9

Shea stand stumm in der Dunkelheit vor der Halle und ließ die kühle Nachtluft über sein heißes Gesicht streichen. Flick war rechts von ihm postiert, das Gesicht blickte grimmig im Mondlicht. Menion lehnte lässig an einer hohen Eiche. Die Beratung war beendet, und Allanon hatte sie gebeten, auf ihn zu warten. Der Wanderer befand sich noch im Innern des Gebäudes und besprach letzte Einzelheiten mit den Zwergen-Älteren. Balinor war bei ihnen, um den Einsatz der berühmten Grenzlegion mit jenem der Zwergen-Armee abzustimmen.

Shea war froh, im Freien zu sein, wo er noch einmal in Ruhe über seine Entscheidung nachdenken konnte. Er sah ein, daß ihm kein anderer Weg offen geblieben war; er mußte sich damit abfinden, daß er nicht länger nur der Adoptivsohn Curzad Ohmsfords war, sondern der Sohn des Elfen-Hauses Shannara, der Nachkomme von Königen, der Erbe des legendären Schwertes, und auch wenn er es sich anders gewünscht haben mochte, mußte er auf sich nehmen, was das Schicksal ihm zudiktierte.

Er blickte seinen Bruder an, der gedankenverloren auf die dunkle Erde starrte. Flick war mutig und liebte ihn, aber er hatte nicht mit dieser unerwarteten Wendung rechnen können, die sie ins Herz des feindlichen Landes führen würde.

»Früher hätte ich geschworen, daß ich mein Leben ohne große Ereignisse in Shady Vale verbringen werde«, meinte Flick halblaut. »Und jetzt sieht es so aus, als würde ich teilhaben an dem Versuch, die Menschheit zu retten.«

»Meinst du, ich hätte mich anders entscheiden sollen?« fragte Shea nach einer Pause.

»Nein, das glaube ich nicht.« Flick schüttelte den Kopf.

»Aber erinnere dich an das, was wir auf der Reise hierher gesprochen haben — daß die Dinge nicht unserem Einfluß unterliegen, daß wir sie nicht einmal begreifen. Du siehst, wie wenig wir darüber zu bestimmen haben, was aus uns werden wird.« Er sah seinen Bruder an. »Ich glaube, du hast richtig entschieden, und was auch kommen mag, ich stehe auf deiner Seite.«

Shea lächelte breit und legte die Hand auf Flicks Schulter.

Es war genau das, was er von Flick erwartet hatte. Er bemerkte, daß Menion von der anderen Seite herankam, und drehte sich herum.

»Du wirst mich wohl für einen Dummkopf halten, nach den Dingen, die im Haus passiert sind«, sagte Menion. »Aber der Dummkopf stellt sich hinter den alten Flick. Was auch geschehen mag, wir stehen zusammen.«

»Du hast das nur gemacht, um Shea zu veranlassen, daß er mitgeht, nicht wahr?« sagte Flick aufgebracht. »Das ist das Hinterlistigste, was mir je begegnet ist!«

»Laß das, Flick.« sagte Shea. »Menion wußte, was er tat, und er hat richtig gehandelt. Ich hätte mich ohnehin nicht anders entschieden — das hoffe ich jedenfalls. Jetzt müssen wir die Vergangenheit hinter uns lassen, unsere Meinungsverschiedenheiten vergessen und zusammenhalten, um die Gefahren zu bestehen.«

Die Tür zum Besprechungszimmer ging plötzlich auf, und Balinor trat heraus. Er lächelte ein wenig.

»Ich bin froh, daß ihr euch alle entschlossen habt mitzukommen «, sagte er. »Ohne dich wäre das Unternehmen aussichtslos gewesen, Shea, das muß ich sagen. Ohne den Erben von Jede Shannara ist das Schwert nur ein Ding aus Metall.«

»Was könnt Ihr uns über diese magische Waffe sagen?« fragte Menion.

»Das überlasse ich Allanon«, erwiderte Balinor. »Er wird bald herauskommen und mit euch reden.«

Menion nickte, während Shea und Flick einen Blick tauschten. Endlich würden sie erfahren, was im Nordland vorging.

»Warum seid Ihr hier, Balinor?« fragte Flick.

»Das ist eine lange Geschichte — sie würde euch nicht interessieren«, antwortete der andere. »Meine Familie und ich verstehen uns in der letzten Zeit nicht gut. Mein jüngerer Bruder und ich hatten — Meinungsverschiedenheiten, und ich wollte die Stadt eine Weile verlassen. Allanon bat mich, ihn zum Anar zu begleiten. Höndel und die anderen sind alte Freunde, und ich war einverstanden.«

»Kommt mir bekannt vor«, sagte Menion trocken. »Dergleichen erlebe ich auch öfter.«

Balinor nickte und lächelte schief, aber Shea merkte, daß er die Dinge nicht als komisch empfand. Was ihn auch veranlaßt haben mochte, Callahorn zu verlassen, es war ernster als alles, was Menion je in Leah begegnet war.

»Was könnt Ihr uns über Allanon sagen?« erkundigte sich Flick hastig. »Wir scheinen ihm sehr viel Vertrauen entgegenzubringen, ohne viel über ihn zu wissen. Wer ist er?«

Balinor zog die Brauen hoch und schmunzelte, dann entfernte er sich ein paar Schritte, kam aber sofort wieder zurück und deutete auf das Fenster.

»Ich weiß eigentlich selbst nicht sehr viel über ihn«, sagte er. »Er reist viel, durchwandert das Land und zeichnet die Veränderungen auf, denen er begegnet. Er ist überall bekannt — ich glaube, er hat alle Nationen besucht. Das Ausmaß seines Wissens über diese Welt ist ungewöhnlich — das meiste davon steht nicht in Büchern. Er ist sehr bemerkenswert...«

»Aber wer ist er?« drängte Shea.

»Ich kann es nicht mit Gewißheit sagen, weil er sich auch mir nicht ganz anvertraut hat, obwohl er mich fast wie einen Sohn behandelt«, sagte Balinor leise. »Die Älteren der Zwerge und meines eigenen Reiches sagen, er sei der Größte der Druiden, von jenem fast vergessenen Rat, der die Menschen vor über tausend Jahren regiert hat. Sie sagen, er sei ein direkter Nachkomme des Druiden Brimen — vielleicht sogar von Galaphile selbst. Ich glaube, daran ist etwas Wahres, weil er oft in Paranor gewesen und dort lange geblieben ist, um seine Erkenntnisse in den großen Büchern niederzulegen.« Er schwieg einen Augenblick, und seine Zuhörer sahen sich an und fragten sich, ob der düstere Historiker wahrhaftig ein direkter Nachkomme der Druiden sein konnte. Shea hatte schon früher vermutet, daß Allanon einer der alten Philosophen und Lehrer sei, die man Druiden genannt hatte, und es hatte den Anschein, als besitze der Mann ein größeres Wissen von den Rassen und den Ursprüngen der Bedrohung, der sie sich gegenübersahen, als irgendein anderer.

»Ich kann es nicht erklären«, fuhr Balinor fort, »aber ich glaube, wir könnten in keiner besseren Gesellschaft sein, egal, vor welcher Gefahr wir stehen, sogar wenn wir dem Dämonen-Lord selbst gegenübertreten müßten. Ich kann es zwar nicht beweisen, bin aber gewiß, daß Allanons Macht alles übertrifft, was wir uns vorstellen können. Er wäre ein ungeheuer gefährlicher Feind.«

»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel«, sagte Flick trocken.

Nur Minuten danach ging die Tür auf, und Allanon trat heraus. Im bleichen Mondlicht wirkte er riesig und unheimlich, fast wie das Ebenbild der schrecklichen Totenschädelträger, die sie so fürchteten. Der schwarze Mantel blähte sich, als er auf sie zuging, das schmale Gesicht in den Tiefen der Kapuze verborgen. Sie blickten ihn stumm an und fragten sich, was er ihnen zu sagen haben und was das für die kommenden Tage bedeuten würde. Vielleicht kannte er instinktiv ihre Gedanken, aber ihre Augen vermochten in der undurchdringlichen Maske nichts zu entziffern. Sie sahen nur das Funkeln in seinen Augen, als er stehenblieb und sie der Reihe nach ansah.

»Es ist an der Zeit, daß ihr die ganze Geschichte um das Schwert von Shannara erfahrt, die Geschichte der Rassen, wie nur ich sie kenne.« Seine Stimme klang beschwörend. »Shea muß diese Dinge verstehen, das ist wichtig, und da ihr sein Schicksal mit ihm teilen wollt, habt ihr auch ein Anrecht darauf, alles zu hören. Was ihr heute erfahrt, muß aber unter uns bleiben, bis ich euch sage, daß es nicht mehr wichtig ist. Es wird schwer werden für euch, aber ihr müßt euch daran halten.

« Er winkte ihnen und entfernte sich, um sie tiefer unter die dunklen Bäume zu führen. Als sie einige hundert Meter zurückgelegt hatten, bog er in eine kleine, von außen kaum erkennbare Lichtung ein. Er setzte sich auf einen alten Baumstumpf und bedeutete den anderen, sich Plätze zu suchen.

Sie taten es hastig und warteten stumm.

»Vor sehr langer Zeit«, begann der Historiker schließlich mit bedächtiger Stimme, »vor den Großen Kriegen, vor dem Vorhandensein der Rassen, wie wir sie heute kennen, war das Land nur von Menschen bewohnt. Die Zivilisation hatte sich schon vorher über viele tausend Jahre hinweg entwickelt, in Jahren harter Arbeit und des Studiums, die den Menschen zu einem Punkt brachten, wo er im Begriff stand, die Geheimnisse des Lebens selbst zu meistern. Es war eine wunderbare, erregende Zeit, und vieles davon überstiege eure Fassungskraft, wenn ich ermächtigt wäre, euch ein vollständiges Bild zu geben. Aber trotz all seiner Bemühungen gelang es dem Menschen nie, seine überwältigende Faszination mit dem Tod zu unterdrücken. Er war eine ständige Alternative, selbst bei den zivilisiertesten Nationen. Seltsamerweise war der Auslöser jeder neuen Entdeckung das gleiche unaufhörliche Bestreben — die Verfolgung der Wissenschaft. Nicht der Wissenschaft, wie man sie heute kennt — nicht das Studium von Tier- und Pflanzenleben, der Erde und der einfachen Künste.

Das war eine Wissenschaft von Maschinen und Energie, die sich auf unendliche Bereiche der Forschung aufteilte, alle den gleichen zwei Zielen dienend — das Leben zu erleichtern und immer neue Methoden des Tötens zu ersinnen.« Er verstummte und lachte grimmig vor sich hin. »Sehr sonderbar, wenn man es bedenkt, daß der Mensch so viel Zeit dafür aufwendete, zwei derart verschiedene Ziele anzustreben. Selbst jetzt hat sich nichts geändert —- nach all den Jahren...« Seine Stimme verklang, und Shea warf einen Blick auf die anderen, aber sie starrten alle den Historiker an. »Wissenschaften physischer Macht!« sagte Allanon scharf. »Das waren die Mittel zu allen Zwecken dieser Zeit. Vor zweitausend Jahren waren die Leistungen der Menschheit in der Geschichte der Erde ohne Vergleich. Der uralte Feind des Menschen, der Tod, konnte nur noch jene zu sich rufen, die ihre natürliche Lebensspanne durchmessen hatten. Die Krankheiten waren praktisch ausgerottet, und wenn der Mensch noch mehr Zeit gehabt hätte, wäre es ihm sogar gelungen, das Leben zu verlängern.

Manche Philosophen behaupteten, die Geheimnisse des Lebens seien für Sterbliche verboten. Niemand hatte je das Gegenteil bewiesen. Das wäre vielleicht gelungen, aber ihre Zeit lief ab, und dieselben Elemente der Macht, die das Leben von Krankheit und Gebrechlichkeit befreit hatten, vernichteten es beinahe völlig. Die Großen Kriege begannen, entwickelten sich langsam aus kleineren Zwistigkeiten zwischen einigen Völkern und breiteten sich stetig aus, trotz der Erkenntnis dessen, was geschah — breiteten sich von Nebensächlichkeiten aus zum Urhaß: Rasse, Nationalität, Grenzen, Glaube... am Ende alles. Dann wurde plötzlich, so plötzlich, daß nur wenige wußten, was geschah, die ganze Welt von Vergeltungsangriffen der verschiedenen Länder überzogen, alle höchst wissenschaftlich geplant und ausgeführt. In wenigen Minuten gipfelte die Wissenschaft von Tausenden von Jahren, das Wissen von Jahrhunderten, in einer beinahe völligen Vernichtung des Lebens.« Er sah seine Zuhörer grimmig an. »Die Großen Kriege. Der Name ist sehr passend. Die in diesen wenigen Minuten des Kampfes aufgewendete Energie vermochte nicht nur diese Jahrtausende menschlicher Bemühungen auszulöschen, sie rief auch eine Reihe von Explosionen und Umwälzungen hervor, die das Land völlig veränderten.

Die entfesselte Kraft richtete den größten Schaden an, tötete jedes Lebewesen auf über neunzig Prozent der Erdoberfläche, aber die Nachwirkungen trugen die Veränderungen weiter, rissen die Kontinente auseinander, trockneten die Meere aus, machten Land und Meer für mehrere hundert Jahre unbewohnbar. Es hätte das Ende allen Lebens, vielleicht das Ende der Welt selbst sein können. Nur ein Wunder hat das verhindert.«

»Ich kann es nicht glauben«, stieß Shea hervor, und Allanon sah ihn mit spöttischem Lächeln an.

»Das ist deine Geschichte des zivilisierten Menschen, Shea«, murmelte er düster. »Aber was danach geschah, betrifft uns unmittelbar. Überreste der Menschheit vermochten in der entsetzlichen Zeit nach der Katastrophe zu überleben, in abgelegenen Teilen des Globus", gegen die Elemente um das Überleben ringend. Das war der Beginn der Entwicklung der Rassen, wie sie heute bestehen — Menschen, Zwerge, Gnome, Trolle, und, wie manche sagen, Elfen —, aber sie hat es immer schon gegeben, und diese Geschichte ist für ein andermal.«

Shea hätte ihn am liebsten unterbrochen und nach der Rasse der Elfen und seiner eigenen Herkunft gefragt, aber er wagte nicht, den grimmigen Mann zu stören, der fortfuhr:

»Einige Männer erinnerten sich an die Geheimnisse der Wissenschaften, die vor der Zerstörung der alten Welt ihr Leben gestaltet hatten. Nur wenige waren es. Die meisten waren kaum mehr als primitive Kreaturen, und die wenigen vermochten nur Bruchstücke zu bewahren. Aber sie hatten ihre Bücher gerettet, und diese konnten ihnen die meisten Geheimnisse der alten Wissenschaften verraten. Sie hielten sie in den ersten Jahrhunderten versteckt, ohne die Lehren anwenden zu können, und warteten auf die Zeit, in der das möglich sein würde. Sie lasen stattdessen ihre kostbaren Texte nur, und als die Bücher vor Alter zu zerfallen begannen und es keine Möglichkeit gab, sie zu erhalten oder abschreiben zu lassen, begannen die wenigen Männer, denen die Bücher gehörten, sich die Dinge zu merken. Die Jahre vergingen, und das Wissen wurde weitergereicht vom Vater auf den Sohn; jede Generation behielt das Wissen sicher in der Familie und schützte es vor jenen, die es nicht weise gebrauchen wollten, die eine Welt schaffen wollten, in der die Großen Kriege ein zweitesmal stattfinden konnten. Am Ende, selbst als es wieder möglich wurde, die Informationen aus diesen unersetzlichen Büchern erneut aufzuzeichnen, lehnten die Männer, die sich das Wissen eingeprägt hatten, es ab, das zu tun. Sie fürchteten immer noch die Folgen, hatten Angst voreinander und sogar vor sich selbst. Sie beschlossen deshalb, meist jeder für sich, auf die richtige Zeit zu warten, um ihr Wissen den aufstrebenden jungen Rassen anzubieten.

Die Jahre vergingen, während die neuen Rassen sich über die Stufe des primitiven Lebens hinaus zu entwickeln begannen.

Sie schlössen sich zu Gemeinschaften zusammen, versuchten aus dem Staub des alten Lebens ein neues aufzubauen — aber, wie ihr schon wißt, stellte sich heraus, daß sie der Aufgabe nicht gewachsen waren. Sie stritten heftig um Land, kleinliche Zwistigkeiten, die bald zu bewaffneten Konflikten zwischen den Rassen führten. Dann, als die Söhne jener, die zuerst die Geheimnisse des alten Lebens bewahrt hatten, erkannten, daß alles wieder auf das hinauszulaufen schien, was die alte Welt vernichtet hatte, beschlossen sie zu handeln. Der Mann namens Galaphile sah, was geschah, und begriff, daß die Rassen im Krieg gegeneinander antreten würden, wenn sich niemand einschaltete. Er rief deshalb eine ausgewählte Gruppe von Männern — alle jene, die noch Wissen aus den alten Büchern besaßen — zusammen zu einem Rat nach Paranor.«

»Das war also der erste Druiden-Rat«, murmelte Menion Leah staunend. »Ein Rat aller weisen Männer dieser Zeit, die ihre Kenntnisse zusammenfügten, um die Rassen zu retten.«

»Ein sehr lobenswerter Versuch, die Ausrottung des Lebens zu verhindern«, sagte Allanon mit schiefem Grinsen.

»Der Druiden-Rat wurde mit den besten Absichten gegründet, zumindest von den meisten. Man übte auf die Rassen einen ungeheuren Einfluß aus, weil man so viel zu bieten hatte, was das Leben aller verbessern konnte. Die Mitglieder des Rates handelten streng als Gruppe, und jeder trug sein Wissen zum Wohle aller bei. Obwohl es ihnen gelang, den Ausbruch eines totalen Krieges zu verhindern und zunächst den Frieden zwischen den Rassen zu erhalten, stießen sie auf unerwartete Probleme. Das Wissen, das jeder einzelne besessen hatte, war, durch die Weitergabe von Generation zu Generation auf kaum merkliche Weise immer wieder verändert worden, so daß viele der ausschlaggebenden Erkenntnisse sich von ihren Ursprüngen unterschieden.

Die Lage wurde noch komplizierter durch eine begreifliche Unfähigkeit, die verschiedenen Materialien, das Wissen der einzelnen Forschungszweige zu koordinieren. Für viele der Ratsmitglieder mangelte es dem von ihren Vorfahren überkommenen Wissen an praktischem Wert, und nicht Weniges war völlig unverständlich. Während die Druiden, wie sie sich selbst nach einer alten Gruppe nannten, die nach Erkenntnis gesucht hatte, also in der Lage waren, die Rassen in vielerlei Hinsicht zu unterstützen, sahen sie sich nicht imstande, aus den eingelernten Texten so viel zusammenzufügen, daß sie irgendeine der wichtigen Konzeptionen der großen Wissenschaften mühelos zu meistern vermocht hätten, jener Begriffe, von denen sie überzeugt waren, daß sie Wachstum und Wohlhabenheit würden fördern können.«

»Dann wollten die Druiden die alte Welt nach ihren Vorstellungen neu aufbauen«, warf Shea ein. »Sie wollten die Kriege verhindern und die Vorteile der alten Wissenschaften bewahren.«

Flick schüttelte verwirrt den Kopf, weil er nicht begriff, was dies alles mit dem Dämonen-Lord und dem Schwert zu tun hatte.

»Richtig«, sagte Allanon. »Der Druiden-Rat übersah jedoch trotz seines enormen Wissens und seiner guten Absichten einen Grundsatz menschlichen Daseins. Sobald ein intelligentes Wesen den inneren Wunsch hat, sein Leben zu verbessern, die Rätsel des Fortschritts zu entschlüsseln, wird es die Mittel dazu finden — wenn nicht durch die eine Methode, dann mit einer anderen. Die Druiden sonderten sich in Paranor ab, isolierten sich von den Rassen, während sie allein oder in kleinen Gruppen danach strebten, die Geheimnisse der alten Wissenschaften zu meistern. Die meisten stützten sich auf das vorhandene Material, das Wissen einzelner Mitglieder in Beziehung zu dem des ganzen Rates, um die alten Methoden, Energie zu zähmen, neu anzuwenden. Aber manche gaben sich damit nicht zufrieden. Einige vertraten die Meinung, man solle, statt die Worte und Gedanken der Alten besser zu verstehen, bemüht sein, das sofort verfügbare Wissen konkret anzuwenden und im Zusammenhang mit neuen Ideen und neuen Erkenntnissen weiterzuentwickeln.

So kam es, daß einige Mitglieder des Rates unter der Führung eines gewissen Brona sich mit den alten Rätseln befaßten, ohne das volle Verstehen der alten Wissenschaften abzuwarten.

Sie hatten phänomenale Gehirne, manche waren Genies, und sie wollten unbedingt erfolgreich sein; sie waren ungeduldig, jene Macht zu beherrschen, die den Rassen so nützlich sein würde. Aber durch einen schicksalhaften Zufall führten ihre Entdeckungen und Entwicklungen sie von den Wegen des Rates immer weiter fort. Die alten Wissenschaften waren für sie Rätsel ohne Lösungen, und so wichen sie auf andere Gebiete des Denkens aus und befaßten sich immer mehr mit Dingen, die noch niemand gemeistert hatte und keiner als Wissenschaft bezeichnete. Was sie zu entschleiern begannen, war die unendliche Macht des Mystischen — die Zauberei!

Sie vermochten einige mystische Geheimnisse zu enträtseln, bevor der Rat aufmerksam wurde und ihnen befahl, diese Versuche einzustellen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, und die Anhänger Bronas verließen den Rat im Zorn, entschlossen, ihren Weg weiterzugehen. Sie verschwanden und wurden nicht wieder gesehen.« Er verstummte für Augenblicke und dachte über seine Worte nach.

Seine Zuhörer warteten ungeduldig. »Wir wissen jetzt, was in den folgenden Jahren geschah. Bei seinen Studien entdeckte Brona die tiefsten Geheimnisse der Zauberei und begann sie zu beherrschen. Vergessen waren die alten Wissenschaften und ihr Sinn in der Welt des Menschen. Vergessen war der Druiden-Rat und sein Ziel, eine bessere Welt zu schaffen. Vergessen war alles außer dem Drang, mehr von den mystischen Künsten zu erfahren, die Geheimnisse der Kraft des Geistes kennenzulernen, in andere Welten zu greifen.

Brona war besessen von dem Trieb, seine Macht zu erweitern — die Menschen und ihre Welt durch die Beherrschung dieser furchtbaren Kraft unter seinen Einfluß zu zwingen. Die Folge seines Ehrgeizes war der berüchtigte Erste Krieg der Rassen, als er seinen Einfluß auf die schwachen und verwirrten Gemüter der menschlichen Rasse dahingehend geltend machte, daß dieses unglückliche Volk die anderen Rassen mit Krieg überzog, um sie dem Willen eines Mannes zu unterwerfen, der kein Mensch mehr war, nicht einmal mehr Herr über sich selbst.«

»Und seine Anhänger?« fragte Menion.

»Opfer wie er. Sie wurden Diener ihres Herrn, alle Sklaven der unheimlichen Zaubermacht.« Allanons Stimme verklang zögernd, als wolle er noch etwas hinzufügen, sei sich aber der Wirkung auf seine Zuhörer nicht gewiß. Er besann sich eines Besseren und fuhr fort: »Die Tatsache, daß diese unglücklichen Druiden gerade auf das Gegenteil dessen stießen, was sie suchten, ist allein schon eine Lehre für den Menschen.

Mit Geduld hätten sie vielleicht die fehlenden Bindeglieder zu den alten Wissenschaften zusammenfügen können, statt die furchtbare Kraft der Geisterwelt freizulegen, die sich gierig von ihren ungeschützten Gemütern nährte, bis sie verschlungen waren. Der menschliche Geist ist nicht ausgerüstet, den Wirklichkeiten körperlosen Daseins in dieser Sphäre standzuhalten. Es ist zuviel, als daß ein Sterblicher das lange ertragen könnte.« Wieder verfiel er in ein bedeutungsschwangeres Schweigen. Die Zuhörer begriffen nun, was für einen Gegner sie zu übertölpeln versuchten. Sie standen gegen einen Mann, der nicht länger ein Mensch war, sondern die Projektion einer ungeheuren Kraft jenseits ihres Fassungsvermögens, einer so grenzenlosen Macht, daß Allanon befürchtete, sie könne dem menschlichen Geist etwas anhaben.

»Den Rest kennt ihr schon«, sagte Allanon mit scharfer Stimme. »Das Wesen namens Brona, das nichts Menschliches mehr an sich hat, war die lenkende Kraft hinter beiden Rassen-Kriegen. Die Träger der Totenschädel sind die Anhänger ihres alten Oberherren Brona, jene Druiden, die einst menschliche Gestalt hatten und zum Rat von Paranor gehörten.

Sie können ihrem Schicksal ebensowenig entrinnen wie er. Die Erscheinungen, die sie annehmen, sind selbst eine Verkörperung des Bösen, das sie vertreten. Aber was für unsere Absichten noch wichtiger ist, sie stellen für die Menschheit, für die Völker aller vier Länder, ein neues Zeitalter dar.

Während die alten Wissenschaften in unserer Geschichte verschwunden sind, so vergessen wie die Jahre, als Maschinen das Himmelsgeschenk eines leichten Lebens waren, ist an ihre Stelle der Bann der Zauberei getreten — eine mächtigere, gefährlichere Bedrohung des menschlichen Lebens als jede andere davor. Wir leben im Zeitalter des Hexenmeisters, und seine Macht droht uns alle zu verschlingen.«

Es blieb einen Augenblick still. Auf dem nächtlichen Wald lastete tiefes Schweigen, als Allanons Worte zwischen den Bäumen verhallt waren.

»Was ist das Geheimnis des Schwertes von Shannara?« fragte Shea schließlich mit leiser Stimme.

»Im Ersten Krieg der Rassen war die Macht des Druiden Brona begrenzt«, erwiderte Allanon beinahe flüsternd. »Die vereinigte Macht der anderen Rassen, zusammen mit dem Wissen des Druiden-Rates, besiegte deshalb seine Menschenarmee und trieb ihn in ein Versteck. Er hätte vielleicht auf gehört zu sein, und das Ganze wäre ein abgeschlossenes Kapitel mehr in der Geschichte gewesen — ein historischer Krieg mehr zwischen Sterblichen —, wäre es ihm nicht gelungen, das Geheimnis zu entschlüsseln, seine geistige Essenz zu bewahren, lange nachdem seine sterblichen Überreste zu Staub hätten zerfallen sollen. Auf irgendeine Weise erhielt er seinen eigenen Geist, nährte ihn mit der Macht der mystischen Kräfte, die er nun besaß, verlieh ihm ein Leben abseits des Materiellen, abseits des Sterblichen. Er war nun fähig, eine Brücke zwischen den beiden Welten zu schlagen — der Welt, in der wir leben, und der Geisterwelt dahinter, wo er die schwarzen Schatten rief, die Jahrhunderte geschlummert hatten, und auf die Zeit wartete, in der er zurückschlagen konnte. Während er wartete, sah er die Rassen sich auseinanderleben, wie er es vorausgesehen, und die Macht des Druiden-Rates abnehmen, als ihr Interesse an den Rassen verkümmerte. Wie alle bösen Dinge wartete er, bis das Maß an Haß, Neid und Habgier — die menschlichen, allen Rassen gemeinsamen Schwächen — das Gute und Freundliche überwog, und dann schlug er zu.

Er gewann leicht die Herrschaft über die primitiven, streitbaren Gebirgstrolle der Charnal-Berge, verstärkte ihre Zahl mit Wesen der Geisterwelt, der er nun diente, und seine Armee marschierte gegen die entzweiten Rassen.

Wie ihr wißt, besiegten sie den Druiden-Rat und vernichteten ihn- alle, bis auf wenige, die fliehen konnten. Einer von jenen, die entkamen, war ein alter Mystiker namens Brimen, der die Gefahr vorausgesehen und die anderen vergeblich gewarnt hatte. Als Druide war er ursprünglich Historiker gewesen und hatte in dieser Eigenschaft den Ersten Krieg der Rassen studiert und von Brona und seinen Anhängern erfahren. Angeregt von dem, was sie zu erreichen versucht hatten, und voll Argwohn, daß der rätselhafte Druide vielleicht Kräfte erworben haben könnte, die niemand kannte oder gegen die keiner aufzukommen vermochte, begann Brimen sich selbst mit den mystischen Künsten zu befassen, aber mit größerer Behutsamkeit und Angst vor den Kräften, die er möglicherweise würde freisetzen können. Nach einigen Jahren gewann er die Überzeugung, daß Brona tatsächlich noch existierte, daß der nächste Krieg gegen die Menschheit ausbrechen und zuletzt von den Mächten der Zauberei und schwarzen Magie entschieden werden würde. Ihr könnt euch vorstellen, wie man auf diese Theorie reagierte — er wurde aus Paranor praktisch hinausgeworfen. Danach meisterte er die mystischen Künste auf eigene Paust und war nicht zugegen, als die Burg von Paranor der Troll-Armee erlag. Als er erfuhr, daß der Rat besiegt war, wußte er, daß die Rassen dem Zauber wehrlos gegenüberstehen würden, wenn er nicht handelte.

Brona beherrschte Kräfte, von denen Sterbliche nichts ahnten.

Brimen stand vor dem Problem, eine Kreatur zu besiegen, die von keiner Waffe aus sterblicher Hand berührt werden konnte, eine Kreatur, die mehr als fünfhundert Jahre überlebt hatte. Er ging zur größten Nation seiner Zeit — den Elfen unter der Führung eines tapferen jungen Königs namens Jerle Shannara — und bot seine Unterstützung an. Das Elfen-Volk hatte Brimen stets geachtet, weil es ihn besser verstand, als das seine Genossen taten. Er hatte seit Jahren vor dem Fall Paranors bei ihnen gelebt und die Wissenschaft des Mystischen studiert.«

»Einen Punkt verstehe ich nicht«, sagte Balinor. »Wenn Brimen ein Meister der mystischen Künste war, warum konnte er nicht selbst die Macht des Dämonen-Lords herausfordern?«

Allanons Antwort wirkte ausweichend:

»Er stellte sich Brona schließlich auf den Ebenen von Streleheim, wenn auch dieser Kampf für sterbliche Augen nicht sichtbar war, und beide verschwanden. Man nahm an, Brimen habe den Geister-König besiegt, aber die Zeit hat erwiesen, daß dem nicht so war, und nun...« Er zögerte nur einen Augenblick, bevor er den Faden wiederaufnahm, aber die Bedeutung der Pause war seinen Zuhörern klar. »Jedenfalls begriff Brimen eines: Was man brauchte, war ein Talisman als Schild gegen die mögliche Rückkehr eines Brona zu einer anderen Zeit, in der niemand mit den mystischen Künsten mehr vertraut sein mochte, um den Völkern der vier Länder Hilfe zu gewähren. So entwickelte er die Idee von einem Schwert, einer Waffe mit der Macht, den Dämonen-Lord zu besiegen.

Brimen schmiedete das Schwert von Shannara mit Hilfe seiner eigenen mystischen Fähigkeiten, formte es mit mehr als dem bloßen Metall unserer eigenen Welt, verlieh ihm die besondere schützende Eigenschaft aller Talismane gegen das Unbekannte. Das Schwert sollte seine Kraft aus dem Geist von Sterblichen beziehen, für die es als Schild wirkte — die Macht des Schwertes war ihr eigenes Bestreben, frei zu sein, sogar ihr Leben dafür hinzugeben, diese Freiheit zu bewahren.

Das war die Macht, die es Jerle Shannara ermöglichte, die von Geistern beherrschte Nordland-Armee zu besiegen; es ist dieselbe Macht, die nun dazu gebraucht werden muß, den Dämonen-Lord in die Höllenwelt zurückzuschicken, wohin er gehört, ihn dort für alle Zeit festzubannen, ihm den Rückweg in diese Welt für ewig zu versperren. Aber solange das Schwert in seinem Besitz ist, bleibt ihm die Möglichkeit, zu verhindern, daß seine Macht gegen ihn gebraucht wird, und das, meine Freunde, darf nicht sein.«

»Aber woher kommt es, daß nur ein Sohn des Hauses Shannara.«, begann Shea stockend.

»Das ist die größte Ironie von allem!« rief Allanon. »Wenn ihr alles verfolgt habt, was ich über die Wandlungen des Lebens nach den Großen Kriegen berichtet habe, werdet ihr verstehen, was ich nun erklären will — die seltsamste Erscheinung von allen. Während die alten Wissenschaften nach praktischen Theorien wirkten, aufgebaut auf Dingen, die man sehen, berühren und fühlen konnte, wirkt die Zauberei unserer eigenen Zeit nach einem völlig anderen Prinzip. Ihre Macht ist nur dann wirksam, wenn an sie geglaubt wird, denn sie ist Macht über den Geist, die man mit menschlichen Sinnen weder berühren noch sehen kann. Wenn der Geist nicht wirklich eine Grundlage für den Glauben an ihr Vorhandensein finden kann, besitzt sie keine echte Wirkung. Der Dämonen-Lord weiß das, und die Angst und der Glaube an das Unbekannte — die Welten, die Wesen, alle die Geschehnisse, die von den begrenzten Sinnen der Menschen nicht begriffen werden können — bieten ihm als Grundlage mehr als genug, um seine mystischen Kräfte zu praktizieren. Darauf verläßt er sich seit über fünfhundert Jahren. Ebenso kann das Schwert von Shannara keine wirksame Waffe sein, wenn derjenige, der es gebraucht, nicht an seine Kraft glaubt. Als Brimen Jerle Shannara das Schwert gab, beging er den Fehler, es direkt einem König und einem Königshaus zu übergeben — er übergab es nicht dem Volk. Daraus erwuchs durch menschliches Mißverständnis und historische Fehlbeurteilung der allgemeine Glaube, daß das Schwert allein die Waffe des Elfen-Königs sei, und nur jene, die von ihm abstammten, das Schwert gegen den Dämonen-Lord erheben konnten. So kommt es, daß jetzt, wenn es nicht von einem Sohn des Hauses Shannara ergriffen wird, die Person nie ganz an ihr Recht glauben kann, es zu gebrauchen. Die uralte Tradition, daß nur ein solcher es führen kann, wird alle anderen zweifeln lassen — und es darf keinen solchen Zweifel geben, sonst wirkt es nicht und wird nur ein Stück Metall sein. Nur das Blut und der Glaube eines Nachkommen von Shannara können die schlummernde Kraft des großen Schwertes wecken.« Er war zum Schluß gekommen. Das Schweigen danach schien auf allen zu lasten. Allanon bedachte noch einmal, was er sich selbst versprochen hatte. Er hatte ihnen nicht alles erzählt, sondern bewußt das zurückgehalten, das für sie das Maß des Entsetzens vollgemacht hätte. Er fühlte sich innerlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, alles auszusprechen, und der nagenden Erkenntnis, daß es jede Aussicht auf Erfolg zunichte machen würde.

»Dann kann Shea das Schwert nur gebrauchen«, sagte Balinor plötzlich.

»Nur Shea hat das Geburtsrecht. Nur Shea.«

Es war so still, daß das nächtliche Leben im Wald verstummt zu sein schien.

»Geht jetzt«, sagte Allanon. »Schlaft, solange ihr könnt. Wir verlassen diese Zuflucht bei Sonnenaufgang, um zu den Hallen von Paranor zu gelangen.«

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