Der zweite Tag der Schlacht um Tyrsis wurde Zeuge eines ebenso schrecklichen Gemetzels unter den Soldaten der Nordland-Armee wie der erste. Die riesige Invasionsstreitmacht griff in der Morgendämmerung an, marschierte unter dem dumpfen Klang der Gnomen-Kriegstrommeln auf die Klippe zu, kam hundert Meter davor zum Stehen. Wieder wurde es still, dann setzte die Armee unter ohrenbetäubendem Geschrei zum Sturmangriff an. Ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit warfen sich die Angreifer Welle um Welle gegen die äußere Verteidigungslinie der Grenzlegion. Sie kamen ohne die riesigen Rampen, die neu zu bauen keine Zeit geblieben war, und verließen sich statt dessen auf Tausende kleiner Sturmleitern und Wurfanker. Es war ein barbarischer, gnadenloser und erbitterter Kampf. Hunderte von Nordländern starben schon in den ersten Minuten.
Da Acton gefallen war, zog Balinor es vor, das berittene Regiment nicht ein zweites Mal zu einem Gegenangriff einzusetzen. Statt dessen hielt er es für angebracht, sich mit allen Leuten einzugraben und die Stellung zu halten, solange es ging. Brennendes Öl und die Bogenschützen der Legion stoppten die ersten Wellen des Angriffs, aber diesmal ergriff der Feind nicht die Flucht. Er rückte mit endlosen Kolonnen an, ohne Unterbrechung, und es gelang ihm, bis zum Fuß des Hochplateaus vorzudringen, wo die Sturmleitern angelegt wurden. Schwärme kreischender Nordländer kletterten hinauf, und die Schlacht löste sich auf in zahllose Kämpfe Mann gegen Mann.
Nahezu acht Stunden lang schlugen die tapferen Verteidiger von Tyrsis einen Feind zurück, der in zwanzigfacher Übermacht angetreten war. Stürmleitern und Wurfanker wurden systematisch zerschmettert und durchtrennt, gegnerische Soldaten hinabgestoßen, sobald sie die Höhe erreichten, und Lücken in der Abwehrlinie geschlossen, wenn sie sich zu vergrößern drohten. Die tapferen Taten der einzelnen Legionäre waren zu zahlreich, als dass man sie aufzählen könnte. Sie kämpften ohne Unterlass, ohne Ablösung, gegen übermächtige Gegner, in dem Wissen, dass der Feind keinen Pardon gewähren würde, sollte er siegen. Acht Stunden lang rannte das Nordland-Heer gegen die Schanzen der Legion vergeblich an. Aber endlich wurde an der linken Abwehrflanke ein Einbruch erzielt. Mit Triumphgeheul stürmte der Feind auf die Klippe.
Nach Actons Tod hatte der alternde Fandwick allein das Kommando in diesem Teil der Verteidigungslinie geführt. Er zog seine geschrumpften Reserven zusammen und warf sie in den Kampf, um den Durchbruch der Nordländer zu verhindern. Lange Zeit wogte das Kampfgetümmel in der aufgerissenen Lücke hin und her, als die entschlossenen Angreifer sich mühten, die gewonnene Position zu halten und auszubauen. Dutzende starben auf beiden Seiten, darunter der tapfere Fandwick.
Balinor führte vom Mittelabschnitt neue Reserven heran, um die aufgerissene Abwehrfront wieder zu schließen, und das gelang ihm endlich auch, aber Augenblicke später gab es neue Einbrüche an der linken Flanke, und der ganze Abschnitt begann zu wanken und auseinander zubrechen. Der König von Callahorn begriff, dass seine Armee die vorgeschobene Verteidigungslinie nicht mehr zu halten vermochte, und wies die noch lebenden Kommandeure an, den geordneten Rückzug in die Stadt einzuleiten. Balinor stützte die zerbröckelnde linke Flanke und zog sie zurück, leistete dem Feind hinhaltenden Widerstand und brachte den ganzen Abschnitt schließlich in die Stadt.
Es war ein bitterer Augenblick für die Südländer, die sich nun daranmachten, die große Außenmauer zu verteidigen. Die Nordland-Armee setzte jedoch nicht nach, sondern riss die Abwehrbefestigungen ab und errichtete sie in einiger Entfernung neu als eigene Abwehrlinie, gerade außer Reichweite der Bogenschützen von Tyrsis. Die erschöpften Soldaten der Grenzlegion sahen von den Stadtmauern aus stumm zu, während der sonnige Nachmittag verrann und die Dämmerung sich ankündigte. Das Lager der Nordland-Armee wurde auf das Gelände unterhalb der Stadt verlegt, und die Armee begann ihre Wachfeuer anzuzünden, als die Dunkelheit sich herabsenkte. In den letzten Augenblicken des Tageslichts verriet der Gegner einen Teil seines Plans, die Mauern von Tyrsis zu erobern. Man brachte große, schräge Rampen in Aufstellung, dann rollten aus dem Zwielicht drei gigantische Belagerungstürme heran, von denen jeder leicht die Höhe der Außenmauer hatte. Die Türme wurden hinter dem Lager des Feindes aufgestellt. Von der Stadt aus waren sie deutlich zu sehen. Es handelte sich unzweifelhaft um eine Art psychologischer Kriegführung, mit dem Ziel, die belagerte Grenzlegion zu entnerven.
Über dem Stadttor beobachtete Balinor die Vorgänge, umringt von seinen Kommandeuren und den Freunden aus Culhaven. Er spielte kurz mit dem Gedanken eines nächtlichen Überfalls auf das feindliche Lager, um die Belagerungstürme niederzubrennen, verwarf die Idee aber wieder schnell. Man würde damit rechnen, dass er etwas Derartiges unternahm, und die Stadttore die ganze Nacht über sicherlich scharf im Auge behalten. Außerdem würde es der Legion nicht schwerer fallen, die Türme in Brand zu stecken, als vorher die Rampen, sobald sie einmal herangeführt wurden.
Balinor schüttelte den Kopf und zog die Brauen zusammen. Das ganze Angriffskonzept der Nordland-Armee hatte etwas Sonderbares an sich, aber es gelang ihm nicht, es zu durchschauen. Dem Feind musste eigentlich klar sein, dass es ihm mit den Belagerungstürmen niemals gelingen konnte, die große Mauer zu überwinden. Man musste etwas anderes im Schilde führen. Balinor fragte sich zum hundertstenmal, ob die Elfen-Armee die Stadt noch rechtzeitig zum Entsatz erreichen würde. Es war dunkel geworden, und nachdem er überall hatte Doppelposten aufstellen lassen, lud er seinen Stab zum Abendessen ein.
Versteckt in einem Wäldchen auf einem niedrigen Hügelkamm mehrere Meilen westlich von Tyrsis betrachtete ein kleiner Reitertrupp die Spuren der verheerenden Schlacht auf der Ebene, während der Abend sich nieder senkte. Stumm verfolgten die Männer, wie die riesigen Belagerungstürme hinter den Linien des Nordland-Heeres bereitgestellt wurden, um am nächsten Morgen beim Sturm auf die befestigte Stadt eingesetzt zu werden.
»Wir sollten ihnen eine Nachricht zukommen lassen«, sagte Jon Lin Sandor halblaut. »Balinor wird erfahren wollen, dass unsere Armee auf dem Weg zu ihm ist.«
Flick warf einen Blick auf Eventine mit seinen Verbänden. Die Augen des Elfen-Königs schienen zu lodern, als er die belagerte Stadt betrachtete.
»Ich hoffe, dass die Armee unterwegs ist«, murmelte Eventine. »Breen ist seit fast drei Tagen fort. Wenn er bis morgen nicht zurückkommt, gehe ich selbst.«
Sein Freund legte die Hand auf die gesunde Schulter des Königs.
»Du bist nicht in der Verfassung für einen weiten Ritt, Eventine. Dein Bruder lässt dich nicht im Stich. Balinor ist ein erfahrener Kämpfer, und die Mauern von Tyrsis sind noch nie erstürmt worden, seit die Stadt besteht. Die Legion kann sich lange genug halten.«
Es blieb eine Weile still. Flick schaute zur dunklen Stadt hinüber und fragte sich, wie es seinen Freunden gehen mochte. Auch Menion musste sich hinter diesen Mauern befinden. Der Hochländer konnte nicht wissen, was Flick zugestoßen war, oder welche Gefahren Eventine bestanden hatte. Ebenso wenig konnte er ahnen, was aus Allanon, dem Unberechenbaren, geworden war, der ohne erkennbaren Grund verschwunden war, nachdem der Talbewohner sich mit dem Elfen-Suchtrupp eingefunden hatte. Der Druide hatte seit seinem Auftauchen in Shady Vale zwar schon oft manches im unklaren gelassen, war aber noch nie ohne eine Erklärung verschwunden. Vielleicht hatte er mit Eventine gesprochen ...
»Die Stadt ist eingeschlossen, jeder Zugang überwacht«, sagte Eventine. »Es wäre außerordentlich schwierig, durch die feindlichen Linien zu gelangen, und sei es nur, um Balinor eine Nachricht zu überbringen. Aber du hast recht, Jon Lin - er sollte wissen, dass wir ihn nicht vergessen haben.«
»Wir sind nicht stark genug, um nach Tyrsis durchzubrechen oder auch nur die Nachhut der Nordland-Armee anzugreifen«, meinte sein Freund nachdenklich, »aber ...« Er starrte hinüber zu den dunklen Umrissen der Belagerungstürme in der Ebene.
»Eine kleine Geste kann nicht schaden«, ergänzte der König mit Nachdruck.
Es war noch nicht Mitternacht, als Balinor auf den Wachtturm über dem Stadttor gerufen wurde. Augenblicke später stand er sprachlos an der Brustwehr, umgeben von Höndel, Menion, Durin und Dayel, und starrte hinunter auf das Chaos, das sich im aufgescheuchten Lager des Feindes auszubreiten begann. Hinter dem weitläufigen Heerlager war der mittlere der drei gigantischen Belagerungstürme ein lodernder Scheiterhaufen, der das Grasland im Umkreis von Meilen erhellte. Verzweifelt hetzten Schwärme von Soldaten an den anderen Türmen empor, um zu verhindern, dass die Flammen auf sie übergriffen. Es war unverkennbar, dass die Invasoren völlig überrascht worden waren. Balinor sah seine Begleiter an und lächelte froh. Hilfe war also nicht weit.
Der Morgen des dritten Tages dämmerte herauf in dumpfer Stille, die wie ein Leichentuch über dem Land von Callahorn und den Armeen von Norden und Süden hing. Die großen Kriegstrommeln der Gnome blieben stumm, sie waren ebenso wenig zu vernehmen wie Angriffsgeschrei. Die Sonne ging blutrot im fernen Osten auf. Ein dichter Dunst lag über dem betauten Land. Nichts rührte sich, kein Laut war zu vernehmen. Die Soldaten der Grenzlegion auf den Mauern von Tyrsis warteten nervös und starrten in die Düsternis, um einen Blick auf den Gegner zu erhäschen.
Balinor befehligte den Mittelabschnitt der großen Außenmauer, Ginnisson hielt die rechte Seite, Messaline die linke. Janus Senpre führte das Kommando über die Stadtgarnison und die Reserven. Menion, Höndel und die Elfen-Brüder standen stumm neben Balinor und fröstelten in der kalten Morgenluft. Sie hatten nur wenig geschlafen, fühlten sich aber hellwach und waren von einer sonderbaren Ruhe erfüllt. Sie hatten sich in den vergangenen achtundvierzig Stunden mit ihrer Lage abgefunden. Sie hatten Männer zu Tausenden sterben sehen, und ihr eigenes Leben erschien neben dem schrecklichen Blutbad, das dieses Land heimgesucht hatte, beinahe bedeutungslos. Das Grasland unter der Stadt war zerrissen und zerfurcht, die Erde getränkt von Blut, übersät mit Toten. Ein noch größeres Gemetzel stand in Aussicht, bis eine der beiden Armeen vollständig vernichtet war. Die Verteidiger von Tyrsis hatten die moralischen Beweggründe hinter dem Wort Überleben vergessen; der Krieg war zu einem mechanischen Reflex geworden, der seine eigene Logik besaß und alles rechtfertigte, was Menschen taten.
Die blutrote Sonne trat schärfer hervor, und nun wurden die Umrisse von Männern und Pferden erkennbar, als die Nordland-Armee wieder auftauchte, ein Schachbrett von exakt ausgerichteten Kolonnen auf dem ganzen Schlachtfeld, von den vo rdersten Schanzen auf der Klippe bis zu den verkohlten Überresten zweier Belagerungstürme. Man bewegte sich nicht, man sagte nichts. Man wartete nur. Höndel begriff, was sich abspielte, und flüsterte Balinor hastig etwas zu. Der Befehlshaber der Legion schickte sofort Meldegänger zu seinen Untergebenen auf den Wällen, um sie zu warnen.
Menion wollte gerade fragen, was eigentlich im Gange sei, als sich plötzlich auf der Klippe unmittelbar unter den Stadttoren etwas regte. Ein einzelner gepanzerter Krieger trat langsam aus dem Zwielicht hervor, hochgewachsen, aufrecht, und blieb vor der Riesenmauer stehen. In einer Hand hielt er eine lange Stange mit einem roten Wimpel. Er stieß die Stange in die Erde, dann trat er zurück, drehte sich um und kehrte zu seinen Reihen zurück. Wieder blieb es völlig still. Kurze Zeit danach hallte der langgezogene, klagende Ton eines fernen Horns traurig über die Ebene - einmal, zweimal, ein drittes Mal. Wieder Stille.
»Die Totenwache«, flüsterte Höndel. »Das bedeutet, dass sie keinen Pardon geben. Sie wollen uns alle töten.«
Plötzlich wurde die Stille vom Dröhnen der Kriegstrommeln zerrissen, und die ganze Armee setzte sich in Bewegung. Tausende von Gnomen-Pfeilen verdunkelten den Himmel und regneten auf die Stadtmauern hinab. Speere, Piken und Streitkolben flogen. Aus dem Dunst über der Ebene tauchte der Umriss des letzten Belagerungsturms auf, ächzend und knarrend unter seinem eigenen Riesengewicht, gezogen von Hunderten von Soldaten, hinauf über die neuerbaute Rampe, bis hin zur Außenmauer. Aus der Stadt schössen die Bogenschützen der Legion auf die anstürmenden Angreifer, während die anderen Legionäre an den Brustwehren lauerten und auf Balinors Befehle warteten.
Der König von Callahorn wartete, bis der massive Belagerungsturm ganz nahe an die Mauer herangekommen war. Schon versuchte der Feind, das große Hindernis mit Wurfankern und Sturmleitern zu erklimmen, und die Mauerfassade war übersät mit sich anklammernden Gestalten, die vergeblich die Krone zu erreichen suchten. Schlagartig ergoss sich der Inhalt riesiger Kessel von der Mauer; das öl überschüttete Menschen und Maschine und die ganze Klippenwand. Brennende Fackeln folgten, und augenblicklich war die ganze Angriffsfront der Nordland-Armee in ein Flammenmeer getaucht. Belagerungsturm und Soldaten verschwanden einfach, als der schwarze Rauch in dichten Wolken emporquoll und den Blicken der Verteidiger das grausige Schauspiel entzog; nur die qualvollen Schreie der von den Flammen erfassten Männer waren zu hören. Die Angreifer, die versucht hatten, die Außenmauer zu ersteigen, saßen in der Falle. Einzelnen gelang es, die Brustwehr zu erreichen, wo sie schnell getötet wurden, aber die meisten verloren einfach den Halt oder wurden vom dichten Rauch ihrer Sinne beraubt, so dass sie ohne weiteres ins Feuer stürzten.
Binnen Minuten war der Angriff abgewehrt, und wieder entschwand das ganze Nordland-Heer dem Blick. Die Männer auf den Wällen starrten angestrengt in den wirbelnden Rauch und versuchten vergeblich zu entdecken, welcher Art der nächste Angriff sein mochte. Balinor sah seine Begleiter an und schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Das war Wahnsinn. Sie müssen doch gewusst haben, was geschehen würde und sie haben es trotzdem versucht. Sind sie toll geworden?«
»Vielleicht wollten sie uns ablenken«, murmelte Höndel. »Mit der Rauchwand, die wir ihnen geliefert haben.«
»So viele Tote, nur um sich einzunebeln?« rief Menion ungläubig.
»Wenn es so wäre, müssen sie etwas ganz Besonderes im Schild führen, von dem sie überzeugt sind, dass es nicht fehlschlagen kann«, erklärte Balinor. »Behaltet hier alles im Auge. Ich gehe zum Tor.« Er wandte sich ab und lief die steinerne Wendeltreppe hinunter. Die anderen sahen ihm stumm nach und kehrten sich wieder der Brustwehr zu. Vor ihnen quollen noch immer dichte Rauchwolken zum Himmel; das Öl loderte nach wie vor. Die Todesschreie waren verstummt, es war seltsam still geworden.
»Was haben sie vor?« fragte Menion nach einer Weile.
Es blieb geraume Zeit still.
»Wenn wir nur Stenmin erwischt hätten«, murmelte Durin schließlich. »Ich fühle mich nicht einmal hinter diesen Mauern sicher, solange dieser Wahnsinnige in der Stadt frei herumläuft.«
»Wir hatten ihn beinahe schon«, sagte Dayel. »Wir sind ihm in dieses Zimmer gefolgt, aber er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Es muss einen Geheimgang haben.«
Durin nickte, und das Gespräch geriet wieder ins Stocken. Menion starrte in den Rauch und dachte an Shirl, die im Palast auf ihn wartete, an Shea, Flick, seinen Vater und seine Heimat - die Bilder zogen blitzschnell an seinem inneren Auge vorbei. Wie würde das alles enden?
»Bei den Schatten!« Höndel riss ihn so ruckartig herum, dass er erschrak. »Ich bin ein Schwachkopf. Dabei lag das so nahe. Ein Geheimgang! Im Keller des Palastes, unter den Weinkellern, in den Verliesen, die so viele Jahre hindurch abgeschlossen waren - ein Gang, der durch den Berg zur Ebene führt. Der alte König hat vor vielen Jahren in meiner Gegenwart einmal davon gesprochen. Stenmin scheint ihn zu kennen.«
»Ein Schleichweg in die Stadt!« rief Menion. »Sie könnten uns in die Zange nehmen!« Er hielt den Atem an. »Höndel! Shirl ist im Palast!«
»Wir haben nicht viel Zeit.« Höndel war schon auf der Treppe. »Menion, kommt mit. Dayel, sucht Janus Senpre und sagt ihm, er soll sofort Verstärkung zum Palast schicken. Durin, versucht Balinor zu finden und ihn zu warnen. Beeilt euch. Wir wollen hoffen, dass es noch nicht zu spät ist.«
Sie stürmten die Treppe hinunter und rasten über den Platz vor den Kasernen, stießen Soldaten beiseite, hetzten weiter auf das Tor zu, das in die innere Stadt führte. Zu langsam! schrie eine Stimme in Menion. Er riss Höndel fast von den Beinen, um ihn zu einer kleinen Gruppe von angebundenen Reservepferden zu steuern, die er zu seiner Rechten entdeckt hatte. Er schleuderte einen Soldaten beiseite, der ihm in den Weg treten wollte, und die beiden Männer sprangen in die Sättel und lenkten die Pferde zur Stadt, galoppierten durch das offene Tor, vorbei an den verblüfften Wachen, vorbei an Reserveeinheiten, die hier auf ihren Einsatz warteten, und rasten auf den Palast zu, so schnell die Gäule laufen konnten.
Alles, was danach kam, schien in einem Vakuum von Zeit und Raum stattzufinden. Menschen und Gebäude flogen an ihnen verschwommen vorbei, als die beiden Reiter über das uralte Pflaster der Hauptstraße fegten, dann tauchte die Brücke von Sendic auf, die den Volkspark überspannte und zum Palast der Buckhannahs führte. Ein Trosszug stob wild auseinander, als die beiden Reiter vorbeiflogen und ihre Pferde über den steinernen Brückenbogen zum offenen Palasttor trieben. Höndel und Menion sprengten in den von Gärten eingefassten Vorhof, brachten die schwitzenden Pferde zum Stehen und sprangen aus den Sätteln.
Alles war still. Nichts schien aus der Ordnung zu sein. Ein Diener schlenderte beinahe gemächlich aus dem Schatten einer hohen Weide, um die Zügel der Pferde zu ergreifen. Sein Blick verriet nur geringe Neugier. Höndel warf dem Mann einen scharfen Blick zu, dann winkte er Menion und lief zum Eingang. Vielleicht kamen sie noch früh genug. Vielleicht täuschten sie sich sogar ...
Die Korridore des alten Schlosses gähnten leer, als die beiden m der Halle stehen blieben, schnelle Blicke in offene Durchgänge und tiefe Nischen warfen, den Blick über Gobelins und Fenster gleiten ließen, Menion wollte sich auf die Suche nach Shirl begeben, aber sein Begleiter hielt ihn mit einem kurzen Wort zurück. Die rothaarige Tochter aus königlichem Haus würde warten müssen. Auf leisen Sohlen führte Höndel den besorgten Hochländer durch einen anderen Korridor zum Kellereingang. An einer Biegung blieben sie stehen, pressten sich an die Holztäfelung und blickten vorsichtig um die Ecke.
Die massive, eisenbeschlagene Tür zum nun schon vertrauten Weinkeller stand offen. Im Eingang standen drei bewaffnete Männer und behielten den Korridor im Auge. Alle trugen das Abzeichen des Falken. Menion und Höndel glitten lautlos zurück. Der Prinz von Leah bemerkte zum erstenmal, dass er keine Waffen trug. Er hatte das Schwert von Leah am Sattelknauf seines Pferdes hängen lassen. Er schaute sich hastig um und entdeckte an einer Wand zwei gekreuzte Piken. Er hätte sich eine bessere Waffe gewünscht, aber nun blieb ihm keine andere Wahl. Lautlos nahm er eine von den schweren Lanzen von der Wand und kehrte zu Höndel zurück. Sie tauschten einen raschen Blick. Es musste schnell gehen. Wenn die Kellertür von innen geschlossen und verriegelt werden sollte, bevor sie sie erreichten, war ihre Chance, Stenmin und den Geheimgang zu finden, dahin. Außerdem waren sie nur zu zweit. Wie viele Feinde mochten unten noch auf sie warten?
Sie überlegten nicht lange. Blitzschnell stürmten sie aus ihrem Versteck den Korridor hinunter. Die drei Wachen hatten kaum Zeit, sich umzudrehen, bevor die beiden Männer bei ihnen waren. Menion durchstieß mit seiner Lanze den Mann, der dem Eingang am nächsten stand, und stürzte sich einen Augenblick später auf den zweiten. Der letzte Posten sank unter einem Hieb von Höndels Streitkolben lautlos zusammen. Das Ganze war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte, und die beiden Kämpfer hetzten durch den Eingang und die abgetretenen Steinstufen hinunter, um den tödlichsten Kampf ihres Lebens zu bestehen.
Der alte Weinkeller war von Fackeln erhellt. Das flackernde Licht strahlte von allen Wänden und durchdrang die muffige Düsternis wie die aufgehende Sonne den Morgennebel. In der Mitte des riesigen Gewölbes war die große steinerne Falltür geöffnet, und aus der Dunkelheit tönte das Klirren von Metall auf Stein herauf. Im Keller wimmelte es von Bewaffneten, die sich aus allen Richtungen auf die beiden Eindringlinge stürzten.
Höndel und Menion erwiderten den Ansturm mit einem wutentbrannten Gegenangriff, der sie in die Mitte der Gegner trug. Menion hatte einem der niedergestoßenen Wachen am Kellereingang das Schwert entrissen. Rücken an Rücken mit Höndel begann er die Gegner niederzumähen. Aus dem Augenwinkel sah er eine bekannte, scharlachrot gekleidete Gestalt aus der Tiefe der Verliese heraufsteigen; als er den verhassten Stenmin erblickte, wurde der Prinz von Leah von grenzenloser Wut erfasst. Mit verdoppelter Heftigkeit hieb er auf die Gegner ein, versuchte sich einen Weg zu bahnen und den Mann zu erreichen, der sie verraten hatte. Die Züge des hageren Mystikers verzerrten sich vor Angst, als er vor dem schrecklichen Getümmel zurückwich.
Rücken an Rücken kämpften der Zwerg und der Hochländer wie Besessene, umgeben von Toten und Sterbenden. Sie hatten beide am ganzen Körper schon Wunden davongetragen, aber die Schmerzen verspürten sie nicht. Zweimal war Menion auf dem blutverschmierten Boden ausgeglitten, zweimal hatte Höndel die Angreifer abgewehrt, bis der Hochländer sich wieder hatte aufrichten können. Nur noch fünf Gegner waren auf den Beinen, aber Höndel und Menion Leah waren nun auch nahezu am Ende ihrer Kräfte. Sie kämpften wie mechanische Figuren, blut- und schweißüberströmt, mit Gliedmaßen von bleierner Schwere. Stenmin, der plötzlich zur Besinnung zu kommen schien, stürmte zur offenen Luke und schrie kreischend um Hilfe. Der Prinz von Leah reagierte sofort. Mit einer letzten Kraftanstrengung rannte er zwei seiner Gegner um, so dass sie zu Boden stürzten. Ein dritter wollte ihn aufhalten, aber Menion stieß ihm das Schwert in den Leib und ließ es dort stecken. Er packte eine Lanze, die am Boden lag, stürzte sich auf Stenmin und betäubte ihn mit einem heftigen Hieb der schweren Waffe. Als die hagere Gestalt zusammensank, griff Menion nach der Falltür und stemmte sie hoch.
11
Es schien, als sei der Stein in offener Stellung festgekettet worden. Er regte sich nicht. Tief unten verstummten die klirrenden Geräusche und wurden von Stiefelgetrappel ersetzt, als Soldaten auf die Falltür zuhetzten. Nur Sekunden blieben noch. Wenn sie die Treppe erreichten, war Menion ein toter Mann. Er spannte seine Muskeln mit letzter Kraft an, packte den massiven Steinblock, und - er bewegte sich. Ächzend vor Anstrengung stemmte sich der Hochländer gegen die mächtige Falltür, bis sie endlich kippte und mit ohrenbetäubendem Krachen zufiel. Mit gefühllosen, schwitzenden Händen zog er die schwere Kette durch die Eisenringe und befestigte sie mit einer Stange. Der Gang war verschlossen. Wenn die Nordland-Armee hier einzudringen versuchte, würde sie Eisen und Stein von Meterdicke durchstoßen müssen.
»Menion.«
Ein raues Flüstern durchdrang die plötzliche Stille. Menion kauerte am Boden, auf Hände und Knie gestützt. Seine tastende Hand fand ein daneben liegendes Schwert. Er hob mühsam den Kopf. Über einen mit niedergestürzten Gegnern übersäten Boden hinweg fand der Blick Menions seinen Freund. Der Zwerg stand mit dem Rücken an der Wand vor der Kellertreppe, den schweren Streitkolben noch immer in der Hand. Er war umringt von Leichen. Er hatte sie alle getötet. Niemand war entkommen. Die harten Augen begegneten Menions Blick für eine halbe Sekunde, und es war, als begegneten sie einander zum erstenmal, .wie damals in der Ebene hinter den Schwarzen Eichen. Er war der alte Höndel - wortkarg, grimmig, immer einfallsreich. Dann entglitt ihm der Streitkolben, sein Blick trübte sich; mit einem tiefen Seufzer glitt er zu Boden, gefällt vom Tod, der ihn zuletzt doch ereilt hatte.
Höndel! Der Name zuckte durch Menions betäubtes, ungläubiges Gehirn, während er sich mühsam aufraffte und schwankend in den tanzenden Schatten stand. Die Tränen traten ihm in die geröteten Augen und liefen über sein Gesicht. Mit bleiernen Beinen stieg er über die Leichen der Feinde hinweg, keuchend vor Wut und Hilflosigkeit. Nur dumpf nahm er wahr, dass irgendwo hinter ihm Stenmin zu sich kam. Er erreichte den Zwerg, kniete nieder und bettete Höndels Kopf in seinem Schoß. Wie oft hatte Höndel ihm das Leben gerettet? Wie oft hatte er sie alle vor dem Schlimmsten bewahrt? Und nun ... Menion konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er konnte nur weinen.
Stenmin schob sich langsam auf ein Knie und schaute sich im Keller fassungslos um. Alle seine Leute tot, die steinerne Falltür geschlossen und verriegelt, und ... In seinem gepeinigten Körper zuckte Angst auf. Einer der Eindringlinge lebte noch - der Hochländer! Er hasste diesen Mann, hasste ihn so sehr, dass er überlegte, ob er ihn in diesem Augenblick töten sollte, aber die Angst in ihm war stärker, stärker noch als zuvor, und er dachte nur an Flucht. Fliehen und am Leben bleiben! Es gab nur einen Weg - die Treppe hinauf, vorbei an dem knienden Mann, hinaus durch die offene Kellertür. Er stand schon auf den Beinen und schlich lautlos durch den Keller, stieg über die Leichenhaufen, huschte auf die Treppe zu.
Der Hochländer drehte ihm den Rücken zu, immer noch über den Zwerg gebeugt. Auf Stenmins Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen, und die dünnen Lippen kräuselten sich bösartig - aber die Furcht trieb ihn weiter. Er würde bald frei sein. Nur noch ein paar Schritte. Die Stadt war dem Untergang geweiht. Alle Einwohner würden sterben - alle seine Feinde. Er aber würde überleben. Er musste sich zwingen, nicht laut aufzulachen. Seine Hand berührte die Treppe, ein Fuß folgte; der Hochländer war nur einen Meter entfernt, noch immer ahnungslos, die Kellertür stand offen und war nicht bewacht. Freiheit! Nur noch ein Schritt. . .
Da fuhr Menion herum. Stenmin stieß einen Ent setzensschrei aus, als er das unheimliche Gesicht des Prinzen sah. Der Mystiker versuchte verzweifelt, die Treppe hinaufzustürmen, stolperte in den langen, roten Gewändern über die eigenen Beine.
Er kam nur einige Schritte weit, als Menion ihn einholte.
An den Mauern von Tyrsis geschah das Unmögliche. Nachdem Balinor von der Brustwehr des Außenwalls heruntergestiegen war, hatte er sich sofort zum massiven Stadttor begeben. Die Wachen der Legion, die dort stationiert waren, nahmen stramme Haltung an. Alles schien in Ordnung zu sein. Die vom Torhaus aus bedienten Riegelbolzen waren alle an ihren Plätzen. Die mächtige Eisenstange, die als zusätzliche Sicherung diente, lag quer über den beiden eisernen Torflügeln in ihren Befestigungen. Balinor starrte nachdenklich auf die Mauer, von Zweifeln beschlichen. Irgend etwas stand bevor, er konnte es fühlen. Das Tor war der Schlüssel zur Stadt, der einzige wunde Punkt in der sonst undurchdringlichen Steinmauer um Tyrsis. Belagerungstürme, Wurfanker, Sturmleitern - alle diese Geräte reichten nicht aus, den großen Wall zu erstürmen, und der Dämonen-Lord musste das wissen. Das Tor war der Schlüssel.
Balinors Blick glitt hinauf zum Torhaus auf dem Turm, einem gedrungenen, fensterlosen Bauwerk mit dem Mechanismus für die Innenverschlüsse. Zwei Legionäre standen wachsam an der Tür. Eine ausgesuchte Abteilung hatte den Auftrag erhalten, den lebenswichtigen Mechanismus zu schützen, Männer, die Balinor selbst ausgewählt hatte, unter dem Kommando von Hauptmann Sheelon. Zu beiden Seiten des kleinen Bauwerks verteidigten die Männer der Legion die Wälle. Es schien kaum möglich zu sein, dass die Nordländer damit rechneten, das Torhaus erobern zu können. Trotzdem ...
Schon war Balinor zu der schmalen Treppe gegangen, die in den Turm führte, und stieg die Stufen hinauf. Plötzliche Schreie von der Mauerkrone lenkten seine Aufmerksamkeit kurz ab, und er blieb stehen, als Tausende von Bogensehnen sirrten und ein Hagel von Pfeilen auf die Mauer niederging. Balinor hetzte hinauf. Er starrte an der Klippenwand hinunter, sah Leichen, zerstörte Geräte und kleine Brände. Die Nordländer hatten vorübergehend den direkten Angriff eingestellt. Statt dessen überschütteten lange Reihen von Bogenschützen die Verteidiger mit Pfeilen.
Der Grund für diese Taktik war schnell erkennbar. Am Rand der Klippe schob ein Trupp schwer gepanzerter Berg-Trolle einen mächtigen, schweren Rammbock heran, der oben und an den Seiten geschützt war durch Eisenblech. Während die Grenzlegion vom Feuer der Bogenschützen niedergehalten wurde, gedachten die riesigen Trolle den gewaltigen Rammbock vor das Stadttor zu bringen und es zu sprengen.
Auf den ersten Blick erschien der Plan unsinnig. Wenn das Torhaus dem Gegner jedoch in die Hände fiel, konnten die inneren Riegel geöffnet werden, und nur die lange, eiserne Querstange würde das Tor noch geschlossen halten. Sie allein konnte aber dem Rammbock nicht standhalten. Balinor lief auf das kleine Torhaus zu. Die Wachen beobachteten ihn. Er blickte sie im Vorbeigehen an und streckte die Hand nach der Türklinke aus. Sheelon war nirgends zu sehen. Die Tür öffnete sich nach innen, und er hatte einen Schritt in den Raum hineingetan, als ihm klar wurde, dass er keinen der beiden Wachtposten je zuvor gesehen hatte.
Balinor reagierte instinktiv, sprang zur Seite, als der Wachtposten auf ihn zustürzte, packte die ausgestreckte Lanze und entriss sie dem Angreifer. Mit dem Rücken an der Wand hatte der König nur einen kurzen Augenblick Zeit, einen Blick in den trüb erleuchteten Raum zu werfen. Die Leichen von Sheelon und seinen Leuten lagen in einer Ecke, zusammengekrümmt im Tod, ohne Rüstung und Kleidung. Aus den Schatten an der Rückseite des Raumes stürzte eine Gruppe gesichtsloser Angreifer auf Balinor zu, Dolche in den erhobenen Fäusten. Balinor schleuderte ihnen die Lanze entgegen und sprang zum Ausgang, aber der zweite Posten, der vor der Tür geblieben war, sah ihn kommen und stieß die Tür von der anderen Seite her zu. Der König vermochte sich den Weg nach draußen nicht mehr zu bahnen. Er saß in der Falle. Es blieb ihm gerade noch Zeit, das Breitschwert zu ziehen, bevor sich die anderen auf ihn stürzten. Sie rissen ihn zu Boden, aber die Dolchklingen glitten an seinem Kettenpanzer ab, der ihm schon so oft das Leben gerettet hatte. Balinor bäumte sich auf, schüttelte die Gegner ab und kam wieder auf die Beine. Im trüben Licht waren die Angreifer nur Schatten, aber seine Augen passten sich dem Halbdunkel an, und er hieb auf sie ein, als sie erneut über ihn herfielen. Zwei von den dunklen Gestalten kreischten auf und stürzten leblos zu Boden, als die mächtige Klinge sie traf, aber ihre Begleiter hatten das Schwert schon unterlaufen und warfen sich nun wieder auf den König.
Zum zweitenmal wurde Balinor niedergerungen, doch wieder befreite er sich, und der Kampf wogte in dem kleinen Raum hin und her. Der Lärm des Angriffs auf die große Mauer übertönte von draußen die Geräusche im Torhaus. Balinor wusste, dass er mit keiner Hilfe rechnen konnte, wenn es ihm nicht gelang, das Freie zu gewinnen. Er stellte sich wieder an die Wand und schwang das große Schwert, bedrängt von den Gegnern. Drei waren tot, mehrere verwundet, aber die übrigen Männer begannen ihn durch ihre ständigen Attacken zu ermüden. Er musste rasch entkommen. Dann tönte ein lautes Knirschen von Zahnrädern und Gestängen durch das Torhaus, und er begriff entsetzt, dass jemand die Innenverriegelung des Hauptportals öffnete. Er stürzte vorwärts, um zum Sperrmechanismus zu gelangen, aber die Gegner versperrten ihm den Weg und er wurde dazu gezwungen, sich im Halbkreis von seinem Ziel abzusetzen. Einen Augenblick später kreischte Metall auf Metall, und man hörte schwere Hammerschläge. Die Feinde versuchten, die Sperrhebel zu blockieren. Balinor ließ alle Vorsicht fahren und stürzte sich auf die Gegner.
Dann wurde die Tür aufgerissen, und die Leiche des verräterischen Wachtpostens flog herein. Graues Licht flutete in den Raum, und die schlanke Gestalt Durins tauchte neben seinem Freund auf. In grimmigem Schweigen hieben sie auf die verbliebenen Gegner ein, trieben sie fort vom Sperrmechanismus, versperrten ihnen den Weg zur Tür und machten sie in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes nieder. Ohne einen zweiten Blick auf die Toten zu werfen, stürmte der blutbefleckte König zum beschädigten Mechanismus und starrte wutentbrannt das Gewirr von Hebeln und Zahnstangen an. Aufgebracht warf er sich gegen den Haupthebel, der sich aber nicht bewegte. Durin wurde blass, als er begriff, was geschehen war.
»Wir haben nicht genug Zeit!« schrie Balinor, verzweifelt an den verklemmten Hebeln zerrend.
Ein dröhnendes Krachen hallte durch das Gebäude, ließ die Wände erzittern und den Boden erbeben.
»Das Tor!« rief Durin entsetzt.
Ein zweites Krachen erschütterte das Torhaus, ein drittes. Draußen scharrten Stiefel, einen Augenblick später erschien Messalines dunkles Gesicht in der Tür. Er wollte etwas sagen, aber Balinor erteilte bereits Befehle.
»Lasst den Raum säubern! Unsere Maschinisten sollen versuchen, den Mechanismus wieder in Gang zu bringen. Die Verriegelung ist gelöst und verklemmt. Verstärkt die Torflügel mit Holzstämmen und stellt Euer bestes Regiment fünfzig Schritte dahinter zu beiden Seiten auf! Die Nordländer dürfen nicht durchkommen. Setzt zwei Reihen Bogenschützen an der Innenmauer ein, um den Torzugang zu verteidigen. Die Reserven und die Stadtgarnison werden die Innenmauer verteidigen. Alle anderen bleiben, wo sie sind. Wir halten die Außenmauer, solange wir können. Wenn sie fällt, zieht die Legion sich auf die zweite Linie zurück und hält sie. Wird auch diese überrannt, verschanzen wir uns an der Brücke von Sendic. Das wird die letzte Abwehrlinie sein. Sonst noch etwas?«
Durin erklärte hastig, wohin Höndel gegangen war. Balinor schüttelte erschöpft den Kopf.
»Wir sind allerorts verraten worden. Höndel wird im Augenblick ohne unsere Hilfe auskommen müssen. Wenn der Palast fällt und sie uns von hinten angreifen, sind wir ohnehin am Ende. Messaline, Ihr haltet die rechte Flanke, Ginnisson übernimmt die linke, ich bleibe in der Mitte. Der Feind darf nicht durchbrechen. Betet darum, dass Eventine eintrifft, bevor unsere Kräfte erlahmen.«
Messaline hetzte davon. Die heftigen Stöße des großen Rammbocks erschütterten die große Mauer, während Balinor und Durin einander anstarrten. Schon wurde das graue Tageslicht düsterer, als der Schatten des Dämonen-Lords der dem Untergang geweihten Stadt drohend näherrückte. Balinor griff nach der Hand seines Freundes.
»Lebt wohl, mein Freund. Das ist das Ende für uns. Die Zeit ist abgelaufen.«
»Eventine würde uns nie bewusst im Stich lassen ...« begann der Elf.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Balinor. »So wenig wie Allanon. Er hat das Schwert oder den Erben von Shannara nicht gefunden. Auch seine Zeit ist abgelaufen.«
Sie schwiegen einen Augenblick und hörten das Geschrei der Männer auf den Wällen und die Stöße des Rammbocks am Tor. Balinor wischte sich Blut vom Gesicht.
»Sucht Euren Bruder, Durin. Aber bevor Ihr die Außenmauer verlasst, soll das letzte öl auf den Rammbock geschüttet und angezündet werden. Wenn wir sie nicht aufhalten können, wollen wir ihnen wenigstens die Hölle heiß machen.« Er lächelte grimmig und eilte hinaus. Durin starrte ihm nach und fragte sich, was für ein blindes Schicksal sie zu diesem ungerechten Ende verurteilt hatte. Balinor war der bemerkenswerteste Mann, dem der Elf je begegnet war. Und doch hatte er alles verloren - Familie, Stadt, Heimat, und nun sollte ihm auch noch das Leben genommen werden. Was für eine Welt war das, in der furchtbarstes Unrecht geschehen durfte, in der gute Menschen alles verloren und seelenlose Kreaturen von Bösartigkeit und Hass triumphieren durften? Er war einmal fest davon überzeugt gewesen, dass sie nicht scheitern, dass sie einen Weg finden würden, den fürchterlichen Dämonen-Lord zu vernichten und die vier Länder zu retten, aber mit diesem Traum war es vorbei.
Durin hob müde den Kopf, als mehrere stämmige Maschinisten das Torhaus betraten, um ihre hoffnungslose Arbeit an dem beschädigten Sperrmechanismus aufzunehmen. Der Elf hastete hinaus. Es war Zeit, Dayel zu suchen.
Der Kampf um die Außenmauer war mit äußerster Heftigkeit entbrannt. Trotz des verheerenden Pfeilhagels, von dem die Grenzlegion überschüttet wurde, gelang es den tapferen Verteidigern, gegen die Trolle vorzugehen, die den schweren Rammbock vor dem Tor bedienten. Die restlichen Kessel wurden auf die Mauer über dem Tor geschafft, und man schüttete das öl auf den Rammbock und die Trolle. Lodernde Fackeln flogen hinunter, und augenblicklich stand die ganze Umgebung wieder in Flammen, während schmierig-schwarze Rauchwolken emporstiegen. Metall schmolz und glühte, und die Trolle wurden nach wenigen Augenblicken schrecklichster Hitze bei lebendigem Leib verbrannt, ihre Panzerung wurde ihnen zum Schmelzofen, aus dem es kein Entrinnen gab. Aber neue Soldaten traten sofort an ihre Stelle, und der mächtige Rammbock traf weiterhin das Tor mit ungeheuren, dröhnenden Stößen, unter denen die riesige Sperrstange sich krümmte und dann brach.
Der graue Himmel wurde schwarz von dem öligen Rauch, der sich über dem brennenden Grasland erhob und die Stadtwälle und ihre Verteidiger in dichten, ätzenden Dunst hüllte. Der Gestank nach Verbranntem legte sich erstickend über Feind und Freund. Verzweifelt bemühten sich beide Seiten, einen Durchbruch zu erzielen, aber der Ausgang des Kampfes blieb unentschieden. Kurze Zeit sah es so aus, als sollte der Tag zu Ende gehen, ohne der einen oder anderen Seite einen entscheidenden Vorteil zu bringen.
Aber endlich brach die Sperrstange ganz auseinander, die Torflügel splitterten, und der riesige Rammbock stieß eine Bresche in das Portal. Die ersten Nordländer strömten auf den Vorplatz, wurden jedoch von Bogenschützen der Legion auf der Innenmauer sofort niedergestreckt. Die Phalanx Messalines, U-förmig dem großen Tor gegenüber aufgestellt, erwartete mit gezückten Speeren und Schilden den Ansturm. Der Rammbock rückte vorwärts, und das Tor öffnete sich noch weiter, dann brach die Vorhut der Nordland-Armee durch die Lücke und warf sich den Speeren der Grenzlegion entgegen. Die Verteidigungslinie schwankte, hielt aber und warf die Angreifer zurück, die verwirrt durcheinander wogten, unter Feuer genommen von den Bogenschützen auf Außen- und Innenmauer. Binnen Sekunden war der Exerzierplatz vor den Kasernen mit toten und verwundeten Nordländern übersät, und die Bresche im Tor war vorübergehend verstopft, so dass die Masse der Invasionstruppen nicht nachrücken konnte.
Durin hatte sich auf der Außenmauer neben dem Torhaus aufgestellt und beobachtete von dort aus, wie der Ansturm des Nordlandes an der Phalanx der Legion zerschellte. Er hatte entdeckt, dass sein Bruder mit Janus Senpre zum Palast gegangen war, und widerstrebend beschlossen, bei Balinor auszuharren, solange es ging. Der Feind fand wieder neuen Schwung; unten auf der Ebene lenkten Maturen die Berg-Troll-Trupps zur Bresche im Stadttor. Die Nordland-Armee unternahm abermals einen mächtigen Versuch, die Südländer ein für allemal zu vernichten. Die Außenmauer wurde wieder aus allen Winkeln bestürmt, als Horden von Gnomen und kleineren Trollen mit Sturmleitern, Seilen und Wurfankern ausschwärmten. Die gelichteten Reihen der Verteidiger auf der Mauer kämpften verzweifelt, um einen Durchbruch zu verhindern, aber es starben zu viele, und die Reserven der Nordland-Armee schienen unerschöpflich zu sein. Aus der Schlacht wurde ein Abnutzungskrieg, den die Männer von Tyrsis nicht hoffen konnten zu gewinnen.
Dann erhoben sich in die zunehmende Schwärze des Himmels nördlich der belagerten Stadt zwei geflügelte Ges talten und schwebten drohend in der Luft. Durin spürte, wie das Blut in seinen Adern gefror. Schädelträger! Waren sie des Sieges so gewiss, dass sie es wagten, sich noch bei Tageslicht zu zeigen? Der Elf spürte, wie sein Mut sank. Er hatte hier getan, was er konnte; es war Zeit, sich seinem Bruder anzuschließen. Welches Schicksal ihnen auch beschieden sein mochte, sie wollten sich ihm gemeinsam stellen.
Er drehte sich um und lief an der Mauer entlang, bis er sich hinter der linken Flanke der Legionsphalanx befand. Eine steile Rampe führte hinab zum Kasernengelände zwischen den beiden Stadtmauern, an die hundert Meter hinter den letzten Linien der Legion. Vom Kampfgetümmel auf den Wällen drang ohrenbetäubendes Geschrei herüber. Als Durin die Rampe fast hinter sich gebracht hatte, sah er die großen, gepanzerten Gestalten der Berg-Trolle durch die Bresche im Tor der Außenmauer strömen. Er blieb unwillkürlich stehen. Die entscheidenden Augenblicke für die Grenzlegion standen bevor.
Die Phalanx schloss sich zusammen und war abwehrbereit, als die mächtigen Trolle langsam zur Mitte der Verteidigungslinie vordrangen, wo Balinor das Kommando führte. Drei Meter trennten die Kämpfenden, als das ganze Troll-Regiment plötzlich nach links abschwenkte und sich auf die Flanke der Legion stürzte. Der Boden bebte, als die beiden Streitmächte zusammenstießen, als Speer auf Streitkolben, Schild auf Panzerung traf. Einen Augenblick hielt die Legionsphalanx, die vordersten Riesen-Trolle wurden getötet und stürzten zu Boden. Aber die überlegene Kraft und das bloße Gewicht der Nordländer trieben die kleineren Männer der Legion zurück, bis die Phalanx am rechten Ende auseinander zubrechen begann.
Die hochragende Gestalt Ginnissons warf sich in die Bresche, und seine roten Haare flatterten, als er verzweifelt darum kämpfte, die Linie zu halten. Die Trolle wurden Schritt für Schritt zurückgetrieben, als Balinor von rechts ebenso vorrückte wie Messaline von hinten. Es war der grausigste Kampf Mann gegen Mann, den Durin bislang erlebt hatte, und er sah fassungslos zu, wie die Berg-Trolle die Männer der Grenzlegion abwehrten und wieder vorstießen. Einen Augenblick später gab es in der Phalanx erneut eine Bresche, und Ginnisson tauchte unter, als der Ansturm der Trolle ihn überrollte und die riesigen Wesen sich zu den Kasernen und zur Innenmauer wälzten.
Durin befand sich direkt dazwischen. Es wäre vielleicht noch Zeit geblieben, die sicheren Mauern zu erreichen, aber der Elf lag schon auf einem Knie, den Bogen gespannt. Der erste Troll fiel in fünfzig Schritt Entfernung, der zweite zehn Schritte näher, der dritte zwanzig. Legionäre von den Mauern beeilten sich, anzugreifen, und die Bogenschützen auf der niedrigeren Innenmauer versuchten verzweifelt, die Eindringlinge zurückzuwerfen. Unmittelbar vor dem Elf war alles Chaos, als Trolle und Legionäre auf ihn zufluteten, in gnadenlose Kämpfe von Mann gegen Mann verwickelt. Die massigen Nordländer ließen sich immer noch nicht aufhalten, und Durin schoss seinen letzten Pfeil ab.
Er warf den Bogen weg und dachte zum erstenmal an Flucht. Es blieb jedoch keine Zeit mehr, und er vermochte gerade noch ein Schwert vom Boden aufzuraffen, als die Masse der Kämpfenden ihn auch schon erreichte. Er rang wild um sein Gleichgewicht, wurde zurückgetrieben an die Kasernenmauer. Ein riesiger Berg-Troll ragte vor ihm auf, eine schwarze Masse rindenartiger Haut und Rüstung, und der Elf warf sich verzweifelt zur Seite, als ein enormer Streitkolben herabsauste. Er spürte einen stechenden Schmerz an der linken Schulter. Grimmig kämpfte er darum, sich aufrecht zu halten, und die Schmerzen durchfluteten seinen Körper, aber er stürzte schon. Er lag mit dem Gesicht auf der Erde und atmete keuchend. Eine entsetzliche Schwere lastete auf ihm, als er fühlte, wie der Kampf sich von ihm entfernte. Er versuchte, etwas zu erkennen, aber die Anstrengung war zu groß, und er versank in Bewusstlosigkeit, die nur zu Anfang noch von Schmerzfluten durchzuckt wurde.
Menion Leah beugte das blutverschmierte Gesicht über Höndels Leiche und hob die schlaffe Gestalt vorsichtig hoch. Mit schleppenden, mechanischen Schritten suchte er sich einen Weg zwischen den Leichen der Feinde zu bahnen, erreichte die Treppe und stieg langsam die Stufen hinauf zur offenen Tür, stieg, ohne hinzusehen, über den kopflosen Klumpen in scharlachroten Gewändern, der mitten auf der uralten Steintreppe lag. Wie ein Schlafwandler schritt der Hochländer durch die Tür und den leeren Korridor, die leblose Gestalt des Zwerges auf den Armen. Er schritt dahin mit leerem Blick, das Gesicht verzerrt von einem schrecklichen Ausdruck, dessen Qual stumm nach Erlösung schrie. Er erreichte die große Eingangshalle und blieb stehen, als im Ostkorridor schnelle Schritte laut wurden. Er legte seine Last sanft auf den Boden und blieb ruhig stehen, als das schlanke Mädchen mit den roten Haaren vor ihm auftauchte, das Gesicht tränenüberströmt.
»O Menion«, flüsterte sie. »Was haben sie getan?« Seine Augen zuckten, seine Lippen bewegten sich stumm, als er nach Worten rang, die nicht kommen wollten. Shirl schlang die Arme um ihn und presste ihr Gesicht an seine Brust. Sie spürte seine starken Arme an ihren Schultern, dann löste sich die furchtbare Qual in seinem Inneren und überflutete sie, um sich in ihrem Schweigen und ihrer Wärme aufzulösen.
Auf der Innenmauer überprüfte Balinor die Verteidigungslinie der Legion und atmete tief ein. Die Soldaten des Nordland-Heeres versammelten sich schon zum letzten Ansturm. Augenblicke zuvor war der für unüberwindbar gehaltene Außenwall gefallen, und die tapferen Soldaten der Grenzlegion waren gezwungen gewesen, sich auf die zweite Verteidigungslinie zurückzuziehen. Balinor schaute grimmig hinunter, als der Feind die Außenmauer überwand. Er umklammerte den Knauf seines Breitschwertes, bis seine Knöchel unter dem Kettenhemd weiß hervortraten. Rock und Umhang waren bei dem schrecklichen Kampf gegen die Trolle zerfetzt worden. Balinor hatte die Mitte der Phalanx gehalten, aber beide Flügel waren zusammengebrochen. Ginnisson war getötet worden, Messaline schwer verwundet, und Hunderte von Südländern waren bei der Verteidigung umgekommen. Selbst Durin war im Kampfgetümmel verschwunden. Nun stand der König von Callahorn allein.
Er gab den Männern unten am Tor ein Zeichen. Der Kettenpanzer an seinem Arm schimmerte im ergrauenden Licht, und man sah, dass zahlreiche Hiebe das schützende Metall verformt hatten. Für Augenblicke ließ er zu, dass Mut und Hoffnung von der schwärzesten Verzweiflung verdrängt wurden. Alle hatten ihn im Stich gelassen. Eventine und die Elfen-Armee. Allanon. Das ganze Südland. Tyrsis stand am Rand der Vernichtung, mit der Stadt das ganze Land Callahorn, und niemand hatte sich eingefunden, um Beistand zu leisten. Die Legion hatte allein gekämpft, um alle anderen zu retten - die letzte Abwehr des Südlandes. Welchen Zweck hatte das erfüllt? Er ermannte sich und schob Zweifel und Bedrückung beiseite. Dies war nicht die Zeit, den Mut zu verlieren. Es galt viele Leben zu retten, und er war derjenige, auf den sich die anderen verließen.
Die Nordland-Armee baute ihre Reihen vor der Innenseite der Außenmauer auf, brachte die Sturmleitern, Seile und Wurfanker in Bereitschaft für den Angriff. Schon hatten einzelne Trupps von Berg-Trollen die Innenmauer während des Kampfes auf dem Exerzierplatz erklettert und waren in die Innenstadt eingedrungen. Balinor fragte sich kurz, was aus dem zuverlässigen Höndel und Menion Leah geworden sein mochte. Anscheinend hatten sie den Palast rechtzeitig erreicht und jeden Angriff von hinten unterbunden, sonst wäre die Stadt schon erobert worden. Nun würden sie sich halten müssen, für den Fall, dass vereinzelte Trupps des Feindes die Innenmauer überwanden und sich zum Palast durchkämpften.
Rußflocken aus den dicken Rauchwolken versengten ihm die Augen, und er rieb sie, bis sie heftig tränten. Alles schien von einem dichten, grauen Nebel umgeben zu sein, als er einen Blick auf die Befestigungen warf. Die Legion war in einer unhaltbaren Verteidigungsposition gegen einen zahlenmäßig weit überlegenen Feind, den alle seine bisherigen Verluste immer noch nicht entscheidend schwächten .Balinor dachte an Höndels Worte nach dem Tod des alten Königs und seines jüngeren Sohnes. Der letzte Buckhannah. Der Name würde mit ihm sterben, vergehen wie Tyrsis und seine Einwohner. Das nun schon vertraute Gebrüll drang in dröhnendem Chor aus den Kehlen der Nordland-Leute, und sie stürzten sich rücksichtslos auf die verteidigte Mauer. Die lange Narbe an der Wange Balinors färbte sich dunkelrot, und er hob drohend sein Schwert.
Im selben Augenblick erreichten die ersten zerstreuten Überreste der Troll-Vorhut die Brücke von Sendic und sammelten sich. Eine Reihe entschlossener Legionäre hielt die Brücke besetzt und versperrte den Zugang zum Schloss der Buckhannahs. Janus Senpre stand vor den anderen, neben ihm Menion Leah in aufrechter Haltung, das Schwert von Leah mit beiden Händen umklammernd, auf der anderen Seite Dayel, das jugendliche Gesicht angespannt. Hinter den Berg-Trollen wälzte sich Rauch heran, als die Gebäude der Stadt in Flammen aufgingen. Schreckensschreie übertönten den Kampfeslärm an der Innenmauer. In der Ferne sah man Gestalten über die verlassene Hauptstraße huschen. Stumm standen die Gegner einander gegenüber, und die Zahl der Trolle wuchs rasch an, als immer mehr auftauchten, um die eigenen Reihen zu verstärken. Sie betrachteten die Südländer mit dem ruhigen, erfahrenen Blick von Berufssoldaten, zuversichtlich in ihrem Wissen, die besten Kämpfer der Welt zu sein. Die Verteidiger auf der Brücke zählten keine fünfzig Mann.
Der Nachmittagshimmel war plötzlich schwarz geworden, und über die feindlichen Reihen legte sich eine unheimliche Stille. Irgendwo in der brennenden Stadt hörte Menion das Schreien eines kleinen Kindes. Dayel spürte, wie der kalte Nordwind seufzend erstarb. Die Riesen-Trolle vor ihnen ordneten sich zur Kampfformation, die mächtigen Streitkolben locker in den Händen, dann setzten sie sich schwerfällig in Bewegung. Mitten auf der Brücke bereitete sich das letzte Verteidigungsaufgebot der Stadt auf den Ansturm der Feinde vor.
Auf dem Hügelkamm westlich der Stadt verfolgten Flick Ohmsford und der kleine Trupp Elfen-Reiter hilflos die Zerstörung von Tyrsis. Flick, der zwischen Eventine und Jon Lin Sandor auf seinem Pferd saß, sah seine letzte Hoffnung schwinden, als die Horden der gigantischen Nordland-Armee ungehindert durch die Breschen der Außenmauer strömten. Wolken aus schwarzem Rauch stiegen über Tyrsis auf, die letzten Überreste der einstmals stolzen Grenzlegion waren von den Wällen vertrieben. Der Widerstand der Stadt war gebrochen. Flick sah entsetzt, wie die grotesken Gestalten der Schädelträger deutlich sichtbar über dem vorrückenden Feind schwebten, die schwarzen Schwingen vor dem sich verdunkelnden Himmel weit gespreizt. Das Schlimmste, was Allanon vorausgesehen hatte, wurde Wirklichkeit. Der Dämonen-Lord hatte gesiegt.
Dann stieß ein Reiter zu seiner Linken einen Schrei aus, und Eventines gerötetes Gesicht huschte vorbei, als der Elfen-König sein Pferd antrieb und in seiner Ungeduld den Talbewohner wegstieß. Auf dem weiten Grasland, noch immer viele Meilen entfernt, erschien vor dem grauen Horizont eine dunkle Linie. Dumpf dröhnendes Hufgetrappel schwoll langsam an und vermischte sich mit dem Lärm der Schlacht.
Die dunkle Linie näherte sich rasch, vergrößerte sich schnell, und plötzlich wurden daraus Reiter, Tausende von Reitern mit Bannern und Lanzen. Der hallende Ton eines Kriegshorns kündigte ihr Herannahen an. Der kleine Trupp Elfen begann zu jubeln, als die riesige berittene Streitmacht die Ebene überschwemmte, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf Tyrsis zustürmend. Aufmerksam geworden, hatte die Nachhut des Nordland-Heeres schon seine Reihen geschlossen und sich der herannahenden Flut zugewandt. Es war die Elfen-Armee, endlich eingetroffen, eingetroffen zur Verteidigung von Tyrsis, zum Beistand für die belagerten Nationen der drei Länder, zur Rettung von allem, das zu bewahren die Menschheit so große Anstrengungen über Jahrhunderte hinweg unternommen hatte. Eingetroffen vielleicht zu spät.