30

Am Morgen des dritten Tages der Suche nach Orl Fane ließen die wolkenbruchartigen Regenfälle, die auf das weite, unfruchtbare Nordland hernieder gegangen waren, nach, und die Sonne erschien wieder als eine trübe, undeutliche Scheibe aus weißem Feuer, herableuchtend durch die nebelige Dunkelheit, die das Fortschreiten der schwarzen Mauer des Dämonen-Lords zurückgelassen hatte. Durch den Sturm war das Gelände völlig verändert worden, die Regenfälle hatten nahezu alle erkennbaren Merkmale weggeschwemmt und in sämtlichen vier Himmelsrichtungen den gleichen Horizont aus Hügeln und Schlammtälern hinterlassen.

Zuerst war das Wiedererscheinen der Sonne ein willkommener Anblick. Ihre Strahlen durchdrangen die verhasste Düsternis, die auf der nackten Erdoberfläche lag, und vertrieben die vom Sturm hervorgerufene Kälte. Erneut begann sich die Landschaft zu verändern, als die Temperatur anstieg. Binnen einer einzigen Stunde war letztere um fünfzehn Grad geklettert und schien noch weiter steigen zu wollen. Die Flüsse in den gewundenen Tälern begannen zu dampfen, und die Luftfeuchtigkeit nahm zu, bis sie alles durchtränkte.

Das schwächliche Pflanzenleben, wiedererstanden nach dem wüsten Sturm, welkte in der Hitze, die schlammige Erde wurde zu hartgebackenem, rissigem Lehm, der kein Leben zu dulden schien. Die Flüsse, Seen und Pfützen begannen rasch auszutrocknen und verschwanden mit erschreckender Schnelligkeit. Die Oberfläche der auf dem versengten Land liegenden Felsblöcke nahm die Hitze auf wie Eisen in rötlicher Glut. Langsam und unerbittlich wurde das Land wieder zu dem, was es vor dem Regensturm gewesen - ein ausgetrocknetes, unfruchtbares Gebiet ohne Leben, stumm und unheimlich unter dem riesigen, wolkenlosen Himmel. Die einzige Bewegung kam vom langsamen, gewölbten Weg der Sonne, die alters los ihrer Bahn von Osten nach Westen folgte, Tage in Jahre und Jahre in Jahrhunderte verwandelte.

Drei gebückte Gestalten traten vorsichtig aus einer Felsnische eines der zahllosen nackten Hügel. Ihre Körper richteten sich langsam auf, ihre Augen starrten grimmig in die Ferne. Sie blieben lange stehen und blickten auf das sterbende Land, das sich ins Endlose zu erstrecken schien, ein trostloser Friedhof felsiger Grabhügel, die sterblichen Überreste jener deckend, die sich in dieses verbotene Reich gewagt hatten. Absolute Stille lag über dem Land und lastete mit unausgesprochener Todesdrohung auf den Gemütern der drei lebenden Wesen. Sie standen in angstvoller Wachsamkeit beieinander und starrten in die Öde ringsum.

Shea wandte sich seinen Begleitern zu. Panamon Creel reckte sich und massierte seine Arme und Beine, um die betäubten Muskeln wieder zu wecken. Seine schwarzen Haare waren zottig und zerzaust, sein breites Gesicht von Bartstoppeln bedeckt. Er wirkte hager, aber seine scharfen Augen glühten, als er Sheas fragendem Blick begegnete. Der riesige Keltset war lautlos auf den Hügelkamm gestiegen und betrachtete den nördlichen Horizont.

Sie hatten fast drei Tage lang in der Felsnische zusammengekauert gesessen, während der ungezähmte Nordlandsturm die leeren Weiten durchtobt hatte. Drei Tage waren verlorengegangen bei der Verfolgung Orl Fanes und bei der Suche nach dem Schwert von Shannara - drei Tage, in denen alle Spuren des flüchtigen Gnomen verwischt worden waren. Sie hatten sich zwischen den Felsvorsprüngen zusammengedrängt, gegessen, weil es nötig war, geschlafen, weil nichts anderes zu tun blieb. Die Gespräche hatten dazu geführt, dass Shea und Panamon einander besser verstehen lernten, nur Keltset blieb nach wie vor ein Rätsel. Shea blieb bei seiner Ansicht, sie hätten den Sturm nicht beachten und den Gnom weiterverfolgen sollen, aber Panamon ließ sich davon nicht überzeugen. In einem solchen Unwetter konnte man nicht weit kommen, und auch Orl Fane, meinte Panamon, würde gezwungen sein, irgendwo Unterschlupf zu suchen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, von einer Schlammlawine oder einem der reißenden Flussläufe erfasst zu werden. Auf jeden Fall könne der Gnom nicht weit gekommen sein, behauptete Panamon. Keltset stieg vom Hügelkamm herunter und machte eine weit ausholende Armbewegung. Keine Spur von dem Verfolgten.

Es gab keine weitere Diskussion darüber, was zu tun sei. Der Beschluss war bereits gefasst. Sie packten ihre bescheidene Habe zusammen, stapften den steilen Hang hinunter und wählten die Richtung nach Norden. Zur Abwechslung waren Shea und Panamon einmal einer Meinung. Die Suche nach dem Schwert von Shannara war zu mehr als zu einer Sache verletzten Stolzes geworden, zu mehr als zu einer Mission, einen geheimnisvollen Talisman zu finden. Sie war zu einer gefährlichen, wilden Jagd nach dem einen Mittel geworden, das ihr Überleben in dieser Wildnis garantieren konnte.

Die Festung des Dämonen-Lords lag zwischen den hohen, schwarzen Gipfeln im Norden. Hinter ihnen ragte die tödliche Nebelwand auf, die dazu diente, die Grenze des Schädelreiches zu bezeichnen. Um aus dieser verhassten Gegend zu entkommen, mussten sie die eine oder die andere Richtung wählen. Das Naheliegende wäre gewesen, den Rückweg durch die nebelige Dunkelheit zu nehmen, aber während die Elfensteine ihnen den Weg zum Südland zeigen mochten, musste ihr Gebrauch der Geisterwelt auch ihre Anwesenheit verraten. Allanon hatte Shea das schon in Culhaven klargemacht, und Shea hatte es an Panamon weitergegeben. Das Schwert von Shannara war die einzige Waffe, die sie vor dem Dämonen-Lord schützen konnte, und wenn sie es in ihren Besitz bringen konnten, bot sich ihnen wenigstens eine Aussicht, ihr Leben zu verteidigen. Ihr Plan sah vor, den Talisman an sich zu bringen und durch die Mauer der Dunkelheit zurückzukehren, so schnell es ging. Gewiss keine geniale Strategie, aber unter den vorherrschenden Umständen musste sie genügen. Sie kamen so langsam voran wie vor dem Sturm. Der Boden war steinhart und übersät mit Geröll und Kies, so dass die Füße kaum Halt fanden. Die drei kletterten mühsam über die Hügel und waren bald von Staub und Schweiß bedeckt. Wegen der Unübersichtlichkeit des Geländes fiel es schwer, sich zu orientieren, und es erwies sich fast als unmöglich, festzustellen, wie weit sie vorangekommen waren. Es gab keine Merkmale, woran sie sich halten konnten, in jeder Richtung sah die Landschaft gleichartig aus. Die Minuten verrannen nur langsam, ohne dass irgend etwas zu entdecken gewesen wäre. Die Feuchtigkeit nahm immer noch zu, und die Kleidung der drei Weggenossen war bald völlig durchgeschwitzt. Sie legten ihre Umhänge ab und banden sie sich auf den Rücken; wenn die Nacht herabsank, würde es wieder kühl werden.

»Das ist die Stelle, wo wir ihn zuletzt gesehen haben.«

Panamon stand regungslos auf dem Kamm eines breiten Hügels, den sie eben erstiegen hatten, und atmete schwer. Shea klomm zu ihm hinauf und schaute sich ungläubig um. Ein Hügel glich dem anderen, wohin er auch sah. Er blickte zweifelnd zum Horizont. Von hier aus wusste er nicht einmal genau zu sagen, aus welcher Richtung sie gekommen waren.

»Keltset, was siehst du?« fragte Panamon.

Der Berg-Troll ging herum und suchte den Boden nach Spuren des Gnoms ab, aber der Sturm schien alles verwischt zu haben. Er erkundete minutenlang die Umgebung, dann schüttelte er den Kopf. Panamons Gesicht wurde zornrot.

»Er war hier. Gehen wir ein Stück weiter.«

Sie machten sich stumm auf den Weg, rutschten den Hang hinunter und kletterten den nächsten Hügel hinauf. Sie berieten sich nicht mehr miteinander. Wenn Panamon sich irrte, war es nicht zu ändern; niemand hatte eine bessere Idee. Eine Stunde verging, während sie weiter nach Norden marschierten. Immer noch nichts. Shea begann einzusehen, wie aussichtslos ihr Unterfangen war. Es war unmöglich, das ganze Land im Osten und Westen abzusuchen; wenn der verschlagene Gnom auch nur hundert Meter nach der einen oder anderen Seite abgewichen war, würden sie wohl nie mehr auf seine Fährte stoßen. Vielleicht war er aber im Wirbelsturm auch von einer Schlammlawine mitgerissen worden, zusammen mit dem Schwert; in diesem Fall bestand keinerlei Aussicht, ihn jemals wiederzufinden, auch wenn sie sich noch so anstrengen mochten.

Sheas Muskeln schmerzten von den mühsamen Aufstiegen, und er überlegte, ob er eine Pause verlangen sollte, damit sie ihre Entscheidung, in dieser Richtung weiterzugehen, doch noch einmal überdenken konnten. Ein Blick auf Panamons finsteres Gesicht genügte aber, um ihn davon abzubringen. Der hochgewachsene Abenteurer hatte denselben Ausdruck, wie Shea ihn bei ihm wahrgenommen hatte, bevor Panamon über die Gnomen hergefallen war und sie getötet hatte. Er war wieder zum Jäger geworden. Sollte Panamon Orl Fane entdecken, so war der Gnom ein toter Mann. Shea schauderte unwillkürlich.

Einige Hügel weiter fanden sie eine Spur, die ihnen willkommen war. Keltset entdeckte sie von einer Anhöhe aus. Seine scharfen Augen erkannten das Objekt halb begraben in einer kleinen Schlucht. Er wies den beiden anderen die Richtung, schlitterte den Hügel hinunter und hastete auf den Gegenstand zu, um ihn aufzuheben und den anderen zu präsentieren. Es war ein langer Stoffstreifen - Teil eines Ärmels. Sie starrten ihn eine Weile an, dann blickte Shea fragend auf Keltset, um Bestätigung dafür zu erhalten, dass es sich wirklich um einen Fetzen von Orl Fanes Kleidung handelte. Der Riesentroll nickte. Panamon Creel spießte den Stoffstreifen mit seiner Pike auf und lächelte grimmig.

»Wir haben ihn also wiedergefunden. Diesmal entkommt er uns nicht.«

Aber sie fanden ihn nicht mehr an diesem Tag, so wenig wie sie neue Spuren zu entdecken vermochten. Im Staub hätten die Fußabdrücke des Gnomen deutlich erkennbar sein müssen, aber sie zeigten sich nirgends. Entgegen Panamons Vermutung war Orl Fane im Sturm offenbar doch weitergewandert, ohne von Schlammlawinen oder Flussläufen erfasst worden zu sein. Der Regen hatte seine Spuren weggewaschen, und es war nur einer Laune des Schicksals zu verdanken, dass der abgerissene Ärmel aufgetaucht war. Er konnte von überallher heruntergespült worden sein, so dass sich nicht sagen ließ, welche Richtung der Gnom genommen haben mochte. Als die Nacht hereinbrach, wurde es so dunkel, dass man kaum noch einen Schritt weit sehen konnte. Die Suc he musste abgebrochen werden. Während Keltset die erste Wache übernahm, sanken Panamon und Shea erschöpft zu Boden und schliefen beinahe augenblicklich ein. Die Nachtluft war kühl und immer noch feucht, so dass die drei sich wieder in die halb getrockneten Jagdmäntel wickelten.

Der Morgen kehrte allzu schnell mit seinem Nebelgrau zurück. Der Tag brachte nicht so viel Feuchtigkeit wie der vorangegangene, war aber nicht heiterer; die Sonne wurde von dem bleiernen Nebel fast ganz verhüllt. Die Totenstille hielt an, und die drei Männer schauten sich mit einem unheimlichen Gefühl um. Sie glaubten, von der ganzen Welt abgeschnitten zu sein. Die endlose Leere begann, auf Shea und Panamon eine deutliche Wirkung auszuüben. Shea war in den vergangenen Tagen nervös und unsicher geworden, und Panamon, sonst fast immer fröhlich und gesprächig, gab sich immer wortkarger. Allein Keltset blieb unverändert. Seine Miene war ausdruckslos wie immer.

Sie verzehrten ein bescheidenes Frühstück und nahmen die Verfolgung wieder auf, wenngleich widerwillig; ihr einziger Wunsch bestand darin, die Sache zu Ende zu bringen. Sie machten weiter, weil sie zum einen keine andere Möglichkeit sahen, zum anderen aus reiner Selbsterhaltung. Panamon und Shea gaben sich zwar keine Rechenschaft darüber, aber die Frage war, weshalb Keltset die Suche fortsetzte. Er befand sich in vertrauter Umgebung und hätte wohl auch allein überleben können, wenn er es vorgezogen hätte, sich abzusondern. Die beiden Männer hatten erfolglos versucht, Keltsets Beweggründe dafür zu erkennen, warum er während des dreitägigen Regens bei ihnen geblieben war. Nun, zu erschöpft, um der Sache tiefer auf den Grund zu gehen, akzeptierten sie mit ein wenig Argwohn seine Gegenwart und hofften darauf, dass sie erfahren würden, wer und was er sei, bevor die Reise zu Ende ging. Sie stapften weiter durch Staub und Dunst, während aus dem Morgen dumpfer Mittag wurde.

Schlagartig blieb Panamon stehen.

»Spuren!«

Der hochgewachsene Dieb stieß einen Freudenschrei aus und stürzte hinunter in eine kleine Talenge zu ihrer Linken. Keltset und Shea starrten ihm verblüfft nach. Augenblicke später knieten sie alle drei vor einer Reihe im Staub deutlich abgezeichneter Fußabdrücke. Deren Herkunft war unverkennbar; selbst Shea erkannte, dass sie von Gnomenstiefeln stammten. Die Absätze waren abgetreten und rissig. Die Fährte war frisch und führte nach Norden, verlief aber im Zickzack, so dass es den Anschein hatte, als laufe Orl Fane, um den allein es sich handeln konnte, ziellos herum. Sie sahen einander an und erhoben sich auf Panamons drängende Geste. Die Fährte war erst wenige Stunden alt, und nach dem unregelmäßigen Verlauf zu schließen, würde Orl Fane leicht einzuholen sein. Panamon vermochte die Freude über seinen Fund kaum zu verbergen. Wortlos schulterten die drei Männer wieder ihre Habseligkeiten und marschierten mit grimmiger Entschlossenheit nach Norden. Es musste heute noch gelingen, Orl Fane einzuholen.

Die Spur, die der Gnom hinterlassen hatte, wand sich auf verwirrende Weise zwischen den staubbedeckten Hügeln des unteren Nordlandes dahin. Manchmal führte der Weg direkt nach Osten, und einmal verlief er sogar in entgegengesetzter Richtung. Der Nachmittag zog sich endlos dahin, und obwohl Keltset andeutete, dass die Spur frischer wurde, schienen sie nicht merklich aufzuholen. Wenn es dunkel werden sollte, bevor sie des Gnoms ansichtig wurden, bestand die große Gefahr, dass sie ihn erneut verloren. Sie waren aber nicht gewillt, das ein drittes Mal zuzulassen, und Shea hatte sich im stillen geschworen, Orl Fane notfalls sogar in der Dunkelheit weiterzuverfolgen.

Die Riesengipfel des unheimlichen Schädelreiches ragten in der Ferne drohend empor, mit schwarzen, scharfen Spitzen, die sich als Messer in den Himmel zu bohren schienen. In Sheas Gemüt nistete sich ein Angstgefühl ein, das er nicht abzuschütteln vermochte, das im Gegenteil immer stärker wurde, je weiter sie in das Nordland vordrangen. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass er sich mehr aufgeladen hatte, als ursprünglich vorauszusehen gewesen war, dass die Suche nach Orl Fane und dem Schwert von Shannarain Wahrheit nur Bestandteil eines viel umfassenderen Planes war. Das Angstgefühl war noch nicht stark genug, um ihn in Panik zu versetzen, aber es drängte ihn mit unwiderstehlicher Kraft, dieser irrsinnigen Jagd ein Ende zu bereiten und den Rückweg in seine Heimat anzutreten.

Es war später Nachmittag, als sich das Hügelland zu einer welligen Ebene abflachte, auf der die drei Männer weiter blicken und zum erstenmal seit dem Durchschreiten der schwarzen Wand auch ganz aufrecht und beinahe entspannt gehen konnten. Das Land breitete sich vor ihnen mit atemberaubender Nacktheit aus, eine trostlose, leere Ebene aus brauner Erde und grauem Gestein, die sich bis zu den hohen Gipfeln an der Grenze des Schädelreiches, der Heimat des Dämonen-Lords, erstreckte. Das Flachland endete im Norden an Felsmassen und gebirgigem Gratland, das in Stufen zu den dräuenden Gipfeln hinaufführte. Die ganze Weite, nackt, heiß und trist, war eingehüllt in unheimliche, tödliche Stille. Nichts regte sich, kein Wesen huschte vorbei, kein Insekt summte, kein Vogel flog, nicht einmal der Wind strich über die Staubschichten. Überall dieselbe trostlose Leere, unberührt von Leben, gezeichnet vom Tod. Die gewundenen Spuren Orl Fanes verschwanden in der Ferne. Es war, als habe das Land ihn verschluckt.

Die Verfolger blieben einige Minuten stehen, und auf ihren Gesichtern malte sich das Widerstreben, dieses unfreundliche Land zu betreten. Es blieb aber wenig Zeit, das Für und Wider zu erwägen. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Die Zickzackfährte war in der gewellten Ebene auf größere Entfernung zu überblicken, und die drei Verfolger konnten es sich ersparen, jedem einzelnen Fußabdruck zu folgen. Sie kamen schnell voran. Nach einiger Zeit zeigte Keltset an, dass der Vorsprung des Fliehenden keine ganze Stunde mehr betrug. Die Dämmerung nahte aber rasch, und die Sonne tauchte unter einen zerrissenen Horizont im Westen. Das Zwielicht wurde noch verdüstert durch den allgegenwärtigen grauen Dunst, und das Gelände nahm verschwommene Umrisse an.

Die drei waren dem Gnomen in ein tiefes Tal gefolgt, das umstellt war von hohen Graten, überhängenden Felsen und schroffen Gesteinsformationen. Das verblassende Sonnenlicht verlor sich in den Schatten des dunklen Tales fast völlig, und Panamon Creel, der schon vor einiger Zeit die Führung übernommen hatte, musste die Augen anstrengen, um im Staub die Fußabdrücke noch erkennen zu können. Ihre Schritte verlangsamten sich, während Panamon sich immer tiefer zum Boden hinunterbücken musste. Panamon Creel war so gefesselt von seiner Suche, dass es beinahe wie ein Schock wirkte, als die Spur plötzlich aufhörte. Shea und Keltset standen augenblicklich neben ihm, und erst die genaue Untersuchung des Bodens ringsum verriet, dass jemand die Fährte des Gnomen sorgfältig verwischt hatte.

Im selben Augenblick lösten sich die riesigen schwarzen Erscheinungen aus den Schatten des Tales und tappten im düsteren Zwielicht schwerfällig vorwärts. Shea entdeckte sie als erster, glaubte jedoch zunächst, einer Sinnestäuschung zu erliegen. Panamon begriff schneller, was sich abspielte. Er sprang hoch, zog ein großes Breitschwert und hob die Pike. Er war im Begriff, den sich schließenden Ring durchbrechen zu wollen, aber Keltset handelte auf überraschende Weise. Er sprang vor und zog den erstaunten Dieb zurück. Panamon starrte seinen stummen Begleiter fassungslos an, dann ließ er zögernd die Waffen sinken. Die drei Männer waren von mindestens einem Dutzend wachsamer Gestalten umringt, und selbst im Zwielicht wurde dem entsetzten Shea klar, dass sie an eine Schar von Berg-Trollen geraten waren.

Der Trupp erschöpfter Elfen-Reiter zügelte die verschwitzten Pferde. Man blickte geistesabwesend hinunter ins breite Rhenn-Tal. Zwei Meilen weit dehnte sich das Tal in östlicher Richtung vor ihnen, und die hohen Hänge an beiden Seiten endeten in scharfen Graten über verkümmerten Bäumen und Unterholz. Der legendäre Pass diente seit über tausend Jahren als Durchgang von den unteren Streleheim-Ebenen zu den riesigen Wäldern des Westlandes. Er war eine natürliche Tür zur Heimat der Elfen. An diesem berühmten Pass war die erschreckende Macht der dem Dämonen-Lord unterstehenden Heere von den Elfen-Legionen und Jerle Shannara gebrochen worden. Hier war Brona dem alten Brimen und der geheimnisvollen Kraft des Schwertes von Shannara entgegengetreten und hatte die Flucht ergreifen müssen - zusammen mit seinen Armeen auf dem Rückzug in die Ebene, wo ihn die vorrückenden Zwergenarmeen aufgehalten, gestellt und besiegt hatten. Der Rhenn-Pass hatte den Beginn vom Ende der größten Bedrohung erlebt, der sich die Welt seit den verheerenden Großen Kriegen ausgesetzt gesehen hatte, und die Menschen aller Rassen betrachteten deshalb dieses friedliche Tal als historische Stätte. Sie war ein natürliches Denkmal der menschlichen Geschichte, das zu sehen manche um die halbe Welt zogen, damit auch sie sich als Teil dieses großen Ereignisses empfinden konnten.

Jon Lin Sandor gab Befehl, abzusteigen, und die Elfen-Reiter rutschten dankbar aus den Sätteln. Ihm ging es nicht um die Vergangenheit, sondern um die unmittelbare Zukunft. Sorgenvoll blickte er auf die mächtige schwarze Wand, die sich vom Nordland her über Streleheim hinzog und mit ihrem Nebelschatten den Grenzen des Westlandes und der Elfenheimat näherrückte. Seine scharfen Augen starrten hinüber zum östlichen Horizont, wo die Dunkelheit schon bis zu den Wäldern um die uralte Festung Paranor vorgedrungen war. Er schüttelte verbittert den Kopf und verfluchte den Tag, an dem er sich von seinem König und ältesten Freund getrennt hatte. Er war zusammen mit Eventine aufgewachsen, und als sein Freund die Königswürde erlangt hatte, war er als sein Berater und selbsternannter Leibwächter bei ihm geblieben. Gemeinsam hatten sie sich auf die Invasion der Armeen Bronas, des Geister-Lords, vorbereitet, von dem sie einmal geglaubt hatten, er sei im Zweiten Krieg der Rassen getötet worden. Der rätselhafte Wanderer Allanon hatte die Elfen-Völker gewarnt, und wenngleich manche geneigt gewesen waren, die Warnung in den Wind zu schlagen, verfiel Eventine nicht in diesen Fehler. Allanon hatte sich noch niemals geirrt; seine Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, war rätselhaft, aber erwiesen.

Die Elfen waren Eventines Rat gefolgt und hatten sich auf den Krieg vorbereitet, aber die Invasion hatte auf sich warten lassen. Dann war Paranor gefallen, und mit der Festung war das Schwert von Shannara verschwunden. Wieder war Allanon erschienen und hatte die Elfen aufgefordert, die Ebenen von Streleheim über Paranor zu überwachen, um jeden Versuch der Gnome zu verbinden, das Schwert aus der von ihnen besetzten Druidenfestung fortzuschaffen und nach Norden zu bringen in die Burg des Dämonen-Lords. Wieder hatten sich die Elfen ohne Einwände dazu bereit gefunden.

Aber das Unerwartete war eingetreten, und zwar gerade dann, als Jon Lin Sandor nicht beim König gewesen war. Die in Paranor verschanzten Gnomen hatten überraschend beschlossen, einen Durchbruch zu den sicheren Weiten des tiefen Nordlands zu unternehmen. Drei starke Abteilungen waren gegen die Elfen-Linien vorgestoßen. Eventine und Jon Lin hatten getrennte Truppen angeführt, um zwei dieser gegnerischen Einheiten abzufangen, und es wäre ihnen leicht gelungen, die Gnomen zu besiegen, hätte nicht eine Armee von Gnomen und Trollen, die Bestandteil des riesigen Nordland-Heeres war, eingegriffen. Jon Lins Truppen waren nahezu aufgerieben worden, und er war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Zu Eventine hatte er nicht gelangen können. Der Elfen-König war mit seinem ganzen Trupp verschwunden. Seit fast drei Tagen suchte Jon Lin Sandor nun schon nach ihm.

»Wir finden ihn, Jon Lin. So leicht ist er nicht unterzukriegen. Er wird sich durchschlagen.«

Der grimmige Elf nickte knapp und warf einen kurzen Blick auf den jungen Mann neben sich.

»Es ist seltsam, aber ich weiß, dass er lebt«, fuhr der andere fort. »Ich kann es nicht erklären, aber ich spüre das.«

Breen Elessedil war Eventines jüngerer Bruder; sollte sein Bruder sterben, würde er der nächste König der Westland-Elfen sein. Es war aber eine Position, für die er noch nicht bereit war, und erwünschte sie sich auch nicht. Seit Eventines Verschwinden hatte er nichts unternommen, um den Oberbefehl über die Elfen-Armeen oder den Königlichen Rat zu ergreifen, sondern er hatte sich sofort der Suche nach seinem Bruder angeschlossen. Aus diesem Grund herrschte in der Elfen-Regierung nahezu ein Chaos, und was noch vor zwei Wochen ein gegen die bevorstehende Invasion einiges Volk gewesen, stellte sich nun als unsichere, wirre Anhäufung getrennter Gruppen dar, voller Unruhe, weil niemand bereit war, die Führung zu übernehmen.

In hemmungslose Panik würde das Elfen-Volk zwar nicht verfallen; es war zu diszipliniert, um zuzulassen, dass alles auseinander fiel, aber Eventine war eine unbestreitbar machtvolle Persönlichkeit gewesen, und das Volk hatte sich bei seiner Thronbesteigung um ihn geschart. Noch jung, doch von ungewöhnlicher Charakterstärke und untrüglichem gesundem Menschenverstand, war er stets zur Stelle gewesen, um Rat und Tat beizusteuern, und man hatte auf ihn gehört. Die Gerüchte über sein Versehwinden hatten deshalb die Leute tief beunruhigt.

Sowohl Breen Elessedil als auch Jon Lin befassten sich mit nichts anderem als mit der Suche nach dem vermissten König. Nachdem sie Gnomen-Patrouillen umgangen hatten und der Hauptmasse der Nordland-Armee ausgewichen waren, hatten sie sich in dem kleinen abgelegenen Ort Koos frische Pferde und Vorräte verschafft, und nun waren sie erneut unterwegs, um ihren König zu finden.

Jon Lin Sandor glaubte zu wissen, wo Eventine zu finden war, wenn er noch lebte. Die riesige Nordland-Armee war vor fast einer Woche nach Süden weitergezogen, dem Königtum Callahorn entgegen, und sie würde nicht vorankommen, bis die berühmte Grenzlegion vernichtet war. Wenn Eventine in Gefangenschaft geraten war, wie Breen und er selbst glaubten, würden sie ihn als Geisel von höchstem Tauschwert bei den Kommandeuren des Invasionsheeres Bronas finden. Wenn Eventine Elessedil besiegt war, würden Städte, deren Führer ihm nicht ebenbürtig waren, leichter zur Übergabe neigen.

Auf jeden Fall erkannte der Dämonen-Lord die Bedeutung Eventines für sein Volk. Eventine war der beliebteste und geachtetste Führer, den die Elfen seit Jerle Shannara besessen hatten, und sie würden alles tun, um ihn zurückzuholen. Als Toter konnte er dem Geisterkönig nicht von Wert sein, und seine Hinrichtung mochte die Elfen so aufbringen, dass sie sich erneut zusammenrotteten, um Brona zu bekämpfen. Aber lebend war Eventine von unschätzbarem Wert, denn die Elfen würden das Leben ihres Lieblingssohnes nicht in Gefahr bringen wollen. Jon Lin Sandor und Breen Elessedil gaben sich nicht der Illusion hin, Eventine würde ihnen zurückgegeben werden, selbst wenn die Armee gegen die Invasion ins Südland nicht vorging. Sie handelten deshalb auf eigene Faust und vertrauten darauf, ihren Freund und Bruder zu finden, bevor er seine Nützlichkeit verlor - nach der Niederlage des Südlandes.

»Das genügt! Aufsitzen!« Jon Lins ungeduldige Stimme ertönte in der Stille, und die Reiter folgten hastig dem Befehl. Er starrte ein letztes mal zur fernen Schwärze hinüber, dann drehte er sich um und schwang sich auch auf sein Pferd. Breen war schon aufgesessen, und Sekunden später trabte der kleine Trupp ins Tal hinunter. Der Morgen war grau, die Luft roch noch nach dem Regen von gestern. Das hohe Gras war nass unter den Hufen. Tief im Süden konnte man über den Wolken einen Streifen blauen Himmels sehen. Es war ein kühler Tag, und die Elfen ritten in gezügeltem Tempo.

Sie erreichten das Talende und den östlichen Zugang zum Pass. Die Reiter unterhielten sich miteinander, wenngleich nur halblaut, da die Grenzen des Nordlandes unmittelbar hinter dem Pas lagen. Der Weg schlängelte sich zwischen den hohen Felswänden dahin und erreichte kurze Zeit danach die Ebene. Jon Lin blickte in die Weite und zügelte sein Pferd.

»Breen - ein Reiter!«

Der andere setzte sich mit seinem Pferd sofort neben ihn, und gemeinsam starrten sie hinüber zu dem weit entfernten Reiter. Genauer war er nicht zu erkennen. Einen Augenblick lang glaubte Breen, seinen Bruder vor sich zu haben, aber seine Hoffnung erlosch, als er bemerkte, dass der Mann zu klein war für Eventine. Auch reiten konnte er nicht so gut. Als er herankam, sahen sie, dass er sich mit Mühe am Sattelknopf festhielt. Sein breites Gesicht war schweißbedeckt. Er war kein Elf, sondern ein Südländer. Er brachte sein Pferd vor den Elfen zum Stehen und rang nach Atem. Sein Gesicht rötete sich, als er die belustigten Mienen der anderen sah.

»Ich bin vor ein paar Tagen einem Mann begegnet«, sagte der Fremde. »Er bat mich, Jon Lin Sandor, die rechte Hand des Elfen-Königs, aufzusuchen.«

Die Gesichter der Elfen wurden ernst.

»Ich bin Jon Lin Sandor«, sagte der Anführer des Trupps.

Der erschöpfte Reiter seufzte erleichtert und nickte.

»Ich bin Flick Ohmsford und komme bis von Callahorn, um Euch zu finden.« Er stieg unbeholfen ab und rieb sich den schmerzenden Rücken. »Wenn Ihr mir ein paar Minuten Zeit gebt, mich zu erholen, führe ich Euch zu Eventine.«

Shea marschierte schweigend zwischen zwei von den Berg-Trollen dahin. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Keltset ihn und Panamon verraten hatte. Der Hinterhalt war geschickt gelegt gewesen, aber sie hätten wenigstens versuchen können, sich zu wehren. Statt dessen hatten sie auf Keltsets unerwartetes Eingreifen hin auf Widerstand verzichtet und sich entwaffnen lassen. Shea hatte gehofft, dass Keltset einen der Trolle kannte oder, da er ihrer Rasse angehörte, sie dazu überreden würde, sie wieder freizulassen. Aber Keltset hatte nicht einmal versucht, mit den Trollen zu sprechen, sondern zugelassen, dass ihm auch die Hände gefesselt wurden. Nun wurden die drei Gefangenen nach Norden getrieben, hinein in die trostlose Ebene. Der kleine Talbewohner verfügte zwar immer noch über die Elfensteine, aber gegen die Trolle waren sie nutzlos.

Er starrte auf den breiten Rücken Panamons und fragte sich, was im Kopf des reizbaren Diebes vorgehen mochte. Panamon war über das Eingreifen seines stummen Begleiters so erstaunt gewesen, dass er seither kein Wort mehr von sich gegeben hatte. Offenkundig wollte er nicht glauben, dass er den schweigenden Riesen so falsch eingeschätzt haben sollte, dem er das Leben gerettet und auf dessen Freundschaft er sich verlassen hatte. Das Verhalten des Trolls war für sie beide ein Rätsel, aber während Shea nur verwundert war, schien Panamon Creel tief verletzt zu sein. Was sonst auch immer zwischen ihnen gewesen sein mochte, Keltset war sein Freund gewesen, der einzige, auf den sich verlassen zu können er geglaubt hatte. Aus der Fassungslosigkeit des Abenteurers würde bald Hass werden, und Shea wusste, dass es überaus gefährlich war, sich einen Mann wie Panamon Creel zum Feind zu machen.

Wohin sie gebracht wurden, war nicht erkennbar. Die Nordland-Nacht war von undurchdringlicher Schwärze, und Shea sah sich gezwungen, darauf zu achten, dass er nicht fortwährend stolperte, als der Weg zwischen Felsblöcken hindurch und über hohe Kämme führte. Die Troll-Sprache war Shea völlig fremd. Da Panamon keinen Laut von sich gab, konnte Shea nichts in Erfahrung bringen. Wenn die Trolle dahinter kamen, wer er war, würde man sie gewiss zum Dämonen-Lord bringen. Die Tatsache, dass sie ihm die Elfensterne nicht abgefordert hatten, mochte ein Hinweis darauf sein, dass die Trolle sie nur als Eindringlinge betrachteten, ohne zu ahnen, was sie ins Nordland geführt hatte. Daraus ließ sich aber wenig Trost schöpfen; die Trolle würden ihm bald genug auf die Schliche kommen. Er fragte sich plötzlich, was aus Orl Fane geworden sein mochte. Seine Spuren hatten dort aufgehört, wo sie gefangengenommen worden waren, also musste auch er in die Hände der Trolle gefallen sein. Aber wohin hatten sie ihn gebracht, und was war aus dem Schwert von Shannara geworden?

Sie marschierten stundenlang durch die Dunkelheit. Shea verlor bald jedes Zeitgefühl und war schließlich so erschöpft, dass er zusammenbrach und wie ein Sack auf der breiten Schulter eines Trolls weitergeschleppt wurde. Shea erwachte, als der Trupp ein fremdes Lager erreichte. Er spürte, wie er heruntergehoben wurde. Dann wurde er in ein großes Zelt geführt. Man überprüfte die Fesseln an seinen Handgelenken und band ihm auch die Füße. Dann wurde er alleingelassen. Panamon und Keltset hatte man an einen anderen Ort gebracht.

Er versuchte die Lederschnüre zu zerreißen, mit denen man ihm Hände und Füße zusammengebunden hatte, aber sie lockerten sich nicht einmal, so dass er es bald wieder aufgab. Er spürte, wie ihn die Müdigkeit übermannte, und wollte sich dagegen wehren, wollte sich zwingen, einen Fluchtplan zu überdenken. Je mehr er sich aber anstrengte, desto schwerer fiel es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen, und alles zerlief in einem grauen Nebel. Wenige Minuten später war er wieder eingeschlafen.

Nur Augenblicke schienen ihm vergangen zu sein, als er von groben Händen geweckt wurde, die ihn schüttelten. Er setzte sich betäubt auf, während ein gedrungener Troll etwas Unverständliches zu ihm sagte und auf einen gefüllten Teller deutete, bevor er das Zelt wieder verließ und in den Tag hinaustrat. Shea kniff die Augen zusammen. Erstaunt stellte er fest, dass die Lederfesseln entfernt worden waren. Er rieb sich Hand- und Fußgelenke, um die Zirkulation anzuregen; dann aß er, was man ihm gebracht hatte.

Vor dem Zelt schien ein wildes Durcheinander zu herrschen, man hörte die aufgeregten Rufe von Trollen, die hin und her eilten. Shea verschlang den letzten Bissen und hatte sich eben entschlossen, einen Blick nach draußen zu werfen, als sich der Zelteingang verdunkelte. Ein mächtiger Troll kam herein und bedeutete Shea, ihm zu folgen. Der Talbewohner fasste sich an den Rock, unter dem sich die Elfensteine in ihrem Lederbeutel befanden, und ging widerwillig mit.

Eine Eskorte von Trollen führte den kleinen Südländer durch ein großes Lager von unterschiedlichen Zelten und Steinhütten auf einer Klippe, die umgeben war von niedrigen Bergkämmen. Shea sah zum fernen Horizont hinüber und erkannte, dass sie hoch über der trostlosen Ebene waren, die sie in der vergangenen Nacht durchquert hatten. Das Lager wirkte leer, und die Stimmen, die Shea vorher vernommen hatte, waren verstummt. Die Feuer waren niedergebrannt. Ein kalter Schauer huschte Shea über den Rücken, als ihm der Gedanke kam, dass er vielleicht zu seiner Hinrichtung geführt würde. Weder von Panamon noch von Keltset war etwas zu sehen. Allanon, Flick, Menion Leah und die anderen befanden sich irgendwo im Südland und ahnten nichts von seinem Unglück. Er war allein und würde sterben müssen. Er war von der Angst so gelähmt, dass er nicht einmal daran dachte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Bleich schritt er zwischen den Bewachern durch das verlassene Lager. Vor ihnen ragte ein Grat auf, als Grenze des Lagers, dann hatten sie die Hütten und Zelte hinter sich und standen auf einer großen, offenen Lichtung. Shea riss ungläubig die Augen auf.

Dutzende von Trollen saßen in einem weiten Halbkreis gegenüber dem Berggrat. Die Köpfe drehten sich Shea kurz zu, als er die Lichtung betrat. Vor dem Grat saßen drei verschieden große Trolle, wohl auch verschiedenen Alters, wie Shea vermutete, von denen jeder einen farbig bemalten Stab mit einem schwarzen Wimpel in der Hand hielt. Panamon Creel saß ein wenig abseits. Seine nachdenkliche Miene veränderte sich nicht, als er Shea erblickte. Die Aufmerksamkeit aller galt der riesigen Gestalt Keltsets vor dem Halbkreis der Trolle. Er hatte die Arme verschränkt. Als Shea in den Halbkreis geführt wurde und sich neben Panamon niederließ, schien ihn dieser nicht zu bemerken. Eine Weile blieb es still. Es war das merkwürdigste Schauspiel, das Shea je erlebt hatte. Einer der drei Trolle vor dem Halbkreis stand auf und stieß den Stab auf den Boden. Die ganze Versammlung erhob sich, drehte sich ruckartig nach Osten und sprach einige Worte in ihrer fremden Sprache. Dann setzte sich alles wieder hin.

»Sie haben gebetet, verstehst du.« Es waren die ersten Worte, die Panamon von sich gab, und Shea zuckte erstaunt zusammen. Er sah den Dieb von der Seite an, aber Panamon blickte zu Keltset hinüber. Ein zweiter Stabträger stand auf und sprach kurz zu den versammelten Trollen, wobei er mehrmals auf Panamon und Shea wies. Der kleine Talbewohner wandte sich erwartungsvoll Panamon zu.

»Das ist ein Prozess«, erklärte der Dieb ausdruckslos. »Aber er gilt nicht dir oder mir. Wir sollen zum Schädelberg gebracht werden, hinter der Messerkante, zum Reich des Dämonen-Lords, wo wir festgehalten werden sollen für - ich weiß nicht, wofür. Ich glaube, sie wissen noch nicht, wer wir sind. Der Geister-Lord hat befohlen, dass alle Fremden zu ihm gebracht werden müssen, und man macht mit uns keine Ausnahme. Es besteht immer noch Hoffnung.«

»Aber ein Prozess -« begann Shea zweifelnd.

»Gegen Keltset. Er hat sich auf das Recht berufen, von seinen eigenen Leuten vor Gericht gestellt zu werden, statt dass man ihn Brona übergibt. Das ist ein alter Brauch - die Bitte darf nicht abgeschlagen werden. Er wurde bei uns gefunden, obwohl sein Volk mit unserer Rasse im Krieg liegt. Damit gilt er automatisch als Verräter. Ausnahmen gibt es nicht.«

Shea warf einen Blick auf Keltset. Der riesenhafte Troll saß in der Mitte der Versammlung, ohne sich zu regen, während die Stimme des Stabträgers monoton weitersprach. Wir haben uns geirrt, dachte Shea. Keltset hat mich und Panamon nicht verraten. Aber weshalb hatte er zugelassen, dass sie sich ohne Gegenwehr ergaben, wenn er wusste, dass auch sein Leben verwirkt war?

»Was werden sie mit ihm machen, wenn sie entscheiden, dass er ein Verräter ist?« fragte er.

Panamon zuckte die Achseln.

»Ich weiß, was du denkst.« Die Stimme des Diebes klang erregt. »Er setzt alles auf eine Karte. Wenn er für schuldig befunden wird, stößt man ihn augenblicklich die nächste Klippe hinunter.« Er machte eine Pause und sah Shea an. »Wir können ihm nicht helfen.«

Sie verstummten, als der Sprecher seine Rede beendete und sich wieder setzte. Dann trat ein anderer Troll vor die drei Wimpelträger, bei denen es sich wohl um die Richter handelte, und gab eine kurze Erklärung ab. Ihm folgten mehrere Stammesgenossen, die alle auch kurze Ansprachen hielten und auf Fragen der Richter antworteten. Shea verstand kein Wort, vermutete aber, dass es sich bei den Befragten um Angehörige des Trupps handelte, dem er und seine Begleiter in die Hände gefallen waren. Das Wechselgespräch schien sich endlos fortzusetzen. Keltset bewegte keinen Muskel.

Shea betrachtete den ausdruckslosen Riesen und konnte nicht begreifen, warum er zugelassen hatte, dass sich die Dinge so entwickelten. Shea und Panamon wussten schon seit geraumer Zeit, dass Keltset kein gewöhnlicher Ausgestoßener war, vertrieben von seinem Volk. Er war auch nicht einfach der Dieb und Abenteurer, als den Panamon ihn ursprünglich dargestellt hatte. In den seltsam sanften Augen leuchtete hohe Intelligenz, die ein unausgesprochenes Wissen über das Schwert von Shannara, den Dämonen-Lord und selbst Shea verriet. Im Herzen des Riesen war etwas Tiefgründendes verborgen. Wie bei Allanon, dac hte Shea plötzlich. Auf irgendeine Weise waren beide der Schlüssel zum Geheimnis des Schwerts von Shannara. Shea empfand das als unheimliche Offenbarung und schüttelte den Kopf, aber es blieb keine Zeit für weitere Überlegungen mehr.

Die Zeugen waren befragt, und die drei Richter forderten den Angeklagten nun auf, sich zu verteidigen. Einen schier endlosen Augenblick herrschte lastendes Schweigen, als die Richter, die versammelten Trolle und die beiden Männer darauf warteten, dass Keltset aufstand und reagierte. Der Riesen-Troll saß immer noch regungslos da, wie von einer tiefen Trance erfasst. Shea wurde von dem wilden Drang geschüttelt, irgend etwas zu tun, aufzuspringen, zu schreien, nur, damit diese unerträgliche Stille nicht länger anhielt, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Sekunden verrannen. Dann erhob sich Keltset ganz plötzlich.

Er stand auf, reckte sich und nahm plötzlich die Haltung eines Wesens an, das mehr war als ein Sterblicher. Stolz trat er der Versammlung und den Richtern gegenüber. Er griff unter den breiten Ledergürtel und zog eine schwarze Metallkette mit Anhänger heraus. Er hielt sie kurze Zeit in den Händen. Die Richter rissen die Augen auf. Shea sah ein Kreuz in einem Kreis, dann hob der Riese die Kette über den Kopf und legte sie sich um den Hals.

»Bei den Göttern, denen wir das Leben verdanken ... ich kann es nicht fassen«, flüsterte Panamon.

Die Richter standen entgeistert auf. Als Keltset sich langsam herumdrehte, stießen die versammelten Trolle verwunderte Rufe aus, sprangen auf und deuteten wild auf den leidenschaftslosen Riesen in ihrer Mitte. Shea schaute mit offenem Mund zu.

»Panamon, was hat das zu bedeuten?« fragte er schließlich.

Der Lärm wurde immer größer, alles schrie durcheinander, und Panamon Creel war plötzlich auf den Beinen. Er legte eine Hand auf Sheas schmale Schulter.

»Ich kann es nicht glauben«, sagte der Dieb freudig. »Die ganzen Monate hindurch habe ich nichts davon geahnt. Das hat er die ganze Zeit über vor uns geheimgehalten, Shea. Deshalb ließ er zu, dass man uns gefangen nahm. Aber es muss noch mehr ...«

»Wollt Ihr mir vielleicht endlich verraten, was hier vorgeht?« stieß Shea hervor.

»Der Anhänger, Shea das Kreuz im Kreis!« antwortete Panamon. »Das ist der Schwarze Irix, die höchste Auszeichnung, die größte Ehre, die das Troll-Volk einem aus seiner Mitte erweisen kann. Wenn man in einer ganzen Lebensspanne drei verliehen sieht, ist das ungewöhnlich. Um seiner würdig zu sein, muss man das Abbild all dessen sein, was die Troll-Nation verehrt und erstrebt. Man muss beinahe ein Gott sein. Irgendwann in seiner Vergangenheit hat Keltset sich diese Auszeichnung verdient - und wir ahnten nichts davon.«

»Aber was wird man nun dazu sagen, dass er in unserer Gesellschaft gefunden wurde?«

»Jeder, der den Irix trägt, ist unfähig, sein Volk zu verraten«, sagte Panamon. »Die Ehre bringt grenzenloses Vertrauen mit sich. Der Träger würde niemals die Gesetze seines Volkes übertreten - man hält ihn nicht einmal für fähig, an derlei zu denken. Man glaubt, der Bruch des Vertrauens würde grässlichste Strafen nach sich ziehen, andauernd in alle Ewigkeit. Kein Troll würde das für möglich halten.«

Shea starrte wie betäubt auf Keltset, während das Geschrei unvermindert weiterging. Der Riesen-Troll hatte sich seinen Richtern zugewandt, die vergeblich bemüht waren, die Ruhe wiederherzustellen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Lärm sich so weit gelegt hatte, dass man einzelne Stimmen verstehen konnte. Die Trolle setzten sich und warteten auf Keltsets Mitteilungen, die er in Taubstummensprache geben musste. Es gab eine Pause, bis ein geeigneter Mann, der seine Zeichensprache übersetzen konnte, auftauchte. Dieser Mann fasste alles in die Troll-Sprache. Es gab einen kurzen Wortwechsel mit einem der Richter, von dem Shea natürlich nichts verstand, aber zum Glück hatte Panamon schon damit begonnen, Shea zuzuflüstern, was sich zutrug.

»Er hat ihnen gesagt, dass er aus Norbane kommt, einer der größeren Troll-Städte im Charnal-Gebirge, hoch im Norden. Sein Familienname ist Mallicos - er gehört einer uralten und ehrenreichen Familie an. Aber alle ihre Angehörigen sind getötet worden, vermutlich von Zwergen, die den Versuch unternahmen, die Stadt zu plündern. Der Richter fragte Keltset, wie er entkommen sei; man hatte auch ihn für tot gehalten. Es muss sich um ein furchtbares Blutbad gehandelt haben, wenn die Nachricht davon bis hierher gedrungen ist. Aber pass auf, Shea, du wirst staunen! Keltset sagt, die Abgesandten des Dämonen-Lords hätten seine Familie ausgerottet. Die Schädelträger seien vor fast einem Jahr nach Norbane gekommen, hätten die Herrschaft an sich gerissen und die Troll-Armeen unter ihr Kommando gezwungen. Es sei ihnen gelungen, fast die ganze Stadt davon zu überzeugen, dass Brona von den Toten wiederauferstanden sei, dass er Jahrtausende überlebt habe und von sterblichen Händen nicht getötet werden könne. Die Familie Mallicos sei eine der herrschenden Familien in Norbane gewesen und habe sich geweigert, mit den Abgesandten des Dämonen-Lords gemeinsame Sache zu machen. Sie habe vielmehr verlangt, dass die Stadt sich gegen den Dämonen-Lord stelle. Keltsets Wort habe Gewicht besessen, weil er Träger des Schwarzen Irix gewesen sei. Der Dämonen-Lord habe die ganze Familie Mallicos ausrotten lassen, mit Ausnahme Keltsets, den er in seine Festung bringen ließ. Die Geschichte mit den Plünderern war eine Täuschung, um die Trolle dazu zu bewegen, dass sie sich der Invasion des Südlandes anschlössen.

Keltset gelang es jedoch, zu entkommen, bevor man ihn einsperren konnte, und er wanderte nach Süden, bis ich auf ihn stieß. Der Dämonen-Lord hatte befohlen, seine Stimme wegzubrennen, damit er sich keinem Lebewesen mehr mitteilen könne, aber Keltset lernte die Zeichensprache. Er wartete auf die Gelegenheit, ins Nordland zurückzukehren ...«

Einer der Richter stellte eine Frage, und Panamon übersetzte.

»Der Richter hat gefragt, warum er jetzt zurückgekehrt sei.

Unser großer Freund sagt, er habe von Bronas Angst vor der Macht des Schwertes von Shannara gehört wie auch von der Legende, dass ein Sohn des Hauses Shannara erscheinen werde, um das Schwert zu ergreifen ...«

Panamon verstummte, als der Dolmetscher sich Keltset zuwandte. Zum erstenmal blickte der riesige Troll zu Shea hinüber. Der junge Mann fröstelte. Dann begann Keltset wieder zu gestikulieren. Panamon zögerte einen Augenblick und sagte dann leise: »Er sagt, sie müssten mit ihm ins Schädelreich ziehen, und im Inneren der Festung würdest du, Shea, den Dämonen-Lord vernichten!«

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