Am nächsten Tag hatten die Brüder die Hochlandstadt von Leah erreicht. Die Stein- und Mörtelmauern um die Stadt waren eine willkommene Zuflucht für die erschöpften Wanderer, die ohne Zögern durch das Westtor in die schmalen Straßen der Stadt traten. Es war zu einer geschäftigen Stunde, in der die Leute sich zwischen den kleinen Läden und Märkten an der Zugangsstraße drängten, die zu Menions Zuhause führte, einem stattlichen alten Gebäude, verdeckt von Hecken und Bäumen am Rande gepflegter Rasenflächen und duftender Gärten. Leah kam den Männern aus Shady Vale wie eine große Metropole vor, wiewohl sie vergleichsweise klein war, wenn man an die Größe der Städte im tiefen Süden oder selbst der Grenzstadt Tyrsis dachte. Leah war eine vom Rest der Welt abgesonderte Stadt, und Reisende kamen nicht allzu häufig durch ihre Tore. Sie war selbstgenügsam und sorgte nur für die Bedürfnisse ihrer Bewohner. Die Monarchie, die über das Land herrschte, war die älteste im Südland. Sie war das einzige Gesetz, das die Bewohner kannten — vielleicht das einzige, das sie brauchten, auch wenn Shea davon nie ganz zu überzeugen gewesen war.
Shea dachte über seine sonderbare Freundschaft mit dem Thronerben nach. Eines Tages würde Menion König sein, aber Shea bezweifelte, daß sein leichtfertiger Freund darauf jetzt schon mehr als beiläufige Gedanken verschwendete.
Menions Mutter war vor einigen Jahren gestorben, kurz nach dem ersten Besuch Sheas im Hochland. Menions Vater war kein alter Mann, aber der Tod eines Königs hing nicht immer mit dem Alter zusammen, und Menion würde seine Lektionen schnell lernen müssen, wenn dem König etwas zustoßen sollte.
Das Heim der Leah-Könige war ein breites, zweistöckiges Gebäude, das friedlich zwischen hohen Hickorybäumen und kleinen Gärten stand. Durch hohes Gebüsch war der Besitz von der Stadt abgegrenzt. Ein großer Park lag dem Haus direkt gegenüber, und als die Talbewohner müde auf das Tor zuschritten, planschten kleine Kinder übermütig in einem Teich. Der Tag war noch warm, und an den Wanderern eilten die Bewohner vorbei, um Freunde zu treffen oder zu ihren Familien zurückzukehren. Im Westen färbte sich der Spätnachmittagshimmel goldrot.
Das hohe Eisentor stand offen, und die Brüder strebten mit schnellen Schritten auf den Eingang zu, zwischen Hecken und Blumenbeeten auf einem mit Platten belegten Weg. Bevor sie die Tür erreichten, ging sie von innen auf, und Menion Leah stand vor ihnen. Er trug eitlen bunten Umhang und eine Jacke in Grün und Hellgelb, und sein Körper verriet katzenhafte Gewandtheit. Er war kein großer Mann, wenn auch einige Zoll größer als die Talbewohner, aber breitschultrig und schlaksig. Er wollte gerade einen Seitenweg betreten, blieb aber wie angewurzelt stehen, als er die beiden staubigen, erschöpften Gestalten sah, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Shea!« stieß er hervor. »Was, um alles... was ist mit dir geschehen?« Er faßte sich und drückte seinem Freund herzlich die Hand.
»Gut, dich zu sehen, Menion«, sagte Shea lächelnd.
Menion trat einen Schritt zurück und betrachtete Shea mit seinen grauen Augen prüfend.
»Ich hätte nie gedacht, daß mein Brief so schnell Wirkung zeigt.« Er verstummte und starrte in das müde Gesicht seines Gegenübers. »Daran liegt es auch nicht, wie? Aber sag nichts — ich will nichts hören. Ich nehme um unserer Freundschaft willen lieber an, daß du nur hergekommen bist, um mich zu besuchen. Und den argwöhnischen alten Flick hast du auch mitgebracht, wie ich sehe. Das ist eine Überraschung.« Er grinste Flick an, der kurz nickte und sagte:
»Das war nicht meine Idee, darauf kannst du dich verlassen.«
»Es wäre mit lieber, Menion, wenn unsere Freundschaft der Grund für diesen Besuch wäre«, seufzte Shea. »Es wäre mir lieber, wenn ich dich nicht in diese Dinge verwickeln müßte, aber ich fürchte, wir sind in ernsthaften Schwierigkeiten, und du bist der einzige, der uns helfen kann.«
Menion wollte lächeln, überlegte es sich aber anders, als er die ernste Miene Sheas sah, und nickte.
»Nichts Komisches an der Sache, wie? Nun, zuerst kommt ein heißes Bad, dann eine Mahlzeit. Was euch hergeführt hat, können wir später besprechen. Herein mit euch! Mein Vater hat an der Grenze zu tun, aber ich stehe euch zur Verfügung.«
Im Haus wies Menion die Dienerschaft an, sich um die Brüder zu kümmern, und sie wurden fortgeführt, um ein willkommenes Bad zu nehmen und sich umzuziehen. Eine Stunde später trafen sich die drei jungen Männer in der großen Halle zu einem Essen, das normalerweise für die doppelte Anzahl von Speisenden gereicht hätte, an diesem Abend aber kaum genügte. Beim Essen erzählte Shea Menion die seltsame Geschichte, die sich hinter ihrer Flucht aus Shady Vale verbarg. Flick beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, weil er beschlossen hatte, Menion nicht zu vertrauen. Er war überzeugt davon, daß es besser war, wenn wenigstens einer von ihnen wachsam blieb.
Menion Leah hörte sich die lange Geschichte an und zeigte keine Überraschung bis zu dem Punkt, an dem Shea von seiner angeblichen Abstammung berichtete. Das schien Menion nicht wenig zu erfreuen. Er hatte sofort begriffen, warum die beiden zu ihm gekommen waren. Allein konnten sie nicht hoffen, von Leah durch das Tiefland von Clete zu den Schwarzen Eichen zu gelangen.
Shea beendete seinen Bericht und wartete geduldig auf Menions Reaktion. Der Hochländer schien in seinen Gedanken verloren zu sein, den Blick auf das halbvolle Weinglas vor sich gerichtet.
»Das Schwert von Shannara«, sagte er schließlich versonnen.
»Ich hatte die Geschichte schon Jahre nicht mehr gehört und sie auch nicht geglaubt. Nun taucht sie aus der Vergessenheit plötzlich wieder auf, zusammen mit meinem alten Freund Shea Ohmsford als rechtmäßigem Erben. Bist du es wirklich?« Er hob den Kopf. »Du könntest auch nur ein Lockvogel sein, ein Köder für diese Wesen aus dem Nordland. Woher haben wir Gewißheit über Allanon? Nach allem, was du mir erzählt hast, erscheint er beinahe so gefährlich wie diese Wesen, die dich verfolgen — vielleicht gehört er zu ihnen.«
Flick zuckte zusammen, aber Shea schüttelte entschieden den Kopf, wobei er sagte:
»Ich kann das einfach nicht glauben. Es ergibt keinen Sinn.«
»Mag sein«, erwiderte Menion nachdenklich. »Mag sein, daß ich alt und argwöhnisch werde. Aber du mußt zugeben, die ganze Geschichte hört sich sehr unglaubwürdig an. Wenn sie zutrifft, kannst du von Glück sagen, auf eigene Faust bis hierher gekommen zu sein. Es gibt sehr viele Geschichten über das Nordland, über das Böse, das in der Wildnis über den Streleheim-Ebenen lauert-Macht, heißt es, über die Fassungskraft jedes sterblichen Wesens hinaus...« Er griff nach seinem Weinglas. »Das Schwert von Shannara. Schon die hauchdünne Möglichkeit, die Legende könnte wahr sein, genügt, um...« Er schüttelte den Kopf und grinste plötzlich.
»Wie kann ich mir die Gelegenheit versagen, das herauszufinden? Ihr braucht einen Führer, der euch zum Anar bringt, und ich bin der richtige Mann dafür.«
»Ich wußte es.« Shea griff nach seiner Hand und drückte sie. Flick ächzte leise, lächelte aber gezwungen. Menion sagte:
»Also, wir wollen einmal sehen, wo wir stehen. Was ist mit diesen Elfensteinen? Zeig sie mir!«
Shea zog den kleinen Lederbeutel heraus und schüttete den Inhalt in seine Hand. Die drei Steine funkelten im Fackellicht in leuchtendem, dunklem Blau. Menion griff nach einem der Steine.
»Sie sind wirklich wunderschön«, sagte er. »Ich wüßte nicht, wann ich dergleichen einmal gesehen hätte. Aber wie sollen sie uns helfen?«
»Keine Ahnung«, räumte Shea ein. »Ich weiß nur, was Allanon uns gesagt hat — daß die Steine nur im Notfall gebraucht werden dürfen und daß sie große Kraft besäßen.«
»Nun ja, ich hoffe, daß er recht hat«, antwortete Menion.
»Ich würde ungern erleben, daß er sich geirrt hat. Aber mit dieser Möglichkeit werden wir uns abfinden müssen.« Er sah zu, wie Shea die Steine in den Beutel zurücklegte und diesen wieder einsteckte. »Von jenem Balinor weiß ich etwas«, fuhr er dann fort. »Er ist ein sehr guter Soldat — ich zweifle, ob wir im ganzen Südland einen besseren finden würden. Von den Soldaten Callahorns wärst du besser geschützt als von den Wald-Zwergen des Anar. Ich kenne die Straßen nach Tyrsis, die alle ungefährlich sind. Aber fast jeder Weg zum Anar führt direkt durch die Schwarzen Eichen — nicht der sicherste Ort im Südland, wie du weißt.«
»Allanon hat uns geheißen, zum Anar zu gehen«, erklärte Shea entschlossen. »Er muß einen Grund dafür gehabt haben, und bis ich ihn wiederfinde, lasse ich mich auf nichts anderes ein. Außerdem hat uns auch Balinor geraten, Allanons Anweisungen Folge zu leisten.«
Menion zuckte die Achseln.
»Das ist bedauerlich, denn selbst wenn wir glücklich durch die Schwarzen Eichen gelangen, kenne ich das Land dahinter nicht sehr gut. Bis zu den Anar-Wäldern soll es praktisch unbesiedelt sein. Die wenigen Bewohner sind Südländer und Zwerge, die uns kaum gefährlich werden dürften. Culhaven ist ein kleiner Zwergen-Ort am Silberfluß im unteren Anar — ich glaube nicht, daß es uns schwerfallen wird, ihn zu finden, wenn wir so weit kommen. Aber zuerst müssen wir durch das Tiefland von Clete, das wegen der Schneeschmelze jetzt besonders gefährlich ist, und dann durch die Schwarzen Eichen. Das wird am schwierigsten.«
»Gibt es denn keinen Umweg?« fragte Shea.
Menion füllte sein Glas und reichte die Karaffe an Flick weiter.
»Es würde Wochen dauern. Nördlich von Leah liegt der Regenbogen-See. Wenn wir diesen Weg nehmen, müssen wir den ganzen See nach Norden durch das Runne-Gebirge umgehen.
Die Schwarzen Eichen erstrecken sich vom See hundert Meilen weit nach Süden. Wenn wir nach Süden gehen und auf der anderen Seite wieder nach Norden kommen, dauert das mindestens zwei Wochen — und es gibt unterwegs keine Deckung. Wir müssen also nach Osten durch das Tiefland und dann durch die Eichen.«
Flick run zelte die Stirn. Er erinnerte sich, wie sie bei ihrem letzten Besuch sich mit Menion in dem gefürchteten Wald mehrere Tage lang verirrt hatten, bedroht von Wölfen, gequält vom Hunger. Sie waren nur knapp mit dem Leben davongekommen.
»Der alte Flick erinnert sich an die Schwarzen Eichen«, meinte Menion lachend, als er die düstere Miene des anderen sah. »Nun, Flick, diesmal sind wir besser vorbereitet. Das Land ist gefährlich, aber niemand kennt es besser als ich. Und dort folgt uns sicher keiner. Wir werden niemandem erzählen, wohin wir gehen. Wir sagen einfach, wir machen einen längeren Jagdausflug. Mein Vater ist mit seinen eigenen Problemen beschäftigt und wird mich gar nicht vermissen. Er ist daran gewöhnt, daß ich oft wochenlang fort bin.«
Shea grinste.
»Menion, ich wußte, daß wir uns auf dich verlassen können. Ich bin froh, dich dabei zu haben.«
Flick rollte die Augen zum Himmel, und Menion, der das bemerkte, konnte der Versuchung, sich auf Flicks Kosten ein wenig zu belustigen, nicht widerstehen.
»Ich finde, wir sollten noch darüber sprechen, was bei der Sache für mich abfällt«, sagte er plötzlich. »Ich meine, was habe ich eigentlich davon, wenn ich dich sicher nach Culhaven bringe?«
»Was du davon hast?« entfuhr es Flick. »Weshalb solltest du —?«
»Schon gut«, unterbrach ihn der andere schnell. »Ich hatte dich vergessen, alter Flick, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Von deinem Anteil beanspruche ich nichts.«
»Wovon redest du überhaupt?« brauste Flick auf. »Ich hatte nie die Absicht, irgend etwas...«
»Das genügt!« Shea beugte sich mit gerötetem Gesicht vor.
»So kann das nicht weitergehen, wenn wir gemeinsam unterwegs sein wollen. Menion, du mußt aufhören damit, meinen Bruder zu ärgern, und du, Flick, mußt ein für allemal deinen grundlosen Argwohn Menion gegenüber ablegen. Wir müssen einander vertrauen und Freunde sein!«
Menion machte ein Schafsgesicht, und Flick biß sich auf die Unterlippe. Shea lehnte sich zurück, als sein Zorn verflog.
»Gut gesagt«, meinte Menion nach einer Pause. »Hier meine Hand darauf, Flick. Wir schließen wenigstens Waffenstillstand — für Shea.«
Flick betrachtete die ausgestreckte Hand und griff schließlich danach.
»Du bist um Worte nie verlegen, Menion. Hoffentlich meinst du es diesmal ernst.«
Der Hochländer reagierte mit einem Lächeln.
»Waffenstillstand, Flick.« Er ließ die Hand des Talbewohners los und leerte sein Glas. Er wußte, daß er Flick nicht überzeugt hatte.
Es wurde spät, und die drei jungen Männer hatten es eilig, ihre Pläne abschließend zu besprechen und schlafen zu gehen.
Sie einigten sich darauf, am frühen Morgen aufzubrechen.
Menion veranlaßte, daß sie ausgerüstet wurden mit leichter Marschausrüstung einschließlich Rucksäcken, Jagdmänteln, Vorräten und Waffen. Dazu gehörte auch eine Karte der Gebiete östlich von Leah, die aber nicht viele Einzelheiten anzeigte, weil man das Gelände nicht gut genug kannte. Das Tiefland von Clete, vom Hochland östlich bis zu den Schwarzen Eichen reichend, war ein tristes, heimtückisches Moor — auf der Karte aber nur ein weißer Fleck Die Schwarzen Eichen traten auffallend hervor, eine dichte Masse Waldland, vom Regenbogen-See südwärts reichend, wie eine große Mauer zwischen Leah und dem Anar. Menion besprach mit den Brüdern kurz seine Kenntnis des Geländes und der Wetterbedingungen zu dieser Jahreszeit, aber auch hier gab es große Lücken.
Um Mitternacht lagen alle drei in ihren Betten. Shea ließ sich in dem Zimmer, das er mit Flick teilte, in die weichen Kissen zurücksinken und blickte in die Dunkelheit vor seinem Fenster. Der Himmel hatte sich bewölkt, verschwunden war die Hitze des Tages, von den kühlenden Nachtwinden nach Osten verweht. In der ganzen Stadt herrschte friedliche Stille. Flick schlief schon und atmete regelmäßig. Shea betrachtete ihn eine Weile. Sein eigener Kopf war schwer, der Körper wie ausgelaugt, aber schlafen konnte er trotzdem noch nicht. Shea wußte, daß sie, selbst wenn sie den Anar erreichten, keine Ruhe finden würden. Er war allein mit seiner Angst und kämpfte lange dagegen an, bis er endlich einschlief.
Der nächste Tag war trüb und ohne Sonne, feucht und kühl für die Menschen. Shea und seine Begleiter entbehrten jede Wärme und jeden Trost, als sie durch das nebelige Hochland von Leah zogen und in das triste Klima des Tieflands hinabzusteigen begannen. Sie sprachen nicht miteinander, als sie der Reihe nach den schmalen Pfad hinunterstapften, der sich um graue, große Felsblöcke und abgestorbene, niedrige Büsche wand. Menion ging voraus, fand mit seinem scharfen Auge den oft kaum sichtbaren Weg und bewältigte den Abstieg mit sicheren Schritten. Auf seinem schmalen Rücken trug er einen Tragsack, an dem er einen großen Eschenholzbogen und Pfeile befestigt hatte. Mit einem langen Ledergürtel war an seinen Hüften das alte Schwert befestigt, das ihm sein Vater gegeben hatte, als er zum Mann geworden war — das Schwert, das dem Prinzen von Leah aus Geburtsrecht zukam.
Das kalte, graue Eisen schimmerte schwach im trüben Licht, und Shea, der einige Schritte hinter ihm ging, fragte sich, ob es Ähnlichkeit mit dem legendären Schwert von Shannara besaß. Er zog die Brauen hoch, während er in die Düsternis starrte. Nichts schien hier lebendig zu sein. Es war ein totes Land für tote Dinge, und die Lebenden waren hier Eindringlinge. Keine sehr anregende Vorstellung; Shea grinste schwach vor sich hin und zwang sich, an andere Dinge zu denken. Flick bildete die Nachhut; auf seinem kräftigen Rücken trug er den Großteil der Vorräte, die reichen mußten, bis sie das Tiefland von Clete durchwandert hatten und die Schwarzen Eichen hinter sich lassen konnten. Sobald sie so weit gekommen waren — vorausgesetzt, sie kamen so weit —, würden sie gezwungen sein, bei den weitverstreuten Bewohnern der Gebiete dahinter Lebensmittel zu kaufen oder einzutauschen oder, als letzte Möglichkeit, vom Land selbst zu leben, etwas, worauf Flick nicht gerade begierig war.
Der erste Tag verging schnell, als die drei die Grenzen des Königreichs Leah überschritten und bis zum Einbruch der Nacht den Rand des trostlosen Tieflands erreicht hatten. Sie fanden die Nacht über Unterschlupf in einem kleinen Tal im bescheidenen Schutz einiger nackter Bäume und dichter Sträucher. Der feuchte Nebel hatte ihre Kleidung völlig durchnäßt, und in der nächtlichen Kälte froren sie erbärmlich.
Sie versuchten, ein Feuer anzuzünden, um etwas Wärme und Trockenheit zu finden, aber das Holz hier war so feucht, daß es nicht brennen wollte. Schließlich gaben sie es auf und begnügten sich mit kalten Rationen. Sie lagerten in Decken gewickelt, die zu Beginn der Reise wasserdicht präpariert worden waren. Man sprach wenig, weil keiner Lust hatte, etwas anderes von sich zu geben als Flüche über die Witterung.
Aus der Dunkelheit, die sie umgab, drang kein Laut; die lastende Stille infizierte das Gemüt mit plötzlicher, unerwarteter Angst und zwang sie, angestrengt zu lauschen, um vielleicht irgendwo ein beruhigendes Rascheln zu entdecken, das Leben verriet. Aber es gab nur die Stille und die Dunkelheit, und nicht einmal der Hauch einer Brise berührte ihre kalten Gesichter, als sie regungslos in ihren Decken lagen. Mit der Zeit obsiegte die Erschöpfung, und sie schliefen, wenn auch unruhig.
Der zweite und dritte Tag waren noch viel schlimmer als der erste. Es regnete die ganze Zeit — ein träges, kaltes Nieseln, das zuerst die Kleidung durchtränkte, dann in Haut und Bein drang und schließlich die Nervenzentren selbst erreichte, so daß der erschöpfte Körper keine andere Empfindung als die einer allgegenwärtigen, unbehaglichen Nässe mehr zuließ. Die Luft war untertags feucht und kalt und wurde nachts frostig.
Alles rings um die Wanderer schien von dieser lastenden Kälte erdrückt zu sein; das wenige an Gebüsch und Laub, das man sehen konnte, war verkrümmt und leblos.
Formlose Klumpen Holz und zusammengerollte Blätter warteten lautlos darauf, zu zerfallen und ganz zu verschwinden.
Hier lebte kein Mensch und kein Tier — selbst das kleinste Nagetier wäre von der saugenden Weichheit einer Erde, die von der kalten Feuchtigkeit langer, sonnenloser, lebensferner Tage und Nächte durchtränkt war, verschluckt worden.
Nichts bewegte, nichts regte sich, während die drei jungen Männer nach Osten durch ungeformtes Land schritten, wo es keinen Weg gab und keinen Hinweis, daß hier schon jemals irgend jemand vorbeigekommen war oder das in Zukunft je tun würde. Während ihrer Wanderung kam die Sonne nie heraus, keine Spur ihrer Strahlen zeigte, daß irgendwo jenseits dieses toten, vergessenen Landes eine Welt des Lebens existierte. Ob es der ewige Nebel war oder die dicken Wolken oder beides zusammen, wodurch der Himmel immer verhüllt blieb, konnte man nicht entscheiden.
Am vierten Tag begannen sie zu verzweifeln. Obwohl von den geflügelten Jägern des Dämonen-Lords nichts mehr zu sehen war und die Verfolgung von ihnen aufgegeben worden zu sein schien, lieferte das wenig Trost. Die Stunden schleppten sich dahin, die Stille wurde immer tiefer, das Land immer trostloser. Selbst Menions Munterkeit verlor sich, und er wurde von Zweifeln beschlichen. Er begann sich zu fragen, ob sie die Richtung verloren und sie sich vielleicht im Kreis bewegt hatten. Er wußte, daß das Land es ihnen nicht verzeihen würde und daß sie, einmal in die Irre gegangen, nie mehr hinausfinden würden. Shea und Flick empfanden die Unruhe noch stärker. Sie wußten nichts vom Tiefland und verfügten nicht über Menions Jägerinstinkte. Sie verließen sich völlig auf ihn, spürten aber, daß nicht alles stimmte, obwohl der Hochländer seine Zweifel bewußt für sich behalten hatte. Die Stunden gingen, und die Kälte, die Nässe und die Leblosigkeit des Landes blieben unverändert. Sie spürten, wie ihre letzten Reste an Vertrauen zueinander schwanden. Schließlich, als der fünfte Tag des Marsches sich dem Ende zuneigte und die Trostlosigkeit des Tieflands sich vor ihnen erstreckte, ohne von den langerwarteten Schwarzen Eichen etwas ahnen zu lassen, gebot Shea halt und sank zu Boden, während er den Prinzen von Leah fragend ansah.
Menion zuckte die Achseln und schaute zweifelnd in die Runde.
»Ich will euch nicht belügen«, sagte er leise. »Ich bin nicht sicher, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind. Es könnte sein, daß wir im Kreis laufen. Vielleicht haben wir uns hoffnungslos verirrt.«
Flick entledigte sich seiner Traglast erbost und warf seinem Bruder einen Blick zu, der ihm sagte: >Was habe ich erwartet?<
»Ich kann nicht glauben, daß wir uns verirrt haben«, sagte Shea hastig zu Menion. »Können wir uns nirgends orientieren?«
»Ich warte auf Vorschläge.« Menion lächelte schief, reckte sich und ließ auch seinen Rucksack auf den Boden fallen.
»Was ist los, Flick? Habe ich dich wieder mit hineingerissen?«
Flick sah ihn zornig an, aber als er in die grauen Augen blickte, besann er sich. Dort war echte Sorge zu lesen, und sogar eine Spur von Traurigkeit darüber, daß er sie im Stich gelassen hatte. Flick streckte plötzlich die Hand aus und berührte den anderen kameradschaftlich an der Schulter, während er stumm nickte. Shea sprang plötzlich auf und begann in seinem Rucksack zu kramen.
»Die Steine können uns helfen!« rief er.
Einen Augenblick starrten ihn die beiden anderen verständnislos an, bis ihnen ein Licht aufging und sie erwartungsvoll zu ihm traten. Shea zog den kleinen Lederbeutel mit seinem kostbaren Inhalt heraus. Sie blickten gebannt auf den Beutel, in der Hoffnung, die Elfensteine würden endlich ihren Wert beweisen und ihnen helfen. Shea zog die Schnur auseinander und schüttete die kleinen Steine in seine Handfläche.
Sie schimmerten schwach, während die drei sie anstarrten und warteten.
»Halt sie hoch, Shea«, drängte Menion schließlich. »Vielleicht brauchen sie Licht.«
Shea tat, wie ihm geheißen, und beobachtete die blauen Steine angespannt. Nichts geschah. Er wartete noch einen Augenblick, bevor er die Hand sinken ließ. Allanon hatte ihn gewarnt, die Elfensteine nur im äußersten Notfall anzuwenden.
Vielleicht kamen sie ihm nur in besonderen Lagen zu Hilfe. Er spürte, wie die Verzweiflung in ihm hochkam, und starrte seine Freunde an.
»Na, versuch etwas anderes!« stieß Menion hervor.
Shea nahm die Steine zwischen beide Hände und rieb sie heftig aneinander, schüttelte sie und warf sie wie Würfel in die Luft. Noch immer geschah nichts. Er hob sie langsam von der feuchten Erde wieder auf und wischte sie ab. Ihre dunkelblaue Farbe schien ihn anzuziehen, und er starrte tief in ihr klares, glasartiges Inneres, als sei dort die Antwort zu finden.
»Vielleicht sollst du mit ihnen reden, oder...« Flicks Stimme erstarb, denn Shea veränderte sich merkwürdig.
Das Bild von Allanons dunklem Gesicht, gesenkt und in tiefer Konzentration, tauchte plötzlich vor Sheas innerem Auge auf. Vielleicht war das Geheimnis der Elfensteine auf andere Weise zu entschlüsseln. Er streckte die Hand mit den Steinen aus, schloß die Augen und konzentrierte seine Gedanken darauf, tief in die dunkle Bläue hineinzugreifen, auf der Suche nach der Macht, die sie so nötig brauchten. Stumm flehte er die Elfensteine an, ihnen zu helfen. Lange Momentevergingen, fast wie Stunden. Er öffnete die Augen, und die drei Freunde warteten.
Dann gleißten die blauen Steine plötzlich mit blendender Helligkeit auf, so daß die Männer vor dem Glanz zurückzuckten und ihre Augen bedeckten. Das Leuchten war so stark, daß Shea vor Schreck die kleinen Edelsteine beinahe fallen ließ. Der Glanz wurde immer strahlender und erhellte das tote Land ringsum, wie die Sonne es nie vermocht hatte.
Aus dem dunklen wurde ein grelles Blau, so gleißend, daß die überwältigten Betrachter buchstäblich hypnotisiert waren.
Das Strahlen wuchs, festigte sich und schoß plötzlich wie ein riesiger Lichtstrahl vorwärts, nach links, durchdrang mühelos das neblige Grau und erfaßte einige hundert, vielleicht einige tausend Meter vor ihnen die riesigen, knorrigen Stämme der Schwarzen Eichen. Das Licht verharrte einenAugenblick, dann erlosch es. Der graue Nebel kehrte mit seiner kalten Feuchtigkeit zurück, und die drei kleinen blauen Steine schimmerten schwach wie zuvor.
Menion erholte sich rasch, schlug Shea auf die Schulter und grinste breit. Im Nu hatte er die Last wieder auf dem Rücken und war marschbereit, den Blick schon auf die nun unsichtbare Stelle gerichtet, wo die Schwarzen Eichen aufgetaucht waren. Shea legte die Elfensteine hastig in den Beutel zurück, und die Talbewohner luden sich auch ihre Rucksäcke auf.
Alle drei sprachen sie kein Wort, als sie mit schnellen Schritten die Richtung einschlugen, die der Lichtstrahl angezeigt hatte. Fort war der kalte Hauch der grauen Düsternis, das Nieseln der vergangenen Tage. Fort war die Verzweiflung, die sie noch vor Minuten übermannt hatte. Es gab nur noch die Überzeugung, daß sie dem düsteren Tiefland endlich zu entrinnen vermochten. Sie ängstigten sich nicht mehr, sie glaubten an die Vision, die das Licht der Steine ihnen gezeigt hatte. Die Schwarzen Eichen waren der gefährlichste Wald im Südland, aber in diesem Augenblick schien er ein Hafen der Zuflucht zu sein, verglichen mit Clete.
Die Zeit schien endlos zu sein, als sie weiterliefen. Es mochten Stunden oder auch nur Minuten vergangen sein, als im trübgrauen Nebel endlich riesige, moosbewachsene Stämme sichtbar wurden, die sich hoch in die Luft erhoben und im Dunst verloren. Das erschöpfte Dreigespann blieb stehen und blickte froh auf die düsteren Monstren, die ebenmäßig und endlos vor ihnen aufgereiht standen als eine undurchdringlich scheinende Mauer aus feuchter, zernarbter Rinde auf breiten, tiefverwurzelten Sockeln. Es war ein unheimlicher Anblick im trüben Licht des nebeligen Tieflands, und die Betrachter spürten die unbestreitbare Gegenwart einer Lebenskraft in diesen Wäldern, so unfaßbar alt, daß sie schon dafür eine tiefe, widerwillig gezollte Achtung verdiente.
Es war, als seien sie in eine andere Zeit, eine andere Welt getreten, und alles, was so stumm vor ihnen stand, besaß den Zauber eines verlockend gefährlichen Märchens.
»Die Steine hatten recht«, murmelte Shea leise und lächelte schwach. Er atmete erleichtert auf und grinste schließlich.
»Die Schwarzen Eichen«, sagte Menion bewundernd.
»Dann also das Ganze noch einmal«, meinte Flick seufzend.