In der langen, tiefen Stille der unendlichen Nacht von Paranor, in der Vergessenheit seines grauen, unveränderlichen Zwielichts, saß Walker Boh und schaute in den Raum. Seine Hand auf dem Tisch vor ihm war zur Faust geschlossen, und seine Finger waren wie Eisenbänder um den Schwarzen Elfenstein verkrampft. Es gab nichts mehr zu tun – keine anderen Möglichkeiten zu erwägen, keine weitere Auswahl zu treffen. Er hatte alles soweit durchdacht, daß es ihm möglich schien, und alles, was blieb, war, auszuprobieren, ob es richtig oder falsch war.
»Vielleicht solltest du dir ein wenig mehr Zeit lassen«, schlug Cogline leise vor.
Der alte Mann saß ihm gegenüber, ein zerbrechlicher, skelettartiger Geist, der fast durchsichtig schien, wenn er vor dem Licht stand. Und das immer mehr, dachte Walker verzweifelt. Weißes, dünnes Haar hing wie Staubfäden von seinem runzligen Gesicht und seinem Kopf herab, die Kleider flatterten wie Wäsche auf der Leine um ihn herum, und seine Augen flackerten mit dumpfem Glitzern in den dunklen Höhlen. Cogline verblaßte, verschwand in die Vergangenheit und kehrte mit Paranor zu dem Ort zurück, von dem es hergerufen worden war. Denn Paranor würde nicht in der Welt der Menschen bleiben, es sei denn, ein Druide würde sich darum kümmern, und Walker Boh, der durch die Zeit und das Schicksal erwählt worden war, die dunkle Kleidung auszufüllen, mußte sie erst noch anziehen.
Seine Augen schweiften zu Rumor. Die Moorkatze kauerte an der gegenüberliegenden Wand des Studierzimmers, in dem sie saßen. Sein schwarzer Körper war so schwach und ätherisch wie der des alten Mannes. Er schaute an sich selbst hinab, und sah, daß auch er verblaßte, wenn auch nicht so schnell. Auf jeden Fall hatte er keine Wahl. Er konnte fortgehen, wenn er es wollte, sofern er es wollte. Cogline nicht und Rumor auch nicht, denn sie waren bis in alle Ewigkeit an den Keep gebunden, wenn Walker keinen Weg fand, ihn in die Welt der Menschen zurückzubringen.
Seltsamerweise glaubte er diesen Weg gefunden zu haben. Aber seine Entdeckung erschreckte ihn so, daß er nicht sicher war, ob er es tun wollte.
Cogline rührte sich, und es klang wie das Rasseln trockener Knochen. »Es könnte nicht schaden, die Bücher ein weiteres Mal zu lesen«, drängte er.
Walker lächelte spöttisch. »Wenn ich sie ein weiteres Mal lese, ist anschließend überhaupt nichts mehr von dir übrig. Oder von Rumor oder dem Keep oder vielleicht auch von mir nicht. Paranor verschwindet, alter Mann. Wir können es nicht leugnen. Und außerdem ist nichts zu lesen übrig, nichts zu entdecken übrig, was ich nicht schon weiß.«
»Und du bist immer noch sicher, daß du recht hast, Walker?«
Sicher? Walker war sich über nichts sicher, außer über die Tatsache, daß er ganz entschieden nicht sicher war. Der Schwarze Elfenstein war ein tödliches Puzzle. Stellte er falsche Vermutungen darüber an, wie er wirkt, dann würde er wie der Steinkönig enden, gefangen von seiner eigenen Magie, zerstört von dem, dem man am meisten vertraut hat. Uhl Belk hatte geglaubt, die Magie des Steines zu beherrschen, und es hatte ihn alles gekostet.
»Ich stelle Vermutungen an«, erwiderte er. »Nicht mehr.«
Er öffnete seine Hand und ließ den Elfenstein ans Licht kommen. Er lag da in der Mulde seiner Handfläche mit glatter Oberfläche, scharfkantig, trüb und undurchdringlich, Macht in sich selbst, Macht jenseits von allem, dem er je begegnet war. Er dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, den Stein zu gebrauchen, als er den Keep zurückgebracht und erwartet hatte, daß es nun vorbei sei, daß die Rückkehr aus der Vergessenheit, in die Allanon ihn gesandt hatte, alles sei, was gefordert war. Er erinnerte sich des Aufbrandens der Macht, als sie ihn zum Keep begleitet hatte, an das Ineinanderfließen von Fleisch und Blut mit Stein und Mörtel, die Umgestaltung seines Körpers, so daß er genauso sehr Geist wie Mensch war. Er hatte ihn so verwandelt, daß er Paranor hatte betreten können, um zu entdecken, was ihm noch zu tun blieb.
Eine Metamorphose des Seins.
Dort war er Cogline und Rumor begegnet und hatte ihre Geschichte gehört, wie sie den Angriff der Schattenwesen überlebt hatten, indem sie in den beschützenden Schild der Magie der Druidengeschichten eingeschlossen und nach Paranor gebracht worden waren. Obwohl Walker Paranor aus dem vergessenen Ort, an den Allanon es gesandt hatte, herausgebracht hatte, würde er es nicht vollständig zurückbringen können, solange er nicht einen Weg gefunden hatte, seine Verwandlung zu vollenden und der Druide zu werden, der er, wie es vorbestimmt war, sein mußte. Bis dahin war Paranor ein Gefängnis, das nur er verlassen konnte – ein Gefängnis, das sich schnell in den Raum zurückziehen würde, aus dem es gekommen war.
»Ich stelle nur Vermutungen an«, wiederholte er mehr zu sich selbst.
Er hatte die Druidengeschichten immer wieder gelesen, da er dort zu finden hoffte, was er tun mußte, aber er hatte nichts entdeckt. Nirgends bezogen sich die Geschichten darauf, wie man ein Druide wurde. In seiner Verzweiflung hatte er geglaubt, daß der Ursprung für ihn verloren sei, bis er sich plötzlich der Visionen des Grimpond erinnert hatte, von denen zwei bereits wahr geworden waren und von denen die dritte, wie er erkannte, hier wahr werden würde.
Er sah den alten Mann an. »Ich stehe inmitten einer schloßähnlichen Festung, die grau und leblos ist. Ich werde von einem Tod belauert, dem ich nicht entkommen kann. Er jagt mich unaufhörlich. Ich weiß, daß ich vor ihm davonlaufen muß, aber ich kann es nicht. Ich lasse ihn herankommen, und er greift nach mir. Kälte setzt sich in mir fest, und ich kann spüren, wie mein Leben endet. Hinter mir steht ein dunkler Schatten, der mich festhält und meine Flucht verhindert. Der Schatten ist Allanon.«
Diese Worte waren inzwischen zu einer vertrauten Litanei geworden. Cogline nickte geduldig. »Deine Vision, wie du sagtest. Die dritte und letzte.«
»Denn zwei sind bereits wahr geworden, aber keine so, wie ich es angenommen hatte. Der Grimpond spielt gern Spiele. Aber dieses Mal werde ich dieses Spielen zu meinem Vorteil nutzen. Ich kenne die Einzelheiten der Vision. Ich weiß, daß es hier, innerhalb des Keep, geschehen wird. Ich brauche nur die Bedeutung zu enträtseln, um die Wahrheit von der Lüge zu trennen.«
»Aber wenn du falsch vermutet hast...«
Walker Boh schüttelte abwehrend den Kopf. »Das habe ich nicht.«
Sie beschritten bekannten Grund. Walker hatte dem alten Mann bereits alles erzählt, war es mit ihm durchgegangen, da er schnell die Fehler entdecken würde, die ihm entgangen waren. Er faßte es in Worte, um zu wissen, wie es klang.
Der Schwarze Elfenstein war der Schlüssel zu allem.
Er wiederholte aus dem Gedächtnis diesen einzigen, gesonderten Abschnitt, der in den Geschichten der Druiden niedergeschrieben war: Einmal verbannt, soll Paranor für den Rest der Zeit für die Welt der Menschen verloren bleiben, eingeschlossen und unsichtbar in einer Versiegelung. Nur eine Magie hat die Macht es zurückzubringen – der einzigartige Elfenstein, von schwarzer Farbe, der von dem Feenvolk der alten Welt in der Art und Gestalt aller Elfensteine eingesetzt wurde, der aber dennoch in einem einzigen Stein die erforderlichen Eigenschaften von Herz, Geist und Körper verbindet. Wer auch immer die Notwendigkeit spürt und das Recht dazu hat, mag ihn zu seinem Endzweck führen.
Er hatte bisher angenommen, daß der Schwarze Elfenstein dazu gedacht sei, Paranor in seinen gegenwärtigen Zustand des Halbseins zu versetzen und ihm dann Einlaß zu gewähren. Aber die Worte jener Mitteilung erklärten nicht, welches Ausmaß der Gebrauch des Elfensteines haben würde. Nur die eine Magie, hieß es dort, habe die Macht, Paranor wiederherzustellen. Diese Magie allein. Der Schwarze Elfenstein. Es wurde nirgends eine andere Magie erwähnt. Es gab auf all den vielen Seiten der Druidengeschichten keinen weiteren Hinweis darauf, wie Paranor in die Welt der Menschen zurückgebracht werden würde.
Also mußte er annehmen, daß der Schwarze Elfenstein das alles allein bewirkte, daß er aber nicht nur einmal, sondern zweioder sogar dreimal benutzt werden mußte, bevor der Wiederherstellungsprozeß beendet war.
Aber wozu mußte er benutzt werden, was sollte er tun?
Die Antwort schien offensichtlich. Die Magie, die Allanon vor dreihundert Jahren hatte in den Keep einfließen lassen, war wie ein Wachhund, der freigelassen worden war, um zwei Dinge zu tun – die Feinde des Keep zu zerstören und Paranor in die Vergessenheit zu senden und dort festzuhalten, bis es auf angemessene Art wieder herbeigerufen werden würde. Die Magie war ein Wesen. Man konnte sie in den Mauern des Schlosses spüren, man konnte ihre Bewegungen in seinem Innern hören. Sie beobachtete und belauschte sie. Sie atmete. Sie war da und wartete. Wenn der Keep für die Vier Länder wiederhergestellt werden sollte, mußte die Magie, die Allanon freigesetzt hatte, wieder eingeschlossen werden. Mit gutem Grund war anzunehmen, daß nur eine andere Form von Magie dies bewerkstelligen könnte. Und die einzige verfügbare Magie, die einzige Magie, die in den Druidengeschichten zusammen mit Paranor erwähnt wurde, war der Schwarze Elfenstein.
So weit, so gut. Druidenmagie, um Druidenmagie unwirksam zu machen. Das ergab einen Sinn. Es war wohl die Macht des Schwarzen Elfensteins, daß er andere Magien überwinden konnte. Von nur einer Magie war in dem Text die Rede. Walker mußte sie natürlich anwenden. Er hatte es bereits einmal getan und bewiesen, daß er es konnte. Wer auch immer die Veranlassung und das Recht dazu haben sollte. Er selbst. Benutze den Schwarzen Elfenstein gegen den Wachhund Magie und sperre ihn ein. Benutze den Schwarzen Elfenstein den ganzen Weg über gegen den Wachhund.
Aber es fehlte noch immer etwas. Es gab keine Erklärung, wie der Schwarze Elfenstein wirkte. Es war unendlich viel komplizierter, als einfach die Magie aufzurufen und sie loszulassen. Der Schwarze Elfenstein machte andere Magien unwirksam, indem er sie in sich aufnahm – und in seinen Besitzer. Walker Boh war bereits verwandelt worden, als er den Elfenstein benutzt hatte, um Paranor zurückzubringen und Einlaß zu erlangen. Er war von einem gesunden Menschen in ein unstoffliches Wesen verwandelt worden. Welche weiteren Schäden würde er erleiden, wenn er den Elfenstein gegen den Wachhund Magie einsetzte? Welche weitere Verwandlung würde er durchmachen?
Und dann erkannte er plötzlich zwei Dinge.
Erstens, daß er noch immer kein Druide war und auch keiner werden würde, bis er sein Recht dazu begründet hatte – daß dieses Recht nicht aus seinen Studien erwachsen würde oder aus dem Lernen oder aus einer Weisheit, die er durch das Lesen der Druidengeschichten aufnahm, und daß es nicht vorherbestimmt war, nicht schon vor dreihundert Jahren festgesetzt worden war, sondern daß es erst in dem Moment geschehen würde, in dem er einen Weg fände, den Wachhund des Keep zu bezwingen und Paranor vollständig in die Welt der Menschen zurückzubringen, denn das war die Prüfung, der Allanon ihn unterzog.
Zweitens erkannte er, daß die dritte Vision, die der Grimpond ihm gezeigt hatte, diese Vision von Paranor, in der er mit einem Tod konfrontiert werden würde, dem er nicht entkommen konnte, weil er vom Geiste Allanons festgehalten wurde, ein kurzer Ausblick auf diesen Augenblick war.
Seine Argumente waren überzeugend. Die Druiden hätten sich nicht die Mühe gemacht, einen Ablauf so vollständig wie diesen aufzuzeichnen, wenn es eine bessere Möglichkeit gegeben hätte. Nur Walker Boh konnte den Schwarzen Elfenstein benutzen. Nur er hatte das Recht dazu. Irgendwie, auf irgendeine Weise, würde dessen Gebrauch die erforderliche Umwandlung auslösen. Wenn es notwendig war, etwas darüber zu wissen, dann würde Walker sicher erkennen, was erforderlich war. So vieles an der Druidenmagie basierte darauf, daß man sie einfach akeptierte – der Gebrauch der Elfensteine, das Schwert von Shannara, sogar der Wunschgesang. Es war nur logisch, daß es hier genauso sein würde.
Und die Vision des Grimpond untermauerte seine Überlegungen noch. Es würde eine Auseinandersetzung geben, wie sie beschrieben worden war. Wenn man die Vision wörtlich nahm, sagte sie vorher, daß eine solche Konfrontation den Tod von Walker zur Folge haben würde, weil Allanon ihn, indem er ihn hierher gesandt hatte, gebunden hatte, so daß er sterben mußte und alles, was er für eine Flucht erproben mochte, nutzlos sein würde. Aber das war sicher zu stark vereinfacht. Und es ergab keinen Sinn. Warum sollte Allanon ihn den ganzen, weiten Weg in den Tod geschickt haben? Es mußte noch eine andere Erklärung geben, eine andere Bedeutung. Er zog eine andere vor, die besagte, daß ein Leben endete und ein anderes begann, eines, das ihn ein für allemal als Druide ausweisen würde.
Cogline war da nicht so sicher. Walker hatte schon die beiden anderen Visionen des Grimpond falsch gedeutet. Warum war er so überzeugt davon, daß er hier nicht auch etwas Falsches vermutete? Die Visionen waren niemals, was sie zu sein schienen, sie waren irrige und verdrehte Bruchstücke von Halbwahrheiten, die zwischen Lügen verborgen lagen. Er ging ein entsetzliches Risiko ein. Die erste Vision hatte ihn seinen Arm gekostet, die zweite Quickening. Sollte ihn die dritte nichts kosten? Es schien logischer, daß er davon ausging, daß die Vision ihm mehrere Interpretationen erlaubte, die unter den entsprechenden Umständen wahr werden könnten, darunter auch jene mit Walkers Tod. Mehr noch störte Cogline, daß Walker keine klare Vorstellung davon hatte, wie der Gebrauch des Schwarzen Elfensteins seine Umwandlung bewirken sollte, wie er den Wachhund der Druiden bezwingen sollte, wie Paranor selbst vollständig zum Leben erweckt werden sollte – wie überhaupt irgend etwas davon funktionieren sollte. Es würde nicht so einfach sein, wie es bei Walker klang. Nichts, was mit dem Gebrauch der Elfenmagie zusammenhing, war jemals einfach gewesen. Es würde Schmerz damit verbunden sein, ungeheure Anstrengung und die sehr reale Möglichkeit eines Fehlschlags.
So hatten sie ihre Argumente ausgetauscht, hin und her, länger, als Walker eigentlich vorgesehen hatte, bis sie jetzt, Stunden später, zu müde waren, um noch etwas anderes zu tun, als eine letzte Kunde oberflächlicher Belehrungen auszutauschen. Walkers Meinung stand fest, und sie beide wußten das. Er würde seine Theorie ausprobieren, um das, was Allanon in Paranor freigelassen hatte, zu suchen, und er würde die Magie des Schwarzen Elfensteins benutzen, um es wieder einzusperren. Er würde die Wahrheit über den Schwarzen Elfenstein entdecken und auch der letzten der verhaßten Visionen des Grimpond ein Ende setzen.
Wenn er sich nur dazu bringen konnte, von diesem Tisch aufzustehen, den Zauber aufzunehmen und weiterzumachen.
Obwohl er bemüht gewesen war, seine Gefühle mit schroffen Blicken und zuversichtlichen Worten vor Cogline zu verbergen, hielt das Entsetzen ihn gefangen. Soviel Unsicherheit, so viele Vermutungen. Er zwang seine Finger, sich wieder über dem Schwarzen Elfenstein zu schließen, so hart zuzupacken, daß er den Schmerz spüren konnte.
»Ich werde mit dir gehen«, bot Cogline an. »Und Rumor auch.«
»Nein.«
»Wir können dir vielleicht auf irgendeine Weise helfen.«
»Nein«, wiederholte Walker. Er schaute auf und schüttelte langsam den Kopf. »Nicht, daß ich dich nicht gern dabei hätte. Aber dies ist nichts, wobei du mir helfen könntest, keiner von euch beiden. Es ist nichts, bei dem mir irgend jemand helfen könnte.«
Er konnte einen Schmerz spüren, wo sein fehlender Arm sein sollte. Es war, als sei er irgendwie da, ohne daß er ihn sehen konnte. Er bewegte sich unbehaglich und versuchte, seine Muskeln zu entspannen, die sich verspannt und verkrampft hatten, während er mit dem alten Mann zusammen gesessen und diskutiert hatte. Die Bewegung gab ihm Auftrieb, und er zwang sich, sich zu erheben. Cogline tat es ihm nach. Sie sahen einander in dem Halblicht an, in der verblassenden Transparenz des Keep.
»Walker.« Der alte Mann nannte ihn ruhig bei seinem Namen. »Die Druiden haben uns beide zu ihren Geschöpfen gemacht. Wir sind in alle Richtungen gezogen und gedreht worden und gezwungen worden, Dinge zu tun, die wir nicht tun wollten. Wir sind in Angelegenheiten hineingezogen worden, um die wir uns lieber nicht gekümmert hätten. Ich würde es mir nicht erlauben, jetzt den Wert ihres Vorgehens zu diskutieren. Wir sind beide jenseits des Punktes angelangt, wo das wichtig sein könnte.«
Er beugte sich vor. »Aber ich möchte dir eines sagen und dich bitten, dich daran zu erinnern, daß sie ihre Paladine weise gewählt haben.« Sein Lächeln wirkte erschöpft und traurig. »Viel Glück für dich.«
Walker kam um den Tisch herum, legte seinen gesunden Arm um den alten Mann und drückte ihn fest. Er hielt ihn einen Moment lang umfangen, ließ ihn dann los und trat zurück.
»Ich danke dir«, flüsterte er.
Es gab nichts mehr zu sagen. Er atmete tief ein, ging hinüber, um Rumor zwischen seinen aufgestellten Ohren zu kraulen, schaute in seine leuchtenden Augen, wandte sich dann um und ging durch die Tür hinaus.
Mit vorsichtigen Schritten schlich er durch die weiten, leeren Gänge, als könnten die Mauern ihn kommen hören und könnten sein Vorhaben erahnen. Er näherte sich dem Mittelpunkt des Keep. Schatten wanden sich in farblosen Windungen um ihn herum wie ein geheimnisvolles Tuch, das seine Gedanken bedeckte. Er suchte Zuflucht in der Verborgenheit seines Geistes und zog seine Entschlossenheit und Willenskraft als schützende Schichten um sich, wobei er von tief innen die Festigkeit heraufbeschwor, die ihm eine Chance zum Überleben gewähren würde.
Denn die Wahrheit bei seinem Vorhaben war, daß er keine richtige Vorstellung davon hatte, was geschehen würde, wenn er dem Wachhund der Druiden gegenübertreten und die Magie des Schwarzen Elfensteins anrufen würde, um ihn zu überwältigen. Cogline hatte recht. Es würde schmerzvoll werden, und der Prozeß würde Fragen aufwerfen und schwieriger werden, als er sich jetzt eingestehen mochte. Er würde kämpfen müssen, und er würde vielleicht nicht als Sieger daraus hervorgehen. Er wünschte, er hätte eine genaue Vorstellung davon, was ihn erwartete. Aber es hatte keinen Sinn, sich etwas zu wünschen, was niemals sein konnte, was niemals gewesen war. Die Wege der Druiden waren schon immer im verborgenen geblieben.
Er wandte sich dem Hauptgang zu und steuerte den Türen entgegen, die sich in den Keep öffneten – und dem Schacht zu, in dem der Wachhund schlummerte. Oder vielleicht ruhte er nur, denn es schien ihm, als sei die Magie erwacht und beobachte ihn, als folge sie ihm mit den Augen, während er durch das Schloß schritt. Es war, als begleite sie ihn in dem Auf und Ab des Lichts, das sich ständig veränderte, als gebe es einen Hinweis auf ihre unsichtbare Gegenwart. Allanons Schatten war auch da. Er spürte ihn als Spannung in seinem Rücken, als ein Verkrampfen seiner Schultermuskeln, wo die großen Hände zupackten. Er wurde beinahe festgehalten, dachte er bei sich. Er wurde auf diese Auseinandersetzung zugetrieben wie ein Stück totes Holz, das auf den Kämmen eines reißenden Flusses dahingetragen wird, und er konnte nicht ausweichen.
Sprich zu mir, Allanon, bat er im stillen. Sage mir, was ich tun soll.
Doch er bekam keine Antwort.
Die Türen leerer Räume und die dunklen Tunnel weiterer Gänge und Flure kamen und gingen. Er spürte erneut den Schmerz in seinem fehlenden Arm und wünschte, seine Glieder wären wieder vollständig, wenn auch nur für den Augenblick der bevorstehenden Auseinandersetzung. Er umklammerte den Schwarzen Elfenstein fest mit seiner gesunden Hand und spürte dessen glatte Flächen und scharfe Kanten beruhigend an seiner Haut. Er konnte die Macht darin anrufen, aber er konnte nicht vorhersehen, was sie tun würde. Dich vernichten, dieser Gedanke kam ungebeten. Er atmete langsam und tief durch, um sich zu beruhigen. Er versuchte sich an den Abschnitt der Druidengeschichten zu erinnern, der von dem Gebrauch der Elfensteine handelte, aber sein Gedächtnis narrte ihn plötzlich. Er versuchte sich daran zu erinnern, was er auf den vielen Seiten in all jenen Büchern gelesen hatte, aber er konnte es nicht. Alles schmolz in ihm davon, verloren in dem Ansturm von Angst und Zweifeln, der gierig und drohend durch ihn hindurch brauste. Laß es nicht zu, ermahnte er sich. Erinnere dich daran, wer du bist, was dir versprochen wurde und was du dir über das Kommende gesagt hast.
Die Worte waren wie totes Laub, das in einem Sturm herumgewirbelt wurde.
Über ihm öffnete sich eine breite Nische in das Gestein der Mauern, gewölbt und so tief und schattig, daß sie schwarz wie die Nacht war. Und dort sah er ein Paar hoher Eisentüren, die geschlossen waren.
Der Eingang zum Schacht des Druidenkeep.
Walker Boh ging auf die Türen zu und blieb stehen. Überall um sich herum konnte er ein Flüstern von Stimmen, ihr Spotten und Necken in der Art des Grimpond hören, mit dem sie ihm sagten, er solle zurückgehen, während andere ihn drängten, doch weiterzugehen. Es war ein verwirrender Strudel sich widersprechender Ratschläge. Erinnerungen rührten sich irgendwo in ihm – aber es waren nicht seine eigenen. Er konnte ihre Bewegungen an seinem Rückgrat spüren wie ausgestreckte Finger, die sich ineinander verschlangen und sich anspannten. Vor sich konnte er Spuren eines grünen Lichts durch die Risse und Einschnitte des Türrahmens dringen sehen. Und dahinter konnte er Bewegung spüren.
In diesem Augenblick wäre er beinahe davongestürzt. Wäre er noch in der Lage gewesen, es zu tun, dann hätte er den Schwarzen Elfenstein zu Boden geworfen und wäre um sein Leben gerannt. Er hätte all seine Entschlossenheit und seine Pläne hinter sich gelassen. Seine Angst war unübersehbar. Sie war so deutlich, daß es schien, als könne er die Hand ausstrecken und sie berühren. Sie war nicht so, wie er es erwartet hatte. Seine Angst regte sich nicht wegen der drohenden Auseinandersetzung, wegen des Versprechens jener Vision oder auch wegen der Furcht vorm Sterben. Sie regte sich wegen etwas, das jenseits von alledem lag, wegen etwas so Unbestimmbarem, daß er es nicht definieren konnte, obwohl er gleichzeitig sicher war, daß es da war.
Doch Allanons Schatten hielt ihn fest. Genau wie in der Vision gab es da einen Plan des Schicksals und der Zeit und der Einflüsse aus Jahrhunderten, und alles hatte sich verbunden, um sicherzugehen, daß Walker Boh den Zweck erfüllte, den die Druiden für ihn vorhergesehen hatten.
Er streckte seine geschlossene Faust vor und betrachtete seine Hand, als gehöre sie einem anderen Menschen. Und dann beobachtete er sie, wie sie gegen die Eisentüren stieß.
Geräuschlos öffneten sie sich.
Walker trat hindurch. Sein Körper war wie betäubt und sein Kopf leicht und angefüllt mit kleinen, entsetzten Warnschreien. Tu es nicht, flüsterten sie. Tu es nicht.
Er blieb atemlos stehen. Er stand auf einem schmalen Felsenband innerhalb des Schachtes des Keep. Stufen wanden sich wie eine Schlange mit stachelbewehrtem Rücken die Wand des Turmes entlang aufwärts. Schwaches graues Licht sickerte durch Einschnitte im Gestein und zerstreute die Schatten. Unterhalb jener Stelle, wo er stand, war nichts als Leere – ein tiefer, gähnender Abgrund, aus dem das hohle Echo der Eisentüren aufstieg, als sie hinter ihm zuschlugen. Er lauschte auf den Herzschlag in seinen Ohren. Er lauschte auf die Stille ringsum.
Doch dann rührte sich etwas in dem Abgrund, und schnell und ärgerlich entwich Atem aus den Lungen eines Riesen. Grünliches Licht flackerte auf und wurde wieder schwächer, verwandelte sich zu Nebel und begann träge umherzuwirbeln.
Walker Boh spürte, wie sich die Öde des Keep um ihn herum niederließ. Er spürte sie wie ein monströses Gewicht, dem er nicht entkommen konnte. Tonnen von Gestein umringten ihn, und die Dunkelheit dort drinnen war wie ein Leichentuch. Der Nebel hob sich, eine dunkle und uralte Magie, und der Wachhund des Druiden erhob sich auch und kam hervor, um nach dem Rechten zu sehen. Er kam mit heftigen Bewegungen auf ihn zu, wand sich am Gestein entlang und fraß sich durch die Dunkelheit. Er war wie ein Sumpf, der ihn verschlingen würde, ohne Spuren zu hinterlassen.
Noch immer wäre er am liebsten fortgelaufen, wenn er nicht gewußt hätte, daß es zu spät war und daß er etwas begonnen hatte, was er beenden mußte, daß die Zeit und die Ereignisse ihn schließlich eingeholt hatten, und daß er hier ganz allein das Rätsel seines Lebens, wie es die Druiden gestellt hatten, endlich lösen mußte. Er zwang sich dazu, an den Rand des Podests zu treten. Dieser Schritt seines schwachen Fleisches war ein Tropfen Wasser gegen den Ozean der Macht unter ihm. Von dort zischte es zu ihm herauf, als sehe es ihn, und er hörte ein Flüstern des Wiedererkennens. Es schien sich zu sammeln und seine Bewegung zu festigen.
Walker hob die Hand mit dem Schwarzen Elfenstein.
Warte.
Die Stimme erhob sich aus dem Nebel. Walker fror. Die Stimme gehörte dem Grimpond.
Kennst du mich?
Der Grimpond? Wie konnte es der Grimpond sein? Walker blinzelte schnell. Der Nebel hatte begonnen, in seiner Mitte Gestalt anzunehmen. Es gab da eine Spirale wirbelnden Grüns, die sich hinauf ins Licht bohrte und sich beharrlich durch die Schatten hob, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm war und dort in Luft und Stille hing.
Schau.
Er erkannte in ihr eine menschliche Gestalt, mit einem langen Umhang, die eine Kapuze aufgezogen hatte und gesichtslos blieb. Auch Arme und Hände wuchsen ihr und streckten sich aus, um Walker zu umschlingen. Finger wanden und bogen sich.
Wer bin ich?
Ein Gesicht erschien. Schatten und Licht verschoben sich im Nebel. Walker fühlte sich, als sei seine Seele herausgerissen worden.
Das Gesicht, das er sah, war sein eigenes.
In der Abgeschiedenheit des Gewölbes, das die Druidengeschichten beherbergte, sprang Cogline auf. Etwas geschah. Irgend etwas. Er konnte es in der Luft spüren, denn da war eine Vibration, die die Schatten bewegte. Sein runzliges Gesicht spannte sich konzentriert an, und die alten Augen durchforschten den Raum. Die Stille war ungebrochen, weit und unveränderlich, die Zeit war außer Kraft gesetzt, und dennoch...
Ihm gegenüber im Raum fuhr Rumors Kopf hoch, und die Moorkatze stieß ein tiefes, leises, ärgerliches Grollen aus. Er setzte sich auf, wandte sich erst in die eine Richtung, dann in die andere, als suche er einen Feind, der sich unsichtbar gemacht hatte. Auch er spürte also etwas. Coglines Augen schossen nach rechts und nach links. Auf dem Tisch vor ihm begannen die Seiten des Buches, das dort aufgeschlagen lag, zu erzittern.
Es fängt an, dachte der alte Mann.
Er zog mit einer unbewußten Bewegung seine Kleidung enger um sich und überdachte alles, was ihn an diesen Ort und in diese Zeit gebracht hatte, alles, was bisher geschehen war. Wie hoch war wohl der Preis nach so vielen Jahren, fragte er sich. Aber der Preis war nicht seine Angelegenheit, sondern die von Walker Boh.
Ich muß tun, was in meiner Macht steht, beschloß er.
Er versenkte sich tief in sich selbst. Das war eine jener wenigen Fähigkeiten, die ihm aus seiner Vergangenheit als Druide geblieben waren. Er zog sich in sich selbst zurück, bis er frei genug war, um zu gehen. Er konnte auf diese Weise kurze Entfernungen zurücklegen und in kleine Welten schauen. Er eilte in seinem Bewußtsein durch die Gänge des Schlosses und sah und hörte alles. Er eilte durch die Dunkelheit und das graue Halblicht zum Turm des Keep.
Dort fand er Walker Boh Angesicht in Angesicht mit der Unsterblichkeit und dem Tod in Unentschlossenheit erstarrt. Er erkannte, was vor sich ging.
Seine Stimme war überraschend ruhig.
Walker. Benutze den Stein.
Walker Boh hörte die Stimme des alten Mannes als Flüstern in seinem Geist, und er spürte, daß sein Körper reagierte. Sein Arm streckte sich aus, und er spannte sich an.
Das Wesen vor ihm lachte. Erkennst du mich noch immer nicht?
Er tat es – und tat es nicht. Da waren viele Wesen gleichzeitig, von denen er einige erkannte und einige nicht. Die Stimme jedoch – darüber konnte kein Zweifel bestehen. Es war die des Grimpond, die spottete und ihn quälte und seinen Namen rief.
Du hast deine dritte Vision gefunden, nicht wahr, Dunkler Onkel?
Walker war entsetzt. Wie konnte das geschehen? Wie konnte der Grimpond sowohl jenes Wesen sein, das er bezwingen wollte, und auch der Avatar, der in Darklin Reach gefangengehalten wurde? Wie konnte er an zwei Orten zugleich sein? Das ergab keinen Sinn! Die Druiden hatten den Grimpond geschaffen. Die Magie, die sie benutzten, war unterschiedlich und oft sogar entgegengesetzt. Aber die Stimme, die Bewegung und die Art, wie sich das Wesen anfühlte...
Der Schatten vor ihm wurde größer und näherte sich ihm. Ich bin dein Tod, Walker Boh. Bist du bereit, mich zu umarmen?
Und plötzlich erinnerte sich Walker wieder der Vision genauso klar wie in dem Moment, als sie ihm das erste Mal erschienen war – er spürte den Schatten von Allanon hinter sich, der ihn festhielt, und den dunklen Schatten vor sich, das Versprechen des Todes, und das Schloß der Druiden ringsum.
Warum fliehst du nicht? Fliehe vor mir!
Das war alles, was er tun konnte, um nicht zu schreien. Er tastete sich von ihm fort und erflehte Hilfe von überallher. Coglines Stimme war fort, begraben in schwarzer Angst. Bruchstücke seiner Entschlossenheit und seiner Pläne lagen verstreut um ihn herum. Walker Boh verfiel, während er noch lebendig war.
Ein kleiner Teil von ihm gab jedoch nicht auf, sondern klammerte sich an die Erinnerung daran, was ihn hierher geführt hatte, wurde gehalten von dem Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte: daß er nicht freiwillig oder aus Unwissenheit sterben werde. Coglines Gesicht war noch immer da, mit Augen voller Erregung und Lippen, die sich in dem Versuch zu sprechen bewegten. Walker wandte sich nach innen und suchte das einzige, was ihn über die Jahre hinweg aufrecht gehalten hatte, nach dem Kern des Zorns, der aufbrannte, wenn er daran dachte, was die Druiden ihm angetan hatten. Er schürte ihn, bis er glühte. Er goß ihn in sein Gesicht, so daß er dort verbrannte. Er atmete ihn ein, bis die Angst aufgeben mußte, bis dort nur noch Zorn war.
Und dann geschah etwas Seltsames. Die Stimme des Wesens vor ihm veränderte sich. Die Stimme wurde zu seiner eigenen, die wild und verzweifelt aufschrie.
Fliehe, Walker Boh!
Die Stimme kam nicht mehr aus dem Nebel. Sie kam aus ihm selbst! Er rief seinen eigenen Namen und drängte sich selbst zur Flucht!
Was ging hier vor?
Und plötzlich verstand er es. Er hörte nicht dem Wesen vor ihm, sondern sich selbst zu. Es war seine eigene Stimme, die er die ganze Zeit gehört hatte, ein Trick seines Bewußtseins, ein Trick des Grimpond, wie er wütend erkannte. Der Geist hatte ihm zusammen mit dieser dritten Vision einen Hinweis auf seinen Tod eingepflanzt, eine Stimme, die ihn davon überzeugen sollte, und eine Gewißheit, daß es der Grimpond selbst war, der in anderer Form hervorgekommen war, um ihn anzuführen. Rache an den Nachkommen von Brin Ohmsford – das war es, das hatte der Grimpond von Anfang an vorgehabt. Wenn Walker dieser Stimme zuhörte, in seiner Entschlossenheit schwankend wurde und sich von dem Zweck seines Kommens abwandte...
Nein! Seine Finger öffneten sich, und der Schwarze Elfenstein entflammte zum Leben.
Das Nichtlicht schoß vorwärts und breitete sich wie Tinte über dem schattigen Schacht aus, um den Nebel zu umarmen. Keine Spiele mehr! Walkers Schrei war ein begeisterter, leiser Ruf in seinem Geist. Der Grimpond – heimtückisch und verschlagen wie er war – hatte ihn fast zerstört. Niemals wieder. Niemals...
Dann geschah alles gleichzeitig.
Nichtlicht und Nebel verknüpften sich und verbanden sich miteinander. Der Nebel flutete zurück durch die Tunnel der Dunkelheit der Magie. Er war wieder eine grünliche, pulsierende Wildheit. Walker hatte nur einen Augenblick Zeit, wieder zu Atem zu kommen und sich zu fragen, was falsch gelaufen war. Er konnte sich nur kurz fragen, ob er vielleicht nach alledem doch darin gefehlt hatte, den Grimpond zu überlisten – und dann griff ihn die Druidenmagie an. Sie explodierte in ihm, und er schrie in hilflosem Erschrecken auf. Der Schmerz war unbeschreiblich. Er war ein feuriges Erglühen und fühlte sich so an, als sei ein anderes Wesen in ihn eingetreten, als sei es von der Magie aus der Verborgenheit des Nebels herausgenommen und in ihn hineingetragen. Es verbarg sich in Knochen und Muskeln und Fleisch und Blut, bis Walker es nicht mehr ertragen konnte. Es weitete sich aus und wütete, bis er glaubte, er werde auseinandergerissen. Dann änderte sich das Gefühl und entzündete eine neue Art von Schmerz. Erinnerungen durchfluteten ihn in breitem Strom und scheinbar endlos. Mit den Erinnerungen kamen auch die Gefühle, die sie begleitet hatten, Empfindungen voller Entsetzen und Angst und Zweifel und Bedauern, und ein Dutzend anderer Gefühle, die wie eine unaufhaltsame Sturzflut durch Walker Boh hindurchstürzten. Er taumelte zurück und versuchte zu widerstehen und sie abzuschütteln. Seine Hand kämpfte darum, den Schwarzen Elfenstein zu umschließen. Er versuchte, diesen Angriff abzuwehren, aber sein Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. Er wurde von den Magien ergriffen – sowohl von jener des Elfensteins, als auch von der des Nebels –, und sie hielten ihn fest.
Wie Allanon und der Geist des Todes in der dritten Vision!
Schatten! Hatte der Grimpond doch noch recht behalten?
Er sah andere Orte und Zeiten, sah die Gesichter von Männern und Frauen und Kindern, die er nicht kannte, wurde Zeuge von Ereignissen, die hervorsickerten und wieder verblaßten, und vor allem spürte er immer wieder beharrlich die Empfindungen jenes Wesens durch sich hindurchströmen. Walkers Gefühl dafür, wo er war, verschwand. Er ging in dem Bewußtsein jenes Eindringlings auf. Ein Mann? Ja, ein Mann, wie er erkannte, ein Mann, der unzählige Leben gelebt hatte, Jahrhunderte, weit länger als jeder normale Sterbliche, jemand, der so anders...
Die Bilder änderten sich abrupt. Er sah dunkle Gestalten in schwarzen Roben, die hinter Schloßmauern verborgen waren, in Räume eingeschlossen, die das Licht kaum erreichte, über uralte Lehrbücher gebeugt, schreibend, lesend, diskutierend...
Druiden!
Und dann erkannte er die Wahrheit. Es war ein unangenehmes, erschreckendes Wiedererkennen, das wie mit einer Klinge durch seinen Wahnsinn schnitt.
Das Wesen, das der Nebel in ihn hineingetragen hatte, war Allanon – seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, seine Gefühle und seine Gedanken, alles außer Fleisch und Blut, denn das hatte er bei seinem Tode verloren.
Wie hatte Allanon dies ermöglicht, fragte sich Walker ungläubig und kämpfte gegen den Ansturm der Erinnerungen an und gegen die erstickende Decke der Gedanken des anderen. Aber er kannte die Antwort darauf bereits. Die Samen hierfür waren bereits vor dreihundert Jahren gesät worden. Warum aber? Und auch diese Antwort kam rasch, ein rotes Aufflackern der Gewißheit. Auf diese Weise sollte das Druidenwissen an ihn weitergegeben werden. Alles, was Allanon gewußt und empfunden hatte, war in dem Nebel aufgehoben worden, sein Wissen war dreihundert Jahre lang sicher gelagert worden und hatte auf seinen Nachfolger gewartet.
Aber da war noch mehr. Walker spürte es. Auch auf diese Weise sollte er geprüft werden. Auch auf diese Weise sollte entschieden werden werden, ob er ein Druide wurde.
Seine Grübelei hörte auf, als die Bilder weiterhin durch ihn hindurchrauschten, inzwischen als das erkennbar, was sie waren, die gesamte Druidenerfahrung, alles, was Allanon von seinen Vorgängern zusammengetragen hatte, eine Zusammenfassung all seiner Studien, der Erfahrungen seines gesamten Lebens. Wie Fußabdrücke auf weicher Erde gruben sie sich in Walkers Bewußtsein ein. Ihre Berührung war feurig und rauh, wie ein Stück Kohle, das auf seine Haut gelegt wurde. Die Wörter und Eindrücke und Empfindungen überrollten ihn wie eine Lawine. Es kam zu viel, zu schnell. Ich will das nicht! schrie er entsetzt, aber immer mehr drang auf ihn ein, unaufhörlich, entschlossen – Allanons Selbst wurde auf Walker übertragen. Er kämpfte dagegen an, indem er in dem Gewirr von Bildern nach etwas Festem tastete. Aber das schwarze Licht des Elfensteins war wie ein Trichter, der sich nicht verschließen ließ, den es in jenen grünlichen Nebel zog, um ihn zu verschlingen und in seinen Körper überzuleiten. Stimmen stammelten einzelne Worte, Gesichter wurden sichtbar, Szenen veränderten sich, und die Zeit eilte davon. All das war eine Mischung der Eindrücke aus all den Jahren, in denen Allanon gelebt und dafür gekämpft hatte, die Rassen zu beschützen und sicherzustellen, daß das Druidenwissen, nicht verlorenging, daß die Hoffnungen und Sehnsüchte, denen sich das Erste Konzil vor Jahrhunderten gestellt hatte, weitergetragen und bewahrt wurden. Walker Boh wurde in das alles eingeweiht und erfuhr, was es Allanon und all jenen, deren Leben er berührt hatte, bedeutet hatte, und erlebte die Wucht des Lebens von fast zehn Jahrhunderten selbst.
Dann hörten die Bilder plötzlich auf, die Stimmen, die Gesichter und die Szenen aus dieser Zeit – alles, was ihn bestürmt hatte, Sie verschwanden blitzartig, und er stand wieder allein innerhalb des Keep, eine einsame Gestalt, die gegen die Mauer aus Felsblöcken gesunken war.
Er war noch immer am Leben.
Er stand unsicher auf, schaute an sich hinab und vergewisserte sich, daß er heil war. In sich verspürte er eine Rauheit wie bei sonnenverbrannter Haut, die Spuren jener Übertragung all jenen Druidenwissens, was Allanon hinterlassen hatte. Sein Geist war davon durchdrungen, und sein Bewußtsein war erfüllt. Und dennoch hatte er nur bruchstückhafte Kontrolle über jenes Wissen, als könne es nicht zum Tragen kommen, als könne er sich nicht darauf berufen. Etwas war falsch. Walker konnte offensichtlich nicht feststellen, was es war.
Vor ihm pulsierte der Schwarze Elfenstein. Das Nichtlicht formte eine Brücke, die sich in die Schatten wölbte, und die noch Immer mit dem verbunden war, was von dem Nebel übriggeblieben war – eine aufgewühlte, schäumende Masse bösen, grünen Lichts, das zischte und sprühte und sich zusammenzog wie eine Katze auf dem Sprung.
Walker richtete sich schwach und unsicher auf und hatte bereits wieder Angst, weil er spürte, daß noch mehr geschehen würde und daß das Schlimmste ihm noch bevorstand. Seine Gedanken rasten. Was konnte er tun, um sich darauf vorzubereiten? Es war nicht genug Zeit...
Der Nebel stürzte sich in das Nichtlicht. Es kam auf Walker zu und umgab ihn im Handumdrehen. Er konnte seinen Ärger sehen, seine Wut hören und seinen Zorn spüren. Es drang durch sein neues Wissen schmerzhaft zu ihm durch. Walker schrie und krümmte sich. Sein Körper zuckte und veränderte sich unter seiner Kleidung. Er konnte spüren, wie seine Knochen sich verdrehten. Er schloß die Augen und erstarrte. Der Nebel war in ihm, wand sich, setzte sich fest und nährte sich.
Er wurde von Entsetzen geschüttelt.
Sein ganzes Leben lang hatte Walker darum gekämpft, dem zu entkommen, was die Druiden für ihn vorgesehen hatten. Er war entschlossen gewesen, seinen eigenen Kurs zu planen. Doch damit war er schließlich gescheitert. Also hatte er sich auf die Suche nach dem Schwarzen Elfenstein und dann nach Paranor begeben. Er hatte gewußt, daß es, wenn er sie finden würde, nötig sein würde, daß er der nächste Druide wurde. Er hatte sein Schicksal einerseits akzeptiert, sich gleichzeitig jedoch auch versprochen, eine eigene Persönlichkeit zu bleiben, egal was ihm bestimmt war. Während er jetzt von dem Zorn dessen, der im Nebel verborgen gewesen war, zerstört wurde, schrumpften im Handumdrehen alle übriggebliebenen Hoffnungen auf ein geringes Maß an Selbstbestimmung zusammen, und Walker Boh blieb statt dessen mit dem dunkelsten Teil von Allanons Seele zurück. Es war das grausame Selbst des Druiden, ein Gemisch all jener Situationen, in denen er aus Vernunft und durch die Umstände gezwungen gewesen war, zu tun, was er verabscheute, ein Gemisch all jener Situationen, in denen er gefordert gewesen war, Leben und Zuversicht und Hoffnung und Vertrauen zu verbrauchen, und all jener Jahre des Hartwerdens und des Beschwichtigens von Geist und Seele, bis beide so sorgfältig geschmiedet und unzerstörbar waren wie das härteste Metall. Die Grenzen von Allanons Dasein waren auf ihn übertragen worden, ferne Grenzen, an die zu reisen er gezwungen gewesen war. Es enthüllte, wie groß die Verantwortung war, die mit der Macht einherging. Es umriß, welches Verständnis die Erfahrung verlieh. Es war hart und rauh und furchtbar, eine Aufhäufung von zehn normalen Lebensspannen, und es überschwemmte Walker wie Wasserfluten die Mauer eines Dammes.
Er wand sich in die Dunkelheit hinunter, hörte sich selbst aufschreien, hörte auch das Gelächter des Grimpond – ob eingebildet oder real, das konnte er nicht sagen. Seine Gedanken zerstreuten sich, als sein Geist verfiel, seine Hoffnungen und sein Glauben. Er konnte nichts tun, denn die Kraft der Magie war zu mächtig. Er ergab sich ihr, dieser gewaltigen Macht, und wartete auf den Tod.
Und doch hing er noch am Leben. Er stellte fest, daß der Strom finsterer Enthüllungen, durch die seine Belastbarkeit auf eine Art geprüft worden war, die er nicht für möglich gehalten hatte, trotz allem versagt und ihn nicht zerstört hatte. Er konnte nicht denken, denn das bereitete ihm zu große Schmerzen. Er versuchte gar nicht erst zu sehen, denn er fühlte sich verloren in einer bodenlosen Grube. Zu hören nützte ihm nichts, denn das Echo seines Schreies erzitterte überall um ihn herum. Er schien in sich selbst zu zerfließen und nur noch um Atemluft und sein Überleben kämpfen zu können. Diese Prüfung hatte er erwartet – das Druidenritual des Übergangs. Es warf ihn in Bewußtlosigkeit, erfüllte ihn mit Schmerz und ließ ihn zerbrochen in sich zurück. Alles wurde fortgeschwemmt, sein Glauben und seine Intelligenz, alles, was ihn so lange am Leben gehalten hatte. Konnte er diesen Verlust überleben? Und was würde er sein, wenn ihm das gelang?
Er durchschwamm Wellen der Seelenqual, die in ihm selbst und der Kraft der dunklen Magie verborgen war und ihn an den Rand seiner Belastbarkeit trieb, bis kurz vors Ertrinken. Er spürte, daß sein Leben im nächsten Augenblick verloren sein könnte, und erkannte, daß ihm der Maßstab dafür, wer und was es war und sein konnte, genommen wurde. Er war nicht sicher, ob es ihn überhaupt noch berührte. Er trieb hilflos dahin.
Hilflos.
Jemals wieder zu sein, der zu sein er gemeint hatte. Jene Versprechen zu erfüllen, die er sich selbst gegeben hatte. Wieder Kontrolle über sein Leben zu haben. Zu bestimmen, ob er leben oder sterben würde.
Hilflos.
Walker Boh.
Er war sich dessen, was er tat, kaum bewußt, war losgelöst von bewußtem Denken und wurde statt dessen getrieben von Empfindungen, die zu ursprünglich waren, als daß er sie erkannt hätte; so kämpfte er sich aus seiner Benommenheit frei und brach durch die Wellen der Seelenqual hervor, durch das Nichtlicht und die dunkle Magie, durch Zeit und Raum. Er war jetzt ein heller Fleck feurigen Zorns.
Er spürte, wie in ihm das Gleichgewicht sich wieder verschob und das Gewicht zwischen Leben und Tod sich neigte.
Und als er schließlich die Oberfläche des schwarzen Ozeans durchbrach, der ihn hatte begraben wollen, war das einzige Geräusch, das er wahrnahm, ein nicht enden wollender Schrei, der aus seinen Lungen hervorbrach.