Bis Allanon den widerstrebenden Flick zu seiner Zufriedenheit verkleidet hatte, wurde es Mitternacht. Mit einer fremdartigen Flüssigkeit aus dem Beutel an seinem Gürtel rieb der Druide Gesicht und Hände Flicks ein, bis die Haut eine gelb-dunkle Färbung annahm. Ein Stückchen weicher Kohle veränderte die Linien im Gesicht und die Form der Augen. Es war bestenfalls ein Provisorium, aber im Dunkeln konnte Flick für einen großen, stämmigen Gnomen gelten, wenn er nicht einer scharfen Überprüfung unterzogen wurde. Das Unternehmen wäre selbst für einen erfahrenen Jäger gefährlich gewesen, und es schien an Selbstmord zu grenzen, wenn ein Unerfahrener versuchte, sich als Gnom auszugeben, aber sie hatten keine andere Wahl. Irgendjemand mußte in das riesige Heerlager gelangen und herauszufinden versuchen, was mit Eventine, mit Shea und dem Schwert geschehen war. Das Allanon selbst hinunterging, kam nicht in Frage; er wäre sogar in der besten Maske sofort erkannt worden.
Die Aufgabe oblag also dem angstvollen Flick, als Gnom verkleidet sich im Schutz der Dunkelheit die Hänge hinabzuschleichen, vorbei an den Wachen, in das Lager der vielen tausend Gnomen und Trolle, um dort in Erfahrung zu bringen, ob sein Bruder oder der vermißte Elfen-König Gefangene seien, und Erkundigungen über den Verbleib des Schwertes einzuziehen. Eine zusätzliche Erschwernis war, daß der Talbewohner das feindliche Lager wieder verlassen haben mußte, bevor es hell wurde.
Wenn ihm das nicht gelang, würde man seine Maske gewiß durchschauen und ihn überwältigen.
Allanon veranlaßte Flick, seinen Jagdumhang auszuziehen, und beschäftigte sich einige Minuten damit, ein wenig den Schnitt zu verändern und die Kapuze zu verlängern, damit sie den Träger besser verbarg, Flick legte den Umhang wieder um und stellte fest, daß, wenn er ihn fest zuzog, nichts von ihm zu sehen war als seine Hände und ein verschatteter Teil seines Gesichts.
Wenn er sich von echten Gnomen nach Möglichkeit fernhielt und bis zur Morgendämmerung auf den Beinen blieb, bestand die Möglichkeit, daß er etwas Wichtiges erfuhr und zu entkommen vermochte. Er prüfte, ob sein Jagddolch fest am Gürtel hing, dann stand er langsam auf. Allanon betrachtete ihn noch einmal von oben bis unten und nickte.
Das Wetter war in der letzten Stunde dräuend geworden, der Himmel eine Masse wogender, schwarzer Wolken, die Mond und Sterne völlig verdeckten, auf der Erde herrschte dadurch fast undurchdringliche Dunkelheit. Das einzige Licht stammte von den lodernden Feuern des Lagers. Sie flammten im Nordwind, der heulend durch die Drachenzähne fegte, höher auf. Ein Sturm kündigte sich an und würde sie wohl noch vor dem Morgen erreichen.
Der Druide hoffte, daß Wind und Dunkelheit dem verkleideten Talbewohner helfen würden, der Entdeckung zu entgehen.
In kurzen, knappen Sätzen erläuterte Allanon, wie Flick sich unterhalten müsse, wie das Lager angelegt sei und wo der Wachtposten zu erwarten habe. Er wies ihn an, auf die Standarten der Gnomen-Häuptlinge und der Maturen, der Troll-Führer, zu achten, die sicherlich in der Mitte des Heerlagers zu sehen sein würden. Um jeden Preis müsse er vermeiden, mit irgend jemandem zu sprechen, da seine Ausdrucksweise ihn sofort als Südländer entlarven würde. Flick lauschte aufmerksam und mit klopfendem Herzen. Für ihn stand schon fest, daß er keine Aussicht hatte, unentdeckt zu bleiben, aber die Treue zu seinem Bruder war so groß, daß er dem gesunden Menschenverstand keinen Platz einräumen wollte. Allanon beendete die kurze Instruktion mit dem Versprechen, dafür zu sorgen, daß Flick ungefährdet an der ersten Postenlinie vorbeikommen würde, die unten am Hang aufgestellt war. Er legte den Finger an die Lippen und winkte.
Sie traten aus dem Schutz der Felsblöcke und schlichen hinab zur Ebene. Es war so finster, daß Flick nahezu gar nichts sah und an der Hand geführt werden mußte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich erblickten sie von neuem die Feuer des feindlichen Heerlagers. Flick war von dem Abstieg aus den Bergen wie zerschlagen. Die Dunkelheit schien wie ein Mauer zwischen den Feuern und ihnen zu stehen, und Flick konnte die Wachen weder sehen noch hören. Allanon sagte nichts, sondern duckte sich hinter einen Felsblock und lauschte angestrengt. Die beiden verharrten lange Zeit regungslos, dann stand Allanon plötzlich auf, bedeutete Flick, an seinem Platz zu bleiben, und verschwand lautlos in der Nacht.
Der kleine Talbewohner schaute sich um, allein und angstvoll, weil er nicht wußte, was vorging. Er preßte das heiße Gesicht an den kalten Stein und ging in Gedanken noch einmal durch, was er zu tun haben würde, sobald er das Lager erreichte. Er hattekeinen fertigen Plan. Er würde darauf achten, mit keinem zu sprechen und, wenn möglich, nicht sehr an andere heranzukommen. Er gedachte sich fernzuhalten vom grellsten Licht. Die Gefangenen, wenn sie überhaupt im Lager waren, würden in einem bewachten Zelt nahe dem Mittelpunkt der Feuer untergebracht sein, so daß sein erstes Ziel darin bestand, dieses Zelt zu finden. Angenommen, es gelang ihm, wofür wenig sprach, würde er dann zu den Hängen zurückkehren, wo Allanon auf ihn wartete, und die weiteren Schritte mit ihm besprechen.
Flick schüttelte verwirrt den Kopf. Er wußte, daß er mit dieser Maske nicht unentdeckt bleiben würde - er hatte weder das Talent noch die Schlauheit, andere zu täuschen. Aber was blieb ihm anderes übrig, als es zu versuchen?
Ein plötzliches Geräusch in der Dunkelheit ließ den kleinen Talbewohner entsetzt herumfahren, das Jagdmesser in der Hand. Ein scharfes Flüstern, dann glitt Allanons dunkle Gestalt lautlos heran. Seine Hand packte Flicks Schulter und zog ihn in die Deckung zurück. Allanon blickte prüfend in das Gesicht seines Gegenübers. Flick zwang sich, den durchdringenden Augen standzuhalten; er spürte, wie sein Herz bis zum Hals schlug.
»Die Wachen sind beseitigt - der Weg ist frei«, tönte die tiefe Stimme. »Geh jetzt, mein junger Freund, und verlasse dich auf deinen Mut und deinen Verstand.«
Flick nickte und stand auf, dann schlich er hinein in die Schwärze der Ebene. Sein Verstand hörte auf zu arbeiten, hörte auf, sich zu wundern, als sein Körper das Kommando übernahm und seine Instinkte die Dunkelheit nach verborgenen Gefahren absuchten. Er lief halb geduckt auf die fernen Feuer zu, blieb ab und zu stehen und lauschte. Die Nacht war ein undurchdringliches Leichentuch, der Himmel noch immer dicht verhangen. Das Flachland war glatt und offen, die Oberfläche ein Grasteppich, der jeden Laut schluckte. Es gab einige Büsche und vereinzelt Bäume in der weiten Leere. In der Dunkelheit war kein Lebenszeichen zu erkennen, die einzigen Geräusche waren das Heulen des zunehmenden Windes und seine eigenen Atemzüge. Die Lagerfeuer, von weitem ein orangerotes, nebelhaftes Leuchten, lösten sich in einzelne Lichter auf, als der Talbewohner näherkam.
Manche loderten hell auf, wenn neues Holz nachgeschoben wurde, andere waren schon herabgebrannt und zur Glut erloschen, während die Soldaten schliefen. Flick hörte jetzt schwache Stimmen, aber verstehen konnte er noch nichts.
Es verging fast eine halbe Stunde, bis Flick die ersten Feuer erreichte.
Er blieb außerhalb des Lichtscheins geduckt stehen und schaute sich um. Der kalte Nachtwind schürte die Flammen und die dünne Rauchwolken herüberwehen. Ein zweiter Ring von Wachen umgab das Lager, aber die Abstände zwischen den eineinzelnen Posten waren groß. In solcher Nähe des Lagers befürchteten die Nordländer nichts. Die Wachen waren meist Gnomenführer, wenngleich Flick hier und dort auch die großen Trolle erkennen konnte.
Er starrte geraume Zeit auf die fremdartigen Züge der Bergwesen.
Sie waren von verschiedener Größe, diese Trolle, alle mit dicken Gliedmaßen und einer dunklen, holzartigen Haut.
Die Wachen und vereinzelte andere, die nicht umherliefen, sondern herumstanden oder am Feuer kauerten, hatten sich in dicke Umhänge gehüllt, die ihre Leiber und Gesichter zum größten Teil verbargen. Flick nickte zufrieden vor sich hin.
So würde leichter für ihn sein, unbemerkt ins Lager zu gelangen, wie alle dick vermummt waren, und nach der zunehmenden Kälte zu schließen, würde es bis zu Morgendämmerung gewiß nicht wärmer werden.
Auf irgendeine Weise wirkte das Lager aus der Nähe kleiner als von oben. Flick machte sich trotzdem nichts vor, denn er wußte, daß es sich in alle Richtungen über eine Meile weit ausdehnte.
Sobald er zwischen den Wachen hindurchgeschlüpft war, würde er zwischen Tausenden schlafender Gnomen und Trolle sein, vorbeikommen an Hunderten von Feuern, die hell genug waren, seine Maske zu entlarven. Den ersten Fehler, den er beging, würde er teuer bezahlen. Auch wenn es ihm gelingen sollte, unentdeckt zu bleiben, mußte er immer noch die Gefangenen aufspüren und erfahren, wo sich das Schwert befand. Er schüttelte zweifelnd den Kopf und ging langsam weiter. Die natürliche Neugier forderte ihn auf, am Rand des Feuerscheins zu verweilen, um die noch wachen Gnomen und Trolle genauer zu betrachten, aber er widerstand der Versuchung, weil er wußte, daß ihm nicht allzuviel Zeit blieb. Die beiden anderen Rassen waren für ihn wie Wesen von einer anderen Welt. Auf seiner Reise nach Paranor hatte er mehrmals gegen die verschlagenen, wilden Gnomen gekämpft, aber er wußte noch immer wenig über sie und gar nichts von den riesigen Trollen. Jedenfalls gab es keinen Zweifel daran, daß die Armee unter der Führung des Dämonen-Lords stand, und welche Ziele er verfolgte, war auch klar.
Er wartete, bis der Wind den Rauch in dichten Wolken zwischen ihn und den nächsten Wachtposten trieb, dann stand er auf und schlenderte gemächlich auf das Lager zu. Er hatte sich eine Stelle ausgesucht, wo alle Soldaten schliefen. Rauch und Dunkelheit tarnten ihn, als er aus den Schatten in den Kreis der Feuer trat. Einen Augenblick später stand er zwischen den schlafenden Gestalten. Der Wachtposten starrte leer in die Dunkelheit hinein, ohne etwas bemerkt zu haben.
Flick zog den Umhang fester zu und achtete darauf, daß nur seine Hände sichtbar waren. Sein Gesicht war ein schwacher Schatten unter der Kapuze. Er schaute sich hastig um, aber niemand rührte sich in seiner Nähe. Er atmete tief die kühle Nachtluft ein und versuchte sich im Hinblick auf den Mittelpunkt des Lagers zu orientieren. Er wählte eine Richtung, von der er annahm, daß sie ihn unmittelbar dorthin führen mußte, schaute noch einmal um sich, und setzte sich mit gemessenen Schritten in Bewegung. Es gab keine Umkehr.
Was er in dieser Nacht sah, hörte und erlebte, hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck in seinem Gedächtnis. Es war ein sonderbarer, flüchtiger Alptraum aus Erscheinungen und Lauten, Kreaturen und Gestalten aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort, die in seiner eigenen Welt keinen Platz hatten und doch hineingeschleudert worden waren wie Strandgut von einem fremden Ozean. Vielleicht betäubten die Nacht und der wehende Rauch der Lagerfeuer seine Sinne und erschufen diese traumartige Atmosphäre. Vielleicht konnte auch ein erschöpftes, überfordertes Gehirn nicht mehr alles aufnehmen und verarbeiten.
Die Nacht verrann in trägen Minuten und endlosen Stunden, während der kleine Talbewohner durch das riesige Lager schlich und sein Gesicht vor dem Lichtschein verbarg. Vorsichtig schlängelte er sich zwischen Tausenden schlafender Gestalten hindurch, mußte manchmal sogar über die eine oder andere hinwegsteigen.
Immer wieder glaubte er, entdeckt zu sein, immer wieder griff er nach seinem Jagdmesser, während ihm sein Herz stehenbleiben wollte. Oft kamen ihm Männer entgegen, als wüßten sie, daß er ein Schwindler sei, als wollten sie ihn aufhalten und die Kapuze herunterreißen, um ihn vor allen bloßzustellen.
Aber jedesmal gingen sie wortlos vorbei, und Flick blieb allein, eine vergessene Gestalt inmitten von Tausenden mehrmals kam er an Gruppen vorüber, die sich leise unterhielten und lachten, bemüht, sich am Feuer zu wärmen. Zweidreimal nickte ihm jemand zu, wenn er vorbeiging, die Kapuze tief heruntergezogen, und er erwiderte das Nicken kaum merklich. Immer wieder glaubte er, etwas Falsches getan zu haben.
Schweigsam gewesen zu sein, wenn er hätte reden müssen, gegangen zu sein, wo es verboten war - aber jedes Mal verging der schreckliche Augenblick, und Flick vermochte für eine kurze Zeit aufzuatmen.
Er wanderte stundenlang durch das riesige Lager, ohne einen Hinweis auf den Verbleib Sheas, Eventines oder des Schwertes vom Shannara zu finden. Als der Morgen herankam, begann er daran zu zweifeln, je etwas finden zu können. Er war an zahllosen Feuern vorbeigekommen, hatte auf ein Meer schlafender Gegner geblickt, viele Zelte gesehen, bezeichnet von den Standarten feindlicher Anführer, Gnomen und Trolle, aber sie waren alle unbewacht gewesen. Bei einigen hatte er sich näher herangeschlichen, ohne jedoch etwas zu entdecken.
Er belauschte Gesprächsfetzen zwischen den Gnomen und Patroullien, die nicht schliefen, versuchte gleichzeitig, nicht aufzufallen und doch nah genug heranzukommen, um zu hören, was gesprochen wurde. Aber die Trollsprache war ihm gänzlich fremd, und das Wenige, das er von der Gnomensprache verstand, brachte ihm nichts Nützliches ein. Es schien, als wüßte niemand von den beiden Vermißten und dem Schwert, ja, es hatte den Anschein, als befänden sich weder die Gefangenen noch die Waffe hier im Lager. Flick begann sich zu fragen, ob Allanon nicht einer Täuschung erlegen war.
Er blickte besorgt zum bewölkten Nachthimmel hinauf. Er wußte nicht genau, wie spät es war, aber auf die Dunkelheit würde er sich nur noch wenige Stunden verlassen können, so viel war ihm klar. Für einen Augenblick geriet er in Panik, als ihm einfiel, daß die Zeit nicht einmal reichen mochte, zu Allanons Versteck zurückzukehren. Er schüttelte aber die Angst entschlossen ab und sagte sich, daß er im Wirrwarr des erwachenden Lagers leicht zwischen den Leuten würde hindurchschlüpfen und zu den Berghängen gelangen können, bevor die Sonne ihn erfaßte.
In der Dunkelheit regte sich rechts von ihm plötzlich etwas, und in den Feuerschein stapften vier riesenhafte Trolle, alle bewaffnet.
Sie unterhielten sich leise, während sie an Flick vorbeigingen.
Einer Eingebung folgend, schloß Flick sich im Abstand von einigen Metern an, weil er wissen wollte, wohin sie in voller Kampfausrüstung gingen, mitten in der Nacht. Mehrmals kamen sie an dunklen Zelten vorbei, in denen Flick ihr Ziel vermutete, aber sie marschierten ohne Aufenthalt weiter.
Flick fiel auf, daß die Anlage des Lagers sich in diesem Bereich veränderte. Es gab hier noch mehr Zelte, manche mit hohen, erhellten Vordächern, hinter denen aufrechte Silhouetten sichtbar waren. Es gab weniger einfache Soldaten, die am Boden schliefen, sondern mehr Wachen zwischen den hell lodernden Feuern. Es fiel Flick schwerer, sich in dieser Helligkeit zu verbergen. Um Fragen aus dem Weg zu gehen und nicht entdeckt zu werden, holte er auf und marschierte hinter den Trollen her, als gehöre er zu ihnen. Sie kamen anzahlreichen Wachen vorbei, die kurz grüßten und ihnen nachsahen, aber nicht einer versuchte den vermummten Gnom aufzuhalten, der hinter dem Trupp herlief.
Die Trolle bogen plötzlich nach links ab, und Flick folgte ihnen automatisch - sah sich aber plötzlich vor einem langen, niedrigen Zelt, das ebenfalls von bewaffneten Trollen bewacht wurde. Flick blieb keine Zeit mehr, umzukehren oder sich zu verstecken, und als der Trupp vor dem Zelt stehenblieb, ging er einfach weiter, so, als gehe ihn das Ganze nichts an. Die Wachen schienen sich ebenfalls nichts dabei zu denken und warfen nur beiläufige Blicke auf ihn, als er vorbeischlurfte. Augenblicke später war er an ihnen vorbei, allein in der Dunkelheit.
Er blieb abrupt stehen. Der Schweiß lief ihm über den ganzen Körper, er atmete kurz und stoßweise. Er hatte nur eine Sekunde Zeit gehabt, durch die Öffnung in das beleuchtete Zelt zu blicken, zwischen den emporragenden Trollenwachen mit den eisernen Piken hindurch - nur eine Sekunde, um das geduckte, schwarzgeflügelte Ungeheuer zu sehen, das dort stand, umgeben von Trollen und Gnomen. Aber der Anblick war unverwechselbar gewesen. Ein Schädelträger! Flick zitterte am ganzen Körper, während er sich bemühte, zu Atem zu kommen.
In dem schwerbewachten Zelt ging etwas Entscheidendes vor.
Vielleicht befanden sich die Vermißten und das Schwert dort, bewacht von den Gehilfen des Dämonen-Lords. Ein grausamer Gedanke, und Flick wußte, daß er um jeden Preis einen Blick ins Innere werfen mußte. Aber seine Zeit war abgelaufen, das Glück hatte ihn im Stich gelassen. Die Wachen allein genügten schon, um zu verhindern, daß jemand ins Innere gelangte, aber die zusätzliche Anwesenheit eines Schädelträgers ließ die Aussicht selbstmörderisch erscheinen. Flick ließ sich auf die Hacken nieder und schüttelte hoffnungslos den Kopf. Die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe entmutigte ihn, aber welcher Weg blieb ihm sonst? Wenn er jetzt zu Allanon zurückkehrte, wußten sie so viel wie vorher, und der nächtliche Erkundungsgang war umsonst gewesen.
Er sah zum Nachthimmel hinauf, als könne er dort eine Lösung finden. Die Wolkendecke verharrte an ihrem Platz und hing drohend zwischen dem Mond und der Schwärze der schlafenden Sterne. Die Nacht würde bald zu Ende sein. Flick stand auf und zog den Umhang wieder enger um sich. Das Schicksal mochte ihm beschieden haben, daß die ganze Mühe nur dazu gedient hatte, ihm einen raschen Tod einzubringen, aber Shea verließ sich aul ihn- vielleicht auch Allanon und die anderen. Er mußte wiston, was in diesem Zelt war. Langsam und vorsichtig schlich er sich an.
Die Morgendämmerung kam schnell, eine düstere graue Helligkeit am östlichen Himmel, lastend unter Nebel und Stille. Das Wetter hatte sich südlich der Streleheim-Ebenen nicht gebessert, unterhalb der dunklen Wand, die das Fortschreiten des Dämonen-Lords anzeigte. An den Hangen der westlichen Drachenzäh hatten die Wachen ihre Posten verlassen, um in das erwachende Lager der Nordland-Armee zurückzukehren. Allanon saß ruhig im Schutz der Felsblöcke, in dem schwarzen, langen Umhang kaum geschützt gegen die Kälte oder den Nieselregen, aus dem bald ein Guß wurde. Er hatte die ganze Nacht hier gesessen und auf Flick gewartet, aber als der Himmel im Osten hell wurde und der Feind erwachte, verblaßten seine Hoffnungen. Trotzdem wartete er weiter, wider alle Aussichten hoffend, daß es dem kleinen Talbewohner auf irgendeine Weise gelungen sein mochte, sich zu verbergen, unbemerkt durch das Lager zu schleichen und seinen vermißten Bruder, den Elfen-König und das Schwert zu finden, um dann durch die feindlichen Linien zu gelangen, bevor der Tag anbrach. Das Lager wurde abgebrochen, die Zelte sanken in sich zusammen und wurden verpackt, während die riesige Armee Marschsäulen bildete. Schließlich begann die Kampfmaschine des Dämonen-Lords nach Süden zu marschieren, Richtung Kern, und der riesenhafte Druide trat hinter den Felsen hervor, damit ihn Flick sehen konnte, wenn er in der Nähe war. Nichts rührte sich, nichts war zu hören als der über das Grasland fauchende Wind, und die schwarze Gestalt stand regungslos. Nur die Augen verrieten die tiefe Bitterkeit, die der Druide empfand.
Endlich wandte er sich nach Süden, einen Weg parallel zu der vorausmarschierenden Armee wählend. Riesenschritte bezwangen die Entfernung zwischen ihnen, als der Regen herabzurauschen begann und die gewaltige Leere der Ebenen zurückblieb.
Menion Leah erreichte den mäandernden Mermidon-Fluß unmittelbar nördlich der Inselstadt Kern nur Minuten, bevor es hell wurde. Allanon hatte den Prinzen zu Recht darauf hingewiesen, daß er es schwer haben würde, unentdeckt durch die feindlichen Linien zu schlüpfen. Die Vorposten reichten weit über die Ebene hinaus, nach Westen über dem Mermidon vom Südrand der Drachenzähne. Alles nördlich dieser Linie gehörte dem Dämonen-Lord. Feindliche Streifen huschten ungehindert am Südrand des hochragenden Gebirges entlang und bewachten die wenigen Übergänge. Balinor, Höndel und die Elfen-Brüder hatten am hohen Kennon-Paß einen dieser Trupps überrumpeln können, aber Menion genoß nicht den Schutz der Berge vor den Nordländern.
Er hatte direkt durch das flache, offene Grasland südlich des Mermidon gehen müssen, das sich nach Süden zum Mermidon erstreckte. Zwei Dinge kamen dem Hochländer jedoch zu Hilfe. Die Nacht blieb bewölkt und dunkel, so daß man nur wenige Meter weit sehen konnte. Außerdem war Menion ein Jäger und Spurensucher wie kein anderer im Südland. Er vermochte schnell und sicher durch die Schwärze zu eilen, unentdeckt von allen, außer den allerschärfsten Ohren.
Er hatte sich nicht ohne Groll von Allanon und Flick verabschiedet.
Er traute dem riesigen Druiden nicht so ganz und bereute es, Flick mit ihm allein gelassen zu haben. Sie hatten alles getan, was Allanon verlangte, und ihm in jeder Krise blind vertraut, obwohl sie ahnten, daß er ihnen vieles verschwieg. Er hatte zwar immer recht gehabt, aber das Schwert hatten sie nun doch nicht bekommen, dazu auch noch Shea verloren. Und jetzt sah es so aus, als sollte die Armee aus dem Nordland erfolgreich im Süden eindringen. Nur das Grenzreich von Callahorn stand dazwischen bereit, den Angriff abzuwehren. Menion, der die ungeheure Streitmacht gesehen hatte, wagte nicht daran zu glauben, daß selbst die legendäre Grenzlegion sie würde aufhalten können.
Sein Verstand sagte ihm, die einzige Hoffnung bestünde darin, die Gegner so lange hinzuhalten, bis die Elfen- und Zwergen-Armeen sich mit der Grenzlegion vereinigen konnten, um dann zurückzuschlagen. Er war überzeugt davon, daß das Schwert für sie verloren war, und selbst wenn sie Shea wieder finden sollten, würde es keine Gelegenheit mehr geben, nach der rätselhaften Waffe zu suchen.
Er fluchte leise, als sein Knie an die scharfe Kante eines Felsblocks stieß, und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung. Wie eine schwarze Eidechse wand er sich an den unteren Hängen der Drachenzähne hinunter, durch das Labyrinth von Blöcken und Brocken, das Schwert von Leah und den langen Eschenbogen auf den Rücken geschnallt. Er gelangte nach unten, ohne auf jemand zu stoßen, und starrte in die Dunkelheit. Nichts regte sich. Er trat vorsichtig hinaus auf die grasbewachsene Ebene und blieb immer wieder stehen, um zu lauschen. Er wußte, daß die Wachtposten in der Nähe sein mußten, vermochte aber nichts zu erkennen.
Er hastete lautlos weiter, das Messer locker in der Hand. Er ging lange Minuten ohne Zwischenfall und glaubte schon aufatmen zu können, als ein schwaches Geräusch an sein Ohr drang.
Er erstarrte sofort, versuchte auszumachen, woher es gekommen war, und hörte es wieder - ein leises Husten aus der Dunkelheit unmittelbar vor ihm. Ein Posten hatte sich gerade noch rechtzeitig verraten, um den Hochländer davor zu bewahren, daß er mit ihm zusammenprallte. Ein Aufschrei hätte alle anderen sofort herbeigelockt.
Menion ließ sich auf Hände und Knie nieder und umklammerte das Messer fester. Er kroch lautlos weiter. Endlich vermochten seine Augen die Umrisse einer Gestalt zu erkennen.
Der Größe nach war der Posten ein Gnom. Menion wartete noch einige Minuten, um ganz sicher zu sein, daß der Gnom ihm den Rücken zukehrte, dann schlich er sich an. Mit einer blitzschnellen Bewegung fuhr er hoch, packte den ahnungslosen Gnom an der Kehle und ließ das Messer niedersausen. Der Gnom sank bewußtlos auf den Boden. Menion zögerte nicht, sondern huschte weiter; er wußte, daß andere Wachen in der Nähe waren. Der Wind blies unablässig, und die Minuten verrannen zäh.
Schließlich und endlich erreichte er den Mermidon vor der Inselstadt Kern, deren Lichter fern im Süden glommen. Er blieb auf einer kleinen Anhöhe stehen, die langsam abfiel und das Nordufer des schnellströmenden Flusses bildete. Er blieb halb geduckt, den Umhang eng um sich gewickelt, um vor der nächtlichen Kälte geschützt zu sein. Er war verwundert und erleichtert darüber, daß er den Fluß erreicht hatte, ohne auf eine weitere Postenkette zu stoßen. Vermutlich hatte er mit seiner ursprünglichen Annahme recht gehabt und war durch eine der Ketten geschlüpft, ohne es zu bemerken.
Der Prinz von Leah sicherte nach allen Seiten, dann richtete er sich auf und streckte sich. Er wußte, daß er den Mermidon weiter unten durchqueren mußte, wenn er nicht eine längere Strecke im eisigen Wasser schwimmen wollte. Sobald er eine Stelle unmittelbar der Insel gegenüber erreichte, war er sicher, ein Boot oder eine Fähre zur Stadt zu finden. Er schob die Waffen auf seinem Rücken höher, lächelte grimmig vor sich hin und begann über den Fluß nach Süden zu gehen.
Er war noch nicht sehr weit gekommen, vielleicht tausend Meter, als der Wind für einen Augenblick erstarb; in der plötzlichen Stille hörte er vor sich ein Murmeln. Augenblicklich warf er sich auf den Boden. Der Wind fegte wieder an seinen Ohren vorbei, als er in die Dunkelheit hineinlauschte. Das Fauchen erstarb ein zweitesmal, und wieder hörte er das leise Murmeln, aber diesmal war ihm klar, was es bedeutete. Stimmen, die aus der Schwärze am Flußufer zu ihm heraufgetragen wurden. Er kroch hastig zurück über die Böschung, wo er vor den funkelnden Lichtern der fernen Stadt wieder verborgen war. Dann stand er auf und lief geduckt parallel zum Strom weiter. Die Stimmen wurden lauter und deutlicher und schienen endlich unmittelbar über die Böschung heraufzukommen. Er lauschte angestrengt, schien aber nicht verstehen zu können, was gesprochen wurde.
Er robbte vorsichtig bis zur Böschungskante, von wo aus er eine Gruppe dunkler Gestalten am Mermidon erkennen konnte.
Als erstes sah er das an einem Strauch festgebundene Boot.
Sein Transportmittel, wenn er es erreichen konnte - aber er verwarf den Gedanken fast augenblicklich. In einem Kreis neben dem verankerten Boot standen vier große, bewaffnete Trolle, unverwechselbar sogar in dieser Düsternis. Sie sprachen mit einer fünften Gestalt, die kleiner und schmächtiger war, der Kleidung nach zweifellos ein Bewohner des Südlandes.
Menion betrachtete sie kurze Zeit aufmerksam und versuchte ihre Gesicher zu erkennen, aber in der trüben Beleuchtung war das nahezu unmöglich. Er konnte nur sehen, daß der Fremde einen kleinen, schwarzen Bart trug, den er beim Reden auf merkwürdige Weise mit kurzen, ruckhaften Bewegungen strich.
Dann sah der Prinz von Leah plötzlich noch etwas. Neben den Männern lag ein großes, wohlverschnürtes Bündel. Menion starrte es zweifelnd an, im Dunkel ungewiß, was es sein mochte.
Zu seiner Verblüffung bewegte sich das Bündel ein wenig - genug, um den Hochländer davon zu überzeugen, daß unter der dicken Hülle etwas Lebendiges steckte. Fieberhaft versuchte er sich eine Möglichkeit auszudenken, wie er an die kleine Gruppe herankommen konnte, aber es war bereits zu spät. Die vier Trolle und der Fremde trennten sich. Einer der Trolle ging zu dem rätselhaften Bündel und warf es mühelos über seine breite Schulter.
Der Fremde kehrte zum Boot zurück, löste die Halteleine und stieg hinein, um die Ruder ins Wasser zu tauchen. Man wechselte Abschiedsworte, und Menion fing Satzfetzen auf, darunter die Bemerkung, man habe alles fest in der Hand. Als das Boot auf den Fluß hinausfuhr, rief der Fremde noch, man möge weitere Nachrichten von ihm über den Prinzen abwarten.
Menion drückte sich tiefer in das feuchte Gras und sah den Mann mit seinem Boot in der nebligen Dunkelheit über dem Mermidon verschwinden. Der neue Tag kam endlich herauf, aber in Form von trübem, dunstig-grauem Licht, bei dem man nicht viel mehr sah als vorher im Dunkeln. Der Himmel war noch immer verhangen von großen, schwarzen Wolken, die jeden Augenblick die Erde zu streifen drohten. Bald würde es heftig regnen, und die Luft war bereits erfüllt von einem feuchten, itis Mark dringenden Nebel, der die Kleidung Menions durchleuchtete und sich eiskalt auf seine Haut legte. Die riesige Nordland-Armee würde in kurzer Zeit auf dem Marsch zur Inselstadt Kern sein und sie vermutlich gegen Mittag erreichen. Es blieb ihm wenig Zeit, die Bürger vor dem bevorstehenden Angriff zu warnen - einem Sturm von Soldaten und Waffen, gegen den die Stadt sich nicht lange würde halten können. Die Bevölkerung mußte auf der Stelle evakuiert und zu ihrem Schutz nach Tyrsis oder noch weiter südlich gebracht werden. Balinor mußte erfahren, daß die Zeit abgelaufen war, daß die Grenzlegion antreten und den Feind aufhalten mußte, bis sie von den Zwerg- und Elfen-Armeen verstärkt wurde.
Der Prinz von Leah wußte, daß keine Zeit mehr blieb, weiter über das geheimnisvolle Treffen am Flußufer nachzudenken, aber er zögerte noch einen Augenblick, als die vier Trolle mit dem sich aufbäumenden Bündel das Ufer verließen und zur Anhöhe auf seiner Rechten hinaufstiegen. Für Menion stand fest, daß der Fremde im Boot einen Gefangenen gemacht und ihn den Soldaten der Nordland-Armee übergeben hatte. Die nächtliche Begegnung war von beiden Seiten vorher vereinbart worden, die Übergabe hatte aus Gründen stattgefunden, die Menion nicht zu erahnen vermochte. Wenn sie sich diese Mühe gemacht hatten, mußte der Gefangene für sie - und damit für den Dämonen-Lord - sehr wichtig sein.
Menion sah die Trolle in den dichten Morgennebel hineingehen und war immer noch unentschlossen, ob er eingreifen sollte.
Allanon hatte ihm eine Aufgabe übertragen - eine lebenswichtige, die Tausende von Menschenleben retten mochte. Es blieb keine Zeit für Husarenritte im feindlichen Gebiet zur Befriedigung persönlicher Neugier, selbst wenn das hieß... Shea! Angenommen, es war Shea, den man eingefangen hatte? Der Gedanke durchzuckte Menion wie ein Blitz, und die Entscheidung war gefallen. Shea war zu allem der Schlüssel - Menion mußte versuchen, ihn zu befreien, wenn er wirklich der Gefangene war.
Er sprang auf und lief schnell nach Norden, dorthin zurück, von wo er gekommen war, bemüht, auf einem Weg parallel zu dem der Trolle zu bleiben. Im dichten Nebel fiel es schwer, die Richtung zu halten, aber Menion dachte nicht lange über dieses Problem nach. Es würde außerordentlich schwer werden, vier bewaffneten Trollen ihren Gefangenen zu entreißen, da schon ein einziger von ihnen dem Hochländer körperlich weit überlegen war. Dazu kam die Gefahr, daß sie wieder durch die Postenkette der Nordland-Armee gelangen würden. Wenn er nicht vorher zupackte, hatte er keine Chance. Eine Rettung hing vor allem davon ab, ob der Fluchtweg zum Mermidon frei war. Menion spürte die ersten klatschenden Regentropfen, als er weiterhastete, und der Donner grollte drohend, während der Wind an Stärke zunahm. Verzweifelt suchte Menion in dem Gemisch von Wolken und Nebel nach einer Spur seiner Gegner, konnte aber nichts erkennen. Überzeugt, daß er zu langsam gewesen war und sie verfehlt hatte, hetzte er über das Grasland, wie ein wilder, schwarzer Schatten durch den Nebel huschend. Er schlug Haken um kleine Bäume und Büsche. Der Regen peitschte sein Gesicht, das Wasser lief ihm in die Augen, so daß er kurz stehen bleiben und sich das Gesicht abwischen mußte. Er schüttelte erbost den Kopf. Sie mußten irgendwo in der Nähe sein.
Schlagartig tauchten die vier Trolle links hinter ihm aus dem Nebel auf. Menion hatte sich verschätzt und sie überholt. Er sank hinter ein niedriges Gebüsch und starrte hinaus. Wenn sie auf diesem Weg blieben, würden sie an einem größeren Strauchwerk weiter vorne vorbeikommen. Der Prinz von Leah sprang auf und raste davon in den Nebel, bis er die Trolle nicht mehr sehen konnte. Wenn sie ihn wahrgenommen hatten, war es aus mit ihm.
Sie würden auf ihn gefaßt sein. Wenn nicht, wollte er seinen Hinterhalt in das Gebüsch verlegen und dann zum Fluß zurücklaufen.
Er rannte über die Ebene zu den Sträuchern, wo er sich keuchend auf alle vier niederließ und vorsichtig durch die Zweige schaute.
Einen Augenblick lang gab es nichts zu sehen als Nebel und Regen, dann tauchten vier massige Gestalten auf und näherten lieh seinem Versteck. Er warf den schweren, durchnäßten Jagdumhang ab. Er mußte schnell sein können, um den Trollen zu cntwischen, sobald es ihm gelungen war, den Gefangenen zu befreien. Auch die großen Stiefel zog er aus. Das Schwert von Leah legte er neben sich auf den Boden, nachdem er es aus der Lederscheide gezogen hatte. Er griff nach dem großen Eschenholzbogen und nahm zwei lange, schwarze Pfeile aus dem Köcher. Die Trolle näherten sich rasch. Sie gingen zu zweit nebeneinander, und einer der vorderen Soldaten trug die schlaffe Gestalt des Gefangenen.
Menion erhob sich langsam auf ein Knie, den Pfeil am Bogen, und wartete.
Die ahnungslosen Trolle hatten das Buschwerk fast erreicht, als der erste Pfeil sirrend von der Sehne flog und das Bein des Nordländers traf, der den Gefangenen trug. Mit einem Aufschrei ließ der Troll seine Bürde fallen und stürzte zu Boden. Im nächsten Augenblick schoß Menion den zweiten Pfeil ab und traf die Schulter des zweiten Trolls in der ersten Reihe, der herumgerissen wurde und mit den beiden anderen zusammenprallte.
Ohne Zögern sprang Menion aus dem Gebüsch und stürzte schreiend und das Schwert schwingend auf die fassungslosen Trolle zu. Sie waren von dem vorübergehend vergessenen Gefangenen ein, zwei Schritte zurückgetreten, und der wilde Angreifer wuchtete die schlaffe Gestalt mit einer Hand auf die Schulter, bevor die entgeisterten Nordländer reagieren konnten.
Im nächsten Augenblick war er an ihnen vorbeigestürzt und hieb noch mit dem Schwert auf den Unterarm eines Trolls ein, der vergeblich versuchte, ihn aufzuhalten. Der Weg zum Mermidon war frei.
Zwei Trolle, der eine unverletzt, der andere leicht verwundet, nahmen sofort die Verfolgung auf und liefen durch den Regen.
Ihre schwere Rüstung und deren großes Gewicht verlangsamten sie beträchtlich, aber sie waren doch schneller, als Menion erwartet hatte, und dazu frisch und ausgeruht. Selbst ohne Umhang und Stiefel konnte Menion nicht sehr schnell laufen, solange er den gefesselten Gefangenen tragen mußte. Der Regen wurde immer stärker und peitschte ihm entgegen, während er seinen schmerzenden Körper vorwärtstrieb. Mit weiten, raumgreifenden Schritten hetzte er durch das Gras, vorbei an Bäumen, um Büsche und wassergefüllte Löcher herum. Mehrmals stolperte und stürzte er auf die Knie, nur um sofort wieder aufzuspringen und weiterzulaufen.
Im weichen Gras waren scharfe Steine und dornige Pflanzen verborgen, so daß es nicht lange dauerte, bis seine nackten Füße aus Schnitt- und Stichwunden bluteten. Aber er spürte den Schmerz nicht und rannte weiter. Die weite Ebene allein war Zeugin des sonderbaren Rennens zwischen den riesigen, schwerfälligen Jägern und der schattenhaften Beute, als sie südwärts durch den strömenden Regen und eisigen Wind eilten. Sie liefen, ohne zu hören, zu sehen oder zu fühlen, und nichts störte die Stille als das Fauchen des böigen Windes in den Ohren der Laufenden.
Die Zeit hörte für den fliehenden Hochländer auf zu existieren, während er sich zwang, seine Beine anzutreiben, obwohl die Muskeln längst überfordert waren - und noch immer kein Fluß!
Er schaute längst nicht mehr um, ob die Trolle näherkamen. Er konnte sie spüren, in seinem Inneren ihre keuchenden Atemzüge hören; sie holten rasch auf. Er mußte schneller werden! Er mußte den Fluß erreichen und Shea befreien!
In seiner fast völligen Erschöpfung betrachtete er die gefesselte, vermummte Gestalt unbewußt als seinen Freund. Er hatte, als er sie gepackt hatte, sofort gemerkt, daß sie schmächtig und klein war. Es sprach einiges dafür, daß es sich um den vermißten Talbewohner handelte. Der verschnürte Gefangene war wach und bewegte sich unruhig, während Menion weiterrannte, gab dumpfe Laute von sich, auf die Menion keuchend hervorstieß, sie seien bald in Sicherheit.
Der Regen rauschte plötzlich noch heftiger herab, bis man kaum noch einen Meter weit sehen konnte, und der durchnäßte Hoden verwandelte sich schnell in einen grasbewachsenen Sumpf. Menion stolperte über eine im Wasser liegende Wurzel und stürzte der Länge nach ins schlammige Gras, während seine kostbare Bürde neben ihm auf den Boden plumpste. Zerschlagen und erschöpft schob sich Menion auf Hände und Knie, das große Schwert in Bereitschaft, und schaute sich nach seinen Verfolgern um. Zu seiner Erleichterung waren sie nirgends zu sehen. Im Sturzbach des Regens und durch den Nebel hatten sie ihn vorübergehend aus den Augen verloren. Es konnte aber nicht lange dauern, bis sie ihm wieder auf der Spur waren... Menion schüttelte heftig den Kopf, um klar zu werden und das Wasser aus den Augen zu bekommen, dann kroch er schnell auf das durchnäßte Mündel zu. Wer immer auch darin stecken mochte, würde von nun an neben Menion herlaufen müssen. Der Prinz von Leah wußte, daß er nicht mehr die Kraft hatte, den anderen zu tragen.
Ungeschickt sägte der Hochländer an den Stricken herum, das Schwert mit nasser Hand umklammernd. Es muß Shea sein! sagte eine Stimme immer wieder in ihm, es muß Shea sein. Die Trolle und der Fremde hatten sich solche Mühe gegeben, unbeobachtet zu bleiben... Die Fesseln schnellten auseinander. Es mußte Shea sein! Er schälte die mit Armen und Beinen strampelnde Person aus den dicken Mänteln.
Dann richtete Menion sich plötzlich auf, wischte den Regen aus den Augen und glotzte. Er hatte eine Frau gerettet.