17

Wren träumte, und ihre Träume handelten von dem Kommen und Gehen der Ohmsfords. Es war ein bruchstückhafter Wust von Bildern wie in einem Kaleidoskop, die explosionsartig aus ihrer Erinnerung hervorbrachen. Sie überrollten sie wie eine Lawine und rissen sie fort, als stürze und taumele sie auf einer Rutschpartie ohne Ende. Als Zuschauerin ohne Mitspracherecht beobachtete sie, wie die Geschichte ihrer Vorfahren stückweise in kurzen Zeitblitzen Gestalt annahm. Ereignisse wurden vor ihr ausgerollt, die sie niemals gesehen, sondern von denen sie nur gehört hatte, die Legenden der Vergangenheit, die in den Erzählungen von Par und Coll Ohmsford weitergetragen wurden.

Und dann erwachte sie auf einmal und setzte sich kerzengerade auf. Sie war mit einer beängstigenden Plötzlichkeit aus ihrem Schlaf geschreckt. Faun, der sich an ihrem Hals zusammengerollt hatte, sprang eilig fort. Sie schaute in die Dunkelheit und lauschte auf den Klang des Herzschlages in ihrer Kehle und auf ihren heftigen Atem. Rund um sie herum schliefen ihre Gefährten. Bis auf denjenigen, der gerade Wache hielt: ein verschwommener, gesichtsloser Umriß am Rande ihres Lagers.

Was war das? dachte sie erregt. Was habe ich gesehen?

Denn etwas in ihren Träumen hatte sie geweckt, etwas so Erregendes, so Unerwartetes, daß an Schlaf nicht mehr zu denken war.

Was?

Die Erinnerung kam erschreckend und plötzlich. Ihre Hand flog sofort zu dem Lederbeutel hinauf, der in ihrer Tunika verborgen war.

Die Elfensteine!

In ihren Träumen von den Vorfahren der Ohmsfords hatte sie auch einen Blick auf Shea und Flick werfen können. Es war ein kurzes Bild aus vielen gewesen, eine Geschichte unter all jenen, die über die Suche nach dem Schwert von Shannara erzählt wurden. In diesem Bild hatten sich die Brüder zu Beginn ihrer Reise nach Culhaven mit Menion Leah in den Ebenen von Clete verirrt. Kein noch so großes Können, nicht einmal ihre Kenntnis des Waldes schien ihnen helfen zu können, und sie wären dort vielleicht gestorben, wenn Shea nicht in seiner Verzweiflung entdeckt hätte, daß er die Fähigkeit besaß, die Macht der Elfensteine, die ihm von dem Druiden Allanon übergeben worden waren, anzurufen – die Macht jener Elfensteine, die nun sie mit sich trug. In dem Bild, das von ihren Träumen aus einer Schatzkammer von Erzählungen, an die sie sich kaum erinnern konnte, hervorgeholt worden war, entdeckte sie eine Wahrheit, die sie vergessen hatte – daß die Magie mehr konnte als nur beschützen. Sie konnte auch suchen. Sie konnte ihrem Besitzer einen Weg aus dem dunkelsten Labyrinth weisen, sie konnte den Verlorenen, helfen, wiedergefunden zu werden.

Sie biß sich hart auf die Lippe, um nicht laut aufzuseufzen. Natürlich hatte sie es einst gewußt – sie alle hatten es gewußt, alle Ohmsfordkinder. Par hatte ihr die Geschichte vorgesungen, als sie klein war. Aber das war schon so lange her.

Die Elfensteine.

Sie saß frierend und bestürzt über ihre überraschende Entdeckung unter dem Schutz ihrer Decken. Sie hatte die ganze Zeit über die Macht besessen, sie aus Eden’s Murk herauszuführen. Die Elfensteine würden ihnen den Weg deutlich zeigen, wenn sie sich entschied, die Magie anzurufen. Hatte sie das wirklich vergessen, fragte sie sich ungläubig. Oder hatte sie die Wahrheit einfach nicht wahrhaben wollen, fest entschlossen, nicht auf die Magie zu vertrauen, um nicht von ihrer Macht vernichtet zu werden?

Und was sollte sie jetzt tun?

Einen Moment lang tat sie nichts, so gelähmt war sie von den Ängsten und Zweifeln, die der Gebrauch der Elfensteine in ihr hervorrief. Sie konnte nur dasitzen, ihre Decken wie einen Schild um sich ziehen und im Geiste die Möglichkeiten erwägen, die sich plötzlich vor ihr ausbreiteten. Sie bemühte sich, deren Sinn zu erkennen.

Dann stand sie plötzlich auf und schob ihre Decken und auch ihre Ängste beiseite, während sie sich katzengleich dorthin bewegte, wo ihre Großmutter schlief. Ellenroh Elessedils Atem ging flach und schnell, und ihre Hände und ihr Gesicht waren kalt. Ihr Haar ringelte sich feucht um ihr Gesicht, und ihre Haut lag straff über ihren Knochen. Sie lag auf dem Rücken unter den Decken, die sie umschlossen wie ein Leichentuch.

Sie wird sterben, erkannte Wren entsetzt.

Weiter über Entscheidungsmöglichkeiten zu grübeln wurde augenblicklich sinnlos, und sie wußte, was sie tun mußte. Sie kroch dorthin, wo Garth schlief, zögerte und kroch dann weiter, an Triss vorbei zu Gavilan.

Sie berührte ihn leicht an der Schulter, seine Augen öffneten sich, und sein Blick flackerte. »Wach auf«, flüsterte sie ihm zu und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. Erzähle es ihm zuerst, dachte sie, denn sie erinnerte sich an seine Herzlichkeit in der vergangenen Nacht. Er wird dir helfen. »Gavilan, wach auf. Wir kommen hier heraus. Jetzt.«

»Wren, warte, was willst du...?« begann er, aber es war nutzlos, denn Wren war bereits fortgeeilt, um die anderen zu wecken. Sie war jetzt bestrebt, keine Verzögerungen hinzunehmen, sie war so besorgt und erregt, daß sie die Angst übersah, die in seinen Augen irrlichterte. »Wren!« rief er, stand auf, und sofort wurden alle wach. Sie versteifte sich, während sie beobachtete, wie Triss und Eowen sich langsam erhoben, Dal von seinem Wachposten am Rande des Lagers zu ihnen kam und Garth vor den Schatten aufragte. Die Königin rührte sich nicht.

»Was meinst du denn, das du tun wirst?« fragte Gavilan hitzig. Sie empfand seine Worte wie eine Ohrfeige. Es lag Ärger und Anklage darin. »Was meinst du damit, daß wir hier herauskommen werden? Wer hat dir das Recht gegeben, zu entscheiden, was wir tun werden?«

Ihre Begleiter sammelten sich um die beiden, wie sie sich jetzt von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Gavilans Gesicht war gerötet, und seine Augen schimmerten vor Mißtrauen. Wren hielt seinem Blick jedoch stand und schaute so entschlossen drein, daß ihr Gegenüber erst darüber nachdenken mußte, was er als nächstes sagen wollte.

»Sieh sie dir an, Gavilan«, bat Wren, ergriff seinen Arm und drehte ihn zu Ellenroh um. Warum konnte er nicht verstehen? Warum machte er es so schwierig? »Wenn wir noch länger hierbleiben, werden wir sie verlieren. Wir haben keine Wahl mehr. Wenn wir eine andere Chance hätten, wäre ich die erste, die davon Gebrauch machen würde, das verspreche ich dir.«

Es herrschte bestürztes Schweigen. Eowen wandte sich der Königin zu und kniete sich besorgt neben sie. »Wren hat recht«, flüsterte sie. »Die Königin ist sehr krank.«

Wren hielt ihre Augen fest auf Gavilan gerichtet und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Sie wollte ihn verstehen lassen. »Wir müssen sie hier herausbringen.«

Triss drängte sich eilig vor. Seine hageren Züge waren von Sorge gezeichnet. »Weißt du denn eine Möglichkeit?« fragte er.

»Ja«, antwortete Wren. Sie schaute schnell zum Hauptmann der Leibgarde hinüber und dann wieder zurück zu Gavilan. »Ich habe keine Zeit, darüber zu streiten. Ich habe keine Zeit, es zu erklären. Du mußt mir vertrauen. Du mußt.«

Gavilan war nicht zu überzeugen. »Du verlangst zuviel. Was ist, wenn du dich irrst? Wenn wir sie fortbringen und sie stirbt...«

Aber Triss sammelte bereits ihre Ausrüstung ein und bedeutete Dal, ihm zu helfen. »Die Wahl ist für uns getroffen worden«, erklärte er ruhig. »Die Königin hat keine Chance, wenn wir sie nicht schnell aus diesem Sumpf fortbringen. Tu, was du kannst, Wren.«

Sie sammelten zusammen, was von ihren Vorräten und ihrer Ausrüstung übriggeblieben war, und bauten aus Decken und Pfählen eine provisorische Trage für die Königin. Als sie fertig waren, wandten sie sich erwartungsvoll zu Wren um. Sie stand ihnen gegenüber, als sei sie verurteilt, und dachte, daß sie jetzt keine Wahl hatte, daß sie ihre Ängste und Zweifel, ihre Entschlüsse, die Versprechen, die sie sich selbst wegen der Magie und der Elfensteine gegeben hatte, vergessen und tun mußte, was sie konnte, um das Leben ihrer Großmutter zu retten.

Sie griff in ihre Tunika und zog den Lederbeutel hervor. Hastig löste sie die Zugschnüre, und die Elfensteine fielen mit hartem, blauem Glitzern in ihre Hand.

Sie fühlte sich klein und verletzlich, als sie zum Rande des Lagers ging, einen Moment lang dort stehenblieb und in die Schatten und den Nebel hinausschaute. Faun versuchte, ihr Bein heraufzuklettern, aber sie griff sanft hinab und scheuchte den Baumschreier fort. Vog wirbelte überall umher, und ein scheußlicher Gestank nach Schwefel und Asche hing an ihren Kleidern. Ein Gemisch aus Dunst und Dampf stieg aus den übelriechenden Wassern des Sumpfes auf. Sie stand am Rande ihres Lebens, das spürte sie. Sie war dorthin gebracht worden durch Umstände und das Schicksal, und was auch immer als nächstes geschah, sie würde niemals wieder dieselbe sein. Sie sehnte sich nach dem, was einmal gewesen war, nach dem, was hätte sein können, nach einem Ausweg, auf den sie nicht länger hoffen konnte.

In der Angst, daß sie ihre Meinung vielleicht ändern könnte, wenn sie noch länger darüber nachdachte, hielt sie die Elfensteine vor sich und zwang ihnen mit ihrem Willen Leben auf. Nichts geschah.

Oh, Schatten!

Sie versuchte es noch einmal, konzentrierte sich und zwang sich, die Worte im Geiste sorgfältig zu formulieren. Sie versicherte sich der richtigen Reihenfolge und stellte sich die Macht vor, die darinnen lag, die sich rühren und ausbrechen sollte. Sie dachte verzweifelt daran, daß sie das Elfenblut hatte. Sie hatte die Macht doch schon zuvor angerufen...

Und dann, plötzlich, flackerte das blaue Feuer auf, brach aus den Steinen hervor. Es verschmolz, strahlend und phantastisch, mit ihrer Hand und erhellte den Sumpf, als sei das Tageslicht schließlich in das Labyrinth durchgedrungen. Ihre Gefährten wandten sich ab, kauerten sich vorsorglich zusammen und bedeckten ihre Augen. Wren stand aufrecht und spürte die Macht der Steine, suchend, forschend und fragend, ob sie zu ihr gehörte, durch sich hindurchfließen. Eine angenehme, verlockende Wärme hüllte sie ein. Dann schoß das Licht nach rechts davon, drang durch den Nebel und den Dunst und die verdorrenden Bäume und das Gestrüpp und die Weinranken und schoß Hunderte von Metern über die leeren Wasser. Es reichte weiter, als das Auge eigentlich hätte sehen können, und blieb dann an einer Felswand hängen, die sich in die Nacht hob. Blackledge!

So schnell wie es gekommen war, war das Licht auch wieder fort. Die Macht der Elfensteine erstarb und kehrte dorthin zurück, woher sie gekommen war. Wren schloß ihre Finger über den Steinen, die sie gleichzeitig ausgelaugt und angeregt hatten. Die Magie hatte sie gleichzeitig gereinigt und gestärkt, aber auch geschwächt. Obwohl es ihr Entschluß gewesen war, schwankte sie jetzt, als sie die Talismane in ihren Beutel zurückgleiten ließ. Die anderen richteten sich unsicher auf, und ihre Augen suchten die ihren.

»Dort«, sagte sie ruhig und deutete in die Richtung, die das Licht genommen hatte.

Einen Augenblick lang sprach niemand. Wrens Geist war gefangen von dem, was sie erlebt hatte. Das Hindurchfließen der Magie war noch immer in ihrem Körper spürbar, und sie kämpfte mit der Schuld, die sie auf einmal empfand, weil sie ihren Schwur gebrochen hatte. Aber sie hatte keine Wahl gehabt, erinnerte sie sich schnell. Sie hatte nur getan, was notwendig war. Sie konnte ihre Großmutter nicht sterben lassen. Es war nur dieses eine Mal, es mußte nicht wieder geschehen. Dieses eine Mal, weil es um das Leben ihrer Großmutter ging, und ihre Großmutter war alles, was ihr geblieben war...

Ihre Grübeleien verflogen unter Eowens sanfter Stimme. »Beeile dich, Wren«, drängte sie, »solange noch Zeit ist.«

Sie brachen sofort auf, und Wren führte sie an, bis Garth sie einholte und sie ihm bedeuten konnte, er solle vorangehen. Sie war jetzt zufrieden, jemand anderen diese Aufgabe übernehmen zu lassen. Faun kehrte aus der Dunkelheit zurück, und sie hob das kleine Wesen auf und setzte es auf ihre Schulter. Dal und Triss trugen die Trage mit der Königin, und Wren ging langsamer, um neben sie zu gelangen. Sie griff hinab und nahm die Hand ihrer Großmutter in ihre eigene, hielt sie einen Moment und drückte sie dann sanft. Sie bekam keine Antwort. Sie legte die Hand behutsam zurück auf ihren Platz und ging wieder nach vorn. Eowen kam an ihr vorbei. Ihr weißes Gesicht wirkte in den Schatten verloren und ängstlich, und das rote Haar leuchtete vor der Nacht. Eowen wußte, wie krank Ellenroh war. Hatte sie in ihren Visionen vorhergesehen, was der Königin zustoßen würde? Wren schüttelte den Kopf. Sie weigerte sich, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Sie ging eine Weile allein weiter, bis Gavilan neben ihr auftauchte.

»Es tut mir leid, Wren«, sagte er zögernd mit weicher Stimme. »Ich hätte wissen sollen, daß du nicht ohne Grund so handeln würdest. Ich hätte mehr Vertrauen in dein Urteil haben sollen.« Er wartete auf ihre Antwort, und als keine kam, sagte er: »Es ist dieser Sumpf, der mein Denken umwölkt. Ich kann mich offenbar nicht so konzentrieren, wie ich es eigentlich sollte...« Er brach ab.

Sie seufzte lautlos. »Es ist in Ordnung. Niemand kann an diesem Ort klar denken.« Sie war bemüht, Entschuldigungen für ihn zu finden. »Die Insel scheint den Wahnsinn hervorzubringen. Ich habe auf meinem Weg hierher Fieber bekommen und war eine Weile lang nicht bei mir. Vielleicht hält auch dich ein Hauch dieses Fiebers gefangen.«

Er nickte verwirrt, als hätte er nicht zugehört. »Zumindest erkennst du die Wahrheit jetzt. Die Magie hat Morrowindl und seine Dämonen geschaffen, und die Magie wird es sein, die uns vor ihnen retten wird. Deine Elfensteine und der Ruhkstab. Warte ab. Du wirst es nur zu bald verstehen.«

Und er fiel wieder zurück und verschwand so plötzlich, daß es Wren einmal mehr nicht gelang, jene Fragen zu stellen, die ihr durch seine Bemerkungen ins Gedächtnis zurückgerufen worden waren – Fragen danach, wie die Dämonen geschaffen worden waren, was die Magie getan hatte und wie alles so weit hatte kommen können. Sie wandte sich halbwegs um, um ihm zu folgen, entschied sich aber dann, ihn gehen zu lassen. Sie war jetzt zu müde, um Fragen zu stellen, und zu erschöpft, um die Antworten zu hören, selbst wenn er sie geben würde – was er wahrscheinlich nicht tun würde. Sie drängte ihre Enttäuschung zurück und zwang sich weiterzugehen.

Sie brauchten die ganze Nacht, um aus Eden’s Murk herauszufinden. Noch zweimal war Wren gezwungen, die Macht der Elfensteine anzurufen. Beide Male wurde sie von sich widersprechenden Wünschen gequält. Sie wollte sowohl ihrem Fluß ausweichen als auch ihn willkommen heißen und spürte die Magie durch sich hindurchrinnen wie ein Elixier. Das blaue Licht verbrannte die Dunkelheit, drang durch den Nebel und zeigte ihnen den Weg zum Blackledge. Bei Morgengrauen hatten sie sich aus dem Irrgarten befreit und standen endlich wieder auf festem Untergrund. Vor ihnen erhob sich der Blackledge in den Nebel, eine aufragende Masse zerklüfteten Gesteins, das aus dem Dschungel himmelwärts ragte. Sie suchten sich eine Lichtung am Fuße der Felsen und stellten die Trage mit Ellenroh vorsichtig in deren Mitte. Eowen wusch das Gesicht der Königin und ihre Hände und gab ihr Wasser zu trinken.

Ellenroh regte sich, und ihre Augen öffneten sich zaghaft. Sie betrachtete die Gesichter um sich herum, schaute hinab auf den Ruhkstab, den sie noch immer mit ihren Händen umklammert hielt, und sagte: »Helft mir, mich aufzusetzen.«

Eowen stützte sie sanft und gab ihr den Becher. Ellenroh trank ihn langsam leer. Immer wieder hielt sie inne, um Atem zu holen. In ihrer Brust rasselte es, und ihr Gesicht war vom Fieber gerötet.

»Wren«, sagte sie sanft, »du hast die Elfensteine benutzt.«

Wren kniete sich verwundert neben sie, und auch die anderen kamen näher. »Wie kannst du das wissen?«

Ellenroh Elessedil lächelte. »Es ist in deinen Augen. Die Magie hinterläßt immer ihre Spuren. Ich sollte es wissen.«

»Ich hätte sie besser schon etwas früher benutzt, Großmutter, aber ich hatte vergessen, was sie bewirken können. Es tut mir leid.«

»Kind, du mußt dich nicht entschuldigen.« Die blauen Augen waren freundlich und warm. »Ich habe dich so sehr geliebt, Wren – sogar bevor du zu mir gekommen bist, die ganze Zeit, seit ich von Eowen wußte, daß du geboren worden warst.«

»Du mußt schlafen, Ellenroh«, flüsterte die Seherin.

Die Königin schloß einen Moment ihre Augen und schüttelte dann den Kopf. »Nein, Eowen. Ich muß mit dir sprechen. Mit euch allen.«

Ihre Augen öffneten sich. Sie sah erschöpft aus und schien weit entfernt. »Ich werde sterben«, flüsterte sie. »Nein, sagt nichts. Hört mich zu Ende an.« Sie sah sie fest an. »Es tut mir leid, Wren, daß ich nicht länger bei dir sein kann. Ich wünschte, ich könnte es. Unsere gemeinsame Zeit war zu kurz. Eowen, für dich ist es am härtesten. Du bist mein ganzes Leben lang meine Freundin gewesen, und wenn ich es könnte, würde ich bleiben, damit es dir gutgeht. Ich weiß, was mein Tod bedeutet. Gavilan, Triss, Dal – ihr habt für mich getan, was ihr konntet. Aber meine Zeit ist gekommen. Das Fieber ist stärker als ich, und als ich versucht habe, mich davon zu befreien, stellte ich fest, daß ich es nicht konnte. Aurin Striate wartet auf mich, und ich werde zu ihm gehen.«

Wren schüttelte bedächtig und ärgerlich den Kopf. »Nein, Großmutter, sag das nicht, nicht so!«

Die sanfte Hand ergriff die ihre. »Wir können uns nicht vor der Wahrheit verstecken, Wren. Du solltest das von allen hier am besten wissen. Ich bin bis auf die Knochen geschwächt. Das Fieber hat mich innerlich zerrissen, und es ist fast nichts übriggeblieben, was mich zusammenhält. Selbst die Magie könnte mich jetzt nicht retten, fürchte ich – und niemand von uns besitzt eine Magie, die überhaupt helfen könnte. Sei stark, Wren. Erinnere dich an unsere gemeinsame Herkunft. Erinnere dich, wie ähnlich wir uns sind – verbunden durch Alleyne.«

»Großmutter!« rief Wren.

»Einen Zaubertrank«, flüsterte Gavilan drängend. »Es muß eine Medizin geben, die wir dir geben können. Sag es uns!«

»Nichts.« Die Augen der Königin wanderten von Gesicht zu Gesicht und wandten sich dann auf der Suche nach etwas, das nicht da war, wieder ab. Sie hustete und versteifte sich einen Moment. »Bin ich noch immer eure Königin?« fragte sie.

Sie murmelten bestätigend, sie alle, und ihre Stimmen schwankten dabei. »Dann erteile ich euch einen letzten Befehl. Wenn ihr mich liebt und wenn ihr euch um die Zukunft des Elfenvolkes sorgt, werdet ihr ihn nicht in Frage stellen. Sagt, daß ihr gehorchen werdet.«

Das taten sie, aber gleichzeitig tauschten sie verstohlene Blicke aus und fragten sich, was sie wohl noch hören würden.

»Wren.« Ellenroh wartete, bis sich ihre Enkelin zu ihr begeben hatte, so daß sie sie deutlich sehen konnte. »Dies gehört jetzt dir. Nimm ihn.«

Sie hielt den Ruhkstab mit dem Loden vor sich. Wren sah sie ungläubig an. Sie war unfähig, sich zu bewegen. »Nimm ihn!« sagte die Königin, und dieses Mal tat Wren, wie ihr geheißen. »Nun hör mir zu. Ich vertraue die Magie deiner Obhut an, Kind. Bring den Stab mit seinem Stein von Morrowindl fort und trage ihn zurück ins Westland. Hole die Elfen und ihre Stadt wieder zurück. Gib unserem Volk sein Leben wieder. Tu, was du tun mußt, um dein Versprechen dem Schatten des Druiden gegenüber zu halten, aber erinnere dich auch an das Versprechen, das du mir gegeben hast. Sorge dafür, daß die Elfen wieder zu sich finden. Gib ihnen eine Chance, neu zu beginnen.«

Wren konnte nichts sagen. Sie war wie betäubt von dem, was vor sich ging. Sie kämpfte darum, das anzunehmen, was sie hörte. Sie spürte, wie das Gewicht des Ruhkstabes sich in ihren Händen einrichtete, sie spürte die Glätte seines Griffs, kühl und glatt. Nein, dachte sie. Nein, ich will das nicht!

»Gavilan. Triss. Dal.« Die Königin flüsterte ihre Namen, denn ihre Stimme wurde schwächer. »Sorgt für ihren Schutz. Helft ihr, damit ihr gelingt, was sie aufgetragen bekam. Eowen, gebrauche deine Gabe, um sie vor den Dämonen zu schützen. Garth...«

Sie schien etwas zu dem großen Mann sagen zu wollen, brach aber plötzlich ab, als sei sie auf etwas gestoßen, das sie nicht aussprechen konnte. Wren schaute verwirrt zu ihrem Freund zurück, aber das dunkle Gesicht war wie aus Stein gemeißelt.

»Großmutter, ich sollte nicht diejenige sein, die dies trägt«, wandte Wren zögernd ein, aber die Hand der anderen ergriff sie fest und tadelnd.

»Du bist diejenige, Wren. Du warst immer diejenige. Alleyne war meine Tochter und wäre nach mir Königin geworden, aber die Umstände haben uns gewaltsam getrennt und sie mir genommen. Sie hat dich zurückgelassen, damit du ihren Platz einnimmst. Vergiß niemals, wer du bist, Kind. Du bist eine Elessedil. Du bist als eine geboren und erzogen worden, ob du es nun annehmen willst oder nicht. Wenn ich tot bin, sollst du die Königin der Elfen sein.«

Wren war entsetzt. Das darf nicht geschehen, sagte sie sich wieder und wieder. Ich bin nicht, was du denkst! Ich bin eine Fahrende und nicht mehr! Das ist nicht richtig!

Aber Ellenroh sprach erneut und verlangte ihre Aufmerksamkeit. »Laß dir Zeit, Wren. Es wird alles so kommen, wie es kommen soll. Im Moment mußt du dich nur darum kümmern, den Stab und seinen Stein sicher zu bewahren. Du mußt nur vor dem Ende deinen Weg von dieser Insel finden. Alles übrige wird sich von selbst finden.«

»Nein, Großmutter«, schrie Wren gequält auf. »Ich werde den Stab für dich aufbewahren, bis es dir wieder gutgeht. Nur bis dahin und keinen Moment länger. Du wirst nicht sterben. Großmutter, du darfst es nicht!«

Die Königin atmete tief und langsam ein. »Laß mich nun ausruhen, bitte. Ich möchte mich hinlegen, Eowen.«

Die Seherin tat, wie ihr geheißen. Ihre grünen Augen waren ängstlich und einsam, als ihre Blicke das Gesicht der Königin suchten. Einen Augenblick lang blieben sie alle regungslos stehen und schauten schweigend auf Ellenroh. Dann traten Triss und Dal zurück, um ihre Ausrüstung in Ordnung zu bringen und Wachen aufzustellen, wobei sie beim Fortgehen miteinander flüsterten. Gavilan ging fort und murmelte vor sich hin, und auch Garth glitt außer Sicht. Wren blieb zurück und starrte den Ruhkstab an, der nun in ihren Händen lag.

»Ich glaube nicht, ich sollte...« begann sie und konnte den Satz doch nicht beenden. Ihre Augen hoben sich, um Eowens Blick zu finden, aber die rothaarige Seherin wandte sich ab. Wren war jetzt mit ihrer Großmutter allein. Sie streckte die Hand aus und berührte deren Arm. Sie spürte die Hitze des Fiebers, das in ihr brannte. Ihre Großmutter schlief, ohne sie wahrzunehmen. Wie konnte es sein, daß sie starb? Wie konnte das sein? Es war unmöglich! Sie spürte erneut Tränen aufsteigen und dachte daran, wie lange es gedauert hatte, bis sie ihre Großmutter gefunden hatte, die letzte ihrer Familie, und wieviel sie durchgemacht hatte und wie wenig Zeit ihnen bisher gegeben war.

Stirb nicht, betete sie innerlich. Bitte.

Sie spürte ein Kratzen an ihren Beinen, schaute hinab und entdeckte Faun, der mit großen Augen unruhig zu ihr hinauf spähte. Sie ließ Ellenrohs Hand so lange los, bis sie das kleine Wesen in ihre Arme gehoben hatte, zerwühlte sein Fell und wartete, daß es sich an ihre Schulter schmiegte. Der Ruhkstab lag im Gleichgewicht auf ihrem Schoß, wie eine in das graue Licht gezeichnete Linie zwischen ihr selbst und der dahinsiechenden Königin.

»Nicht ich«, sagte sie weich zu ihrer Großmutter. »Ich sollte es nicht sein.«

Dann erhob sie sich, nahm den Baumschreier und den Stab mit sich und wandte sich um, um Garth zu suchen. Der große Fahrende ruhte ein Dutzend Schritte entfernt an der Klippenwand. Er richtete sich auf, als sie auf ihn zukam. Der harte Blick, mit dem sie ihn ansah, ließ ihn blinzeln.

»Sage mir jetzt die Wahrheit«, flüsterte sie und machte ein paar kurze Zeichen. »Was ist zwischen dir und meiner Großmutter?«

Sein Blick blieb ungerührt. Nichts.

»Aber wie sie dich angesehen hat, Garth – sie wollte etwas sagen und hatte Angst!«

Du warst ein Kind, als ihre Tochter dich meiner Obhut übergab. Sie wollte sichergehen, ob ich es nicht vergessen habe. Das wollte sie mir sagen. Aber sie hat gesehen, daß es nicht nötig war.

Wren sah ihn noch einen Augenblick lang regungslos an. Vielleicht, dachte sie düster. Aber es gibt hier so viele Geheimnisse...

Vertraue niemandem, hatte die Addershag sie gewarnt.

Aber an diesen Rat konnte sie sich nicht halten. Sie konnte nicht so sein.

Sie wandte ihren Blick ab und ging davon, noch immer wie betäubt von dem Wirbelsturm der Ereignisse, der sie umgab, betäubt auch davon, wie sie vorwärts getrieben wurde, ohne irgendeine Kontrolle über das zu haben, was geschah. Sie schaute erneut zu ihrer Großmutter hinüber und fühlte sich wie zerrissen von der Angst, sie zu verlieren, und zur gleichen Zeit war sie ärgerlich über die Verantwortung, die sie übernehmen sollte. Wren Ohmsford, Königin der Elfen? Es war lachhaft. Es war ihr gleichgültig, wer sie war oder welcher Familie sie entstammte, ihr ganzes Leben wurde dadurch bestimmt, daß sie sich als Fahrende sah. Sie konnte sich das alles nicht einfach fortwünschen, all die Jahre ihrer Kindheit vergessen, außer dem, was in diesen letzten paar Wochen geschehen war. Als sei die Bitte ihrer Großmutter ein Mandat, das sie nicht ablehnen konnte. Wie konnte ihre Großmutter sagen, daß sie als eine Elessedil erzogen worden war? Warum wollten die Elfen sie überhaupt als Königin? Trotz ihres Geburtsrechts war sie nicht wirklich eine von ihnen.

Fast unbewußt ging sie zu Gavilan hinüber, der an einem moosigen Baumstumpf lehnte, und kauerte sich neben ihn.

»Was soll ich bloß damit tun?« fragte sie fast ärgerlich und schob ihm den Ruhkstab entgegen.

Er zuckte die Achseln. Seine Augen sahen leer in die Ferne. »Das, worum man dich gebeten hat, vermute ich.«

»Aber es ist nicht meiner! Er gehört mir nicht! Er hätte mir nicht zuerst gegeben werden dürfen!«

Seine Stimme klang verbittert. »Zufällig bin ich darin deiner Meinung. Aber was wir beide wollen, zählt nicht viel, nicht wahr?«

»Das stimmt nicht. Ellenroh hätte das niemals getan, wenn sie nicht so krank wäre. Wenn es ihr besser geht.« Sie brach ab, als er demonstrativ fortsah. »Wenn es ihr besser geht«, fuhr sie fort und stieß jedes Wort hervor wie eine Beschwörung, »wird sie erkennen, daß dies alles ein Irrtum war.«

Er sah sie jetzt wieder an. »Es wird ihr nicht besser gehen.«

»Sag das nicht, Gavilan. Nicht.«

»Wäre es dir lieber, ich würde lügen?«

Wren sah ihn an. Sie war unfähig zu sprechen.

Gavilans Gesicht war hart. »Also gut, in Ordnung. Ich sehe, daß du nichts von alledem geplant hast, daß die Elfen nicht dein Volk sind, daß nichts von diesem allen wirklich etwas mit dir zu tun hat. Alles, was du wolltest, war, Ellenroh zu finden und deine Botschaft zu überbringen. Du willst nicht Königin der Elfen werden? Das ist mehr als in Ordnung. Du mußt es nicht! Gib mir den Stab!«

Eine lange, leere Stille entstand, während sie einander ansahen.

»Das Elessedilblut fließt auch durch meinen Körper«, erklärte er hitzig. »Dies ist mein Volk, und Arborlon ist meine Stadt. Was notwendig ist, kann ich tun. Ich habe die Dinge besser im Griff als du. Und ich habe keine Angst, die Magie zu gebrauchen.«

Plötzlich verstand Wren, was vor sich ging. Gavilan hatte erwartet, daß ihm der Ruhkstab übergeben würde. Er hatte von Ellenroh erwartet, daß sie ihn als Nachfolger benennen würde. Wenn Wren nicht erschienen wäre, hätte sie das wahrscheinlich auch getan. Wrens Ankunft in Arborlon hatte für Gavilan tatsächlich sehr viel geändert. Sie empfand flüchtig einen Stich des Erschreckens, der aber sofort der Vorsicht Platz machte. Sie erinnerte sich daran, wie Gavilan und Ellenroh wegen des Loden gestritten hatten. Gavilan war dafür gewesen, die Magie zu gebrauchen, um die Dinge wieder in das zurückzuverwandeln, was sie einst gewesen waren, um die Dinge wieder geradezurücken. Ellenroh hatte geglaubt, es sei an der Zeit, die Magie aufzugeben, ins Westland zurückzukehren und so zu leben, wie die Elfen einst gelebt hatten. Dieser Streit hatte Ellenrohs Entscheidung sicher beeinflußt, so daß sie den Stab an Wren übergeben hatte.

Gavilan schien ihre Unsicherheit zu spüren. »Denk darüber nach, Wren. Wenn die Königin stirbt, muß ihre Last nicht die deine werden. Ohne deine Rückkehr wäre es niemals so gekommen.« Er verschränkte abwehrend die Arme. »Auf jeden Fall ist es deine Entscheidung. Wenn du es willst, werde ich helfen. Das habe ich dir gesagt, als wir uns das erste Mal trafen, und das Angebot gilt noch immer. Ich tue, was immer ich tun kann.«

Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »Danke, Gavilan«, brachte sie schließlich hervor.

Dann verließ sie ihn. Sie fühlte sich angesichts seines Vorschlages jetzt entschieden unbehaglich. So sehr sie sich auch wünschte, von der Verantwortung, die der Stab mit sich brachte, befreit zu werden, so unsicher war sie auch, ob sie sie Gavilan übergeben sollte. Die Magie war eine Sache des Vertrauens. Sie sollte nicht zu schnell preisgegeben werden, vor allem deswegen nicht, weil die Folgen ihres Gebrauchs so gravierend waren. Ellenroh hätte den Stab Gavilan geben können, aber sie hatte beschlossen, es nicht zu tun. Wren war nicht bereit, das Urteil der Königin in Frage zu stellen, ohne über Gavilans Vorschlag erst noch einmal nachzudenken.

Aber sie sorgte sich auch um Gavilan. Sie verließ sich auf seine Freundschaft und Unterstützung. Das machte alles noch komplizierter. Sie verstand seine Enttäuschung, und sie wußte, daß er recht hatte, wenn er sagte, daß die Elfen sein Volk seien und Arborlon seine Stadt und das sie dagegen eine Außenstehende sei. Sie glaubte, daß Gavilan das Beste wollte, genauso sehr wie sie.

Eine rauhe, verzweifelte Entschlossenheit setzte sich in ihr fest. Nichts davon ist wichtig, weil Großmutter sich erholen wird, weil sie sich erholen muß, sie wird nicht sterben, sie wird es nicht! Sie wiederholte die Worte wie eine Litanei in ihrem Geist immer und immer wieder. Ihr Atem kam abgehackt und klang ärgerlich, und ihre Hände zitterten.

Sie schüttelte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an.

Schließlich setzte sie sich wieder neben ihre Großmutter. Gefühllos vor Kummer schaute sie in das erschöpfte Gesicht. Bitte, werde gesund. Du mußt gesund werden.

Schwäche schlich sich an sie heran wie ein Dieb und ließ sie ausgelaugt zurück.

Sie behielten ihr Lager an der Klippenwand diesen ganzen Tag bei, ließen Ellenroh schlafen und hofften, daß ihre Kräfte zurückkehren würden. Während Wren und Eowen im Wechsel bei der Königin saßen, hielten die Männer Wache. Die Zeit verging, und Wren sah sie mit einer Schnelligkeit entrinnen, die beängstigend war. Sie hatten Arborlon vor drei Tagen verlassen, aber es kam ihr vor wie Wochen. Überall um sie herum war die Welt auf Morrowindl grau und verhangen, wie ein Landschaftsausschnitt in Schatten und Halblichts. Unter ihnen war in dem Rumpeln der Erde Killeshans Mißvergnügen zu spüren. Fortwährend fragte sie sich, wieviel Zeit ihnen wohl noch blieb. Wieviel Zeit, bevor der Vulkan explodierte und die Insel auseinanderbrach? Wieviel Zeit, bevor die Dämonen sie fanden? Wieviel Zeit, bevor Tiger Ty und Spirit beschließen würden, daß es keinen Sinn hatte, noch länger zu suchen, da sie wohl unwiederbringlich verloren waren?

Sie wusch Ellenrohs Gesicht, flüsterte und sang ihr etwas vor und versuchte so, das Fieber zu vertreiben. Sie suchte nach irgendeinem kleinen Hinweis darauf, daß es ihrer Großmutter besser ging und die Krankheit vergehen würde. Sie blieb von den anderen fern, außer von Eowen, und selbst dann, wenn sie der Seherin nahe war, sprach sie wenig. Ihr Geist war jedoch ruhelos und mit bösen Ahnungen erfüllt, denen sie nicht Ausdruck verleihen konnte. Der Ruhkstab war eine ständige Erinnerung daran, wieviel auf dem Spiel stand. Gedanken an die Elfen quälten sie. Sie konnte ihre Gesichter sehen, ihre Stimmen hören und sich vorstellen, was sie in ihrer Gefangenschaft und Machtlosigkeit denken mußten. Es erschreckte sie, so unlösbar mit ihnen verbunden zu sein. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, daß sie alles war, was sie hatten, daß sie sich auf sie allein verlassen mußten und niemand anders aus ihrer Gruppe wichtig war. Das Leben der Elfen war ihr angetragen, und selbst wenn sie vielleicht wünschte, daß es anders wäre, konnte sie diese Tatsache doch nicht ohne weiteres beiseite schieben.

Die Nacht brach herein, und Ellenrohs Zustand wurde schlechter.

Wren saß an einem einsamen Fleck und weinte ohne Ende. Sie fühlte sich leer durch die Verluste, die plötzlich von allen Seiten auf sie einzustürzen schienen. Einst hätte sie sich gesagt, daß nichts davon wichtig sei – daß das Fehlen von Eltern und einer Familie und damit einer Geschichte und eines Lebens jenseits dessen, das sie lebte, daß das alles keine Bedeutung hätte. Die Tatsache, daß sie nach Morrowindl gekommen und auf Arborlon und die Elfen gestoßen war, hatte das alles für immer geändert. Was einst so wenig Bedeutung gehabt hatte, war auf unerklärliche Weise das Wichtigste geworden. Selbst wenn sie überleben sollte, würde sie niemals wieder dieselbe sein. Die Erkenntnis dessen, was ihr angetan worden war, ließ sie wie betäubt zurück. Sie hatte sich niemals einsamer gefühlt.

Dann schlief sie eine Weile. Sie war zu erschöpft, um länger wach zu bleiben, und ihre Gefühle waren weit entfernt und stumpf. Sie erwachte dann wieder von Garths Hand auf ihrer Schulter. Voller Angst, weswegen er wohl gekommen war, stand sie sofort auf, aber er schüttelte schnell den Kopf. Er sagte nichts und machte nur eine Handbewegung.

Nicht mehr als sechs Fuß von ihr entfernt stand eine große, stachelige Gestalt und sah sie wie aus glühenden Katzenaugen an. Faun tanzte vor ihr herum und schnatterte wild.

Wren starrte den Stachelkater an. »Stresa?« flüsterte sie ungläubig. Sie sprang eilig auf, warf ihre Decke zur Seite, und ihre Stimme zitterte. »Stresa, bist du es wirklich?«

»Von den Toten auferstanden – grrrrr – Wren von den Elfen«, brummte der Kater sanft.

Wren hätte ihn umarmt, wenn es ihr möglich gewesen wäre, aber statt dessen stöhnte sie vor Erleichterung auf und lachte. »Du lebst! Ich kann es nicht glauben!« Sie klatschte in die Hände. »Oh, ich bin so froh, dich zu sehen! Ich hatte geglaubt, daß du tot wärest! Was ist mit dir geschehen? Wie bist du entkommen?«

Der Stachelkater trat mehrere Schritte vor und setzte sich, ohne auf Faun zu achten, der weiterhin aufgeregt umhersprang. »Die – sssffft – Schlange hat mich knapp verfehlt, als sie das Floß zerbrach. Ich wurde unter die Oberfläche gezogen und von der Strömung den ganzen Weg über den Rowen – hsstttt – zurückgezogen. Phhhffft. Es dauerte sehr lange, bis ich einen anderen Übergang fand. Und da wart ihr bereits in Eden’s Murk verschwunden.«

Faun kam ihm zu nahe, und die Stacheln stellten sich drohend auf. »Dummer Schreier. Hsssttt!«

»Wie hast du uns gefunden?« drängte Wren. Garth saß jetzt neben ihr, und sie formte ihre Worte gleichzeitig mit den Händen.

»Ha! Sssffft! Nicht leicht, das kann ich dir sagen. Ich habe natürlich eure Spur aufgenommen – hsssstt –, aber ihr habt häufig die Richtung gewechselt, seit ihr hineingegangen seid. Habt euch bestimmt verirrt, vermute ich. Ich wundere mich, daß ihr die Klippen überhaupt gefunden habt.«

Sie atmete tief ein. »Ich habe die Magie angewendet.«

Der Stachelkater zischte leise.

»Ich mußte es tun. Die Königin ist sehr krank.«

»Sssffft. Also gehört der Ruhkstab jetzt dir?«

Sie schüttelte hastig den Kopf. »Nur solange, bis es Ellenroh besser geht. Nur bis dann.«

Stresa sagte nichts, und nur seine gelben Augen glühten.

»Ich bin froh, daß du zurück bist«, wiederholte sie.

Er gähnte desinteressiert. »Phffft. Genug geredet für heute abend. Es ist Zeit, ein wenig – grrrr – zu schlafen.« Er machte eine gemächliche Wendung und schlenderte davon, um einen Schlafplatz zu finden. Wer ihn sah, mußte denken, es sei nichts Ungewöhnliches geschehen und diese Nacht sei genau wie jede andere. Wren sah ihm einen Moment lang nach und tauschte dann einen langen Blick mit Garth. Der hochgewachsene Fahrende schüttelte den Kopf und ging fort.

Wren zog sich ihre Decke wieder um die Schultern und barg Faun in ihren Armen. Und dann fiel ihr auf, daß sie lächelte.

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