12

Die Räume des Hohen Konzils der Elfen lagen nicht weit vom Palast inmitten eines uralten Hains aus weißen Eichen. Das Gebäude bestand aus Fachwerk mit Mauern aus Stein. Der Raum des Konzils selbst, der den größten Teil des Gebäudes einnahm, war ein höhlenartiger, achteckiger Raum. Seine Decke wurde von Balken gestützt, die sich von den Mauern wie ein beschützender Stern zu einem Mittelpunkt erhoben. Schwere Holztüren öffneten sich an einer Wand, die einem dreistufigen Podium gegenüberlagen, auf dem der Thron der Elfenkönige und -königinnen stand. Flankiert wurde der Thron von Standarten und den Standern mit den persönlichen Insignien der regierenden Häuser. Vor den restlichen Wänden standen zu beiden Seiten Reihen von Bänken. Es gab auch eine Galerie für Zuschauer und Teilnehmer öffentlicher Treffen. In der Mitte des Raumes wurde ein weiter Bereich des Fußbodens von einem runden Tisch mit einundzwanzig Stühlen eingenommen. Wenn das Hohe Konzil tagte, saßen seine Mitglieder an diesem Tisch, und der König oder die Königin führte den Vorsitz.

Ellenroh Elessedil betrat schwungvoll den Raum. Ihre Gewänder rauschten hinter ihr her, und sie hielt den Ruhkstab vor sich. Wren, Garth, Triss und eine Handvoll Mitglieder der Leibgarde folgten ihr. Gavilan Elessedil saß bereits am Tisch des Konzils und erhob sich eiligst, als die Königin erschien. Er trug einen Kettenpanzer, und sein Breitschwert hing an der Rückenlehne seines Stuhls. Die Königin ging zu ihm hinüber, umarmte ihn herzlich und trat an den Kopf des Tisches.

»Wren«, sagte sie. »Setz dich neben mich.«

Wren tat, wie ihr geheißen. Garth schlenderte zu einer Wand des Raumes und machte es sich auf der Galerie bequem. Die Türen des Raumes schlössen sich wieder, und zwei Mitglieder der Leibgarde stellten sich zu beiden Seiten des Eingangs in Positur. Triss trat zum Tisch und setzte sich neben Gavilan. Sein hageres, hartes Gesicht wirkte merkwürdig abwesend. Gavilan richtete sich auf seinem Stuhl auf, lächelte Wren unbehaglich zu, glättete nervös seine Tunikaärmel und schaute fort. Ellenroh faltete die Hände vor sich und schwieg. Es war deutlich, daß sie auf jemanden warteten. Wer auch immer das sein mochte, er sollte noch kommen. Wren überschaute den Raum und spähte in dunkle Ecken, die das Lampenlicht nicht erreichte. Poliertes Holz schimmerte schwach in der Dunkelheit hinter Garth. Durch die Flammen der Lampe entstanden Bilder und tanzten am Rande des Lichts. Hinter ihr hingen die Stander schlaff und unbeweglich herab, ihre Insignien in schweren Falten verborgen. Der Raum war ruhig, und nur das sanfte Schaben von Stiefeln und das Rascheln von Kleidern störten die Stille.

Dann sah sie Eowen, die in den Schatten fast unsichtbar weit hinten auf der Galerie gegenüber von Garth saß.

Wrens Augen richteten sich sofort auf die Königin, aber Ellenroh ließ sich nicht anmerken, daß sie wußte, daß die Seherin da war. Ihr Blick war auf die Türen des Konzilraumes gerichtet. Wren schaute noch einmal kurz hinüber zu Eowen und starrte dann wieder in die Schatten. Sie konnte die Spannung in der Luft spüren. Jeder, der in diesem Raum saß, wußte, daß etwas geschehen würde, aber nur die Königin wußte, was es war. Wren atmete tief durch. Für diesen Augenblick, hatte die Königin gesagt, war sie nach Arborlon gekommen.

Sei Augen und Ohren und ein zuverlässiger rechter Arm für mich.

Warum?

Die Türen zum Konzilraum öffneten sich, und Aurin Striate betrat den Raum zusammen mit zwei anderen Männern. Der eine war alt und korpulent, mit ergrauendem Haar und Bart und langsamen, schwerfälligen Bewegungen, die vermuten ließen, daß er kein Mann war, der sich von irgend etwas aufhalten lassen würde. Der zweite war von durchschnittlicher Größe und glatt rasiert. Seine Augen waren fast verdeckt, aber wachsam, und seine Bewegungen anmutig und leicht. Er lächelte, als er eintrat, während der erste die Stirn runzelte.

»Barsimmon Oridio«, begrüßte die Königin den ersten, »Eton Shart. Danke, daß Ihr gekommen seid. Aurin Striate, bitte bleib.«

Die drei Männer setzten sich. Ihre Augen waren auf die Königin gerichtet. Alle sahen sie jetzt an und warteten.

»Cort, Dal«, sprach sie die Wachen an der Tür an. »Bitte wartet draußen.«

Die Elfenjäger schlüpften durch die Tür und waren fort. Die Türen schlössen sich sanft.

»Meine Freunde.« Ellenroh Elessedil saß aufrecht auf ihrem Stuhl, und ihre Stimme durchschnitt die Stille mühelos, während sie sprach. »Wir dürfen uns nichts mehr vormachen. Wir dürfen uns nicht mehr selbst täuschen. Wir dürfen uns nicht belügen. Was wir mehr als zehn Jahre lang verzweifelt abzuwenden versucht haben, hat uns jetzt getroffen.«

»Hoheit«, begann Barsimmon Oridio, aber sie brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

»Heute nacht haben die Dämonen den Keel durchbrochen. Die Magie wird nun schon seit Monaten schwächer – wahrscheinlich schon seit Jahren –, und die Wesen dort draußen haben seine Kraft für sich selbst gestohlen. Heute nacht hatte sich das Gleichgewicht ausreichend verlagert, um es ihnen zu ermöglichen, einen Durchbruch zu schaffen. Unsere Jäger haben tapfer gekämpft, dies zu verhindern, und alles getan, was in ihrer Macht stand, um den Angriff zurückzuschlagen. Es ist ihnen nicht gelungen. Phaeton wurde getötet. Schließlich war ich gezwungen, den Ruhkstab zu benutzen. Wenn ich dies nicht getan hätte, wäre die Stadt gefallen.«

»Hoheit, so ist das nicht!« Barsimmon Oridio konnte nicht länger ruhig bleiben. »Das Heer hätte sich erneut gesammelt. Es hätte obsiegt. Phaeton hat sich zuviel zugetraut, sonst wäre er noch am Leben!«

»Er hat sich zuviel zugetraut, um uns zu retten!« Ellenrohs Gesicht war wie versteinert. »Sprecht nicht abfällig von ihm, Kommandant. Ich verbiete es Euch.« Das Stirnrunzeln des großen Mannes vertiefte sich. »Bar!« Die Königin sprach freundlich mit ihm, und die Wärme in ihrer Stimme war offenkundig. »Ich war dort. Ich habe gesehen, wie es geschehen ist.«

Sie wartete, bis sich seine wilden Augen senkten, und wandte ihren Blick dann wieder dem gesamten Tisch zu. »Der Keel wird uns nicht sehr viel länger beschützen. Ich habe den Ruhkstab gebraucht, um seine Kraft zu stärken, aber das kann ich nicht wieder tun, weil wir es dann riskieren würden, dessen Macht ganz zu verlieren. Und das, meine Freunde, kann ich nicht zulassen. Ich habe Euch daher zusammengerufen, um Euch zu sagen, daß ich mich für einen anderen Weg entschieden habe.«

Sie wandte sich zu Wren um. »Dies ist meine Enkelin Wren, das Kind von Alleyne. Sie wurde aus der Alten Welt zu uns gesandt, wie Eowen Cerise es vorausgesehen hat. Sie kommt, so verspricht es die Vorhersage, um die Elfen zu retten. Ich habe viele Jahre lang auf ihre Ankunft gewartet, aber nicht wirklich geglaubt, daß sie kommen würde oder daß sie, wenn sie kommen würde, etwas für uns tun könnte. Ich wollte in Wahrheit gar nicht, daß sie kommt, weil ich Angst hatte, daß ich sie verlieren würde, wie ich Alleyne verloren habe.«

Sie streckte die Hand aus und berührte mit ihren Fingern sanft Wrens Wange. »Ich habe noch immer Angst. Aber Wren ist trotz meiner Ängste hier. Sie hat die große Weite der Blauen Spalte überquert und den Schrecken der Dämonen getrotzt und sitzt jetzt hier bei uns. Ich kann nicht länger daran zweifeln, daß es ihr bestimmt ist, uns zu retten, genau wie Eowen es vorausgesagt hat.« Sie hielt inne. »Wren kann dies im Moment weder glauben noch verstehen.« Ellenrohs Augen leuchteten warm, als sie Wrens Blick begegneten. »Sie hatte ihre eigenen Gründe, nach Arborlon zu kommen. Der Schatten Allanons hat sie berufen und sie gesandt, uns zu finden. Die Vier Länder sind offenbar von eigenen Dämonen belagert, von Kreaturen, die dort Schattenwesen genannt werden. Wir werden gebraucht, wie der Schatten Allanons beteuert, wenn die Vier Länder gerettet werden sollen.«

»Was in den Vier Ländern geschieht, ist nicht unser Problem, Hoheit«, erinnerte Eton Shart ruhig.

Sie wandte sich um und sah ihn an. »Ja, Erster Minister, das ist genau das, was wir mehr als hundert Jahre lang erklärt haben, nicht wahr? Aber was ist, wenn wir uns irren? Was, wenn unser Problem mit ihrem zusammenhängt? Was, wenn die Schicksale aller, anders als wir geglaubt haben, miteinander verbunden sind und das Überleben davon abhängt, ob wir einen gemeinschaftlichen Bund schließen? Wren, erzähle den Versammelten, wie es dazu kam, daß du mich schließlich gefunden hast. Erzähle ihnen, was dir von dem Schatten des Druiden und von dem alten Mann aufgetragen wurde. Erzähle ihnen auch von den Elfensteinen. Das ist jetzt in Ordnung. Es ist an der Zeit, daß sie es erfahren.«

Also erzählte Wren einmal mehr die Geschichte, wie sie und Garth nach Arborlon gekommen waren, wobei sie mit ihren Träumen begann und mit ihrer Entdeckung, wer sie war, endete. Sie sprach nur zögernd von den Elfensteinen, da sie noch immer unsicher war, ob sie von ihrer Existenz erzählen sollte. Aber die Königin nickte ihr ermutigend zu, als sie ansetzte, und so ließ sie nichts aus. Als sie geendet hatte, herrschte Schweigen. Diejenigen, die um den Tisch saßen, tauschten unsichere Blicke aus. Gavilan sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Versteht Ihr jetzt, warum ich es für unmöglich halte, noch länger zu leugnen, was jenseits von Morrowindl geschieht?« fragte die Königin leise.

»Hoheit, ich glaube, wir verstehen Euch«, sagte die Eule,

»aber jetzt sollten wir uns anhören, was Ihr zu tun vorschlagt.«

Ellenroh nickte. »Ja, Aurin Striate, das solltet Ihr.« Wieder breitete sich Schweigen im Raume aus. »Es bleibt uns hier auf Morrowindl nichts mehr zu tun übrig«, sagte sie dann. »Daher ist es an der Zeit, zu gehen und in die Alte Welt zurückzukehren. Wir sollten wieder ein Teil von ihr werden. Die Tage, wo wir verschwunden waren und in der Abgeschiedenheit lebten, sind vorbei. Es ist an der Zeit, den Loden wieder zu gebrauchen.«

Gavilan stand ruckartig auf. »Tante Ell, nein! Wir können doch nicht einfach aufgeben! Woher sollen wir wissen, ob der Loden nach all dieser Zeit überhaupt noch wirkt? Er ist nur eine Legende! Und was ist mit der Magie des Keel? Wenn wir fortgehen, ist sie verloren! Das können wir doch nicht tun!«

Wren hörte Barsimmon Oridio zustimmend murmeln.

»Gavilan!« Ellenroh war wütend. »Wir sind in der Beratung. Ihr werdet mich angemessen ansprechen!«

Gavilan errötete. »Ich entschuldige mich, Hoheit.«

»Nun setzt Euch wieder hin!« bellte die Königin. Gavilan setzte sich. »Es scheint mir, daß wir unsere gegenwärtige Lage unserer Unentschlossenheit verdanken. Wir haben es zu lange versäumt zu handeln. Wir haben dem Schicksal erlaubt, die Wahl für uns zu treffen. Wir haben sogar noch um die Magie gekämpft, als es für uns alle längst offensichtlich war, daß wir uns nicht mehr auf sie verlassen konnten.«

»Hoheit!« Ein bleicher Eton Shart beruhigte sich jedoch schleunigst wieder.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Ellenroh. Sie sah Wren nicht direkt an, aber in ihren Augen war ein plötzliches Aufflackern zu sehen, das dem Mädchen sagte, die Warnung sei ihretwegen erfolgt.

»Hoheit, Ihr fordert also, daß wir die Magie vollständig aufgeben sollen?«

Die Königin nickte kurz. »Sie erfüllt doch nicht länger ihren Zweck, oder etwa nicht, Erster Minister?«

»Aber wie der junge Gavilan sagt, können wir doch nicht wissen, ob der Loden das vollbringen wird, was wir von ihm erwarten.«

»Wenn er versagt, haben wir nichts verloren. Außer vielleicht jegliche Möglichkeit zur Flucht.«

»Aber Flucht, Eure Hoheit, ist doch nicht notwendigerweise die Antwort, nach der wir suchen. Vielleicht Hilfe aus einer anderen Quelle...«

»Eton.« Die Königin unterbrach ihn. »Denkt doch erst einmal darüber nach, was Ihr da vorschlagt. Welche andere Möglichkeit gibt es denn? Schlagt Ihr etwa vor, noch mehr Magie anzurufen? Sollen wir die Magie, die wir zur Verfügung haben, vielleicht auf andere Weise nutzen und sie zu weiteren Schrecknissen umwandeln? Oder sollen wir bei jenen Menschen Hilfe suchen, die wir vor Jahren der Föderation überlassen haben?«

»Wir haben das Heer, Hoheit«, erklärte Barsimmon Oridio eifrig.

»Ja, Bar, das stimmt. Für den Moment. Aber wir können jene Leben nicht zurückholen, die wir verloren haben. Diese Magie fehlt uns. Jeder neue Angriff nimmt uns weitere Jäger. Die Dämonen materialisieren sich aus der Luft, wie es scheint. Wenn wir bleiben, werden wir bald kein Heer mehr haben.«

Sie schüttelte langsam den Kopf und lächelte ironisch. »Ich weiß, was ich verlange. Wenn wir Arborlon und die Elfen wieder in die Welt der Menschen, in die Vier Länder mit ihren verschiedenen Rassen verlagern, wird die Magie verloren sein. Wir werden sein, wie wir in den alten Zeiten waren. Aber vielleicht ist das genug. Vielleicht soll es so sein.«

Alle, die um den Tisch saßen, betrachteten sie schweigend. Ihre Gesichter spiegelten eine Mischung aus Unwillen, Zweifel und Verwunderung.

»Ich verstehe nicht viel von der Magie«, sagte Wren schließlich, die einfach nicht mehr nur dasitzen konnte, während sich immer mehr Fragen in ihr auftürmten. »Was meint Ihr eigentlich, wenn Ihr sagt, daß die Magie verloren sein wird, wenn Ihr Morrowindl verlaßt?«

Ellenroh wandte sich ihr zu und sah sie an. »Ich vergesse immer wieder, Wren, daß du im Elfenwissen noch nicht sehr versiert bist und die Ursprünge der Magie noch nicht richtig kennst. Ich werde versuchen, es dir vereinfacht zu erklären. Wenn ich den Loden anrufe, wie ich es beabsichtige, werden Arborlon und die Elfen für die Rückreise ins Westland in dem Elfenstein versammelt werden. Wenn dies geschieht, wird die Magie, die die Stadt jetzt schützt, nutzlos. Die einzige Magie, die dann noch bleibt, ist die, die dem Loden innewohnt und die beschützt, was in ihm getragen wird. Wenn Arborlon wiederhergestellt ist, wird auch diese Magie nutzlos. Der Loden hat, wie du siehst, nur einen Zweck, und wenn er einmal für diesen Zweck gebraucht wurde, läßt seine Magie nach.«

Wren schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber wie läßt sich dann erklären, daß der Loden den Keel wiederhergestellt hat, nachdem die Dämonen durchgebrochen waren? Was ist damit?«

»Das ist wahr. Ich habe mir einen kleinen Teil der gleichen Magie, die erforderlich ist, um die Stadt und ihre Einwohner zu transportieren, zunutze gemacht. Kurz gesagt, ich habe ihm ein wenig Macht gestohlen. Wenn man diese Macht gebraucht, um den Keel zu unterstützen, zehrt man also auf, was für den vorrangigen Gebrauch des Elfensteins notwendig ist.« Ellenroh hielt inne. »Wren, du weißt also jetzt, daß die Elfen einen Teil der Magie, die sie einst in der Feenzeit zur Verfügung hatten, wiedererlangt haben. Das gelang ihnen, nachdem sie entdeckt hatten, daß die Magie ihren Ursprung in der Erde und ihren Elementen hat. Kurz bevor wir nach Morrowindl kamen, lange vor meiner Zeit, wurde die Entscheidung getroffen, daß die Elfen versuchen sollten, sie zurückzugewinnen.« Sie hielt inne. »Dieser Versuch war nicht allzu erfolgreich. Schließlich wurde er vollständig aufgegeben. Was an Magie übriggeblieben war, wurde in den Bau des Keel eingebracht. Aber die Magie existiert nur so lange, wie sie gebraucht wird. Wenn die Stadt erst einmal fort ist, wird auch die Magie nicht mehr gebraucht. Wenn es soweit ist, verschwindet sie.«

»Und sie kann wirklich nicht wiederhergestellt werden, wenn Ihr erst einmal wieder im Westland seid?«

Ellenrohs Gesicht versteinerte. »Nein, Wren. Niemals wieder.«

»Ihr nehmt an...« begann Gavilan.

»Niemals«, schnappte Ellenroh, und Gavilan wurde still.

»Hoheit.« Eton Shart zog sanft ihre Aufmerksamkeit auf sich.

»Selbst wenn wir tun würden, was Ihr vorschlagt, und die Macht des Loden anrufen würden, welche Chance hätten wir überhaupt, ins Westland zurückzukehren? Die Dämonen sind überall um uns herum. Wie Ihr bereits sagtet, hatten wir Mühe, uns innerhalb der Mauern der Stadt zu behaupten. Was geschieht, wenn diese Mauern fort sind? Würde allein unser Heer genügen, uns an den Strand zu bringen? Und was geschieht dann mit uns? Wir haben dann weder Boote noch einen Führer.«

»Das Heer kann den Strand nicht lange halten, Hoheit«, wandte auch Barsimmon Oridio ein.

»Nein, Bar, das kann es nicht«, sagte die Königin. »Aber ich möchte auch nicht vorschlagen, das Heer einzusetzen. Ich glaube, die beste Möglichkeit ist es, Morrowindl so zu verlassen, wie wir hergekommen sind – indem nur eine Handvoll von uns den Loden trägt, während die anderen sicher in ihm eingeschlossen sind.«

Es herrschte verblüfftes Schweigen.

»Eine Handvoll, Hoheit?« Barsimmon Oridio war entsetzt.

»Sie hätten keine Chance!«

»Nun, diese Einschätzung muß nicht unbedingt stimmen«, sann Aurin Striate leise.

Die Königin lächelte. »Nein, Aurin, das muß sie nicht. Immerhin ist meine Enkelin ein Beweis dafür. Sie kam durch die Reihen der Dämonen einzig und allein mit der Hilfe ihres Freundes Garth. Der Punkt bei diesem Vorhaben ist, daß ein kleiner Trupp eine weitaus größere Chance hat, zum Strand durchzukommen, als ein ganzes Heer. Ein kleiner Trupp kann schnell und ohne gesehen zu werden, vorwärts gehen. Es ist sicher eine gefährliche Reise, aber sie ist machbar. Bezüglich dessen, was geschehen könnte, wenn diese Gesellschaft erst den Strand erreicht hat, so hat Wren bereits gewisse Vereinbarungen für uns getroffen. Der Flugreiter Tiger Ty wird mit seinem Rock da sein und kann zumindest einen von uns und den Loden in Sicherheit bringen. Weitere Flugreiter könnten die anderen in ihre Obhut nehmen. Ich habe dies sorgfältig durchdacht, und ich glaube, daß es eine Antwort auf unser Problem ist. Ich glaube sogar, meine Freunde, daß es die einzig mögliche Antwort ist.«

Gavilan schüttelte den Kopf. Er war jetzt ruhig, und sein hübsches Gesicht blieb gelassen. »Hoheit, ich weiß, wie verzweifelt die Lage geworden ist. Aber wenn dieses Wagnis, das ihr da vorschlagt, mißlingt, wird das Elfenvolk verloren sein. Wenn die Mitglieder des Trupps, der den Loden mit sich führt, getötet werden, kann die Macht des Elfensteines nie wieder angerufen werden, und die Stadt und ihre Einwohner werden darin gefangen sein. Ich glaube nicht, daß wir dieses Risiko eingehen sollten.«

»Nein, Gavilan?« fragte die Königin sanft.

»Ein vertretbares Risiko wäre es, noch mehr Magie der Erde herbeizurufen«, erwiderte er. Seine Hände hoben sich, um ihren Protest abzuwehren. »Ich kenne die Gefahren. Aber dieses Mal könnten wir damit Erfolg haben. Dieses Mal könnte die Magie stark genug sein, um uns innerhalb des Keels Sicherheit zu verschaffen und die dunklen Wesen ausgeschlossen zu halten.«

»Für wie lange, Gavilan? Für ein Jahr? Oder zwei? Soll unser Volk denn noch länger in der Stadt eingeschlossen bleiben?«

»Besser, als wenn es ausgelöscht würde. Ein Jahr könnte uns die Zeit verschaffen, die wir brauchen, um einen Weg zu finden, die Erdmagie zu kontrollieren. Es muß einen Weg geben, Hoheit. Wir müssen ihn nur entdecken.«

Die Königin schüttelte traurig den Kopf. »Das haben wir uns mehr als hundert Jahre lang gesagt. Und bis jetzt hat niemand die Antwort gefunden. Schaut doch, was wir uns selbst angetan haben. Haben wir denn nichts gelernt?«

Wren verstand nicht ganz, was gesagt wurde, aber sie verstand genug, um zu erkennen, daß die Elfen irgendwo auf ihrem Weg auf Probleme mit der Magie, die sie angerufen hatten, gestoßen waren. Ellenroh hatte entschieden, daß sie zukünftig nichts mehr damit zu tun haben sollten. Gavilan beharrte darauf, daß sie weiterhin versuchen müßten, sie zu beherrschen. Ohne daß es gesagt worden wäre, wußte Wren, daß die Dämonen der Kernpunkt des Streits waren.

»Eule.« Die Königin sprach plötzlich Aurin Striate an. »Was haltet Ihr von meinem Plan?«

Die Eule zuckte die Achseln. »Ich denke, er ist durchführbar, Hoheit. Ich habe Jahre außerhalb der Stadtmauern verbracht. Ich weiß, daß es für einen einzelnen Mann möglich ist, sich dort zu bewegen, ohne von den Dämonen entdeckt zu werden, sogar unter ihnen zu reisen. Ich glaube, eine Handvoll Männer könnte das gleiche tun. Wie Ihr bereits sagtet, kamen Wren und Garth vom Strand herauf. Ich denke, sie können genausogut auch wieder hinuntergehen.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr den Loden diesem Mädchen und ihrem Freund anvertrauen wollt?« stieß Barsimmon Oridio ungläubig hervor.

»Eine gute Wahl, denkt Ihr nicht?« erwiderte Ellenroh ruhig. Sie schaute Wren an, die fand, daß sie der letzte Mensch sei, den die Königin in Erwägung ziehen sollte. »Aber wir müßten sie natürlich erst fragen«, fuhr Ellenroh fort, als könne sie ihre Gedanken lesen. »Auf jeden Fall glaube ich, daß mehr als zwei Menschen gebraucht werden.«

»Und wie viele?« fragte der Elfenkommandant.

»Ja, wie viele?« echote Eton Shart.

Die Königin lächelte, und Wren wußte, was sie dachte. Sie ließ sie den Vorschlag erst einmal überdenken, anstatt einfach dagegen zu argumentieren. Sie hatten noch keineswegs zugestimmt, aber sie erwogen zumindest die wesentlichen Punkte.

»Neun«, sagte die Königin. »Die Glückszahl der Elfen. Außerdem genug, um sicherzugehen, daß die Angelegenheit erfolgreich erledigt wird.«

»Wer würde gehen?« fragte Barsimmon Oridio ruhig.

»Ihr nicht, Bar«, antwortete die Königin. »Ihr auch nicht, Eton. Dies ist eine Reise für junge Männer. Ich möchte, daß Ihr bei der Stadt und bei unserem Volk bleibt. Dies wird für alle sehr neu sein. Der Loden ist schließlich nur eine Geschichte. Jemand muß in meiner Abwesenheit für Ordnung sorgen, und Ihr seid am besten dafür geeignet.«

»Dann wollt Ihr also eine Teilnehmerin der Reise sein?« fragte Eton Shart. »Dieser Reise für junge Männer?«

»Schaut nicht so vorwurfsvoll, Erster Minister«, neckte ihn Ellenroh. »Natürlich muß ich mitgehen. Der Ruhkstab ist mir anvertraut worden, und mir obliegt es, die Macht des Loden anzurufen. Um auf den Punkt zu kommen: Ich bin die Königin. Mir obliegt es, dafür zu sorgen, daß mein Volk und meine Stadt sicher ins Westland zurückgebracht werden. Außerdem habe ich diesen Plan geschmiedet. Ich kann wohl kaum für ihn eintreten, um es dann jemand anderem zu überlassen, ihn auszuführen.«

»Hoheit, ich glaube nicht...« begann Aurin Striate zweifelnd.

»Eule, bitte sagt das nicht.« Ellenrohs Stirnrunzeln ließ die anderen schweigen. »Ich bin sicher, daß ich Wort für Wort jeden Einwand wiederholen kann, den Ihr gerade machen wolltet, also macht Euch nicht die Mühe. Wenn Ihr es für nötig haltet, könnt Ihr mir Eure Bedenken mitteilen, während wir fortziehen, denn ich erwarte auch von Euch, daß Ihr die Reise mitmacht.«

»Ich möchte es gar nicht anders haben.« Das hagere Gesicht der Eule war von Zweifeln umwölkt.

»Es gibt niemanden, der eher dazu in der Lage wäre, außerhalb der Mauern zu überleben, als Ihr, Aurin Striate. Ihr werdet für uns dort draußen Augen und Ohren sein, mein Freund.«

Die Eule nickte wortlos ihre Zustimmung.

Ellenroh sah sich um. »Triss, ich werde Euch und Cort und Dal brauchen, um den Loden und damit alle anderen zu beschützen. Das macht fünf. Eowen wird mitgehen. Wir werden ihre Visionen vielleicht brauchen, wenn wir überleben wollen. Gavilan.« Sie sah ihren Neffen voller Hoffnung an. »Ich möchte, daß auch du mitgehst.«

Gavilan Elessedil überraschte alle mit einem strahlenden Lächeln. »Das würde ich auch gern, Hoheit.«

Ellenroh strahlte. »Du kannst mich nach heute abend wieder

›Tante Ell‹ nennen, Gavilan.«

Schließlich wandte sie sich an Wren. »Und du, Kind? Wirst auch du uns begleiten? Du und dein Freund Garth? Wir brauchen deine Hilfe. Du hast diese Reise vom Strand herauf gemacht, und du hast sie überlebt. Du kennst dich dort draußen ein wenig aus, und dieses Wissen ist wertvoll. Und du bist diejenige, der der Flugreiter versprochen hat, daß er zurückkommt. Fordere ich zuviel?«

Wren blieb einen Moment still. Sie machte sich nicht die Mühe, zu Garth hinüberzusehen. Sie wußte, daß er mitmachen würde, was auch immer sie beschloß. Sie wußte auch, daß sie nicht den ganzen Weg nach Arborlon gekommen war, um sich jetzt auszuschließen, und daß Allanon sie nicht hierher geschickt hatte, damit sie sich versteckte, und daß man ihr die Elfensteine nicht anvertraut hatte, damit sie jeglichen Gebrauch vermied. Die Realität war hart und fordernd. Sie war nicht nur als Bote gesandt worden und sollte nicht nur etwas darüber erfahren, wer sie war und woher sie gekommen war. Ihren Anteil an dieser Angelegenheit – ob es ihr gefiel oder nicht – hatte sie bisher kaum erfüllt.

»Garth und ich gehen mit«, erklärte sie.

Sie dachte, daß ihre Großmutter sich daraufhin herüberbeugen und sie umarmen würde, aber die Königin blieb aufrecht auf ihrem Stuhl sitzen und lächelte statt dessen nur. Was Wren in ihren Augen sah, war jedoch mehr wert als eine Umarmung.

»Sind wir uns also wirklich einig, daß wir es tun wollen?« fragte Eton Shart plötzlich vom anderen Ende des Tisches herüber.

Im Raum wurde es still, als sich Ellenroh Elessedil erhob. Sie stand vor ihnen. Stolz und Zuversicht spiegelten sich in ihren feingeschnittenen Zügen, in der Art, wie sie sich hielt und in dem Glanz ihrer Augen. Wren fand ihre Großmutter in diesem Moment wunderschön, wie die Locken ihres flachsfarbenen Haares auf ihre Schultern fielen, wie ihre Gewänder ihre Füße umspielten und wie die Linien ihres Gesichts und ihres Körpers im Wechselspiel von Schatten und Licht glatt und weich wirkten.

»Das sind wir, Eton«, erwiderte sie sanft. »Ich habe Euch hierhergebeten, damit Ihr hört, was ich beschlossen habe. Wenn ich Euch nicht überzeugen würde, sagte ich mir, würde ich nicht weitermachen. Aber ich glaube, ich hätte in jedem Fall weitergemacht – nicht aus Arroganz, nicht aus einem Gefühl der Sicherheit heraus bezüglich meiner eigenen Vision davon, was sein muß, sondern aus Liebe zu meinem Volk und aus der Angst heraus, daß der Fehler bei mir läge, wenn wir alle verloren wären. Wir haben eine Chance, uns zu retten. Eowen hat in ihrer Vision vorausgesehen, daß es so sein würde. Wren hat mit ihrem Kommen gezeigt, daß es jetzt soweit ist. Alles, was wir sind und jemals sein werden, ist in Gefahr, egal, welche Wahl wir treffen. Aber mir wäre es lieber, wir würden das Risiko darin suchen, etwas zu tun, als darin, nichts zu tun. Die Elfen werden überleben, meine Freunde. Ich bin mir dessen sicher. Das gelingt den Elfen immer.«

Sie schaute einen nach dem anderen mit strahlendem Lächeln an. »Steht Ihr in dieser Angelegenheit hinter mir?«

Darauf erhoben sie sich, einer nach dem anderen, Aurin Striate als erster, Triss, Gavilan, Eton Shart und Barsimmon Oridio nach kurzem Zögern und mit offensichtlichen Zweifeln. Wren stand als letzte auf. Sie war so gefangen in dem, was sie erlebte, daß sie einen Moment lang vergessen hatte, daß sie Teil davon war.

Die Königin nickte. »Ich könnte mir keine besseren Freunde wünschen. Ich liebe Euch alle.« Sie ergriff den Ruhkstab, der vor ihr lag. »Wir werden nicht mehr zögern. Ein Tag muß genügen, um unser Volk einzuweisen, uns selbst vorzubereiten und uns zu rüsten für das, was vor uns liegt. Geht jetzt schlafen. Bald kommt ein neuer Tag.«

Damit wandte sie sich von ihnen ab und verließ den Raum. Schweigend schauten sie ihr nach.

Wren stand vor den Türen des Hohen Konzils, schaute abwesend auf einen Ausschnitt des hellen, sternenerfüllten Himmels und dachte gerade, daß sie sich kaum mehr an ihr Leben vor Beginn ihrer Suche nach den Elfen erinnern konnte, als Gavilan auf sie zukam. Die anderen waren bereits gegangen, alle außer Garth, der in einiger Entfernung an einem Baum lehnte und auf die Stadt hinausschaute. In der Hoffnung, mit ihr sprechen zu können, hatte Wren Eowen gesucht, aber die Seherin war verschwunden. Jetzt wandte sie sich um, als Gavilan näher kam. Sie hatte vor, statt dessen mit ihm zu sprechen und ihm die Fragen zu stellen, auf die sie immer noch eine Antwort bekommen wollte. Das bereitwillige Lächeln erschien sofort. »Kleine Wren«, grüßte er sie ironisch und ein wenig nachdenklich. »Siehst du auch unsere Zukunft, wie Eowen Cerise sie sieht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin auch nicht sicher, daß ich sie gerade jetzt sehen will.«

»Hmmm, ja, vielleicht hast du recht. Sie wird kaum so weich und zärtlich sein wie diese Nacht, nicht wahr?« Er verschränkte lässig seine Arme und schaute ihr in die Augen. »Was werden wir sehen, wenn wir erst einmal außerhalb dieser Mauern sind? Kannst du mir das sagen? Ich bin noch nie dort draußen gewesen, weißt du.«

Wren schürzte die Lippen. »Dämonen. Vog, Feuer, Asche und Lavagestein, bis man die Klippen erreicht, dann Sumpf und Dschungel und danach vor allem wieder Vog. Gavilan, du hättest besser nicht zustimmen sollen, daß du mitkommst.«

Er lachte. »Aber du? Nein, Wren, ich möchte als richtiger Mann sterben, der weiß, was geschehen ist, und sich nicht hinter dem magischen Schild des Loden danach fragen muß. Wenn es überhaupt funktioniert. Das frage ich mich nämlich. Niemand weiß es genau, nicht einmal die Königin. Vielleicht wird sie ihn anrufen, und es wird gar nichts geschehen.«

»Das glaubst du doch nicht wirklich, nicht wahr?«

»Nein. Die Magie funktioniert für Ellenroh immer. Zumindest fast immer.« Seine Hände fielen erschöpft herab.

»Erzählt mir von der Magie, Gavilan«, bat sie impulsiv. »Was ist mit der Magie, die nicht funktioniert? Warum will niemand darüber reden?«

Gavilan schob die Hände in die Taschen seines Umhangs und schien dabei in sich zusammenzukriechen. »Weißt du, Wren, wie es für die Elfen sein wird, wenn Tante Ell die Magie des Loden anruft? Keiner von uns hat damals schon gelebt, als Arborlon aus dem Westland gebracht wurde. Keiner von uns hat jemals die Vier Länder gesehen. Nur wenige erinnern sich noch daran, wie es war, als Morrowindl sicher und frei von Dämonen war. Die Stadt ist alles, was die Elfen kennen. Stell dir vor, wie es für sie sein wird, wenn sie von der Insel fort ins Westland zurückgebracht werden. Stell dir vor, was sie empfinden werden. Alles wird sie ängstigen.«

»Vielleicht nicht«, wagte sie zu sagen.

Er schien sie nicht zu hören. »Wir werden alles verlieren, was uns lieb ist, wenn das geschieht. Die Magie hat uns unser ganzes Leben lang zur Verfügung gestanden. Sie reinigt die Luft, schützt uns vor dem Wetter, hält unsere Felder fruchtbar, nährt die Pflanzen und Tiere des Waldes und versorgt uns mit Wasser. Alles. Was wird, wenn diese Dinge verloren sind?«

Auf einmal erkannte sie die Wahrheit. Er hatte Angst. Er konnte sich ein Leben jenseits des Keels nicht vorstellen, er hatte keine Vorstellung von einer Welt ohne Dämonen, wo die Natur alles das herbeischaffte, wofür sich die Elfen jetzt der Magie bedienten.

»Gavilan, es wird alles gut werden«, sagte sie ruhig. »Alles, was dich jetzt erfreut, war auch schon vorher da. Die Magie versorgt euch nur mit dem, was ohnehin wieder da sein wird, wenn das Gleichgewicht der Natur wiederhergestellt ist. Ellenroh hat recht. Die Elfen werden nicht überleben, wenn sie auf Morrowindl bleiben. Früher oder später wird der Keel versagen. Und umgekehrt kann es sein, daß die Vier Länder nicht ohne die Elfen überleben können. Vielleicht ist das Schicksal der Rassen irgendwie miteinander verbunden, genau wie Ellenroh es vermutet. Vielleicht sah Allanon das, als er mich aussandte, damit ich euch finde.«

Seine Blicke trafen die ihren. Die Angst war fort, aber er war trotzdem immer noch angespannt und beunruhigt. »Ich verstehe die Magie, Wren. Tante Ell denkt, sie sei zu gefährlich und nicht vorhersagbar. Aber ich verstehe sie, und ich glaube, ich könnte eine Möglichkeit finden, sie zu beherrschen.«

»Kannst du mir nicht erzählen, warum sie sie fürchtet?« drängte Wren. »Was veranlaßt sie dazu, zu denken, sie sei gefährlich?«

Gavilan zögerte, und einen Moment lang schien er antworten zu wollen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Wren. Ich kann es dir nicht sagen. Ich habe geschworen, es nicht zu tun. Du bist ein Elf, aber... Es ist besser, wenn du es niemals herausfindest. Er hob die Hände, als wolle er die Angelegenheit enttäuscht und ungeduldig beiseite schieben. Dann wechselte seine Stimmung abrupt, und er wirkte plötzlich heiter. »Frage mich etwas anderes, und ich werde antworten. Frage mich alles.«

Wren verschränkte ärgerlich die Arme. »Ich möchte dich nichts anderes fragen. Nur das möchte ich wissen.«

Die dunklen Augen tanzten. Er amüsierte sich. Er trat so nahe an sie heran, daß sie sich fast berührten. »Du bist Alleynes Kind, Wren. Ich gestehe es ein. Fest entschlossen bis zuletzt.«

»Dann erzähle es mir.«

»Du gibst nicht auf, nicht wahr?«

»Gavilan.«

»Du bist so sehr darauf aus, eine Antwort zu erhalten, daß du nicht einmal siehst, was direkt vor deinem Gesicht geschieht.«

Sie zögerte verwirrt.

»Sieh mich an«, sagte er.

Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen einander schweigend an und maßen sich auf eine Art, die bloße Worte überstieg. Wren konnte die Wärme seines Atems spüren und sehen, wie seine Brust sich hob und senkte.

»Erzähle es mir«, wiederholte sie eigensinnig.

Sie spürte, wie seine Hände sich auf ihre Arme legten. Sein Griff war leicht, aber fest. Dann näherte sich sein Gesicht dem ihren, und er küßte sie.

»Nein«, flüsterte er mit einem schnellen, unsicheren Lächeln und verschwand in der Nacht.

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