lauerten, und alle Fallen und Monster, die durch Elfenmagie entstanden waren, die er in seiner Einfalt zu benutzen gedachte. Wren konnte sich nur darüber wundern, wie er es schaffte, hier zu überleben. Er hätte schon mehr als ein Dutzend Male tot sein müssen. Ein Schritt in die falsche Richtung, und es hätte sein Ende bedeutet. Sie stellte fest, daß sie wünschte, es würde passieren, daß er diesen einen Fehler begehen würde, und der Wahnsinn zu Ende wäre. Sie verabscheute es, daß sie ihn wie ein Tier jagen, hinter ihm herhetzen mußten, als sei er eine Beute. Sie wollte, daß es aufhörte.

Gleichzeitig fürchtete sie das, was notwendig war, damit es vorbei war.

Als sie in Sichtweite der Netze des Wisteron kamen, verlor sie alle Hoffnung. Nicht so, hörte sie sich innerlich jenes Schicksal beschwören, das für solche Dinge verantwortlich war. Gewähre ihm ein schnelles Ende. Überall waren Stolperleinen gespannt, die von Bäumen herabführten, sich an Weinranken entlangschwangen und in tödliche Netze gewebt waren. Stresa übernahm jetzt wieder die Führung, um sie an den Schlingen vorbeizulotsen. Er blieb oft stehen, um zu lauschen, in die Luft zu schnüffeln und die Sicherheit des Geländes vor ihnen zu überprüfen. Der Dschungel verdichtete sich zu einem Labyrinth grüner Farne und dunkler Baumstämme, die einander auf vielfältige Art kreuzten. Schatten bewegten sich langsam und schwerfällig um sie herum, aber ihre Stimmen klangen gierig und hungrig. Der Nachmittag ging in den Abend über, und es wurde dunkel. Weit entfernt und verborgen hinter dem Berg, den sie hinabgestiegen waren, rumpelte der Killeshan. Sein Zittern erschütterte die Insel, und der grüne Dunst des Dschungels vibrierte mit dem Echo. Explosionen begannen hörbar zu werden, zunächst noch gedämpft, doch dann wurden sie lauter. Die Bäume erzitterten unter dem Widerhall, und Dampf stieg mit einem Zischen der Entlastung in Geysiren aus den Teichen des Sumpfes. Als sich das Licht verdunkelte, konnte Wren durch den Dunst des Vogs und des Nebels sehen, wie sich der Himmel über dem Killeshan rötete.

Es hat angefangen, dachte sie, als Garths besorgter Blick dem ihren begegnete.

Sie fragte sich, wieviel Zeit ihnen noch blieb. Selbst wenn sie den Stab zurückbekamen, würde es noch immer zwei Tage dauern, bis sie den Strand erreichten. Würde Tiger Ty dort auf sie warten? Was hatte er versprochen, wie oft er kommen würde? Einmal pro Woche, so war es doch? Was, wenn eine ganze Woche vergehen mußte, bevor er zurückkehren würde? Würde er den Schein des Vulkans bemerken und die Gefahr spüren, die ihnen drohte?

Oder hatte er seine Wache schon lange aufgegeben, weil er überzeugt davon war, daß ihre Mission fehlgeschlagen war, daß sie umgekommen waren wie all die anderen und daß es keinen Sinn hatte, weiterzusuchen?

Sie schüttelte belehrend gegen sich selbst den Kopf. Nein, nicht Tiger Ty. Sie hielt ihn für zuverlässig. Er würde nicht aufgeben, sagte sie sich. Nicht, solange es noch Hoffnung gab.

»Phfffft! Wir müssen bald anhalten«, warnte Stresa. »Hsssst. Und einen Unterschlupf finden, bevor es dunkel wird und der Wisteron auf die Jagd geht!«

»Laß uns noch ein wenig weitergehen«, schlug Wren vor. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben.

Sie gingen weiter, aber Gavilan Elessedil war nicht zu finden. Seine unregelmäßige Spur zog sich vor ihnen dahin, wand sich voraus in den In Ju – eine Reihe geknickter und abgebrochener Stengel und Blätter, die in den Schatten verschwand.

Schließlich gaben sie es auf. Stresa fand in dem hohlen Stumpf eines Banyan, der vom Alter und der Erosion gefällt worden war, einen Unterschlupf für sie, einem massiven Stamm mit Gängen in seinem Wurzelstock und einem engen Spalt weiter oben. Sie verbarrikadierten den größeren Gang und setzten sich zum Wachehalten vor den kleineren. Nichts, wie klein es auch war, konnte an sie herankommen. Es war dunkel und eng in ihrem hölzernen Versteck und so trocken wie in Wintererde. Die Nacht senkte sich herab, und sie lauschten dem Erwachen der Dschungeljäger, dem rauhen Brüllen, den Geräuschen langsamen Vorbeiziehens und den Klagen der Beuteopfer, die gefangen und getötet wurden. Sie kauerten sich Rücken an Rücken vor das schwache Licht. Sie hielten abwechselnd Wache, dösend, weil sie zu müde waren, um wach zu bleiben, aber auch zu ängstlich, richtig zu schlafen. Faun lag so still wie der Tod in Wrens Armen geborgen. Sie streichelte das kleine Wesen zärtlich und fragte sich, wie es in einer solchen Welt hatte überleben können. Sie dachte daran, wie sehr sie Morrowindl haßte. Es war ein Dieb, der ihr alles genommen hatte – die Leben ihrer Großmutter und ihrer Freunde, die Unschuld, die sie den Elfen und ihrer Geschichte gegenüber empfunden hatte, die Liebe und Zuneigung für Gavilan, die sie in sich entdeckt hatte, und das Vertrauen in ihre Willenskraft, die sie für unverlierbar gehalten hatte. Deren Verlust war es, was sie am meisten beunruhigte, der Verlust ihres Vertrauens darauf, wer und was sie war, und der Sicherheit, ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können. So vieles war verloren, und Morrowindl, dieses frühere Paradies, das in einen Alptraum der Schattenwesen verwandelt worden war, hatte ihr dies alles genommen. Sie versuchte, sich das Leben jenseits der Insel vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Sie konnte nicht weiter denken als bis zu einer Flucht von der Insel, denn ihr Entkommen war noch immer ungewiß, ihr Schicksal hing noch in der Schwebe. Sie erinnerte sich daran, daß sie einst gedacht hatte, die Reise zu Allanon und das Gespräch mit ihm könnten der Anfang eines großen Abenteuers sein. Die Erinnerung daran schmeckte schal.

Sie schlief eine Zeitlang, träumte von dunklen und furchtbaren Wesen und wachte erhitzt und schwitzend wieder auf. Als sie Wache hielt, bemerkte sie, daß ihre Gedanken immer wieder zu Gavilan abschweiften, zu kleinen Erinnerungen an ihn – die Art, wie er sie berührt hatte, das Gefühl seines Mundes auf dem ihren und das Wunder, das er in ihr durch nicht mehr erweckt hatte als durch eine beiläufige Bemerkung oder einen Blick, mit dem er sie streifte. Sie lächelte bei der Erinnerung. Es hatte so vieles an ihm gegeben, was sie gemocht hatte, daß sein Verlust sie schmerzte. Sie wünschte, sie könnte ihn wieder zurückbringen und erneut in den Menschen verwandeln, der er gewesen war. Sie wünschte sogar, sie wüßte einen Weg, die Magie das tun zu lassen, was die Natur nicht tun konnte – die Vergangenheit zu ändern. Es waren sinnlose Gedanken, und sie quälten sie gnadenlos. Gavilan war für sie verloren. Er war dem Wahnsinn Morrowindls zum Opfer gefallen. Er hatte Dal getötet und den Ruhkstab gestohlen. Er hatte sich in etwas Ungeheuerliches verwandelt. Gavilan Elessedil, den Mann, zu dem sie sich so hingezogen gefühlt hatte und um den sie sich so gesorgt hatte, gab es nicht mehr.

Bei Tagesanbruch erhoben sie sich und setzten ihren Weg fort. Sie mußten sich nicht um ein Frühstück kümmern, weil sie nichts mehr zu essen hatten. Ihre Vorräte waren erschöpft, wo sie nicht ohnehin verloren oder zurückgelassen worden waren. Es gab noch ein wenig Wasser, aber nicht mehr, als für einen Tag ausreichend war. Im In Ju würden sie auch nichts finden, was sie ernähren konnte. Ein weiterer Grund, schnell voranzukommen.

Ihre Suche war an diesem Tag vorbei, bevor sie noch richtig begonnen hatte. Nach weniger als einer Stunde endete Gavilans Spur plötzlich. Sie erreichten den Kamm einer Schlucht, verlangsamten auf Stresas warnendes Zischen hin ihren Schritt und blieben stehen. Unter ihnen, inmitten eines Durcheinanders kleiner Pflanzen und fast völlig niedergetretener Gräser, sahen sie Spuren von etwas, das ein verzweifelter Kampf gewesen sein mußte. Außerdem fanden sie Fetzen eines Netzes des Wisteron.

Stresa eilte in die Schlucht hinab, schnüffelte vorsichtig umher und kletterte wieder heraus. Seine dunklen, leuchtenden Augen fixierten Wren. »Hsssst. Er hat ihn, Wren Elessedil.«

Sie schloß die Augen vor den schrecklichen Bildern, die die Worte des Stachelkaters in ihr hervorriefen. »Wie lange schon?«

»Ssspppt. Nicht lange. Vielleicht sechs Stunden. Ungefähr seit Mitternacht, würde ich vermuten. Das Netz umschlang den Elfenprinzen und hielt ihn gefangen, bis der Wisteron kam. Grrrrr. Die Bestie hat ihn dann davongetragen.«

»Wohin, Stresa?«

Der andere stellte die Ohren auf. »Er hat ein Versteck, vermute ich. Er bewohnt den tiefer gelegenen Teil einer Mulde mitten im In Ju.«

Sie spürte von neuem Müdigkeit durch sich hindurchfließen. Natürlich, ein Lager – es mußte eines geben. »Irgendein Hinweis auf den Ruhkstab?«

Der Stachelkater schüttelte den Kopf. »Auch er ist fort.«

Wenn Gavilan ihn also nicht zurückgelassen hatte – was er niemals tun würde –, so war er noch immer bei ihm. Sie erschauerte trotz ihrer Entschlossenheit. Sie erinnerte sich an ihre kurze Begegnung mit dem Wisteron auf ihrem Weg zur Stadt. Sie erinnerte sich, welche Empfindungen allein schon sein Vorbeigehen in ihr ausgelöst hatte.

Armer, dummer Gavilan. Es gab jetzt keine Hoffnung mehr für ihn.

Sie schaute die anderen an, einen nach dem anderen. »Wir müssen den Ruhkstab zurückbekommen. Wir können nicht ohne ihn fortgehen.«

»Nein, Hoheit, das können wir nicht«, sagte Triss mit undurchdringlichem Blick.

Garth stand da, und seine großen Hände hingen schlaff an seiner Seite hinab.

Stresa schüttelte seine Stacheln, und sein spitzes Gesicht hob sich dem ihren entgegen. »Grrrrr, Wren von den Elfen, ich habe auch nichts anderes von dir erwartet. Hsssst. Aber du wirst die – phffft – Elfenmagie benutzen müssen, wenn wir überleben sollen. Die wirst du gegen den Wisteron brauchen.«

»Ich weiß«, flüsterte sie und spürte, wie der letzte Rest ihres alten Lebens von ihr abglitt.

»Chhttt. Nicht, daß es einen Unterschied machen würde. Phffftt. Der Wisteron ist...«

»Stresa«, unterbrach sie ihn sanft. »Du mußt nicht mitkommen.«

Die Stille des Augenblicks hing wie ein Schirm vor dem Dschungel. Der Stachelkater seufzte und nickte. »Phfffft. Wir sind zusammen bis hierher gegangen, nicht wahr. Keine überflüssigen Worte mehr. Ich werde euch hineinbringen.«

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