10

ICH BIN NACH HAUSE GEKOMMEN.

Das war Wrens erster Gedanke – lebendig, verwirrend und unerwartet.

Sie war jetzt innerhalb der Mauern der Stadt und stand in einer Nische im Schatten der Festungsmauern. Arborlon breitete sich vor ihr aus, und es war, als sei sie ins Westland zurückgekehrt, denn es gab Eichen und Ulmen, grüne Büsche und Gras und Erde, die an allen Ecken nach Wachstum und dem Wechsel der Jahreszeiten, nach Flüssen und Teichen und Leben roch. Eine Eule rief leise, und in der Nähe war Flügelschlag zu hören, als ein kleinerer Vogel von seinem versteckten Sitzplatz aufflog. Einige andere sangen. Es gab schreiende Ziegenmelker! Glühwürmchen leuchteten aus einer Gruppe von Schierlingen heraus, und Grillen zirpten. Sie konnte das sanfte Rauschen eines Flusses hören, dessen Wasser über Felsen sprang. Sie konnte das Flüstern eines freundlichen Nachtwindes auf ihrer Wange spüren. Die Luft roch sauber. Sie war frei von dem Gestank des Schwefels. Und da war die Stadt selbst. Sie schmiegte sich in das Grün. Es gab da Gruppen von Häusern und Geschäften, Straßen und Wege unten und erhöhte Pfade oben, hölzerne Brücken, die über das Gewirr von Flüssen führten, Lampen, die Fenster beleuchteten und zur Begrüßung flackerten, und Menschen – einige wenige, die sich noch nicht zur Ruhe begeben hatten –, die spazierengingen. Vielleicht um ihre Unruhe zu besänftigen oder um den Himmel zu bewundern. Denn es war wieder ein Himmel zu sehen. Er war klar und wolkenlos, strahlend vor Sternen und mit einem Dreiviertelmond, der so weiß war wie frischer Schnee. Unter seinem Gewölbe schimmerte alles ein wenig, da die Magie von den Mauern ausströmte. Das Schimmern war jedoch nicht so unangenehm, wie es Wren von außerhalb erschienen war, und die Mauern wurden trotz ihrer Höhe und Dicke davon so weich gezeichnet, daß sie fast vergänglich schienen.

Wrens Augen irrten von einem Punkt zum anderen. Sie sah in gut gepflegten Höfen angelegte Blumengärten, Hecken, die Spazierwege säumten, und Straßenlampen aus sorgfältig verarbeitetem Eisen. Es gab Pferde, Kühe, Hühner und alle Arten von Tieren in Gehegen und Scheunen. Es gab Hunde, die sich in den Eingängen zum Schlafen zusammengerollt hatten, und Katzen auf Fensterbänken. Es gab über Eingängen farbige Flaggen und Schirme. Markisen hingen über Schaufenstern und Marktkarren. Die Häuser und Geschäfte waren weiß und sauber, umgeben von frisch gestrichenen Zäunen in unzähligen Farben. Sie konnte natürlich nicht alles sehen, sondern nur den Teil der Stadt, der in der Nähe lag. Und doch konnte kein Zweifel daran bestehen, wo sie war oder welche Gefühle in ihr hervorgerufen wurden. Zu Hause.

Aber genauso schnell, wie sie voller Freude Vertrautheit und das Gefühl der Zugehörigkeit gespürt hatte, verschwand beides auch wieder. Wie konnte sie sich an einem Ort heimisch fühlen, an dem sie nie zuvor gewesen war, den sie nie zuvor gesehen hatte und über dessen Existenz sie sich bis zu diesem Augenblick nicht sicher gewesen war?

Die Vision wurde schwächer und schien in die Schatten der Nacht zurückzuweichen, als wollte sie sich verbergen. Sie sah, was sie zuvor übersehen hatte – oder was sie in ihrer Aufregung nicht hatte sehen wollen. Die Mauern wimmelten von Elfen in Kampfkleidung mit Waffen in der Hand, und ihre Verteidigungslinien erstreckten sich über die Festungsmauern. Ein Angriff wurde gerade zurückgeschlagen. Der Kampf vollzog sich seltsam ruhig, als habe der Schein der Magie die Geräusche irgendwie gedämpft. Männer fielen. Einige erhoben sich wieder, und einige verschwanden. Auch die Schatten, die angriffen, erlitten Verluste. Einige wurden von dem Licht verbrannt, daß die Funken sprühten und zischten, wie es vielleicht ein verlöschendes Feuer getan hätte, andere wurden von den Verteidigern zurückgeschlagen. Wren blinzelte. Innerhalb ihrer Mauern erschien ihr die Stadt der Elfen auf einmal weniger strahlend und ein wenig heruntergekommen. Die Häuser und Geschäfte waren ein wenig dunkler und auch weniger gut gepflegt, als sie zuerst gedacht hatte, die Bäume und Büsche waren nicht so üppig und die Blumen blasser. Die Luft, die sie atmete, war alles in allem doch nicht so rein – da war ein Hauch von Schwefel und Asche. Hinter der Stadt ragte Killeshan dunkel und drohend auf, und sein Krater glühte blutrot vor dem Nachthimmel.

Sie wurde sich plötzlich der Elfensteine bewußt, die sie noch immer fest umklammert hielt. Ohne auf sie hinabzusehen, ließ sie sie in ihre Tasche gleiten.

»Hier entlang, Wren«, sagte Aurin Striate.

Es gab Wachen an der Tür, durch die sie hereingekommen waren, junge Männer mit harten Gesichtern, entschieden elfischen Zügen und Augen, die müde und alt wirkten. Wren schaute sie an, als sie vorbeiging, und fröstelte. Es war die Art, wie sie sie anschauten. Garth trat dicht neben sie und verdeckte so deren Sicht.

Die Eule führte sie unter den Festungsmauern heraus und über eine ansteigende Rampe über einen Graben, der die Stadt innerhalb ihrer Mauern umschloß. Wren schaute zurück und blinzelte gegen das Licht. Es war kein Wasser in dem Graben. Es schien keinen Sinn zu ergeben, daß man ihn ausgehoben hatte. Er war jedoch eindeutig als eine Art Verteidigungsanlage für die Stadt gedacht. An Dutzenden von Stellen war er von Rampen überspannt, die zu den Mauern führten. Wren sah Garth fragend an, aber der große Mann schüttelte den Kopf.

Ein Weg wurde vor ihnen zwischen den Bäumen sichtbar, der sich ins Zentrum der Stadt wand. Sie begannen, ihn hinabzugehen, waren aber nur ein kurzes Stück weit gekommen, als ein großer Trupp Soldaten vorbeieilte. Er wurde von einem Mann mit so sonnengebleichtem Haar geführt, daß es fast weiß wirkte. Die Eule zog Wren und Garth in die Schatten, und der Mann ging vorbei, ohne sie zu sehen.

»Phaeton«, sagte die Eule und schaute ihm nach. »Der Gesalbte der Königin auf dem Schlachtfeld, ihr Erretter vor den dunklen Wesen.« Er sagte es ironisch und lächelte nicht. »Der schlimmste Alptraum eines Elfenjägers.«

Sie gingen schweigend weiter und wandten sich bald von dem Weg ab, um verschiedenen Seitenstraßen zu folgen, die sie durch Reihen von verdunkelten Geschäften und Hütten führten. Wren sah sich neugierig um. Sie beobachtete, überlegte und nahm alles in sich auf. Vieles war so, wie sie sich vorgestellt hatte, daß es sein würde, denn Arborlon war abgesehen von seiner Größe nicht viel anders als ein Dorf des Südlandes wie Shady Vale – abgesehen natürlich auch von der andauernden Gegenwart der Schutzmauer, die noch immer als ein Schimmer in der Ferne zu spüren war, eine Erinnerung an den Kampf, der dort geführt wurde. Als das Schimmern nach einer Weile ganz hinter einer Wand aus Bäumen verschwand, war es unmöglich, sich die Stadt so vorzustellen, wie sie vor den Dämonen, vor dem Beginn der Belagerung einmal gewesen sein mußte. Es mußte damals wundervoll gewesen sein, hier zu leben, dachte Wren. Die Stadt war bewaldet und abgeschieden, wie es über dem Rill Song gewesen war. Sie war aus ihren Westlandanfängen in dieses Inselparadies wiedergeboren, ihre Bewohner sollten die Chance haben, ein neues Leben zu beginnen. Sie sollten von der Bedrohung der Unterdrückung durch die Föderation frei sein. Damals war sie ohne Dämonen, Killeshan schlief, und Morrowindl lag im Frieden – ein Traum, wenn man es sich so vorstellte.

Erinnert sich wohl noch jemand an diesen Traum? fragte sie sich.

Die Eule führte sie durch einen Hain mit Eschen und Weiden, in dem die Stille wie ein Umhang lag, der sie angenehm umhüllte. Sie erreichten einen Eisenzaun mit Eisenspitzen und geschärften Zinken, der sich zwanzig Fuß hoch in die Luft erhob, und wandten sich an ihm entlang nach links. Jenseits einer Sperrschranke erstreckte sich von Bäumen beschatteter Grund bis hin zu einem weitläufigen Gebäude mit Türmen, das nur der Palast der Elfenherrscher sein konnte. Zu Zeiten ihrer Vorfahren waren das die Elessedils gewesen, erinnerte sich Wren. Aber wer war es jetzt? Sie gingen an dem Zaun entlang bis zu einer Stelle, wo die Schatten so tief waren, daß man kaum etwas sehen konnte. Dort hielt die Eule inne und beugte sich hinunter. Wren hörte das Schaben eines Schlüssels in einem Schloß, und ein Tor in dem Zaun schwang auf. Sie gingen hinein, warteten, bis die Eule das Tor wieder verschlossen hatte, und liefen dann über den Rasen auf den Palast zu. Niemand erschien, um sie anzusprechen. Niemand war zu sehen. Es gab Wachen, das wußte Wren. Es mußten einfach welche da sein. Sie erreichten die Ecke des Gebäudes und blieben stehen.

Geschmeidig wie eine Katze löste sich eine Gestalt aus den Schatten. Die Eule wandte sich ihr zu und wartete. Die Gestalt kam auf sie zu. Es wurden auch Worte gewechselt, aber zu leise, als daß Wren sie hätte verstehen können. Die Gestalt verschwand wieder. Die Eule winkte, und sie schlüpften durch eine Gruppe von Fichten in eine Nische. Eine Tür war bereits halb geöffnet. Sie traten durch sie hindurch ins Licht.

Sie standen in einer Eingangshalle mit gewölbter Decke und holzgeschnitzten Oberbalken, die glänzend poliert waren. Gepolsterte Bänke waren an den Wänden aufgestellt. Öllampen umrahmten geschwungene Flügeltüren zu einem verdunkelten Gang, die aufgeschoben worden waren. Von irgendwoher vom Ende des Ganges, tief aus dem Innern des Palastes konnte Wren Bewegung und den entfernten Klang von Stimmen hören. Wren und Garth folgten dem Beispiel der Eule und setzten sich auf die Bänke. In dem Licht konnte Wren zum ersten Mal sehen, wie mitgenommen sie aussah. Ihre Kleidung war zerrissen, schmutzig und blutbeschmiert. Garth sah noch schlimmer aus. Ein Ärmel seiner Tunika war vollständig abgerissen, und der andere hing in Fetzen hinab. Seine kräftigen Arme waren von Kratzund Brandspuren übersät. Sein bärtiges Gesicht war angeschwollen. Er sah, daß sie ihn betrachtete, und zuckte wegwerfend die Achseln.

Eine Gestalt näherte sich, löste sich lautlos aus dem Gang und trat langsam ins Licht. Es war ein Elf von mittlerer Größe und Gestalt, der einfach aussah und einfach gekleidet war. Er hatte einen steten, durchdringenden Blick. Sein hageres, sonnengebräuntes Gesicht war glattrasiert, und sein braunes Haar trug er schulterlang. Er war nicht viel älter als Wren, aber seine Augen verrieten, daß er weitaus mehr gesehen und erlitten hatte als sie. Er kam auf die Eule zu und nahm wortlos dessen Hand.

»Triss«, grüßte ihn Aurin Striate und wandte sich dann seinen Begleitern zu. »Dies sind Wren Ohmsford und ihr Begleiter Garth. Sie sind aus dem Westland zu uns gekommen.«

Der Elf ergriff nacheinander ihre Hände und sagte nichts. Seine Blicke aus dunklen Augen versanken einen Augenblick in Wrens, und sie war überrascht, wie offen sein Blick war. Als wäre diesen Augen unmöglich, jemals etwas geheimzuhalten.

»Triss ist der Hauptmann der Leibgarde«, erklärte die Eule. Wren nickte. Niemand sagte ein Wort. Sie standen einen Moment verlegen da. Wren fiel ein, daß die Leibgarde für die Sicherheit der Elfenherrscher verantwortlich war, und sie fragte sich, warum Triss keinerlei Waffen trug. Und sie fragte sich im nächsten Moment, warum er überhaupt da war. Dann bewegte sich am anderen Ende des dunklen Ganges wieder etwas, und sie alle wandten sich dorthin um.

Zwei Frauen traten aus den Schatten. Die auffallendere der beiden war klein und schlank, hatte flammend rotes Haar, hell durchscheinende Haut und große grüne Augen, die in ihrem seltsam dreieckigen Gesicht auffielen. Aber es war die andere Frau, die größere der beiden, die Wrens Aufmerksamkeit sofort auf sich zog, so daß sie aufsprang, ohne daß ihr überhaupt bewußt wurde, daß sie aufgestanden war, und die sie schnell und erschreckt atmen ließ. Ihre Augen trafen sich, und die Frau verlangsamte ihren Schritt, während ein seltsamer Ausdruck ihr Gesicht zu überziehen begann. Sie hatte lange, schlanke Beine und trug ein Kleid, das bis zum Boden reichte und um ihre schmale Taille zusammengehalten wurde. Ihre Elfenzüge waren fein gemeißelt, mit hohen Wangenknochen und einem breiten, dünnen Mund. Ihre Augen waren sehr blau, und sie hatte flachsfarbenes Haar, das sich auf die Schultern hinabringelte und vom Schlaf zerzaust war. Ihre Gesichtshaut war glatt, wodurch sie ein jugendliches, beinahe altersloses Aussehen bekam.

Wren sah die Frau ungläubig blinzelnd an. Die Farbe der Augen stimmte nicht, und der Haarschnitt war anders, und sie war größer, und ein Dutzend kleiner Merkmale waren anders, aber die Ähnlichkeit war dennoch unverkennbar.

Wren sah sich selbst, wie sie wohl in dreißig Jahren aussehen würde.

Ein Lächeln erschien ohne Vorwarnung auf dem Gesicht der Frau, ganz plötzlich, strahlend und überströmend. »Eowen, sieh nur, wie sehr sie Alleyne gleicht!« rief sie der rothaarigen Frau zu. »Oh, du hattest recht!«

Sie trat langsam vor, streckte die Hand aus, um Wrens Hände in ihre eigenen zu nehmen, und vergaß alle anderen. »Wie ist dein Name, Kind?«

Wren sah sie verwirrt an. Es schien irgendwie, als sollte die Frau das eigentlich wissen. »Wren Ohmsford«, antwortete sie.

»Wren«, hauchte die andere. Das Lächeln verstärkte sich noch, und Wren bemerkte, daß auch sie selbst lächelte. »Willkommen, Wren. Wir haben lange Zeit darauf gewartet, daß du nach Hause kommst.«

Wren blinzelte. Was hatte sie gesagt? Sie sah sich hastig um. Garth war zur Statue geworden, die Eule und Triss wirkten teilnahmslos, und die rothaarige Frau sah angespannt und ängstlich aus. Sie fühlte sich plötzlich im Stich gelassen. Das Licht der Öllampen flackerte unruhig, und die Schatten krochen näher.

»Ich bin Ellenroh Elessedil«, sagte die Frau, und ihre Hände drückten Wren fester, »die Königin von Arborlon und den Westlandelfen. Kind, ich weiß kaum, was ich dir sagen soll, selbst jetzt, nachdem ich dich so sehnlich erwartet habe.« Sie seufzte. »Aber was sage ich? Deine Wunden müssen gewaschen und behandelt werden und die deines Freundes ebenfalls. Ihr müßt etwas zu essen bekommen. Und dann können wir die ganze Nacht reden, wenn es sein muß. Aurin Striate.« Sie wandte sich der Eule zu. »Ich bin wieder einmal in Eurer Schuld. Ich danke Euch mit meinem ganzen Herzen. Dadurch, daß Ihr Wren sicher in die Stadt gebracht habt, gebt Ihr mir neue Hoffnung. Bitte bleibt über Nacht.«

»Ich werde bleiben, Mylady«, erwiderte die Eule sanft.

»Triss, achte darauf, daß dein Freund entsprechend versorgt wird. Und auch Wrens Begleiter.« Sie sah ihn an. »Wie lautet Euer Name?«

»Garth«, antwortete Wren sofort. Sie war plötzlich erschreckt durch die Plötzlichkeit, mit der alles geschah. »Er kann nicht sprechen.« Sie straffte sich kampfbereit. »Garth bleibt bei mir.«

Das Geräusch von Stiefeln in der Halle erregte erneut die Aufmerksamkeit von ihnen allen. Ein weiterer Elf erschien, ein ziemlich großer Mann mit dunklen Haaren, eckigem Gesicht, der genauso bereitwillig und mühelos lächelte wie die Königin. Er betrat selbstsicher und kontrolliert im Sturmschritt den Raum. »Was ist hier los? Können wir nicht ein paar Stunden Schlaf ohne neue Krise genießen? Aha, Aurin Striate ist hergekommen, wie ich sehe, direkt aus dem Feuer. Gut gemacht, Eule. Und Triss ist auch hier?«

Er hielt erst jetzt inne und bemerkte Wren. Einen Augenblick lang spiegelte sich Unglauben in seinem Gesicht. Der verging und sein Blick schweifte zur Königin. »Sie ist doch noch zurückgekehrt, nicht wahr?« Sein Blick kehrte zu Wren zurück. »Und genauso hübsch wie ihre Mutter.«

Wren errötete. Sie war sich bewußt, daß sie davon aus der Fassung gebracht war, konnte sich aber nicht helfen. Das Lächeln des Elfs verstärkte sich und machte sie noch nervöser. Er trat schnell zu ihr und legte schützend den Arm um sie. »Nein, nein, bitte, es ist wahr. Du bist vollkommen deine Mutter.« Er drückte sie freundschaftlich. »Wenn auch ein wenig staubig und zerrissen.«

Sein Lächeln nahm sie ein und wärmte sie. Sie fühlte sich augenblicklich erleichtert. Es war, als gäbe es niemand sonst in dem Raum. »Es war eine ziemlich harte Reise vom Strand hier herauf«, brachte sie mühsam heraus und wurde mit seinem schnellen Lachen belohnt.

»In der Tat hart. Nur sehr wenige andere hätten das geschafft. Ich bin Gavilan Elessedil«, belehrte er sie, »der Neffe der Königin und dein Cousin.« Er unterbrach sich, als er ihren verwirrten Blick sah. »Ach, du weißt noch gar nichts davon, nicht wahr?«

»Gavilan, geh und leg dich schlafen«, unterbrach ihn Ellenroh und lächelte ihn an. »Später ist noch Zeit genug, daß du dich vorstellst. Wren und ich haben jetzt etwas zu besprechen, nur wir beide.«

»Was, ohne mich?« Gavilan sah gekränkt aus. »Ich dachte doch, daß du mich einbeziehen wolltest, Tante Ell. Wer stand Wrens Mutter denn näher als ich?«

Die Königin schaute ihn mit festem Blick an. »Ich.« Sie wandte sich erneut Wren zu, schob Gavilan beiseite und stellte sich neben das Mädchen. Ihre Arme legten sich um Wrens Schultern.

»Diese Nacht sollte dir und mir allein vorbehalten bleiben, Wren. Garth wird auf dich warten, bis wir fertig sind. Ich möchte gern, daß zuerst wir miteinander sprechen. Nur wir beide.«

Wren zögerte. Sie erinnerte sich an die Worte der Eule, sie solle nichts von den Elfensteinen sagen, einzig und allein der Königin gegenüber. Sie schaute zu ihm hinüber, aber er sah fort. Die rothaarige Frau indessen sah Gavilan unverwandt mit undurchdringlichem Gesicht an.

Garth weckte ihre Aufmerksamkeit, indem er ihr ein Zeichen machte. Tu, um was sie dich bittet.

Noch immer antwortete Wren nicht. Sie war nahe dran, die Wahrheit über ihre Mutter und über ihre Vergangenheit zu erfahren. Sie war dabei, die Antworten zu entdecken, um derentwillen sie gekommen war. Und plötzlich wollte sie nicht allein sein, wenn es soweit war.

Jedermann wartete. Garth machte erneut Zeichen. Tu es. Der harte, unnachgiebige Garth, der Hüter von Geheimnissen! Wren zwang sich zu einem Lächeln. »Wir werden alleine miteinander sprechen«, sagte sie.

Sie verließen die Eingangshalle, gingen den Gang hinab und eine gewundene Treppe ins zweite Stockwerk des Palastes hinauf. Garth blieb mit Aurin Straite und Triss zurück. Er war offensichtlich unbeeindruckt davon, daß er nicht mit ihr gehen konnte, und zufrieden mit ihrer Trennung, obwohl er wußte, daß es Wren ganz eindeutig nicht so ging. Sie sah, daß Gavilan ihr nachstarrte, sah ihn lächeln und winken und dann in einem anderen Gang verschwinden. Er war ein Kobold, der zu anderen amüsanten Spielen zurückkehrte. Sie mochte ihn instinktiv, genauso wie sie die Eule instinktiv gemocht hatte, aber nicht auf die gleiche Art. Sie war sich noch nicht ganz sicher, worin der Unterschied bestand, denn sie war gegenwärtig noch zu verwirrt von allem, was geschah, als daß sie in der Lage gewesen wäre, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Sie mochte ihn, weil er ihr ein gutes Gefühl vermittelte, und das war im Augenblick eigentlich genug.

Trotz der Ermahnung der Königin an die anderen, daß sie mit Wren alleine sprechen wollte, ging ihnen die rothaarige Frau nach. Ihr Gesicht leuchtete geisterhaft weiß aus den Schatten. Wren schaute ein- oder zweimal zu ihr zurück, zu dem seltsam eindringlichen, entfernten Gesicht, zu den großen, grünen Augen, die in anderen Welten verloren schienen, zu dem Flattern schlanker Hände vor einem schlichten, weichen Kleid. Ellenroh schien nicht zu bemerken, daß die andere da war, sondern hastete durch die dunklen Korridore des Palastes auf ihr Ziel zu und verzichtete auf Licht jeglicher Art, außer das des Mondes, das in silbernen Strahlen durch die hohen Glasfenster fiel. Sie gingen einen Gang hinunter, bogen in einen weiteren ein, noch immer im zweiten Stockwerk, und näherten sich schließlich einem Paar Flügeltüren am Ende des Ganges. Wren wich bei einer leisen Bewegung in der Dunkelheit zur Seite aus – bei einer Bewegung, die jemand anders hatte verbergen wollen, die ihr aber nicht entgangen war. Sie verlangsamte bewußt ihren Schritt und wartete, daß ihre Augen sich anpaßten. Ein Elf stand tief in den Schatten an der Wand. Er stand jetzt reglos und aufmerksam.

»Das ist nur Cort«, sagte die Königin leise. »Er gehört zur Leibgarde.« Ihre Hand strich über Wrens Wange. »Du hast unsere Elfenaugen, Kind.«

Die Türen führten in das Schlafzimmer der Königin, einen großen Raum mit einer gewölbten Decke, vergitterten Fenstern, einem Bett mit einem Baldachin, dessen Bettlaken noch zerwühlt waren, mit Stühlen und Sofas und Tischen in kleinen Gruppen, einem Schreibpult und einer Tür, die in einen Waschraum führte.

»Setz dich hier hin, Wren«, dirigierte die Königin sie und führte sie zu einer kleinen Couch. »Eowen wird deine Wunden auswaschen und verbinden.«

Sie schaute zu der rothaarigen Frau hinüber, die bereits Wasser aus einem Krug in ein Becken goß und einige saubere Tücher zusammensuchte. Eine Minute später war sie zurück und kniete sich neben Wren. Ihre Hände waren überraschend kräftig, als sie die Kleidung des Mädchens abstreifte und Wren zu waschen begann. Sie arbeitete schweigend, während die Königin zuschaute. Schließlich beendete sie die Behandlung, indem sie Verbände anlegte, wo es nötig war und ihr ein leichtes Nachtgewand reichte, das Wren dankbar annahm – zum ersten Mal nach Wochen konnte sie in saubere Kleidung schlüpfen, und sie genoß es. Die rothaarige Frau durchquerte den Raum und kam mit einem Becher mit etwas Warmem und Stärkendem zurück. Wren schnupperte versuchsweise daran, entdeckte Spuren von Ale und Tee und noch etwas anderem und trank es mit Behagen. Ellenroh Elessedil machte es sich neben ihr auf der Couch bequem und nahm ihre Hand. »Nun werden wir miteinander reden, Wren. Hast du Hunger? Möchtest du zuerst etwas essen?« Wren schüttelte den Kopf. Sie war zu müde zum Essen und zu begierig darauf, zu erfahren, was die Königin ihr zu sagen hatte. »Gut, denn.« Die Königin seufzte. »Wo sollen wir beginnen?«

Wren bemerkte plötzlich, daß die rothaarige Frau sich ihnen näherte und sich ihnen gegenüber niederließ. Sie schaute die Frau unsicher an – Eowen hatte die Königin sie genannt. Sie hatte angenommen, daß Eowen die persönliche Dienerin der Königin sei und mitgenommen wurde, damit sie sich um ihr Wohlergehen kümmerte, und daß sie dann entlassen würde wie die anderen. Aber die Königin hatte sie nicht entlassen. Sie schien sich tatsächlich kaum ihrer Anwesenheit bewußt zu sein, und Eowen schien nicht anzunehmen, daß man von ihr erwartete, daß auch sie ginge. Je mehr Wren darüber nachdachte, desto weniger schien Eowen einfach eine Dienerin zu sein. Es war etwas an der Art, wie sie sich verhielt, an der Art, wie sie darauf reagierte, was die Königin sagte und tat. Sie entsprach recht schnell einer Bitte um Hilfe, aber sie zeigte gegenüber Ellenroh Elessedil nicht die Ehrerbietung, die die anderen ihr erwiesen.

Die Königin sah Wrens Blick und lächelte. »Ich fürchte, ich bin mir selbst wieder einmal vorausgeeilt. Und habe es auch versäumt, mich angemessen zu verhalten. Dies ist Eowen Cerise, Wren. Sie ist meine engste Freundin und Beraterin. Tatsächlich verdanke ich ihr, daß du hier bist.«

Wren runzelte leicht die Stirn. »Ich verstehe nicht, was Ihr meint. Ich bin hier, weil ich die Elfen suche. Dazu kam es, weil der Druide Allanon mich gebeten hat, die Suche zu übernehmen. Was hat Eowen damit zu tun?«

»Allanon«, flüsterte die Elfenkönigin und war einen Moment lang beunruhigt. »Selbst im Tode wacht er über uns.« Sie ließ verwirrt Wrens Hand los. »Wren, laß mich dich zuerst etwas fragen. Wie hast du es geschafft, uns zu finden? Kannst du uns etwas von deiner Reise nach Morrowindl und Arborlon erzählen?«

Wren war begierig darauf, etwas über ihre Mutter zu erfahren, aber hier hatte sie nicht zu bestimmen. Sie zügelte ihre Ungeduld und erfüllte der Königin ihre Bitte. Sie erzählte ihr von den Träumen, die Allanon gesandt hatte, von dem Erscheinen von Cogline und der daran anschließenden Reise zum Hadeshorn, von den Aufgaben, die der Druide den Ohmsfords aufgetragen hatte, von ihrer Rückkehr mit Garth ins Westland und ihrer Suche nach einem Hinweis auf den Verbleib der Elfen, von der Ankunft in Grimpen Ward und ihrem Gespräch mit der Addershag, von ihrer Reise zu den Ruinen von Wing Hove, von der Ankunft von Tiger Ty mit Spirit, vom Flug nach Morrowindl und ihrem Marsch über die Insel. Sie ließ nur zwei Dinge aus – sie erwähnte weder das Schattenwesen, das ihnen gefolgt war, noch die Tatsache, daß sie die Elfensteine besaß. Die Eule hatte ihre Warnung, nichts von den Elfensteinen zu erzählen, bis sie mit der Königin ganz allein war, sehr dringend gemacht. Wenn sie nichts von den Elfensteinen sagte, durfte sie auch das Schattenwesen nicht erwähnen.

Sie beendete ihren Bericht und wartete, daß die Königin etwas dazu sagte. Ellenroh Elessedil betrachtete sie einen Moment lang ernsthaft und lächelte dann. »Du bist ein vorsichtiges Mädchen, Wren, und das mußt du in dieser Welt auch sein. Deine Geschichte sagt mir genau so viel, wie sie sollte – und nicht mehr.« Sie beugte sich vor. Ihr markantes Gesicht war jetzt von einer Mischung aus Gefühlen gezeichnet, die für Wren zu kompliziert waren, als daß sie sie hätte einordnen können. »Ich werde dir jetzt im Gegenzug auch etwas erzählen, und wenn ich geendet habe, wird es keine Geheimnisse mehr zwischen uns geben.«

Sie nahm Wrens Hand erneut in ihre eigenen. »Deine Mutter hieß Alleyne, wie Gavilan dir bereits gesagt hat. Sie war meine Tochter.«

Wren saß regungslos da. Ihre Hände waren fest mit denen der Königin verschränkt, und Überraschung und Staunen durchfuhren sie, während sie überlegte, was sie sagen sollte.

»Sie war meine Tochter, Wren, und das macht dich zu meiner Enkelin. Aber da ist noch etwas. Ich gab Alleyne drei bemalte Steine in einem Lederbeutel, die sie wiederum dir geben sollte. Hast du sie bei dir?«

Wren zögerte. Sie fühlte sich überrumpelt und wußte nicht, was man von ihr an Taten oder Worten erwartete. Aber sie konnte nicht lügen. »Ja«, gab sie zu.

Die blauen Augen der Königin waren durchdringend, als sie Wrens Gesicht forschend betrachteten, und ein schwaches Lächeln lag auf ihren Lippen. »Und du hast inzwischen die Wahrheit über sie herausgefunden, nicht wahr? Du mußt sie kennen, sonst wärest du niemals lebend hier angekommen.«

Wren zwang sich, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen.

»Ja«, erwiderte sie ruhig.

Ellenroh tätschelte ihre Hände und ließ sie dann los. »Eowen weiß von den Elfensteinen, Kind. Und auch ein paar andere, die mir vor vielen Jahren zur Seite gestanden haben – Aurin Striate zum Beispiel. Er hat dich gewarnt, etwas zu sagen, nicht wahr? Das macht nichts. Nur wenige wissen von den Elfensteinen, und niemand von ihnen hat erlebt, wie sie benutzt wurden – noch nicht einmal ich. Du allein hast diese Erfahrung gemacht, Wren, und ich glaube nicht, daß du sonderlich erfreut bist, sie zu besitzen, nicht wahr?«

Wren schüttelte langsam den Kopf. Sie war überrascht, wie scharfsichtig die Königin war und wie groß ihr Einblick in die Gefühle war, die Wren sorgfältig verborgen hatte halten wollen. Kam das daher, daß sie einer Familie angehörten und sich deswegen sehr ähnlich waren, war ihre Verwandtschaft etwa ein Band, das jedem von ihnen ein Fenster in das Herz des anderen öffnete? Konnte Wren umgekehrt, wenn sie wollte, wahrnehmen, was Ellenroh fühlte?

Familie. Sie flüsterte das Wort im Geiste. Die Familie, die ich gesucht habe. Ist es möglich? Bin ich wirklich die Enkelin dieser Königin, bin ich selbst eine Elessedil?

»Erzähle mir alles übrige von deiner Reise nach Arborlon«, sagte die Königin weich, »und ich werde dir erzählen, was du so dringend wissen willst. Laß dich durch Eowen nicht stören. Eowen weiß bereits alles, was wichtig ist.«

Also berichtete Wren den Rest von dem, was ihr auf ihrer Reise begegnet war, von dem Wolfswesen, das ein Schattenwesen gewesen war, und von der Entdeckung der Wahrheit der bemalten Steine, die ihre Mutter ihr als Kind gegeben hatte. Als sie geendet hatte, als sie ihnen alles erzählt hatte, legte sie schutzsuchend ihre Arme um sich, denn sie fröstelte bei ihren eigenen Worten und den Erinnerungen, die sie hervorriefen. Schließlich erhob sie sich impulsiv und ging zu der Stelle, wo ihre abgelegten Kleider lagen. Sie durchsuchte die zerrissenen Kleidungsstücke hastig und fand die Elfensteine, die noch immer dort steckten, wo sie sie nach Betreten der Stadt verborgen hatte. Sie trug sie zur Königin und hielt sie vor sie hin. »Hier«, bot sie an, »nehmt sie.«

Aber Ellenroh Elessedil schüttelte den Kopf. »Nein, Wren.«

Sie schloß Wrens Finger über den Elfensteinen und führte ihre Hand zu einer Tasche ihres Nachtgewandes. »Du mußt sie für mich aufbewahren«, flüsterte sie.

Zum ersten Mal sprach Eowen Cerise. »Du warst sehr tapfer, Wren.« Ihre Stimme war tief und zwingend. »Die meisten wären nicht in der Lage gewesen, solche Hindernisse zu überwinden. Du bist in der Tat das Kind deiner Mutter.«

»Ich sehe so vieles von Alleyne in ihr«, stimmte die Königin Eowen zu, und ihre Augen schweiften einen Moment in die Ferne. Dann straffte sie sich und richtete ihren Blick erneut auf Wren. »Und du bist tatsächlich tapfer gewesen. Allanon hat recht daran getan, dich auszuwählen. Aber es war vorherbestimmt, daß du kommst. Daher vermute ich, daß er lediglich Eowens Verheißung erfüllt hat.«

Sie sah die Verwirrung in Wrens Augen und lächelte. »Ich weiß, Kind. Ich spreche in Rätseln. Du hast große Geduld mit mir bewiesen, und das war nicht leicht für dich. Du möchtest von deiner Mutter hören und erfahren, warum du hier bist. Nun gut.«

Das Lächeln wurde weicher. »Drei Generationen, bevor ich selbst geboren wurde, beschlossen mehrere Mitglieder der Ohmsfordfamilie, direkte Abkommen von Jair Ohmsford, nach Arborlon auszuwandern. Die Elfen lebten damals ja noch im Westland. Ihre Entscheidung wurde durch den Übergriff der Föderation auf Südlanddörfer wie Shady Vale und den Beginn der Hexenjagd gegen die Magie beeinflußt, jedenfalls sehe ich das so. Es gab drei dieser Ohmsfords, und sie brachten die Elfensteine mit sich. Einer starb kinderlos. Zwei heirateten, aber als die Elfen auszuwandern beschlossen, zog nur einer von ihnen mit ihnen. Der andere, so sagte man mir, ein Mann, kehrte mit seiner Frau nach Shady Vale zurück. Das also waren Par und Coll, Ohmsfords Großeltern. Die Ohmsford, die übrigblieb, war eine Frau, und sie behielt die Elfensteine bei sich.«

Ellenroh hielt inne. »Wie du weißt, wurden die Elfensteine ganz am Anfang von Elfenmagie geformt und konnten nur von jenen benutzt werden, die Elfenblut besaßen. Das Elfenblut war aber in den Jahren seit dem Tode von Brin und Jair bei den Ohmsfords kaum noch spürbar, so daß die Steine keinen besonderen Nutzen für die Ohmsfords besaßen, die sie in ihrer Obhut hatten. Daher beschlossen sie irgendwann und in beiderseitigem Einverständnis, daß die Steine denjenigen wieder zurückgegeben werden sollten, die sie gestaltet hatten – oder deren Nachkommen, wie ich eher vermute. Als also die drei, die aus Shady Vale gekommen waren, heirateten und ihr neues Leben begannen, war es für sie nur natürlich, daß sie beschlossen, daß die Elfensteine, die eine Pflegschaft der Ohmsfordfamilie seit den Tagen ihres Vorfahren Shea waren, bei den Elfen bleiben sollten, egal was aus ihnen selbst wurde.«

»Auf jeden Fall verschwanden die Elfensteine zusammen mit den Elfen, und ich sollte wohl auch darüber ein oder zwei Worte verlieren.« Sie schüttelte bei der Erinnerung den Kopf. »Unsere Leute waren schon seit Jahren immer weiter in die Westlandwälder zurückgewichen. Sie waren von den anderen Rassen immer mehr isoliert worden, als sich die Föderation immer mehr nach Norden ausbreitete. Einiges davon geschah durch ihr eigenes Dazutun, aber es war auch in gleichem Maße das Ergebnis der Auffassung, daß die Elfen anders seien und daß es nicht gut sei, anders zu sein. Das Koalitionskonzil der Föderation hatte diese Meinung gefördert, und sie hatte sich ausgebreitet. Die Elfen waren immerhin die Nachkommen der Feen und nicht wirklich Menschen. Die Elfen wußten mit der Magie umzugehen, die die Welt seit der Zusammenkunft des Ersten Konzils in Paranor gestaltet hatte, und niemand hatte jemals der Magie oder denen, die sie benutzten, sonderlich getraut. Als die Wesen, die du Schattenwesen nennst – wobei es damals noch keinen Namen für sie gab –, auftauchten, war die Föderation schnell bereit, die Schuld dafür, daß das Land zu kränkeln begann, den Elfen zuzuschreiben. Immerhin war dort die Magie entstanden, und war es nicht die Magie, die all diese Probleme verursacht hatte? Wenn nicht, warum waren dann die Elfen und ihre Heimat nicht auch davon betroffen? Es summierte sich alles immer mehr, wie solche Dinge das nun einmal tun, bis unsere Leute schließlich genug hatten. Die Entscheidung war einfach. Es gab nur die Alternative, sich der Föderation entgegenzustellen, was bedeutet hätte, ihnen den Krieg zu gewähren, den sie so bewußt suchten, oder einen Weg zu finden, dem allen völlig auszuweichen. Krieg war keine erstrebenswerte Perspektive. Die Elfen hätten dem stärksten Heer der Vier Länder vollkommen allein gegenübergestanden. Callahorn war bereits vereinnahmt und das Freicorps aufgelöst worden, die Trolle waren als Stamm so schwer einzuschätzen wie eh und je, und die Zwerge zögerten, sich auf sie einzulassen.

Also beschlossen die Elfen einfach, das alles hinter sich zu lassen, in ein neues Gebiet auszuwandern, sich neu anzusiedeln und die Föderation auflaufen zu lassen. Diese Entscheidung dafür fiel nicht so schnell. Viele wollten bleiben und kämpfen, genauso viele hielten es für besser, erst einmal abzuwarten. Immerhin war es ihre Heimat, die sie verlassen sollten, der Geburtsort aller Elfen nach den verheerenden Umwälzungen der Großen Kriege. Aber nach langen Auseinandersetzungen stimmten alle zu, daß es am besten sei, zu gehen. Die Elfen hatten schon mehrfach einen ähnlichen Aufbruch überlebt. Sie hatten immer wieder eine neue Heimat gefunden. Sie hatten die Kunst, scheinbar zu verschwinden, perfektioniert, während sie tatsächlich immer noch da waren.«

Sie seufzte. »Das war vor langer Zeit, Wren, und ich war nicht dabei. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was ihre Gründe waren. Der Aufbruch fand statt. Er begann als ein langsames Zusammenziehen von Elfen aus allen Winkeln des Westlandes, so daß viele Dörfer einfach aufhörten zu existieren. In der Zwischenzeit hatten die Flugreiter diese Insel gefunden, die den Bedürfnissen der Elfen vollkommen entsprach. Morrowindl. Als beschlossen war, daß sie hierher ziehen würden, setzten sie den Zeitpunkt fest und verschwanden einfach.«

Sie schien zu überlegen, ob sie weitere Erklärungen abgeben sollte, schüttelte dann aber den Kopf. »Genug davon, wie wir hierher gekommen sind. Wie ich bereits gesagt habe, blieb eine der Ohmsfords bei ihnen. Zwei Generationen vergingen, in denen Kinder geboren wurden, und dann heiratete meine Mutter den König der Elessedils, und die Ohmsford- und Elessedilfamilien verschmolzen. Erst wurde ich geboren und später mein Bruder Asheron. Mein Bruder sollte König werden, aber er wurde von den Dämonen getötet – er war einer der ersten, die sterben mußten. Statt dessen wurde ich dann Königin. Ich heiratete, und deine Mutter wurde geboren, Alleyne, mein einziges Kind. Schließlich töteten die Dämonen auch meinen Mann. Alleyne war alles, was mir geblieben war.«

»Meine Mutter«, echote Wren. »Wie war sie?«

Die Königin lächelte erneut. »Sie war außergewöhnlich. Sie war klug, eigenwillig und hübsch. Sie glaubte alles tun zu können – ein Teil von ihr wollte das zumindest versuchen.« Sie verschränkte die Hände ineinander, und das Lächeln verschwand.

»Sie traf einen Flugreiter und erwählte ihn zum Mann. Ich hielt das für keine gute Idee – die Himmelselfen hatten sich niemals richtig mit uns verbunden –, aber was ich dachte, spielte natürlich keine so große Rolle. Das war vor ungefähr zwanzig Jahren, und es war eine gefährliche Zeit. Die Dämonen waren überall, und ihre Macht nahm zu. Wir waren gezwungen, uns in die Stadt zurückzuziehen. Der Kontakt zur Außenwelt wurde schwierig.«

»Kurz nachdem sie geheiratet hatte, wurde Alleyne mit dir schwanger. Zu jener Zeit erzählte mir Eowen von ihrer Vision.«

Sie sah die andere Frau an, die mit großen und unermeßlich tiefen grünen Augen gleichmütig beobachtend dasaß. »Eowen ist eine Seherin, Wren, vielleicht die beste, die es jemals gab. Sie war meine Spielgefährtin und Vertraute, als ich ein Kind war. Wenig später erfuhr sie, daß sie die Macht hatte. Sie ist seitdem immer bei mir geblieben, hat mich beraten und geführt. Ich habe dir gesagt, daß ich es ihr verdanke, daß du hier bist. Als Alleyne schwanger wurde, warnte mich Eowen, daß meine Tochter Morrowindl vor deiner Geburt verlassen müßte, sonst würdet ihr beide sterben müssen. Sie hatte es in einer Vision erfahren. Sie erzählte mir auch, daß Alleyne niemals zurückkehren könnte, aber daß du es eines Tages tun müßtest und dein Kommen die Elfen retten würde.«

Sie atmete tief ein. »Ich verstehe dich. Damals fühlte ich mich, wie du dich jetzt fühlen mußt. Wie kann das wahr sein? Ich wollte nicht, daß Alleyne ging. Aber ich wußte, daß die Visionen von Eowen niemals falsch waren. Also rief ich Alleyne zu mir und ließ Eowen wiederholen, was sie mir erzählt hatte. Alleyne zögerte nicht, obwohl ich wußte, daß sie es nur widerstrebend tat. Sie erklärte, sie würde gehen und dafür sorgen, daß das Baby in Sicherheit war. Sie sprach nicht von sich selbst. So war deine Mutter nun mal. Ich besaß die Elfensteine noch immer. Sie waren durch die Verbindung meiner Eltern an mich weitergegeben worden. Ich gab sie Alleyne, damit sie sie beschützten. Zuvor hatte ich sie jedoch ein wenig mit meiner eigenen Magie verändert, um sicherzustellen, daß sie nicht sofort erkannt würden oder einen Wert zu haben schienen.

Alleyne sollte mit ihrem Mann ins Westland zurückkehren. Sie sollte von dort nach Shady Vale reisen und den Kontakt mit den Nachkommen der Ohmsfords wiederherstellen, die zurückgegangen waren, als die Elfen nach Morrowindl gezogen waren. Ich habe niemals erfahren, ob sie es tat. Sie verschwand fast drei Jahre lang aus meinem Leben. Eowen konnte mir nur sagen, daß ihr beide in Sicherheit wart.

Vor jetzt kaum mehr als fünfzehn Jahren beschloß Alleyne jedoch, hierher zurückzukehren. Ich weiß nicht, was diese Entscheidung ausgelöst hat, ich weiß nur, daß sie kam. Sie gab dir den Lederbeutel mit den Elfensteinen, ließ dich in der Obhut der Ohmsfords in Shady Vale und flog mit ihrem Mann zu uns zurück.«

Sie schüttelte langsam den Kopf, als sei der Gedanke an die Rückkehr ihrer Tochter sogar jetzt noch unfaßbar. »Zu dem Zeitpunkt hatten die Dämonen Morrowindl bereits überschwemmt. Die Stadt war alles, was uns geblieben war. Der Keel war damals zwar schon von unserer Magie geformt worden, um uns zu schützen, aber da draußen waren die Dämonen überall. Flugreiter kamen immer seltener herein. Der Rock, auf dem Alleyne und ihr Mann kamen, stieß durch den Vog herab und wurde von einer Art Geschoß getroffen. Er landete in der Nähe der Stadttore. Die Dämonen...«

Sie hielt inne und konnte nicht mehr fortfahren. Tränen glänzten in ihren Augen. »Wir konnten sie nicht retten«, schloß sie. Wren spürte eine große Leere in sich. In Gedanken sah sie ihre Mutter sterben. Impulsiv beugte sie sich vor und legte die Arme um ihre Großmutter und drückte sie. Sie war die letzte ihrer Familie, das einzige Band, das sie noch mit ihrer Mutter und ihrem Vater verband. Sie spürte, wie sich der Kopf der Königin auf ihre Schulter senkte und die schlanken Arme auch sie umarmten. Sie saßen lange Zeit schweigend da und hielten sich einfach gegenseitig fest, ohne etwas zu sagen. Wren versuchte, im Geiste ein Bild vom Gesicht ihrer Mutter heraufzubeschwören, aber es gelang ihr nicht. Alles, was sie jetzt sehen konnte, war das Gesicht ihrer Großmutter. Sie war sich der Tatsache bewußt, daß ihr eigener Verlust, wie schwer auch immer er war, niemals an den der Königin heranreichte.

Schließlich lösten sie sich voneinander, und die Königin lächelte erneut strahlend und allumfassend. »Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Wren«, wiederholte sie. »Ich habe so lange darauf gewartet, dich kennenzulernen.«

»Großmutter«, sagte Wren, und das Wort klang seltsam, als sie es aussprach. »Ich verstehe aber immer noch nicht, warum ich gesandt wurde. Allanon hat mir gesagt, daß ich die Elfen finden sollte, weil die Länder nicht gesunden könnten, wenn sie nicht zurückkehrten. Und jetzt sagst du mir, daß Eowen vorhergesagt hat, mein Kommen würde die Elfen retten. Welchen Unterschied macht meine Anwesenheit denn hier? Sicherlich wäret ihr schon vor langer Zeit zurückgekehrt, wenn ihr es gekonnt hättet.«

Das Lächeln verschwand langsam. »Es ist ein wenig komplizierter, fürchte ich.«

»Wie kann es komplizierter sein? Könnt ihr denn nicht fortgehen, wenn ihr es wollt?«

»Ja, Kind, wir könnten fortgehen.«

»Aber warum tut ihr es dann nicht? Was hält euch? Bleibt ihr, weil ihr bleiben müßt? Sind diese Dämonen aus dem Schrecklichen gekommen? Hat der Ellcrys erneut versagt?«

»Nein, dem Ellcrys geht es gut.« Sie hielt zögernd inne.

»Wo sind diese Dämonen denn dann hergekommen?«

Das glatte Gesicht der Königin verhärtete sich kaum merklich.

»Wir sind nicht sicher, Wren.«

Sie log. Wren wußte es instinktiv. Sie hörte es an der Stimme ihrer Großmutter und sah es, als Eowen plötzlich ihre grünen Augen niederschlug. Entsetzt, verletzt und auch ärgerlich starrte sie die Königin ungläubig an. Keine Geheimnisse mehr zwischen uns? dachte sie und wiederholte die Worte der Königin. Was verheimlichst du mir?

Ellenroh Elessedil schien die Qual ihrer Enkelin nicht zu bemerken. Sie streckte erneut die Arme aus und umarmte sie warm. Obwohl sie eigentlich das Bedürfnis hatte, stieß Wren sie nicht von sich, denn sie dachte, daß es einen Grund für diese Heimlichkeit geben mußte und daß er beizeiten erklärt werden würde. Und sie dachte auch, daß sie von zu weither gekommen war, um die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren, daß sie jetzt nicht aufgeben konnte, nur weil sich ein Teil davon nur langsam herauskristallisierte. Sie schob ihre Gefühle beiseite. Sie war eine Fahrende, und Garth hatte sie gut ausgebildet. Sie konnte geduldig sein. Sie konnte warten.

»Zeit genug, auch morgen noch darüber zu sprechen, Kind«, flüsterte ihr die Königin ins Ohr. »Du brauchst jetzt Schlaf. Und ich brauche Zeit zum Nachdenken.«

Sie zog sich zurück. Ihr Lächeln war jetzt so traurig, daß es Wren fast die Tränen in die Augen trieb. »Eowen wird dir dein Zimmer zeigen. Dein Freund Garth wird nebenan schlafen. Ruh dich aus, Kind. Wir haben lange Zeit darauf gewartet, uns zu finden, und wir brauchen das Kennenlernen nicht zu übereilen.«

Sie stand auf und zog Wren mit sich. Neben ihnen erhob sich auch Eowen Cerise. Die Königin umarmte ihre Enkelin noch einmal. Wren umarmte auch sie und unterdrückte die Zweifel, die in ihr aufkamen. Sie war jetzt müde. Ihre Augenlider wurden schwer, und ihre Kräfte versiegten. Sie fühlte sich arm und getröstet und brauchte Ruhe.

»Ich bin froh, daß ich hier bin, Großmutter«, sagte sie leise und meinte es auch so.

Aber ich werde die Wahrheit erfahren, fügte sie im stillen hinzu. Ich werde alles erfahren.

Sie ließ sich von Eowen Cerise aus dem Schlafzimmer und in einen dunklen Gang führen.

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