11

Als Wren am nächsten Morgen erwachte, fand sie sich in einem Raum mit weiß getünchten Wänden wieder. Die baumwollene Bettwäsche war an den Kanten mit winzigen Blümchen verziert und gewebte Wandteppiche aus hell pastellfarbenen Fäden schimmerten in einem Strom strahlenden Lichts, der durch einen Spalt der Spitzenvorhänge floß, die in reichen Falten vor den bodentiefen Fenstern hingen.

Sonnenlicht, wunderte sie sich, in einem Land, in dem jenseits der Stadtmauern und der Macht der Elfenmagie nur Dunkelheit herrschte.

Sie lehnte sich verschlafen und entspannt zurück und ließ sich Zeit, ihre Gedanken zu sammeln. Sie hatte in der Nacht zuvor nicht viel von dem Raum gesehen. Es war dunkel gewesen, und Eowen hatte sie nur mit Hilfe eines Kerzenlichts hierher geführt. Sie war in das weiche Bett gefallen und fast augenblicklich eingeschlafen.

Sie schloß für einen Moment die Augen und versuchte das, was sie sah, mit ihren Erinnerungen in Zusammenhang zu bringen, diese traumähnliche, durchscheinende Gegenwart in Zusammenhang zu bringen mit der rauhen, gefährlichen Vergangenheit. War das alles real gewesen – die Suche nach dem Aufenthaltsort der Elfen, die Flucht nach Morrowindl, ihr Marsch durch den In Ju, das Besteigen des Blackledge, ihr Durchkämpfen zum Rowen und dann nach Arborlon? So, wie sie jetzt von Sonnenlicht und weichen Laken umhüllt dalag, fiel es ihr schwer, das alles zu glauben. Ihre Erinnerung an das, was jenseits der Stadtmauern lag – die Dunkelheit und das Feuer und der Dunst, die Monster, die von überall her herandrängten und nur die Zerstörung kannten – das alles schien verschwommen und weit entfernt zu sein.

Sie öffnete heftig blinzelnd die Augen und zwang sich, diese Erinnerungen herbeizurufen. Die Ereignisse erschienen vor ihrem inneren Auge wieder lebhaft und grell. Sie sah Garth, wie er am Rande der Klippen über der Blauen Spalte mit ihr zusammen gegen das Schattenwesen gekämpft hatte. Sie rief sich wieder in Erinnerung, wie es in jener ersten Nacht am Strand gewesen war, als Tiger Ty und Spirit sie verlassen hatten. Sie dachte an Stresa und Faun, zwang sich dazu, sich daran zu erinnern, wie sie aussahen, wie sie sprachen und handelten, und daran, was sie auf sich genommen hatten, um ihr zu helfen, durch diese schreckliche Welt zu reisen. Sie waren Freunde und hatten ihr geholfen. Und sie waren zurückgelassen worden.

Die Gedanken an den Stachelkater und den Baumschreier waren es, die sie schließlich aufschreckten. Sie setzte sich auf und sah sich in Ruhe um. Sie war hier in Arborlon, versicherte sie sich selbst, im Palast der Elfenkönigin, im Heim von Ellenroh Elessedil, die ihre Großmutter war. Sie atmete tief ein. Sie konzentrierte sich auf den Gedanken und kämpfte darum, ihn Realität werden zu lassen. Es war natürlich die Realität – und doch schien es ihr gleichzeitig nicht so zu sein. Es war alles zu neu, vermutete sie. Sie war gekommen, um die Wahrheit über ihre Eltern herauszufinden. Sie hatte nicht ahnen können, daß die Wahrheit so erschreckend sein würde.

Sie erinnerte sich daran, was sie zu sich selbst gesagt hatte, als Cogline sie das erste Mal auf ihre Träume angesprochen hatte:

Wenn sie sich einverstanden erklärte, zum Hadeshorn zu reisen, um mit Allanon zu sprechen, würde sie etwas lernen, das ihr Leben grundlegend verändern könnte.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, wie sehr.

Es faszinierte und erschreckte sie gleichzeitig. Da war so vieles geschehen, das sie schließlich nach Morrowindl und zu den Elfen brachte, und nun sah sie sich einer Welt und einem Volk gegenüber, das sie weder wirklich kannte noch wirklich verstand. Sie hatte letzte Nacht feststellen müssen, wie schwierig sich die Dinge vielleicht erweisen würden. Wenn sogar ihre eigene Großmutter beschlossen hatte, sie zu belügen, wieviel Vertrauen konnte sie dann den anderen entgegenbringen? Es schmerzte sie noch immer, daß ihr Geheimnisse vorenthalten wurden. Sie war zu einem bestimmten Zweck zu den Elfen gesandt worden, aber sie wußte noch immer nicht, was es war. Ellenroh teilte ihn ihr nicht mit, falls sie ihn überhaupt kannte – zumindest jetzt noch nicht. Und sie sagte auch nichts über die Dämonen. Ihre einzige Erklärung war, daß sie nicht durch das Schreckliche gekommen seien und der Ellcrys nicht versagt habe. Aber sie mußten von irgendwoher gekommen sein, und die Königin wußte, woher, dessen war sich Wren sicher. Sie wußte vieles, was sie nicht preisgab.

Geheimnisse – da war dieses Wort wieder.

Geheimnisse.

Sie ließ ihre Grübeleien mit einem Kopfschütteln auf sich beruhen. Die Königin war ihre Großmutter, die letzte aus ihrer Familie, und sie hatte ihrer Mutter das Leben geschenkt. Sie war eine vollkommene, schöne, verantwortungsbewußte und liebevolle Frau. Wren schüttelte den Kopf. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, schlecht von Ellenroh Elessedil zu denken. Sie konnte sie nicht vor sich selbst herabsetzen. Sie war vielleicht zu ähnlich – in ihrem Aussehen, ihren Gefühlen und in Worten und Gedanken und Taten. Sie hatte es letzte Nacht selbst bemerkt. Sie hatte es bei ihrem Gespräch, durch die Blicke, die sie gewechselt hatten, gespürt und durch die Art, wie sie aufeinander reagiert hatten.

Sie seufzte. Am besten tat sie, was sie sich vorgenommen hatte, nämlich abzuwarten und dann weiterzusehen.

Nach einiger Zeit erhob sie sich und ging zu der Tür, die in den angrenzenden Raum führte. Beinahe im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und Garth war da. Er trug kein Hemd. Seine muskulösen Arme und sein Körper waren verbunden, und sein dunkles, bärtiges Gesicht war mit Schnitten und Prellungen übersät. Aber trotz der beeindruckenden Anzahl von Verletzungen wirkte der große Fahrende ausgeruht und einsatzbereit. Als sie ihn hereinwinkte, griff er nach einer Tunika und zog sie hastig über. Die Kleidung, die man ihm gegeben hatte, war ihm zu klein und ließ ihn außergewöhnlich groß aussehen. Sie verbarg ein Lächeln, als sie sich auf einer Bank in der Nähe des Fensters mit den Spitzenvorhängen niederließen, denn sie war einfach glücklich, ihn wiederzusehen, und gewann Trost aus seiner vertrauten Gegenwart.

Was hast du erfahren, signalisierte er. Jetzt ließ sie ihn ihr Lächeln sehen. Guter, alter, verläßlicher Garth – immer genau zum richtigen Zeitpunkt. Sie wiederholte das Gespräch, das sie in der vorangegangenen Nacht mit der Königin geführt hatte, und berichtete, was ihr von der Geschichte der Elessedils und der Ohmsfords und von ihrer Mutter und ihrem Vater erzählt worden war. Sie verschwieg ihren Verdacht, daß Ellenroh die Wahrheit über die Dämonen verschleierte. Sie wollte dies zunächst für sich behalten, weil sie hoffte, daß sich ihre Großmutter nach einiger Zeit vielleicht noch entschließen würde, sich ihr anzuvertrauen.

Dennoch war ihr Garths Meinung über die Königin wichtig.

»Ist dir an meiner Großmutter etwas aufgefallen, was ich nicht bemerkt habe?« fragte sie ihn, und ihre Hände übersetzten ihre Worte.

Garth lächelte leicht bei der Vorstellung, daß ihr etwas entgangen sein könnte. Seine Antwort kam schnell. Sie hat Angst.

»Angst?« Das war Wren tatsächlich entgangen. »Was, glaubst du, ängstigt sie denn?«

Das ist schwer zu sagen. Etwas, wovon sie weiß und wir nicht, vermute ich. Sie ist sehr vorsichtig mit dem, was sie sagt und wie sie es sagt. Das hast du ja auch bemerkt.

Er hielt inne. Sie hat vielleicht Angst um dich, Wren.

»Weil meine Mutter getötet wurde, als sie hierher zurückkam und mir diese Gefahr jetzt ebenfalls droht? Aber es war mir vorherbestimmt, zurückzukehren. Was hältst du überhaupt von dieser Vision? Wie soll ich denn die Elfen retten, Garth? Erscheint dir das nicht seltsam? Schließlich war das einzige, was wir erreicht haben, lange genug am Leben zu bleiben, um in die Stadt zu gelangen. Ich kann nicht verstehen, welchen Unterschied meine Anwesenheit hier eigentlich macht.«

Garth zuckte die Achseln. Halte deine Augen und Ohren offen, Fahrende. So erfährst du mehr.

Er lächelte, und Wren lächelte zurück.

Dann ließ er sie allein, damit sie sich anziehen konnte. Als er die Tür, die ihre Räume trennte, zuzog, sah sie einen Moment gedankenverloren hinter ihm her. Plötzlich fiel ihr auf, daß es große Widersprüche zwischen der Geschichte ihrer Großmutter über ihre Eltern und dem gab, was Garth über sie erzählt hatte. Allerdings stammte Garths Version aus zweiter Hand, während die der Königin vollständig auf Ereignissen beruhte, die vor dem Weggehen ihrer Mutter von Arborlon stattgefunden hatten, so daß Widersprüche vielleicht zu erwarten waren. Dennoch hatte keiner von beiden etwas zu dem gesagt, was ihm an der Geschichte des anderen als offensichtlich falsch aufgefallen sein mußte. Garth hatte niemals die Flugreiter erwähnt, und die Königin hatte niemals von den Fahrenden gesprochen. Keiner von beiden hatte etwas darüber gesagt, warum ihre Eltern nicht zuerst nach Shady Vale und zu den Ohmsfords gereist, sondern statt dessen ins Westland gezogen waren.

Sie fragte sich, ob sie mit Garth darüber sprechen sollte. Aber als sie daran dachte, wie wichtig ihre anderen Sorgen waren, fragte sie sich auch, ob dies wirklich nötig sei.

Sie fand die Kleidungsstücke, die für sie zurechtgelegt worden waren und die besser paßten als die von Garth – eine Hose, eine Tunika, Strümpfe, einen Gürtel und ein Paar sorgfältig gearbeiteter, knöchelhoher Stiefel. Sie zog die Kleider an und ging dabei im Geiste immer wieder die Enthüllungen der vergangenen Nacht durch und dachte über alles nach, was sie erfahren hatte. Die Königin schien sich der Bedeutung von Wrens Ankunft in Arborlon sicher zu sein. Zumindest war sie sich im stillen sicher, daß sich Eowens Vision als richtig erweisen würde. Auch Aurin Striate hatte erwähnt, daß sie auf sie gewartet hätten. Und doch hatte niemand gesagt, warum das so war, obwohl es scheinbar jeder wußte. In dem Traum hatte es keinerlei Hinweis darauf gegeben, was Wrens Anwesenheit denn eigentlich bewirken sollte. Vielleicht war eine weitere Vision notwendig, um das zu erfahren.

Sie grinste über ihre eigene Respektlosigkeit. Doch als sie ihre Stiefel anzog, verschwand das Grinsen abrupt aus ihrem Gesicht. Was, wenn die Bedeutung ihrer Rückkehr darauf beruhte, daß sie die Elfensteine bei sich trug? Was, wenn man von ihr erwartete, daß sie die Steine als Waffe gegen die Dämonen einsetzte? Ihr wurde kalt bei dem Gedanken, denn sie erinnerte sich an die beiden Male, wo sie gezwungen gewesen war, sie gegen ihren Willen zu gebrauchen, und sie erinnerte sich auch an das Gefühl der Macht, als die Magie wie flüssiges Feuer durch sie hindurchfloß, das gleichzeitig brannte und anregte. Sie war sich der berauschenden Wirkung der Magie bewußt, der Bindung, die sich jedesmal aufbaute, wenn sie im Spiel war, und wie sie ein Teil ihrer selbst zu sein schien. Sie hatte sich wiederholt gesagt, daß sie sie nicht benutzen wollte, fand sich dann aber doch dazu gezwungen. Oder auch überzeugt. Sie schüttelte den Kopf. Wie sie es nannte, war unwichtig, denn das Ergebnis war dasselbe. Jedes Mal, wenn sie die Magie benutzte, entfernte sie sich ein wenig mehr zu jemandem, den sie nicht kannte. Sie verlor die Macht über sich selbst, indem sie die Macht der Magie benutzte. Sie stieß ihre Füße in die Stiefel und stand auf. Wahrscheinlich irrte sie sich. Es konnten nicht die Elfensteine sein, die wichtig waren. Warum hätte Ellenroh sie sonst nicht einfach hierbehalten, anstatt sie Alleyne zu geben? Wenn die Steine wirklich etwas ändern konnten, warum waren sie dann nicht schon vor langer Zeit gegen die Dämonen benutzt worden?

Sie zögerte, griff dann nach ihrem Nachthemd und zog die Elfensteine aus der Tasche, in die sie sie in der vorigen Nacht versenkt hatte. Sie lagen glitzernd in ihrer Hand. Ihre Magie schlief, war harmlos und unsichtbar. Sie betrachtete sie intensiv, wunderte sich erneut über die Umstände, die sie in ihre Obhut gegeben hatten, und wünschte sich, daß sich Ellenroh letzte Nacht einverstanden erklärt hätte, sie zurückzunehmen.

Dann schob sie die bedrückenden Gedanken über die Elfensteine beiseite und versenkte die lästigen Talismane tief in die Tasche ihrer Tunika. Nachdem sie schließlich noch ein langes Messer in ihren Gürtel geschoben hatte, richtete sie sich zuversichtlich auf und verließ den Raum.

Ein Elfenjäger war vor ihrer Tür postiert worden, und nachdem er Garth gerufen hatte, begleitete der Wachposten sie die Treppe hinunter in den Eßraum und zum Frühstück. Sie aßen allein an einem langen, polierten Eichentisch, der mit weißem Leinen gedeckt und mit Blumen geschmückt war und in einem höhlenartigen Raum mit einer gewölbten Decke und bemalten Glasfenstern stand, die das Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben filterten. Ein Dienstmädchen wartete bereits auf sie, wodurch die bescheidene Wren sich jedoch äußerst unbehaglich fühlte. Sie aß schweigend wie Garth ihr gegenüber und fragte sich, was man wohl von ihr erwartete, wenn sie ihr Frühstück beendet hatte. Von der Königin war nichts zu sehen.

Trotzdem erschien die Eule, als sie die Mahlzeit kaum beendet hatten. Aurin Striate sah auch jetzt so hager und blaß aus wie schon in den Schatten und der Dunkelheit der Lavafelder außerhalb. Sein kantiger Körper wirkte schlaksig und unkoordiniert, und wenn er sich bewegte, war es nicht so, wie es sollte. Er trug frische Kleidung, und seine Zipfelmütze war verschwunden, aber er schaffte es noch immer, irgendwie zerknittert und zerzaust auszusehen – das schien bei ihm normal zu sein. Er trat an den Eßtisch heran, setzte sich und lehnte sich bequem vor.

»Du siehst bedeutend besser aus als letzte Nacht«, wagte er sich mit halbherzigem Lächeln vor. »Saubere Kleidung und ein Bad machen dich wirklich zu einem hübschen Mädchen, Wren. Du hast dich gut erholt, nicht wahr?«

Sie lächelte zurück. Sie mochte die Eule. »Gut genug, danke. Und danke auch noch mal dafür, daß du uns sicher hereingebracht hast. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft.«

Die Eule schürzte die Lippen, warf Garth einen bedeutungsvollen Blick zu und zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es so. Aber wir wissen beide, daß du diejenige warst, die uns wirklich gerettet hat.« Er hielt inne, verkniff es sich, die Elfensteine zu erwähnen, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine alternden Elfenzüge verzogen sich wie bei einem Kobold. »Willst du dich ein wenig umschauen, wenn du fertig bist? Ein bißchen von dem sehen, was es dort draußen gibt? Deine Großmutter hat mich dir für einige Zeit zugeteilt.«

Wenige Minuten später verließen sie das Palastgelände durch die Vordertore und gingen hinunter in die Stadt. Der Palast lag tief in den beschützenden Wäldern auf einem Hügel im Zentrum von Arborlon, und die Hütten und Geschäfte der Stadt umschlossen ihn. Bei Tage war die Stadt sehr lebendig. Die Elfen waren eifrig bei der Arbeit, und in den Straßen herrschte geschäftiges Treiben. Als die drei sich ihren Weg durch die Menge bahnten, wurden von allen Seiten Blicke auf sie geworfen – nicht auf die Eule oder auf Wren, sondern auf Garth, der viel größer war als die Elfen und eindeutig nicht zu ihnen gehörte. Garth schien es, wie es für ihn typisch war, gar nicht zu bemerken. Wren reckte ihren Hals, um alles zu sehen. Sonnenlicht beleuchtete das Grün der Bäume und des Grases und die Farben der Gebäude und Blumen, die die Gehwege säumten. Es war, als würden der Dunst und das Feuer außerhalb der Mauern nicht existieren. Es lag eine Spur von Asche und Schwefel in der Luft, und der Schatten von Killeshan war ein dunkler Fleck vor dem östlichen Himmel, wo die Stadt an die Berge stieß, aber die Magie hielt die Welt hier drinnen geborgen und geschützt. Die Elfen gingen ihren Geschäften nach, als gäbe es keinerlei Bedrohung und als sei das Morrowindl außerhalb der Stadt dasselbe wie innerhalb. Nach einiger Zeit traten sie aus dem Schutz des Waldes heraus und konnten jetzt auch die äußere Mauer erkennen. Bei Tageslicht sah sie ganz anders aus. Das Glühen der Magie war zu einem schwachen Schimmern verblaßt, das die Welt jenseits davon mit sanften, verschwommenen, ihres Glanzes beraubten, durchscheinenden Farben belegte. Morrowindl war mit seinen Bergen, Killeshans Krater, dem Gemisch aus Lavagestein und verkümmerten Wäldern, den Rissen in der Erde mit ihren Geysiren aus Asche und Dampf fast bis zur Unsichtbarkeit in Nebel gehüllt. Elfenkrieger patrouillierten auf den Festungsmauern, obwohl jetzt keine Kämpfe stattfanden, da die Dämonen davongeschlichen waren, um sich bis zum Einbruch der Nacht auszuruhen. Die Welt außerhalb der Mauer war düster und leer geworden, und nur die Stimmen und die Bewegungen der Menschen hier drinnen waren zu hören.

Als sie sich dem nächstgelegenen Brückenkopf näherten, wandte sich Wren an die Eule und fragte: »Wofür ist der Graben an der Innenseite der Mauer gedacht?«

Die Eule sah sie an und dann wieder von ihr fort. »Er trennt die Stadt vom Keel. Weißt du etwas über den Keel?«

Er zeigte auf die Mauer. Wren erinnerte sich jetzt an den Namen. Stresa hatte ihn zuvor genannt, als er gesagt hatte, daß die Elfen in Schwierigkeiten gerieten, weil seine Magie nachlasse.

»Er stammt aus der Magie der Zeit von Ellenrohs Vater, als die Dämonen erstmals zum Leben erweckt wurden. Er beschützt uns vor ihnen und hält die Stadt in dem Zustand, in dem sie schon immer war. Alles ist genauso, wie es war, als Arborlon vor mehr als hundert Jahren nach Morrowindl gebracht wurde.«

Wren grübelte noch immer darüber nach, was Stresa über die schwächer werdende Magie gesagt hatte. Sie wollte Aurin Striate fragen, ob das wahr sei, als sie erkannte, was er gerade gesagt hatte.

»Eule, hast du gesagt: als Arborlon nach Morrowindl gebracht wurde? Du meinst doch: als es gebaut wurde, nicht wahr?«

»Ich meine, was ich gesagt habe.«

»Daß die Gebäude hierher gebracht worden sind? Oder redest du vom Ellcrys? Der Ellcrys ist doch hier, nicht wahr, innerhalb der Stadt?«

»Dort hinten.« Er deutete vage in eine Richtung, und sein zerfurchtes Gesicht war umwölkt. »Hinter dem Palast.«

»Also willst du sagen...«

Die Eule unterbrach sie. »Die Stadt, Wren. Die ganze Stadt und alle Elfen, die darin leben. Das meine ich.«

Wren sah ihn an. »Aber... Sie wurde neu aufgebaut, meinst du, aus Holz, das die Elfen hierher überführt haben...«

Die Eule schüttelte den Kopf. »Wren, hat dir niemand vom Loden erzählt? Hat die Königin dir denn nicht erzählt, wie die Elfen nach Morrowindl gekommen sind?«

Er trat jetzt nahe an sie heran, und seine scharfen Augen fixierten sie. Sie zögerte und erklärte schließlich: »Sie sagte, es sei beschlossen worden, aus dem Westland auszuwandern, weil die Föderation...«

»Nein«, unterbrach er sie wieder. »Das meine ich nicht.«

Er wandte seinen Blick einen Moment ab, nahm sie dann am Arm und führte sie zu einem Steinpfeiler am Fuße der Brücke. Dort konnten sie sich hinsetzen. Garth folgte ihnen. Sein dunkles Gesicht war ausdruckslos, als er sich ihnen gegenüber niederließ, so daß er sehen konnte, was sie sagten.

»Ich habe nicht gedacht, daß ich dir das alles erzählen müßte, Mädchen«, begann die Eule, als sie es sich bequem gemacht hatten. »Andere könnten das wirklich besser. Aber es gibt nicht vieles, worüber wir reden können, wenn ich dir das nicht erklärte. Und außerdem hast du ein Recht, es zu wissen, wenn du Ellenroh Elessedils Enkelin bist und diejenige, auf die sie gewartet hat, die aus Eowen Cerises Vision.«

Er verschränkte seine kantigen Arme. »Aber du wirst es nicht glauben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selbst es glaube.«

Wren lächelte und fühlte sich ein wenig unbehaglich bei dieser Einleitung. »Erzähle es mir trotzdem, Eule.«

Aurin Striate nickte. »Hier ist also das, was man mir erzählt hat – nicht das, was ich unbedingt selber weiß. Die Elfen erlangten vor mehr als hundert Jahren einen Teil ihrer Elfenmagie wieder. Das war vor Morrowindl, als sie noch im Westland lebten. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben. Es interessiert mich eigentlich auch nicht. Man sollte jedoch wissen, daß sie, als sie sich entschlossen auszuwandern, vermutlich alles, was an Magie noch vorhanden war, in einen Elfenstein namens Loden fließen ließen. Den Loden hat es, glaube ich, schon immer gegeben. Er war verborgen und wurde bis zu der Zeit, wo er gebraucht würde, geheimgehalten. Diese Zeit kam Hunderte von Jahren nicht – während der ganzen Zeit nicht, die seit den Großen Kriegen vergangen war. Die Elessedils hatten ihn wohl verborgen gehalten, oder sie fanden ihn wieder oder so ähnlich, und als die Entscheidung fiel, auszuwandern, nahmen sie ihn in Gebrauch.«

Die Eule atmete tief durch und preßte die Lippen zusammen.

»Dieser Elfenstein zieht wie sie alle seine Kraft aus dem Benutzer, wie man mir sagte. Außer daß es in diesem Falle keinen einzelnen Benutzer gab, sondern eine ganze Rasse. Alle Kraft des Elfenvolkes strömte in den Loden, um seine Magie herbeizurufen.« Er räusperte sich. »Als es vollbracht war, wurde ganz Arborlon hochgehoben wie... wie eine Schaufel Erde, zusammengeschrumpft zu nichts und in dem Stein versiegelt. Das meinte ich, als ich sagte, Arborlon sei nach Morrowindl gebracht worden. Es wurde zusammen mit den meisten seiner Einwohner im Loden eingeschlossen und von nur wenigen Verantwortlichen auf diese Insel gebracht. Als erst einmal ein Platz für die Stadt gefunden war, wurde der Vorgang umgekehrt und Arborlon wiederhergestellt. Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Katzen, Vögel, Häuser und Geschäfte, Bäume, Blumen, Gras – alles. Auch der Ellcrys. Alles.«

Er lehnte sich zurück, und seine scharfen Augen verengten sich. »Was sagst du nun dazu?«

Wren war bestürzt. »Ich nehme an, daß du recht hast, Eule. Aber ich kann es nicht. Ich kann nicht verstehen, daß die Elfen so schnell etwas wiederentdecken konnten, was Tausende von Jahren verloren gewesen war. Woher kam es? Sie hatten zu Zeiten von Brin und Jair Ohmsford überhaupt keine Magie – nur ihre Heilkräfte!«

Die Eule zuckte die Achseln. »Ich behaupte nicht, daß ich weiß, wie sie irgend etwas davon tun konnten, Wren. Das alles geschah lange vor meiner Zeit. Die Königin könnte es wissen – aber sie spricht mir gegenüber niemals davon. Ich weiß nur, was man mir erzählt hat, und ich bin nicht sicher, ob ich es glauben soll. Die Stadt und ihre Bewohner wurden im Loden hierher gebracht. So wird es erzählt. Und so entstand auch der Keel. Er wurde tatsächlich in Handarbeit aus Stein erbaut, aber die Magie, die ihn beschützt, kam aus dem Loden. Damals war ich ein Junge, aber ich erinnere mich noch daran, wie der alte König den Ruhkstab gebrauchte. Der Ruhkstab birgt den Loden und leitet die Magie.«

»Hast du das gesehen?« fragte Wren zweifelnd.

»Ich habe den Stab und seinen Stein viele Male gesehen«, antwortete die Eule. »Aber ich habe nur ein einziges Mal gesehen, daß sie gebraucht wurden.«

»Was ist mit den Dämonen?« fuhr Wren fort, denn sie wollte mehr erfahren und einen Sinn in dem allen finden, was sie hörte.

»Was ist mit ihnen? Könnten der Loden und der Ruhkstab nicht gegen sie benutzt werden?«

Das Gesicht der Eule verdunkelte sich, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich so schnell, daß Wren überrascht war.

»Nein«, antwortete er ruhig. »Die Magie ist gegen die Dämonen wirkungslos.«

»Aber warum ist das so?« drängte sie. »Die Magie der Elfensteine, die ich bei mir trage, kann sie zerstören. Warum kann die Magie des Loden das nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist eine andere Art Magie, denke ich.«

Er klang nicht allzu überzeugt. Schnell hakte Wren nach:

»Kannst du mir erzählen, wo die Dämonen herkamen, Eule?«

Aurin Striate sah aus, als fühle er sich unbehaglich. »Warum fragst du mich, Wren Elessedil?«

»Ohmsford«, verbesserte sie ihn sofort.

»Das glaube ich nicht.«

Es herrschte angespanntes Schweigen, während sie sich ansahen und ihre Blicke sich trafen. »Sie kamen auch aus dieser Magie, nicht wahr?« fragte Wren schließlich, denn sie wollte nicht aufgeben.

Der scharfe Blick der Eule blieb ruhig. »Frage die Königin, Wren. Sprich mit ihr.«

Er erhob sich abrupt. »Nachdem du nun weißt, wie die Stadt hierher gekommen ist, zumindest der Legende nach, laß uns unseren Rundgang beenden. Es gibt drei Gruppen von Toren im Keel, eine Hauptgruppe und zwei kleinere. Schau dort hinüber...«

Er marschierte los, redete und erklärte, was sie sahen, und führte die Unterhaltung von Fragen fort, die anscheinend niemand beantworten wollte. Wren hörte halbherzig zu, denn seine Erklärung, wie die Elfen nach Morrowindl gekommen waren, interessierte sie mehr. Es erforderte so ungeheure Magie, eine ganze Stadt aufzunehmen, sie auf die Größe eines Elfensteins zu reduzieren und sie für eine Reise über ein Meer darin zu versiegeln! Sie konnte es sich noch immer nicht vorstellen. Elfenmagie, die aus der Feenzeit wiedergewonnen worden war, aus einer Zeit, an die man sich kaum erinnern konnte – es war unglaublich. All diese Macht und doch keine Möglichkeit, sich von den Dämonen zu befreien, keine Möglichkeit, sie zu zerstören! Ihr Mund verschloß sich gegen ein Dutzend von Einwänden. Sie wußte wirklich nicht, was sie glauben sollte.

Sie verbrachten den Morgen und den frühen Nachmittag damit, durch die Stadt zu spazieren. Sie kletterten auf die Festungsmauern und schauten über das jenseitige Land, das dumpf und verschleiert, bar jeder Bewegung dalag, außer dort, wo der Dampf von Killeshan hervorbrach und der Vog umherwirbelte. Sie sahen Phaeton wieder, der von der Stadt zum Keel hinüberging, ohne sie zu bemerken. Sein markantes Gesicht unter dem sonnengebleichten Haar war rauh und voller Narben. Die Eule beobachtete ihn mit steinernem Gesicht und wandte sich gerade um, um ihren Spaziergang fortzusetzen, als Wren ihn bat, ihr von Phaeton zu erzählen. Der Feldkommandant der Königin, antwortete Aurin Striate, sei befehlsmäßig nur noch Barsimmon Oridio untergeben und sei bestrebt, dessen Nachfolger zu werden.

»Warum magst du ihn nicht?« fragte Wren direkt.

Die Eule hob eine Augenbraue. »Das ist schwer zu erklären. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen uns, denke ich. Ich verbringe den größten Teil der Zeit außerhalb der Mauern, streife auf der Suche nach Dämonen umher und beobachte, wo sie sind und was sie vorhaben. Ich lebe meistenteils nicht anders als sie, und wenn man das tut, lernt man sie kennen. Ich kenne die Arten und ihre Gewohnheiten und weiß mehr über sie als sonst jemand. Aber Phaeton denkt ganz anders. Für ihn sind die Dämonen einfach Feinde, die zerstört werden müssen. Er möchte mit der Elfenarmee ausschwärmen und sie auslöschen. Er bearbeitet Barsimmon Oridio und die Königin seit Monaten, ihn das tun zu lassen. Seine Männer lieben ihn und denken, er habe recht. Sie wollen einfach glauben, er wüßte etwas, was sie nicht verstehen. Wir sind hier seit fast zehn Jahren hinter dem Keel eingeschlossen. Das Leben geht weiter, und man kann nichts beurteilen, wenn man nur schaut oder nur mit Leuten spricht, die alle im Herzen krank sind. Sie erinnern sich daran, wie sie früher gelebt haben, und so wollen sie wieder leben.«

Wren überlegte kurz, ob sie das Thema, wie die Dämonen dorthin gekommen waren und warum sie nicht einfach wieder zurückgeschickt werden konnten, noch einmal anschneiden sollte, entschied sich aber dagegen. Statt dessen sagte sie: »Ich vermute, du denkst, daß es dort draußen keinerlei Hoffnung auf einen Sieg des Heeres gibt.«

Die Eule sah sie mit starrem Blick an. »Du warst mit mir dort draußen, Wren – und das ist mehr, als Phaeton von sich sagen kann. Du bist vom Strand zu uns herauf gereist. Du hast den Dämonen immer wieder gegenübergestanden. Meinst du nicht auch, daß sie anders sind als wir? Es gibt hundert verschiedene Arten, und jede von ihnen ist auf andere Weise gefährlich. Einige kann man mit einer Eisenklinge töten und andere nicht. Unten am Rowen entlang gibt es die Zurückgekehrten, die nur aus Zähnen und Klauen und Muskeln zu bestehen scheinen. Es sind Tiere. Oben auf dem Blackledge gibt es die Draculs – das sind Geister, die dir das Leben aussaugen. Doch sie sind wie Rauch, sind nichts, was man bekämpfen kann, nichts, in das man ein Schwert stoßen kann. Und das sind nur zwei Arten, Wren.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß wir dort draußen siegen könnten. Ich glaube, wir haben schon Glück, wenn wir hier drinnen überleben können.«

Sie gingen ein Stück weiter. Dann sagte Wren: »Der Stachelkater hat mir erzählt, daß die Magie, die die Stadt jetzt noch schützt, allmählich schwächer wird.«

Sie formulierte es als Feststellung, nicht als Frage, und wartete auf eine Antwort. Lange Zeit reagierte die Eule nicht, sondern hielt den Kopf geneigt und die Augen auf den Boden vor ihnen gerichtet.

Schließlich schaute er einen kurzen Moment lang zu ihr hinüber und sagte: »Der Stachelkater hat recht.«

Sie stiegen wieder zur Stadt hinab, wanderten durch die Geschäfte und betrachteten aufmerksam die Karren auf dem Marktplatz. Sie begutachteten die Waren und beobachteten die Leute, die hier kauften und verkauften. Arborlon war eine Stadt, die bis auf einen einzigen Punkt jeder anderen Stadt vollkommen glich. Wren schaute in die Elfengesichter rundherum und fand ihr eigenes Aussehen in denen der anderen widergespiegelt. Es war das erste Mal, daß sie diese Erfahrung machte, und sie freute sich darüber und über den Gedanken, daß sie seit mehr als hundert Jahren der erste Mensch war, der das konnte. Die Elfen lebten, die Elfen existierten. Es war eine wunderbare Entdeckung, und es begeisterte sie noch immer, daß sie diejenige gewesen war, die sie gemacht hatte.

Auf dem Marktplatz nahmen sie eine kurze Mahlzeit ein – ein dünn gebackenes Brot, das um getrocknetes Fleisch und Gemüse gewickelt war, ein Stück frisches birnenähnliches Obst und einen Becher Ale – und schlenderten dann weiter. Die Eule führte sie hinter dem Palast in die Gärten des Lebens. Sie spazierten schweigend die Wege entlang, verloren sich im Wohlgeruch der Blumenbeete und in den Düften von Hunderten farbenprächtiger Blüten, die inmitten der Pflanzen und Büsche und Bäume verstreut wuchsen. Sie kamen zu einem weiß gekleideten Auserwählten, einem der Hüter des Ellcrys, der ihnen zunickte und vorbeiging. Wren stellte fest, daß sie an Par Ohmsfords Geschichte vom Elfenmädchen Amberle, der berühmtesten Auserwählten von allen, dachte. Sie kletterten auf die Spitze des Hügels, auf dem die Gärten angelegt waren, und standen vor dem Ellcrys. Die scharlachroten Blätter und silbernen Zweige des Baumes zitterten im Sonnenlicht und waren so außergewöhnlich, daß sie ihnen unwirklich vorkamen. Wren verspürte das Bedürfnis, den Baum zu berühren, ihm etwas zuzuflüstern und ihm vielleicht zu sagen, daß sie wußte und verstand, wen und was er überdauert hatte. Sie tat es jedoch nicht. Sie stand einfach da. Der Ellcrys sprach niemals zu jemandem, doch er wußte bereits, wie sie sich fühlte. Also sah sie ihn einfach an und dachte, wie furchtbar es wäre, wenn der Keel vollständig versagen würde und die Dämonen die Elfen und ihre Stadt überrennen könnten. Der Ellcrys würde natürlich zerstört werden, und wenn dies geschah, würden all die Monster, die im Schrecklichen gefangen waren, die Wesen aus der Feenzeit, die all die Jahre ausgeschlossen gewesen waren, erneut in die Welt der Sterblichen entlassen werden. Dann würde Allanons Vision von der zukünftigen Welt wahr werden. Es war ein düsterer Gedanke.

Schließlich gingen sie zurück zum Palast, um sich bis zum Abendessen auszuruhen. Die Eule verließ sie hinter dem Haupteingang und sagte, er habe sich um Geschäfte zu kümmern. Mehr erwähnte er nicht.

»Ich weiß, daß du mehr Fragen stellen möchtest, als du verarbeiten kannst, Wren«, sagte er beim Fortgehen, und ein hageres Gesicht legte sich in ernste Falten. »Versuche, geduldig zu sein. Die Antworten werden nur zu bald kommen, fürchte ich.« Er ging den Weg zurück und aus den Toren hinaus. Wren stand neben Garth, schaute hinter ihm her und sagte nichts. Der große Fahrende wandte sich nach einem Moment zu ihr um und signalisierte etwas. Er war wieder hungrig und wollte in den Speisesaal gehen, um etwas zu essen aufzutreiben. Wren nickte abwesend. Sie dachte noch immer über die Elfen und ihre Magie nach, und dabei fiel ihr auch ein, daß die Eule nie ihre Frage beantwortet hatte, warum innerhalb des Keels ein Graben war. Garth verschwand den Gang hinunter, und seine Schritte hallten in der Stille wider. Kurz darauf wandte sie sich um und ging zu ihrem Zimmer. Sie war nicht sicher, ob sie etwas anderes tun wollte, als über alles nachzudenken, wenn sie erst einmal dort war, aber vielleicht war das ja genug. Sie stieg die Haupttreppe hinauf, lauschte gedankenverloren in die Stille und wollte gerade einen Gang hinuntergehen, als Gavilan Elessedil vor ihr auftauchte.

»Na, hallo, Cousine Wren«, begrüßte er sie strahlend. Er trug ein gelb und blau über kreuz schraffiertes Gewand mit einem silbernen Kettengürtel. »Du hast dir die Stadt angesehen, habe ich gehört. Wie geht es dir heute?«

»Danke, gut«, antwortete Wren und blieb stehen, als er sie erreichte.

Er griff nach ihrer Hand, hob sie an seine Lippen und küßte sie sanft. »Also erzähle. Bist du denn nun froh, daß du gekommen bist, oder wünschst du dir, du wärest zu Hause geblieben?«

Wren lächelte und errötete, obwohl sie sich vorgenommen hatte, daß ihr das nicht geschehen sollte. »Ein wenig von beidem, denke ich.« Sie entzog ihm ihre Hand.

Gavilans Augen zwinkerten. »Das klingt so, wie es sein sollte. Ein bißchen sauer und ein bißchen süß. Du bist einen langen Weg gegangen, um uns zu finden, nicht wahr? Es muß eine sehr dringliche Suche gewesen sein, Wren. Hast du hier erfahren, was du herausfinden wolltest?«

»Einen Teil davon.«

Das hübsche Gesicht wurde ernst. »Deine Mutter Alleyne war jemand, den du sehr gemocht hättest. Ich weiß, daß die Königin dir von ihr erzählt hat, aber ich möchte dir auch etwas sagen. Sie hat mich in meiner Kindheit wie eine Schwester umsorgt. Wir standen uns sehr nahe. Sie war ein starkes und entschlossenes Mädchen, Wren – und das finde ich in dir wieder.«

Sie lächelte erneut. »Danke, Gavilan.«

»Es ist die Wahrheit.« Er stockte kurz. »Ich hoffe, du wirst an mich eher wie an einen Freund als wie an einen Cousin denken. Ich möchte dich wissen lassen, daß du gern zu mir kommen kannst, wenn du jemals etwas brauchen solltest oder etwas wissen willst. Ich werde glücklich sein, dir zu helfen, wenn ich kann.«

Wren zögerte. »Gavilan, könntest du meine Mutter für mich beschreiben? Könntest du mir sagen, wie sie aussah?«

Ihr Cousin zuckte die Achseln. »Das ist einfach. Alleyne war genauso klein wie du. Ihr Haar hatte die gleiche Farbe. Und ihre Stimme...« Er brach ab. »Schwer zu beschreiben. Sie war melodisch. Sie war intelligent, und sie lachte viel. Aber ich glaube, ich erinnere mich am besten an ihre Augen. Sie waren genau wie deine. Wenn sie dich ansah, hattest du das Gefühl, als gäbe es niemanden und nichts Wichtigeres auf der Welt.«

Wren dachte an den Traum, in dem sich ihre Mutter, die fast genauso ausgesehen hatte, wie Gavilan sie beschrieb, weit zu ihr hinübergebeugt und gesagt hatte: Erinnere dich an mich. Erinnere dich an mich. Jetzt schien es ihr kein Traum mehr zu sein. Sie spürte, daß es einmal, vor langer Zeit, so gewesen war.

»Wren?«

Sie merkte, daß sie vor sich hin starrte. Sie sah erneut Gavilan an und fragte sich plötzlich, ob sie ihn nach den Elfensteinen und nach den Dämonen fragen sollte. Er schien außerordentlich bereitwillig zu sein, mit ihr zu reden, und sie fühlte sich merkwürdig zu ihm hingezogen, was sie verwunderte. Aber sie kannte ihn noch nicht wirklich, und ihre Ausbildung als Fahrende machte sie vorsichtig.

»Dies sind schwierige Zeiten für Elfen«, sagte Gavilan plötzlich und beugte sich zu ihr. Wren sah, daß er seine Hände hob, um sie auf ihre Schultern zu legen. »Es gibt Geheimnisse der Magie, die...«

»Guten Tag, Wren«, begrüßte sie Eowen Cerise, die gerade die Treppe hochgeschritten kam. Gavilan wurde still. »Hat dir dein Spaziergang durch die Stadt gefallen?«

Wren wandte sich um und spürte, daß Gavilans Hand von ihr abglitt. »Ja. Die Eule war ein vorzüglicher Führer.«

Eowen kam näher, und ihre grünen Augen schweiften ab, um an Gavilan hängenzubleiben. »Wie gefällt dir deine Cousine, Gavilan?«

Der Elf lächelte. »Bezaubernd, willensstark – die Tochter ihrer Mutter.« Er sah Wren an. »Ich muß gehen. Ich habe vor dem Abendessen noch viel zu tun. Wir können uns dann unterhalten.«

Er nickte kurz und ging locker und zuversichtlich davon. Vielleicht ein wenig sorglos. Wren sah ihm nach und dachte, daß er mit seiner unbekümmerten Haltung eine Menge verbarg, daß aber das, was darunter lag, wahrscheinlich eher angenehm war. Eowen begegnete ihrem Blick, als sie sich wieder umwandte.

»Gavilan schafft es, daß wir uns alle immer wieder wie junge Mädchen fühlen.« Ihr flammend rotes Haar war mit einem Netz umhüllt, und sie trug jetzt ein anderes weites, blumenbesticktes Gewand. Ihr Lächeln war warm, aber ihre Augen schienen unverändert kühl und distanziert. »Ich glaube, wir lieben ihn alle.«

Wren errötete. »Ich kenne ihn noch nicht einmal.«

Eowen nickte. »Dann erzähl mir mal von deinem Spaziergang. Was hast du über die Stadt erfahren, Wren? Was hat Aurin Striate dir darüber erzählt?«

Sie gingen den Gang entlang auf Wrens Schlafzimmer zu und Wren erzählte Eowen, was die Eule gesagt hatte. Sie hoffte insgeheim, die Seherin würde im Gegenzug etwas ausplaudern. Aber Eowen hörte nur zu, nickte ermutigend und sagte nichts. Sie schien mit anderen Dingen beschäftigt zu sein, obwohl sie sehr genau darauf achtete, was Wren sagte, damit sie nicht den Faden verlor. Wren beendete ihren Bericht, als sie die Tür ihres Schlafraumes erreichten, und wandte sich um, so daß sie sich gegenüberstanden.

Ein Lächeln erschien auf Eowens ernstem Gesicht. »Du hast schon viel erfahren für jemanden, der noch keinen ganzen Tag in der Stadt ist, Wren.«

Nicht annähernd so viel, wie ich gern erfahren würde, dachte Wren. »Eowen, warum will mir niemand erzählen, wo die Dämonen hergekommen sind?« fragte sie und schlug alle Vorsicht in den Wind.

Das Lächeln verschwand und wurde von fast greifbarer Traurigkeit verdrängt. »Die Elfen denken nicht gern über die Dämonen nach, und noch weniger mögen sie über sie sprechen«, sagte sie. »Die Dämonen kamen aus der Magie, Wren – aus Mißverständnissen und Mißbrauch. Sie sind eine Angst und eine Schande und ein Versprechen.« Sie hielt inne, als sie die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit in Wrens Augen sah, und griff nach ihren Händen. »Die Königin hat es mir verboten, Wren«, flüsterte sie. »Und vielleicht hat sie recht. Aber ich verspreche dir soviel: Eines Tages werde ich dir alles erzählen, wenn du es dann immer noch willst. Und zwar bald.«

Wren erwiderte ihren Blick, sah die Ehrlichkeit, die sich in Eowens Augen widerspiegelte und nickte. »Ich werde dich daran erinnern, Eowen. Aber es wäre mir lieber, wenn sich meine Großmutter entschließen könnte, es mir als erste zu erzählen.«

»Ja, Wren. Das wäre mir auch lieber.« Eowen zögerte. »Wir sind seit langer Zeit zusammen, sie und ich. In der Kinderzeit, zur Zeit unserer ersten Liebe, mit unseren Ehemännern und unseren Kindern. Sie alle sind fort. Alleynes Tod traf uns beide am härtesten. Ich habe deiner Großmutter das niemals erzählt – obwohl ich glaube, daß sie es vermutet hat –, aber ich habe in meiner Vision bereits gesehen, daß Alleyne versuchen würde, nach Arborlon zurückzukehren, und wir unfähig sein würden, sie davon abzuhalten. Eine Seherin ist gesegnet und verflucht mit dem, was sie sieht. Ich weiß, was geschehen wird. Und ich kann nichts tun, um es zu ändern.«

Wren nickte verständnisvoll. »Das ist Magie, Eowen. Wie die der Elfensteine. Ich wünschte, ich könnte davon befreit werden. Ich mißtraue dem, was sie mit mir machen. Ist das bei dir anders?«

Eowen festigte ihren Griff. Ihre grünen Augen blieben auf Wrens Gesicht geheftet. »Wir alle bekommen unser Schicksal von etwas zugewiesen, das wir weder verstehen noch kontrollieren können, und es bindet uns an unsere Zukunft so sicher wie jede Magie.«

Sie ließ Wrens Hand los und trat zurück. »Während wir uns hier unterhalten, entscheidet die Königin über das Schicksal der Elfen, Wren. Deine Ankunft hat alles beschleunigt. Du wolltest wissen, welchen Unterschied deine Anwesenheit hier schon macht? Heute abend, denke ich, wirst du es wissen.«

Wren fuhr auf, als sie es plötzlich erkannte. »Du hattest eine Vision, nicht wahr, Eowen? Du hast gesehen, was sein wird.«

Die Seherin hob ihre Hände, als wüßte sie nicht, ob sie die Unterstellung abwehren oder sie eingestehen sollte. »Immer, Kind«, flüsterte sie. »Immer.« Ihr Gesichtsausdruck war gequält. »Die Visionen hören niemals auf.«

Dann wandte sie sich um, ging den Gang hinunter und verschwand wieder. Wren stand da und schaute hinter ihr her, wie sie auch hinter der Eule hergeschaut hatte. Sie waren Propheten, die auf eine unsichere Zukunft zugingen, selbst Visionen dessen, was den Elfen vorherbestimmt war.

Das Abendessen an diesem Abend war eine langwierige, quälende Angelegenheit mit langen Perioden des Schweigens. Wren und Garth waren in der Dämmerung gerufen worden und zu Eowen und der Eule hinuntergegangen, die bereits warteten. Gavilan hatte sich einige Minuten später zu ihnen gesellt. Jetzt saßen sie nahe beieinander an einem Ende des langen Eichentisches. Eine eindrucksvolle Auswahl an Speisen war vor ihnen aufgebaut, Bedienstete standen zu ihrer Verfügung, und der Speisesaal war gegen die hereinbrechende Nacht hell erleuchtet. Sie sprachen wenig, und wenn sie sprachen, taten sie sich schwer damit, nicht auf jene Gebiete abzuschweifen, deren Untergrund sich schon früher als trügerisch erwiesen hatte. Sogar Gavilan, der letztlich den größten Teil der Unterhaltung bestritt, wählte seine Themen sehr sorgfältig. Wren hätte nicht sagen können, ob ihr Cousin durch die Gegenwart von Eowen und der Eule eingeschüchtert war oder ob ihn etwas anderes störte. Er war genau so fröhlich und heiter wie zuvor, aber ihm fehlte jegliches wahre Interesse an der Mahlzeit, und er schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Wenn sie sprachen, so drehte sich ihr Gespräch überwiegend um Wrens Kindheit bei den Fahrenden und Gavilans Erinnerungen an Alleyne. Die Mahlzeit verstrich nur langsam, und es machte sich unübersehbar ein Gefühl der Erleichterung breit, als sie schließlich beendet war. Obwohl alle nach ihr Ausschau gehalten hatten, war Ellenroh Elessedil nicht erschienen.

Die fünf erhoben sich und wollten ihrer Wege gehen, als ein eifriger Bote in den Raum platzte und hektisch einige Worte mit der Eule wechselte.

Der entließ den Mann mit einem Stirnrunzeln und wandte sich dann an die anderen. »Die Dämonen haben einen Angriff gegen die Nordmauer geführt. Offensichtlich ist es ihnen gelungen, dort durchzubrechen.«

Nun strebten sie schnell auseinander. Eowen, um die Königin zu suchen, Gavilan, um sich zu bewaffnen, die Eule, Wren und Garth, um selber herauszufinden, was vor sich ging. Die Eule führte sie eilig durch die Vordertore aus dem Palast und in die Stadt hinunter. Wren sah den Boden unter ihren Füßen vorbeifliegen, während sie lief. Die Dämmerung war zu Abenddunkel geworden, und das Licht des Keel flackerte wild durch die Wand aus Bäumen. Sie liefen eine Reihe von Nebenstraßen hinab, durch die Elfen in verschiedene Richtungen rannten und schrien und Warnrufe riefen, während die ganze Stadt aufgrund der Nachricht über den Angriff in Alarmbereitschaft geriet. Die Eule umging die Elfenansammlungen, die sich bereits bildeten, und führte sie am Stadtkern entlang, dann eilte er ostwärts an dessen Rückseite vorbei, bis sich die Bäume teilten und der Keel vor ihnen aufragte. Die Mauer war dicht von Elfenkriegern besetzt, und Hunderte kamen über die Brücken, um sich ihnen anzuschließen. Sie alle eilten auf eine Stelle in dem Glühen zu, an der der Lichtschein beinahe ganz verblaßt war und eine massive Ansammlung von Kriegern in fast völliger Dunkelheit kämpfte. Wren und ihre Begleiter gingen weiter, bis sie weniger als zweihundert Meter von der Mauer entfernt waren. Dort mußten sie anhalten, da eine Reihe Krieger vor ihnen vorwärts drängte. Wren packte entsetzt Garths Arm. Wo der Keel gebrochen war, schien die Magie vollständig versagt zu haben, und die Steine der Mauer waren in Schutt verwandelt worden. Hunderte von dunklen, gesichtslosen Körpern zwängten sich in die Lücke und kämpften sich hindurch, während die Elfen auf sie einschlugen, um sie hinauszudrängen. Der Kampf war chaotisch. Körper drehten und wanden sich im Todeskampf, wenn sie von jenen zerschmettert wurden, die nachdrängten. Rufe und Schreie erfüllten die Luft, und die Geräusche des Kampfes zwischen Elfen und Dämonen wurden in dieser Nacht durch nichts gedämpft. Schwerter schlugen aufeinander und Klauen schlugen zu, und die Toten und Verwundeten lagen überall um die Bruchstelle in der Mauer herum. Eine Weile schienen die Dämonen überlegen zu sein, denn ihre Zahl war so groß, daß jene, die in der vordersten Reihe standen, tatsächlich innerhalb der Stadt waren. Aber die Elfen führten wilde Gegenangriffe und trieben sie wieder zurück. Hin und her wogte der Kampf durch die Bruchstelle, und keine Seite konnte einen Voneil erringen.

Auf einmal erscholl der Ruf: »Phaeton, Phaeton«, und der weißblonde Kopf des Elfenanführers erschien an der Spitze eines weiteren Trupps von Kriegern. Den Schwertarm hoch erhoben, führte er einen Angriff gegen die Mauer an. Die Dämonen wurden zurückgedrängt. Sie schrien und heulten, als die Elfen in sie hineinschlugen. Phaeton stand bei dem Angriff in erster Reihe. Er blieb auf wundersame Weise unversehrt, während seine Männer um ihn herum fielen. Die Elfen auf den Festungsmauern schlössen sich dem Gegenangriff an, und schlugen von oben zu, so daß Speere und Pfeile hinabregneten. Der Lichtschein des Keels wurde heller und schloß sich kurzzeitig über der Lücke in der beschädigten Mauer wieder.

Darauf führten die Dämonen noch einen weiteren Angriff. Es waren ungeheuer viele, die bei jedem Vorstoß durch die Mauerlücke krochen. Die Elfen hielten kurze Zeit stand und begannen dann erneut zurückzufallen. Phaeton sprang mit erhobenem Schwert vor sie. Die Fronten änderten sich wenig, als die Kämpfenden auf jeder Seite jetzt versuchten, die Kontrolle zu erlangen. Wren beobachtete erschrocken, daß das Gemetzel sich ausweitete, daß überall Tote und Sterbende und Verletzte lagen und der Kampf so heftig wurde, daß niemand zu ihnen gelangen konnte. Ein kleiner Trupp von Elfen hatte sich um Wren und ihre Begleiter herum gesammelt. Es waren alte Leute, Frauen und Kinder, die alle nicht als Krieger im Elfenheer waren. Eine neugierige Stille schwebte über ihnen, während sie zusahen. Ihre Stimmen zum Schweigen gebracht durch das, was sie sahen.

Aber was ist, wenn die Dämonen durchbrechen? fragte sich Wren plötzlich. Niemand wird eine Chance haben. Dieses Volk kann nirgendwo hinlaufen. Alle werden getötet werden.

Sie schaute wild um sich. Wo war nur die Königin?

Und plötzlich war sie da, umringt von einem Dutzend Mitgliedern ihrer Leibgarde. Die Menge teilte sich vor ihr. Wren sah Triss, der mit hartem, grimmigem Gesicht seine Elfenjäger anführte. Die Königin trat direkt und aufrecht in ihre Mitte. Sie schien unberührt von dem Tumult, der um sie herum tobte. Ihr glattes Gesicht war ruhig, und sie hielt die Augen nach vorn gerichtet. Dann ging sie am Rande der Menge entlang auf die nächstgelegene Brücke zu, die den Graben überspannte. In ihrer Hand trug sie den Ruhkstab, an dessen Spitze der Loden weiß und heiß schimmerte.

Was wird sie tun? fragte sich Wren und hatte plötzlich Angst um sie.

Die Königin ging zur Mitte der Brücke, wo sie sich über das Wasser des Grabens beugte, und blieb dort stehen, wo sie von allen gesehen werden konnte. Rufe erschollen, und die Krieger an der Mauer begannen, ihren Namen zu rufen und sich damit Mut zu machen. Die Elfen, die mit Phaeton an der Bruchstelle kämpften, verstärkten ihre Bemühungen. Sie sammelten alle Kraft für einen Gegenangriff und drängten vorwärts. Wieder wurden die Dämonen zurückgeschlagen. Das Klirren und Schaben eiserner Waffen erklang und gleichzeitig die Schreie der Sterbenden.

Dann ging Phaeton plötzlich zu Boden. Es war unmöglich zu erkennen, was geschehen war, denn in einem Moment war er da, führte seine Leute an, und im nächsten Moment war er fort. Die Elfen schrien auf und drängten vorwärts, um ihn zu beschützen, Die Dämonen gaben widerwillig den Weg frei. Sie wurden von dem Ansturm zurückgeschlagen. Der Kampf verlagerte sich erneut in die Bruchstelle und dieses Mal auch darüber hinaus, als die Dämonen an der anderen Seite hinunter und durch das Licht zurückgestoßen wurden. Wieder ballte sich die Magie, die den Keel beschützte, zusammen, und ihre Linien begannen sich miteinander zu verweben.

Doch dann griffen die Dämonen ein drittes Mal an. Die Elfen waren erschöpft und wichen zurück.

Ellenroh Elessedil erhob den Ruhkstab und wies damit auf die Bruchstelle. Der Loden flackerte sofort auf. Warnrufe erschollen, und die Elfen drängten durch die Bruchstelle zurück. Licht trat explosionsartig aus dem Loden hervor und schoß auf den Keel zu, während die Magie des Elfensteins Kraft sammelte. Sie erreichte die Mauer, als sich die letzten Elfenkrieger gerade hindurchwarfen. Gesteinsbrocken wurden Stück für Stück hochgehoben, schleifend und kratzend bei jeder Bewegung, und die Mauer begann sich selbst wieder aufzubauen. Die Dämonen wurden in einem Wirbelwind gefangen und begraben. Steine legten sich aufeinander, und Mörtel füllte die Lücken. Die Magie arbeitete und führte sie, und die Macht des Loden dehnte sich aus. Wren hielt ungläubig den Atem an. Die Mauer wuchs, schloß das schwarze Loch, das in sie geschlagen worden war, und bildete sich neu, bis sie wieder vollständig war.

Innerhalb von Sekunden hatte die Magie ihr Werk vollendet, und die Dämonen waren erneut ausgeschlossen.

Die Königin stand bewegungslos mitten auf der Brücke, während weitere Trupps von Elfenkriegern an ihr vorbeieilten, um die Festungsmauern zu bemannen. Sie wartete, bis der Bote, den sie ausgesandt hatte, vom Schlachtfeld zurückkehrte. Der Bote kniete sich kurz hin und erhob sich dann wieder, um zu berichten. Wren beobachtete, wie die Königin kurz nickte, sich umwandte und über die Brücke zurückkam. Die Leibgarde bahnte ihr erneut den Weg, aber dieses Mal kam sie direkt auf Wren zu, nachdem sie es irgendwie geschafft hatte, sie in der Menge ausfindig zu machen. Die Fahrende erschrak vor dem, was sie auf dem Gesicht ihrer Großmutter erkannte.

Ellenroh Elessedil fegte zu ihr heran. Ihre Gewänder flatterten um sie wie ein Banner, das aus dem Ruhkstab geflossen war, den sie an ihren Körper gepreßt hielt und auf dem der Loden noch immer in bösem, weißem Licht glühte.

»Aurin Striate«, rief die Königin, als sie sie erreicht hatte, und ihre Augen hefteten sich flüchtig auf die Eule. »Geht voraus, wenn Ihr wollt. Ruft Bar und Eton aus ihren Räumen herbei – wenn sie noch dort sind. Sagt ihnen...« Ihr Atem schien in ihrer Kehle steckenzubleiben, und ihre Hand faßte den Ruhkstab fester. »Sagt ihnen, daß Phaeton bei dem Angriff umgekommen ist, daß es ein Unfall war und daß er durch den Pfeil eines seiner eigenen Bogenschützen getötet wurde. Sagt ihnen, daß ich sofort ein Treffen in den Räumen des Hohen Konzils wünsche. Geht jetzt, schnell.«

Die Eule verschmolz mit der Menge und war fort. Die Königin wandte sich Wren zu. Sie hob einen Arm, um ihn um die schmalen Schultern des Mädchens zu legen, mit der anderen deutete sie mit dem Stab in Richtung Stadt. Sie gingen los. Garth einen Schritt hinter ihnen und die Leibgarde überall um sie herum.

»Wren«, flüsterte die Elfenkönigin und beugte sich nahe zu ihr herüber. »Dies ist für uns der Anfang vom Ende. Wir werden jetzt entscheiden, ob es eine Rettung für uns gibt. Bleib nahe bei mir, ja? Sei Augen und Ohren und ein zuverlässiger rechter Arm für mich. Darum bist du zu mir gekommen.«

Ohne weitere Worte preßte sie Wren an sich und eilte weiter.

Загрузка...