Sie blieben in dieser Nacht am Strand, womit sie dem Rat Tiger Tys folgten, zu warten, bis der Tag begann. Erst dann wollten sie landeinwärts starten. Sie wählten einen Platz ungefähr eine Viertelmeile nördlich von der Stelle, an der der Flugreiter sie abgesetzt hatte, um ihr Lager aufzuschlagen. Es war eine weite, offene Fläche mit schwarzem Sand, an der die Gezeitenlinie mehr als Hundert Fuß vom Rand des Dschungels entfernt endete. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, die Sonne war unter dem Horizont verschwunden, und ihr schwächer werdendes Licht wurde zu einem schwachen Schimmer über den Meereswogen. Als die Dunkelheit herabsank, überflutete hellsilbernes Licht vom Mond und den Sternen den leeren Strand. Es wurde vom Sand zurückgestrahlt, als seien dort Diamanten ausgestreut, und erhellte die Küstenlinie, so weit das Auge sehen konnte. Daher beschlossen sie auch gleich, kein Feuer zu entfachen. Weder Licht noch Hitze wurden benötigt. Von der Stelle auf dem offenen Strand aus, wo sie sich jetzt befanden, konnten sie sehen, wenn sich etwas zu nähern versuchte, und die Luft war warm und mild. Ein Feuer würde nur die Aufmerksamkeit auf sie ziehen, und das wollten sie nicht. Sie aßen eine kalte Mahlzeit aus getrocknetem Fleisch, Brot und Käse und spülten alles mit Bier hinunter. Sie saßen dem Dschungel gegenüber, mit dem Rücken zum Meer, und lauschten und beobachteten. Morrowindl verlor seine Konturen, als die Nacht hereinbrach, die Linien des Dschungels und der Klippen und der Wüste verschwanden in der Dunkelheit, bis die Insel schließlich kaum mehr als eine Silhouette vor dem Himmel war. Schließlich verschwand sogar diese, und alles, was blieb, war ein beständiges Gewirr von Lauten. Die waren größtenteils nicht unterscheidbar, schwach und unterdrückt, verstreute Rufe und Heulen und Summen von Vögeln und Insekten und Tieren, die alle in der Schutz bietenden Dunkelheit verborgen waren. Das Wasser der Blauen Spalte lief in stetigem Rhythmus auf die Strande der Insel hinauf, wusch sie aus und zog sich wieder zurück, ein langsames und beständiges Plätschern. Eine Brise kam auf, sanft und wohlriechend, und sie vertrieb die letzten Reste der Hitze des Tages.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, starrten sie eine Weile schweigend hinaus – auf den Himmel und den Strand und das Meer, auf nichts.
Bereits jetzt erreichte Morrowindl, daß sich Wren unbehaglich fühlte. Sogar jetzt, eingehüllt in Dunkelheit, unsichtbar und schlafend, wirkte die Insel bedrohlich. Sie stellte sie sich in Gedanken vor: Killeshan, der sich mit seinem zerklüfteten, geöffneten Schlund gen Himmel erhob, und die dschungelbewachsenen Hänge, turmhohen Klippen und öden Wüsten. Die Insel wie ein angeketteter Gigant, der in Vog und Nebel eingehüllt war und wartete. Sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren, begierig und hungrig. Sie konnte ihn zur Begrüßung zischen hören.
Sie konnte fühlen, wie er sie beobachtete.
Es ängstigte sie mehr, als sie zugeben wollte, und sie konnte ihre Angst nicht völlig unterdrücken. Sie war ein heimtückischer Schatten, der durch die Gänge ihrer Gedanken kroch und Worte flüsterte, deren Bedeutung unverständlich, deren Absicht aber eindeutig war. Sie fühlte sich ganz eigentümlich, all ihrer Fähigkeiten und ihres Könnens beraubt, als sei alles in dem Moment, in dem sie angekommen war, von ihr abgestreift worden. Sogar ihre Instinkte schienen durcheinander geraten zu sein. Sie konnte es nicht erklären. Es ergab keinen Sinn. Es war nichts geschehen, und doch war sie hier, mit zerrissenem Selbstvertrauen, das wie Stroh verstreut war. Eine andere Frau hätte vielleicht Trost in der Tatsache gefunden, daß sie die legendären Elfensteine besaß – aber nicht Wren. Die Magie war ihr fremd. Für sie war sie eine Sache, der man mißtrauen sollte. Sie gehörte einer Vergangenheit an, von der sie nur gehört hatte, einer Geschichte, die Generationen lang verloren gewesen war. Sie gehörte jemand anderem, jemandem, den sie nicht kannte. Die Elfensteine, dachte sie düster, hatten nichts mit ihr zu tun.
Die Worte weckten ein Gefühl von Kälte in ihrer Magengrube. Natürlich waren sie eine Lüge.
Sie legte die Hände vors Gesicht und verbarg sich so. Zweifel krochen von allen Seiten auf sie zu, und obwohl es jetzt sinnlos war, fragte sie sich kurz, ob ihre Entscheidung, nach Morrowindl zu kommen, nicht falsch gewesen war.
Schließlich nahm sie die Hände herunter und beugte sich vor, bis sie in der Dunkelheit Garths bärtiges Gesicht deutlich sehen konnte. Der große Mann beobachtete unbewegt, wie sie ihre Hände hob und zu gestikulieren begann.
»Glaubst du, ich habe einen Fehler gemacht, als ich darauf bestanden habe, daß wir herkommen?« fragte sie ihn. Er betrachtete sie einen Moment und schüttelte dann den Kopf. Es ist niemals ein Fehler, etwas zu tun, was man für notwendig hält.
»Ich habe es für notwendig gehalten.«
Ich weiß.
»Aber ich bin nicht nur hergekommen, um herauszufinden, ob die Elfen noch am Leben sind«, sagte sie in der Zeichensprache. »Ich kam auch, um etwas über meine Eltern herauszufinden, um zu erfahren, wer sie waren und was aus ihnen geworden ist.«
Er nickte schweigend.
»Ich brauchte mich nicht zu sorgen, weißt du«, versuchte sie ihm weiter zu erklären. »Es war nicht notwendig, etwas anders zu machen. Ich war eine Fahrende, und das war genug. Sogar noch, nachdem Cogline uns gefunden hatte und wir ostwärts zum Hadeshorn zogen und den Schatten Allanons trafen. Und sogar noch, als ich begann, nach den Elfen zu fragen. In der Hoffnung, etwas über ihr Schicksal zu erfahren, habe ich noch nicht an meine Eltern gedacht. Ich hatte keine Vorstellung davon, wohin das alles führen würde. Ich ging einfach weiter, stellte meine Fragen und erfuhr schließlich von der Addershag und dann von dem Signalfeuer. Ich folgte einfach einem Weg und war neugierig, wohin er führte.«
Sie machte eine Pause. »Aber die Elfensteine, Garth – das war etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Als ich entdeckte, daß sie wirklich waren – daß es die Elfensteine von Shea und Will Ohmsford waren –, änderte sich alles. So viel Macht – und sie gehörten meinen Eltern. Warum? Wieso hatten meine Eltern sie? Was bezweckten sie damit, sie mir zu geben? Das verstehst du, nicht wahr? Ich werde niemals Antworten bekommen, außer wenn ich herausfinde, wer meine Eltern waren.«
Garth signalisierte. Ich verstehe. Ich wäre nicht hier bei dir, wenn ich es nicht täte.
»Das weiß ich«, flüsterte sie, und ihre Kehle wurde eng. »Ich wollte es dich nur sagen hören.«
Sie schwiegen einen Moment und wandten die Augen ab. Irgend etwas Großes platschte weit draußen auf dem Wasser auf. Das Geräusch hallte einen Moment wider und verklang dann. Wren stieß ihren Schuh in den rauhen Sand.
»Garth«, signalisierte sie und lenkte seinen Blick auf sich.
»Gibt es irgend etwas über meine Eltern, was du mir nicht gesagt hast?«
Garth sagte nichts. Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Denn wenn da etwas ist«, signalisierte sie, »mußt du es mir jetzt sagen. Du kannst mich diese Suche nicht fortsetzen lassen, ohne daß ich es weiß.«
Garth bewegte sich und ließ den Kopf in Schatten versinken. Als er ihn wieder hob, begannen seine Finger, die Zeichen zu formen. Ich würde dir nichts vorenthalten, was nicht nötig wäre. Ich enthalte dir jetzt nichts über deine Eltern vor. Was ich weiß, habe ich dir gesagt. Glaube mir.
»Das tue ich«, bestätigte sie ruhig. Und doch beunruhigte sie die Antwort. Enthielt er ihr vielleicht doch noch etwas anderes vor, weil er es für notwendig hielt? Hatte sie das Recht, zu fordern, daß auch sie erfuhr, was das war?
Sie schüttelte den Kopf. Er würde sie niemals verletzen. Das war das Wichtigste. Nicht Garth.
Wir werden die Wahrheit über deine Eltern herausfinden, signalisierte er plötzlich. Ich verspreche es.
Sie streckte kurz die Hand aus, um seine Hände zu ergreifen, und ließ sie dann wieder los. »Garth«, sagte sie, »du bist der beste Freund, den ich jemals haben werde.«
Sie hielt dann Wache, während er schlief, und fühlte sich durch seine Worte getröstet. Jetzt war sie wieder sicher, daß sie trotz allem nicht allein war, daß sie ihr Ziel gemeinsam angehen würden. Verborgen in der Dunkelheit brütete Morrowindl weiter vor sich hin. Aber sie war jetzt nicht mehr so eingeschüchtert. Ihr Entschluß wurde fester, ihr Ziel deutlich. Es würde so sein, wie es schon so viele Jahre war – sie und Garth gegen alles, was immer sie erwartete. Das würde genügen.
Als Garth um Mitternacht erwachte, begab sie sich schnell zur Ruhe.
Der Sonnenaufgang ließ den Himmel in hellem Silber erstrahlen, aber Morrowindl war eine schwarze Mauer, die dieses Licht ausschloß. Die Insel stand zwischen der Dämmerung auf der einen Seite und Wren und Garth auf der anderen, als wollte sie die Fahrenden für immer in ihre Schatten einschließen. Der Strand war ruhig und leer, eine schwarze Linie, die sich in die Ferne erstreckte wie ein ausgebreiteter Streifen Trauerflor. Felsen und Klippen ragten aus dem grünen Gewirr des Dschungels heraus und stießen hervor wie gefangene Tiere, die zu atmen versuchen. Killeshan stieß in stummem Schweigen himmelwärts, und Rauch entstieg aus den Rissen in seiner Lavafelshaut. Weit entfernt im Norden enthüllte ein Blick auf die Wüstenseite der Insel eine harte, gebrochene Oberfläche, über der eine Decke aus schwefelhaltigem Nebel lag, auf der sich nichts bewegte.
Die Fahrende und ihr Begleiter wuschen sich und aßen ein eiliges Frühstück. Sie waren bestrebt, schnell fortzukommen. Die Tageshitze war bereits spürbar und verdrängte die Meeresbrisen über dem Wasser. Seevögel glitten und schössen darin entlang und hielten nach Nahrung Ausschau. Krabben trippelten vorsichtig in den Felsen herum und suchten in Rissen und Spalten nach Schutz. Rundherum erwachte die Insel.
Wren und Garth schulterten ihr Gepäck, überprüften ihre Waffen, sahen sich kurz an und starteten landeinwärts. Der Strand endete in einem kleinen Flecken hohen Grases, der dann wieder einem Wald aus turmhohen Akazien Platz machte. Die Stämme der uralten Bäume hoben sich wie Säulen himmelwärts, wo sie sich in der Höhe verloren, was ihnen das Aussehen einer Mauer gab. Der Boden des Waldes war karg und strauchlos. Stürme und Fluten hatten alles fortgewaschen, nur die riesigen Bäume waren geblieben. Innerhalb der Akazien war alles ruhig. Die Sonne im Osten war noch wolkenverhangen, und Schatten lagen über allem. Wren und Garth gingen langsam, aber stetig vorwärts und waren für jede Art von Gefahr gewappnet. Sie traten aus den Akazien heraus und auf ein Wäldchen aus Bambuspflanzen zu. Sie gingen an dessen Rand entlang, bis sie einen Durchgang durch das Gesträuch fanden. Sie benutzten ihre kurzen Schwerter, um sich ihren Weg hindurch zu bahnen. Von da aus gingen sie an einer Wiese entlang weiter, auf der das Gras brusthoch stand und Wildblumen in vielerlei Farben inmitten des Grüns wuchsen. Vor ihnen stieg der Wald die Hänge des Killeshan empor, Bäume und Sträucher überzogen die seltsamen Formationen von Lavagestein, und alles verschwand schließlich im Vog.
Der erste Tag verging ohne Zwischenfälle. Sie reisten durch offenes Land, wann immer es möglich war, und wählten einen Weg, der ihnen erlaubte, zu sehen, worauf sie gingen. In dieser Nacht schlugen sie ihr Lager auf einer Wiese auf und machten es sich auf erhöhtem Untergrund bequem, so daß sie wieder eine klare Sicht in alle Richtungen hatten. Der zweite Tag verging auf die gleiche Weise wie der erste. Sie kamen gut voran, indem sie Flüsse und Ströme nutzten und Senken und kleinere Erhebungen ohne Schwierigkeiten überwanden. Es gab keinerlei Hinweise auf die Monster, vor denen Tiger Ty sie gewarnt hatte. Es gab buntgefärbte Schlangen und Spinnen, die mit ziemlicher Sicherheit giftig waren, aber die Fahrenden hatten bereits in anderen Teilen der Welt mit deren Vettern zu tun gehabt und wußten genug von ihnen, um jeden Kontakt zu vermeiden. Sie hörten das Fauchen von Moorkatzen, sahen aber keine. Ein- oder zweimal flogen Raubvögel über sie hinweg, aber nach mehrmaligem flüchtigen Kreisen schössen die Jäger auf der Suche nach leichterer Beute davon. Es regnete häufig und schwer, aber niemals sehr lange, und die einzige Gefahr war, von einer unerwarteten Sturzflut in einem trockenen Flußbett überrascht zu werden oder in neu gebildete Senkgruben zu fallen. Außerdem kühlte der Regen sie ab.
Die ganze Zeit über kamen die in Dunst halb verborgenen Hänge des Killeshan näher, ein Versprechen von zukünftigen, härteren Herausforderungen.
Der dritte Tag begann auf die gleiche Art wie die beiden vorherigen, schattig und ruhig und brütend. Die Sonne ging auf und war kurz durch die Bäume vor ihnen zu sehen, ein warmes und einladendes Lichtzeichen. Doch dann verschwand sie plötzlich, als sich die unteren Ränder des Vog noch weiter hinabzogen. Der Dunst war dünn und zunächst wenig beunruhigend, nicht viel mehr als eine Verdichtung der Luft, ein Ermatten des Lichts. Aber langsam begann er dichter zu werden, sich zusammenzuballen und alles auszuschließen, was mehr als dreißig Fuß von ihrem jeweiligen Standort entfernt war. Das Land wurde rauher, als die Ebenen der Küstenlinie und die grasbewachsenen Ausläufer Hügeln und Abhängen wichen und das Lavagestein bröckelig und lose wurde. Der Untergrund wurde unsicher, und sie verlangsamten ihren Schritt.
Sie aßen besorgt und schweigend eilig zu Mittag und gingen dann vorsichtig weiter. Sie banden oberhalb der Stiefelschafte und unter den Knien dicke Felle um ihre Beine, um vor Schlangen geschützt zu sein. Sie legten ihre schweren Umhänge an und zogen sie fest um sich. Die Hitze der niedrigeren Hügel fehlte hier, und die Luft – von der sie geglaubt hatten, sie würde wärmer werden, je mehr sie sich Killeshan näherten – wurde kalt. Garth übernahm entschlossen die Führung und schirmte Wren somit ab. Schatten bewegten sich überall um sie herum durch den Dunst, Wesen ohne Gestalt und Form, die aber dennoch da waren. Die vertrauten Geräusche von Vögeln und Insekten erstarben zu erwartungsvoller Stille. Die Dämmerung sank früh herab. Es war wie ein Abfließen von Licht. Und dann begann der Regen als stetige Wand zu fallen.
Sie errichteten ihr Lager am Fuße einer uralten Koaakazie am Rande einer kleinen Lichtung. Den Rücken gegen den Baum gelehnt, aßen sie ihr Abendessen und beobachteten, wie sich das Licht von Rauchfarben zu Holzkohlenfarben verdunkelte. Der Regen verringerte sich zu einem zeitweise unterbrochenen Tröpfeln, und der Dunst begann den Berghang in tastenden Ranken hinabzukriechen. Der Wald verwandelte sich hier bereits in Dschungel, die Bäume waren dicht mit Weinranken bewachsen und umwickelt, der Untergrund war feucht und weich und nachgiebig. Schnecken und Käfer krochen durch das Unterholz und über vermoderte Baumstämme. Der Boden unter der Koaakazie war trocken, aber die Feuchtigkeit der Luft schien überall einzudringen. Es gab keine Möglichkeit, ein Feuer zu entfachen. Wren und Garth kauerten sich in ihre Umhänge und drängten sich enger zusammen. Die Nacht senkte sich um sie herum und übergoß die Welt mit Tintenschwärze.
Wren bot an, die erste Wache zu übernehmen, denn sie war zu gereizt, um zu schlafen. Garth stimmte wortlos zu. Er zog die Knie an, legte seinen Kopf auf die gekreuzten Arme und war gleich darauf eingeschlafen.
Wren saß da und starrte in die Finsternis. Die Bäume und der Dunst schlössen alles Licht vom Mond und von den Sternen aus, und selbst nachdem ihre Augen sich angepaßt hatten, war es ihr nicht möglich, weiter als zwölf Fuß zu sehen. Schatten zogen am Rande ihres Gesichtskreises vorbei, kurz, schnell und undeutlich. Geräusche schössen aus dem Dunst hervor, forderten sie heraus und neckten sie – der schrille Schrei von Nachtvögeln, das Zirpen von Insekten, Kratzen und Rascheln, Schnüffeln und Fauchen. Das leise Husten jagender Katzen erklang von irgendwo in weiter Ferne. Sie konnte schwach den Schwefelrauch Killeshans riechen, der durch die Luft zog und sich mit dem dichteren, wohlriechenden Geruch des Dschungels vermischte. Rund um sie herum erwachte eine unsichtbare Welt.
Soll sie doch, dachte sie trotzig. Die Luft wurde still, als auch das Tröpfeln aufhörte und nur der Nebel übrigblieb. Die Zeit verrann. Die Geräusche wurden leiser und weicher und vermittelten das Gefühl, daß alles dort draußen in der Finsternis wartete, daß alles beobachtete. Sie erkannte, daß die Schatten am Rande des herankriechenden Dunstes verblaßt waren. Garth schnarchte leise. Sie bewegte ihren verkrampften Körper, versuchte aber nicht, aufzustehen. Sie mochte das Gefühl des Baumes an ihrem Rücken und die Sicherheit von Garths Nähe. Sie haßte das Gefühl, das die Insel in ihr hervorrief – preisgegeben, verletzlich, ungeschützt zu sein. Es war das Ungewohnte, sagte sie sich. Es war die fehlende Vertrautheit mit dieser Insel, die Isolation von ihrem eigenen Land, die Erinnerung an Tiger Tys Warnung, daß es hier Monster gebe. Es würde dauern, bis sie sich daran gewöhnt hätte... Sie ließ den Gedanken unvollendet, als sie die Silhouette von etwas Großem am Rande des Dunstes auftauchen sah. Es ging kurzzeitig aufrecht auf zwei Beinen, ließ sich dann aber auf alle Viere nieder. Es blieb stehen, und sie wußte, daß es sie ansah. In ihrem Nacken kribbelte es, und sie führte ihre Hand hinab, bis sich ihre Finger um das lange Messer an ihrer Taille schlössen. Sie wartete.
Das Wesen, das sie beobachtete, rührte sich nicht. Es schien mit ihr zu warten.
Dann sah sie einen weiteren Schatten auftauchen, der dem ersten ähnelte. Und einen weiteren. Und einen vierten. Sie versammelten sich in der Dunkelheit und verharrten dort ruhig, während ihre Augen schimmerten. Wren atmete langsam und tief durch. Sie überlegte, ob sie Garth wecken sollte, sagte sich aber immer wieder, daß sie noch eine Minute warten wollte, gerade lange genug, um zu sehen, was geschehen würde. Aber nichts geschah. Die Minuten krochen dahin, und die Schatten blieben, wo sie waren. Wren fragte sich, wie viele wohl dort draußen waren. Dann fragte sie sich, ob sie auch hinter ihr waren, wo sie sie nicht sehen konnte, und heranschlichen, bis sie nahe genug waren, um...
Sie wandte sich schnell um und schaute. Dort war nichts. Zumindest nicht innerhalb ihres begrenzten Sichtkreises. Sie wandte sich wieder um. Sie wußte plötzlich, daß die Wesen warteten, um zu sehen, was sie tun würde, daß sie auskundschaften wollten, wie gefährlich sie sein könnte. Wenn sie lange genug sitzen bliebe, würden sie ungeduldig werden und beschließen, sie zu testen. Sie fragte sich, wieviel Zeit sie hatte. Sie fragte sich, was nötig wäre, um sie zu entmutigen. Wenn die Monster hier schon bei ihnen waren, nur drei Nächte vom Strand entfernt, dann würden sie von jetzt ab jede Nacht auf ihrem Weg landeinwärts da sein, sie beobachten und warten. Und es würden weitere kommen. Es mußte so sein.
Wrens Blut pulste genauso schnell durch sie hindurch wie ihre Gedanken. Gemeinsam waren Garth und sie den meisten Wesen gewachsen. Aber sie konnten es sich nicht leisten, gegen alles zu kämpfen, was ihnen begegnete.
Die Schatten hatten begonnen, sich wieder zu bewegen. Sie waren ruhelos. Sie hörte Murmeln, nicht eigentlich Worte, aber etwas Ahnliches. Sie konnte rund um sich herum Bewegung spüren, etwas anderes als die Schatten, Wesen, die sie nicht sehen konnte. Die Bewohner des Dschungels hatten sie entdeckt und versammelten sich. Sie hörte ein Grollen, leise und drohend. Neben ihr bewegte sich Garth im Schlaf und wandte sich ab. Wrens Gesicht fühlte sich heiß an.
Tu etwas, flüsterte sie sich selbst zu. Du mußt etwas tun.
Sie wußte, ohne hinzusehen, daß die Schatten jetzt auch hinter ihr waren.
Sie fühlte ein Brennen an ihrer Brust.
Fast ohne es zu wissen, griff sie in ihre Tunika und nahm den Lederbeutel mit den Elfensteinen heraus. Schnell, ohne wirklich darüber nachzudenken, was sie tat, schüttete sie die Steine in ihre Hand und schloß schnell die Finger darüber. Sie konnte spüren, daß die Schatten sie beobachteten.
Nur eine Andeutung dessen, was sie vermögen, sagte sie sich.
Das sollte genügen.
Sie streckte ihre Hand vor und öffnete leicht die Finger. Das blaue Licht der Elfensteine glänzte. Es sammelte sich und sein kaltes Feuer strebte in dünnen Streifen vorwärts, um die Dunkelheit zu durchdringen.
Sofort waren die Schatten verschwunden. Sie verschwanden so schnell und so vollständig, als wären sie nie dagewesen. Die Geräusche verstummten im Gebüsch. Die Welt um sie wurde leer, und sie und Garth waren alles, was darin zurückgeblieben war.
Sie schloß ihre Finger wieder und zog die Hand zurück. Die Schatten, was auch immer sie waren, wußten etwas von Elfenmagie.
Ihr Instinkt hatte ihr gesagt, daß es so sein würde. Sie wurde von einer plötzlichen Bitterkeit erfüllt. Die Elfensteine waren kein Teil ihres Lebens. Darauf hatte sie bestanden. O nein – sie gehörten nicht zu ihrem Leben. Sie gehörten jemand anders, nicht ihr. Wie schnell sie sich das gesagt hatte. Und wie schnell sie auf sie zurückgriff, wenn sie sich bedroht fühlte! Sie ließ die Steine in ihren Behälter zurückgleiten und schob ihn wieder in ihre Tunika. Die Nacht war friedlich und still, der Dunst war bar jeder Bewegung. Die Wesen, die auf Morrowindl lebten, waren jetzt auf der Suche nach leichterer Beute. Es war nach Mitternacht, als sie Garth weckte. Es war nichts mehr erschienen, um sie zu bedrohen. Sie erzählte Garth nicht, was geschehen war. Sie wickelte sich in ihren Umhang und lehnte sich an ihn.
Das war lange, bevor sie einschlief.
In der Morgendämmerung machten sie sich erneut auf den Weg. Der Vog lag dicht über den Hängen des Killeshan, und das Licht war dünn und grau. Feuchtigkeit erfüllte die Luft. Sie sickerte durch den Boden, auf dem sie gingen, durchdrang die Kleidung, die sie trugen, und ließ sie erschauern. Nach einiger Zeit begann die Sonne durch den Dunst zu scheinen, und ein Teil der Kälte wurde vertrieben. Ihre Reise ging langsam und mühevoll voran, das Land war uneben und zerklüftet, eine Reihe von Senken und Graten war unter dem wuchernden Dschungel verschwunden. Die Stille der letzten Nacht blieb bestehen, eine düstere Stille, die das Paar aussonderte und Fäden des Unbehagens um sie herum spann.
Am Rande ihres Sichtkreises blieben die Schatten spürbar. Sie waren dort, verstohlen, vorsichtig, eine Versammlung eiliger und formloser Geister, die dort waren, bis man nach ihnen schaute, und dann verschwanden. Garth schien ihre Gegenwart nicht zu bemerken, aber Wren wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Wenn sie von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf sein dunkles Gesicht warf, konnte sie die Ruhe sehen, die sich in seinen Augen zeigte. Sie wunderte sich, daß ihr großer Freund alles so vollständig ausschließen konnte. Ihre eigenen Augen suchten unaufhörlich den Nebel ab, denn sogar jetzt war sie sich noch immer nicht sicher, wie sehr die Wesen, die sich dort verbargen, die Elfensteine fürchteten, wie lange die Magie sie in Schach halten würde. Ihre Finger irrten unentwegt über ihre Tunika und den darunter liegenden Lederbeutel, um sich zu vergewissern, daß ihr Schutz noch immer da war.
Der Tag ging langsam zu Ende. Sie kamen durch Wälder aus Koaakazien und Banyans, die alt waren und von Moos und Weinranken struppig, an Berghängen entlang, an denen das Lavagestein gesprungen und in lose Brocken zerbrochen war, die zerbarsten und davonrollten, wenn sie versuchten, einen Halt zu finden. Sie stiegen in Schluchten hinab, in denen das Gestrüpp dornig war, und bahnten sich ihren Weg durch Täler, über die sich schwere Wolken als undurchdringliche Decke aus Grau gelegt hatten. Dabei kletterten sie unaufhörlich weiter und bahnten sich ihren Weg die Hänge des Killeshan hinauf, wobei sie durch Löcher im Vog kurze Blicke auf den Vulkan werfen konnten, dessen Gipfel fortstrebte und niemals näher zu kommen schien.
Sie begannen mehr und mehr die Gefahren der Insel zu erkennen. Es gab bestimmte Pflanzen, bunt gefärbt und kompliziert geformt, die Fallen waren, die alles fingen, was in ihre Reichweite kam. Es gab Senkgruben, die einen im Handumdrehen verschlingen konnten, wenn man so unglücklich war, hineinzutreten. Es gab fremdartige Tiere, die sich kurz zeigten und dann wieder verschwanden, Jäger, schuppig und mit Stacheln versehen, mit Klauen und scharfen Zähnen. Es zeigten sich keine Monster, aber Wren vermutete, daß sie da waren, sie beobachteten und warteten, denn sie hörte die Geister ihnen aus dem Dunst zuflüstern.
Die Nacht kam, und sie schliefen, und dieses Mal näherten sich die Schatten nicht, sondern hielten sich sorgfältig versteckt. Eine Moorkatze schlich heran, und Garth blies auf einem dicken Grashalm, so daß ein Pfeifgeräusch entstand, das die große Katze aber anscheinend nicht kümmerte, und dann verklang. Wren träumte von ihrer Heimat, vom Westland, als sie noch jung war und alles neu um sie herum, und sie erwachte mit deutlichen und strahlenden Erinnerungen.
»Garth, ich habe die Elfensteine erneut gebraucht«, teilte sie ihm beim Frühstück mit, während sie sich beide gegen die düstere Kälte zusammenkauerten. »Vor zwei Nächten, als die Schatten das erste Mal auftauchten.«
Ich weiß, erwiderte er, und seine Augen suchten ihre, während er sprach. Ich war wach.
»Wieviel hast du gesehen?« flüsterte sie und schüttelte ungläubig den Kopf.
Genug. Die Magie ängstigt dich, nicht wahr?
Sie lächelte sinnend. »Alles, was wir tun, ängstigt mich.«
Sie gingen durch die Stille der Dämmerung, in Gedanken versunken. Das Land vor ihnen wurde flacher, und der Dschungel wich von ihnen zurück. Der Vog war hier dichter und lag beständig und unbeweglich vor ihnen. Die Luft war ruhig. Sie überquerten einen offenen Platz und fanden sich am Rande eines Sumpfes wieder. Vorsichtig gingen sie an seinem schilfbewachsenen Rand entlang und suchten nach festerem Untergrund. Als sie ihn fanden, kamen sie weiter voran. Der Sumpf blieb. Immer wieder waren sie gezwungen, die Richtung zu wechseln und nach einem sicheren Übergang zu suchen. Der Sumpf war ein dumpfer, flacher Schimmer von Feuchtigkeit, der sich über Unmengen von Gras und Unkräutern erstreckte. Bäume reckten sich daraus hervor wie die Beine ertrunkener Riesen. Fliegende Insekten summten glitzernd und irisierend darüber hinweg. Garth braute eine übelriechende Salbe, einen Schutz gegen Bisse und Stiche, mit der sie ihre Gesichter und Arme bedeckten. Schlangen glitten durch den Schlamm. Spinnen krabbelten überall herum, einige davon größer als Garths Faust. Spinnweben und Moos und Weinranken hingen von Zweigen und Gestrüpp herab und drohten mit tödlicher Umklammerung. Fledermäuse flogen durch das domhohe Laubgewölbe der Bäume, und ihr Kreischen klang schrill und bedrohlich.
Irgendwann stießen sie auf ein riesiges Spinnennetz, das über ihnen versteckt hing und wie eine Falle angebracht war, die auf alles, was darunter vorbeiging, fallen würde. Weniger erfahrene Jäger hätten es vielleicht nicht bemerkt und wären gefangen worden, aber Garth erspähte die Falle sofort. Die Fäden des Spinnennetzes waren so dick wie Wrens Finger und so durchsichtig, daß sie fast unsichtbar waren, wenn man sie nicht suchte. Sie klopfte mit einem Schilfstengel auf einen der Fäden, und der Schilfstengel blieb sofort haften. Wren und Garth spähten lange Zeit vorsichtig umher, ohne sich zu bewegen. Wer oder was auch immer dieses Netz gesponnen hatte, sie wollten ihm auf keinen Fall begegnen.
Schließlich waren sie beruhigt, daß der Netzbauer nicht in der Nähe war, und eilten weiter.
Es war fast Mittag, als sie das kratzende Geräusch hörten. Sie verlangsamten ihren Schritt und blieben schließlich stehen. Das Geräusch klang rauh und furchtbar, viel zu laut für die Stille des Sumpfs. Es übertönte alles. Es kam von links, wo die Schatten über einem Dickicht aus Büschen mit strahlend roten Blüten lagen. Unter Garths Führung gingen sie rechts an den Büschen vorbei und folgten einem Grat mit festem Untergrund zu einer Lichtung, die von Koaakazien begrenzt wurde. Sie bewegten sich leise vorwärts und lauschten, wo das kratzende Geräusch herkam. Fast augenblicklich sahen sie Fäden eines durchsichtigen Netzes, die sich von den Baumspitzen zur Erde zogen. Die Fäden vibrierten, als aus dem Gestrüpp heraus etwas dagegenstieß. Es war leicht zu erkennen, was geschehen war. Garth winkte Wren zu, und sie gingen vorsichtig weiter.
Bei den Koaakazien blieben sie erneut stehen. Eine Reihe von Fallen waren zwischen den Bäumen aufgestellt worden, eine große und mehrere kleine. Eine der kleineren Fallen hatte ihren Zweck erreicht. Das kratzende Geräusch kam von einem Wesen, das sie umschlossen hielt, während es versuchte, sich freizukämpfen. Das Wesen war ganz anders als alles, was Wren oder Garth jemals gesehen hatten. So groß wie ein kleiner Jagdhund, schien es so etwas wie eine Mischung aus einem Stachelschwein und einer Katze zu sein. Der Körper war mit schwarz und braun geringelten Stacheln bedeckt und wurde von vier kurzen, dicken Beinen getragen, während der quadratische Kopf, der halslos zwischen seinen Schultern kauerte, Haare wie Katzenfell und auch den stumpfen Umriß einer Katze aufwies. Runzlige Pfoten endeten in mächtigen, klauenartigen Fingern, die sich in den Boden gruben, und sein stummeliger, stachelbewehrter Schwanz schwang in dem wilden Versuch hin und her, die Fäden des Netzes zu zerreißen, in die das Wesen eingewickelt war. All seine Versuche waren vergeblich. Je heftiger es um sich schlug, um so mehr Fäden wickelten es ein. Schließlich hielt das Wesen inne und hob seinen Kopf. Erst jetzt bemerkte es sie. Wren war überrascht über die Augen dieses Wesens. Sie hatten Lider und Wimpern und waren strahlend blau. Es waren nicht die Augen eines Tieres. Es waren die Augen, die ihren eigenen glichen.
Der Körper des Wesens erschlaffte. Es war offenbar erschöpft von seinem Kampf. Die Stacheln lagen jetzt glatt an, und die fremdartigen Augen blinzelten.
»Pffft!« Das Wesen fauchte – ganz ähnlich wie eine Katze, an die es zumindest zum Teil erinnerte. »Ich glaube nicht, daß ihr in Erwägung zieht, mir zu helfen«, krächzte das Wesen leise.
»Immerhin trägst du einen Teil – arrggh – Verantwortung für meine mißliche Lage.«
Wren sah es an und schaute dann schnell hinüber zu Garth, der zum ersten Mal genauso überrascht schien wie sie. Wieso konnte dieses Wesen sprechen? Sie wandte sich wieder um. »Was meinst du damit, daß ich einen Teil der Verantwortung trage?«
»Rrrowwwggg. Ich meine, du bist ein Elf, nicht wahr?«
»Nun, nein, tatsächlich bin ich das nicht. Ich bin...« Sie zögerte. Sie hätte fast gesagt, sie sei eine Fahrende. Aber die Wahrheit war, daß sie zumindest zum Teil ein Elf war. Hatte das Wesen sie nicht dadurch erkannt – durch ihr Elfenaussehen? Sie runzelte die Stirn. Woher wußte es überhaupt etwas von Elfen?
»Wer bist du?« fragte sie.
Das Wesen taxierte sie einen Moment schweigend, ohne daß die blauen Augen blinzelten. Als es sprach, war seine Stimme ein tiefes Grollen. »Stresa.«
»Stresa«, wiederholte sie. »Ist das dein Name?«
Das Wesen nickte.
»Mein Name ist Wren. Und das ist mein Freund Garth.«
»Hssttt. Du bist ein Elf«, wiederholte Stresa, und das Gesicht der Katze verzog sich. »Aber du stammst nicht von Morrowindl.«
»Nein«, erwiderte sie. Sie stemmte verwirrt die Hände in die Hüften. »Woher weißt du das?«
Die blauen Augen blinzelten leicht. »Du erkennst mich nicht. Du weißt nicht, was ich bin. Grrrrr. Wenn du auf Morrowindl leben würdest, wüßtest du es.«
Wren nickte. »Also, was bist du?«
»Eine Stachelkatze – oder besser ein Stachelkater«, antwortete das Wesen. Es knurrte tief in seiner Kehle. »So werden wir genannt, die wenigen von uns, die übriggeblieben sind. Ein Teil hiervon, ein Teil davon, aber überwiegend ganz etwas anderes. Puurrft.«
»Und woher weißt du etwas von Elfen? Leben hier denn noch welche?«
Der Stachelkater betrachtete sie kühl. Geduldig wartete er in seiner Falle. »Wenn du mir hilfst freizukommen«, erwiderte er, und seine Stimme war ein tiefes Schnurren, »werde ich deine Fragen beantworten.«
Wren zögerte unentschlossen.
»Fffffft! Du solltest dich lieber beeilen«, riet er. »Bevor der Wisteron kommt.«
Der Wisteron? Wren sah Garth an und bedeutete ihm, er solle überdenken, was Stresa gesagt hatte. Garth antwortete kurz. Wren wandte sich wieder dem Wesen in der Falle zu. »Woher sollen wir wissen, daß du uns nicht verletzen wirst?« fragte sie den Stachelkater.
»Harrr. Wenn du nicht von Morrowindl stammst und von weit her gekommen bist, dann bist du gefährlicher als ich«, antwortete er, kam so nahe, wie er konnte und lachte. »Beeile dich endlich. Benutzt eure langen Messer, um das Netz zu zerschneiden. Nur mit der Schneide. Haltet die flache Seite der Klinge in die entgegengesetzte Richtung.« Das seltsame Wesen hielt inne, und Wren sah zum ersten Mal Anzeichen von Verzweiflung in seinen Augen. »Es ist nicht viel Zeit. Wenn ihr mir helft – grrrrr –, kann ich euch als Gegenleistung vielleicht auch helfen.«
Wren gab Garth ein Zeichen, und sie gingen hinüber zu der Stelle, wo der Stachelkater gefangen war. Dabei gaben sie sich große Mühe, keine der noch funktionierenden Fallen zu berühren. Sie arbeiteten schnell, durchschnitten die Fäden, die das Wesen umhüllten, und traten zurück. Stresa stieg munter über das heruntergefallene Netz und eilte an ihnen vorbei auf festen Untergrund. Er spreizte seine Stacheln und schüttelte sich heftig. Sowohl Wren als auch Garth wichen bei seiner plötzlichen Bewegung zurück, aber es flogen ihnen keine Stacheln entgegen. Der Stachelkater schüttelte nur die Reste des Netzes von sich, die an seinem Körper klebten. Er begann sich zu putzen und hielt erst inne, als er sich daran erinnerte, daß sie ihn beobachteten.
»Danke«, sagte er mit seiner leisen, ruhigen Stimme. »Wenn ihr mich nicht befreit hättet, wäre ich gestorben. Grrrrrr. Der Wisteron hätte mich gefressen.«
»Der Wisteron?« fragte Wren.
Der Stachelkater legte seine Stacheln an und überhörte ihre Frage. »Ihr solltet selbst auch längst schon tot sein«, erklärte er. Das Katzengesicht legte sich erneut in Falten. »Pfffft!« fauchte er. »Entweder hattet ihr großes Glück, oder ihr besitzt den Schutz der Magie. Was ist es?«
Wren zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Du hast versprochen, meine Fragen zu beantworten, Stresa. Erzähle mir von den Elfen.«
Der Stachelkater kauerte sich zusammen und setzte sich. Er war größer, als er in der Falle gewirkt hatte, wirklich eher so groß wie ein Hund als wie eine Katze oder ein Stachelschwein, wonach er sonst aussah. »Die Elfen«, sagte er, und das Grollen mischte sich wieder in seine Stimme, »leben landeinwärts, hoch oben auf den Hängen des Killeshan in der Stadt Arborlon – grrrrr –, da halten die Dämonen sie gefangen.«
»Dämonen?« fragte Wren und dachte sofort an jene, die vom Ellcrys im Schrecklichen eingeschlossen worden waren. Sie waren zu Zeiten Will Ohmsfords schon einmal ausgebrochen. War das wieder geschehen? »Wie sehen diese Dämonen aus?« fragte sie gepreßt.
»Sssssttt! Wie viele verschiedene Wesen. Welchen Unterschied macht das? Der Punkt ist der, daß die Elfen sie gemacht haben und sie jetzt nicht wieder loswerden können. Pfffft! Zu schlimm für die Elfen. Die Magie des Keel versagt allmählich. Es wird nicht lange dauern, bis alles vorbei ist.«
Der Stachelkater wartete, während Wren die Neuigkeiten zu verarbeiten suchte. Es gab noch immer zu vieles, was sie nicht verstand. »Die Elfen haben die Dämonen gemacht?« wiederholte sie verwirrt.
»Vor Jahren. Als sie es nicht besser wußten.«
»Aber... woraus haben sie sie denn gemacht?«
Stresas Zunge fuhr heraus, dunkel violett vor seinem braunen Gesicht. »Warum seid ihr überhaupt hierher gekommen – grrrrr? Warum sucht ihr nach den Elfen?«
Wren spürte Garths Hand auf ihrer Schulter, die sie mahnte, daß Vorsicht geboten sei. Sie wandte sich um und sah, daß er in den Dschungel zeigte.
»Hssttt, ja, ich höre es auch«, verkündete Stresa und erhob sich eilig. »Der Wisteron. Er beginnt seine Jagd. Als erstes wird er seine Fallen nach Nahrung untersuchen. Wir müssen schnell von hier fort. Wenn er erst einmal entdeckt hat, daß ich entkommen bin, wird er mich suchen.« Der Stachelkater schüttelte seine Stacheln. »Da ihr euren Weg anscheinend nicht kennt, solltet ihr mir lieber folgen.«
Er lief sofort los. Wren beeilte sich, Schritt zu halten, Garth folgte. »Warte einen Moment! Welche Art Lebewesen ist dieser Wisteron?« fragte sie.
»Es ist besser für euch, wenn ihr es niemals erfahrt«, erwiderte Stresa geheimnisvoll, und alle seine Stacheln standen hoch. »Dieser Sumpf wird der In Ju genannt. Der Wisteron hat hier seine Heimat. Der In Ju erstreckt sich ganz zum Blackledge – und das ist ein riesiges Gebiet. Phffffft.«
Er watschelte davon und bewegte sich dabei weitaus schneller, als Wren erwartet hatte. »Ich verstehe immer noch nicht, wieso du soviel über die Elfen weißt«, sagte sie und hastete hinter ihm her. »Oder wie es kommt, daß du überhaupt sprechen kannst. Kann alles auf Morrowindl sprechen?«
Stresa schaute zurück. Sein Katzenblick war scharf und wissend. »Rrraaaaa – habe ich vergessen, dir das zu sagen? Der Grund dafür, daß ich sprechen kann, ist der, daß die Elfen auch mich gemacht haben. Hsssstt.« Der Stachelkater wandte sich ab.
»Genug gefragt im Moment. Es ist besser, wenn wir eine Weile ruhig sind.«
Er lief schnell in den Wald, so leise wie Rauch, so daß Wren und Garth nichts anderes blieb, als ihm zu folgen, während er über ihre Verwirrung und ihren Unglauben nachdachte.