28

Der Morgen war eben mit gleiß ender Helligkeit an einem wolkenlosen, dunkelblauen Himmel heraufgekommen, als der letzte Trupp von Flüchtlingen aus der Inselstadt Kern Tyrsis erreichte und durch ein Tor der gewaltigen Außenmauer schritt. Verschwunden waren der feuchte, undurchdringliche Nebel und die riesige schwarze Decke aus Gewitterwolken, von denen das Land Callahorn so viele Tage eingehüllt gewesen war. Das Grasland blieb durchtränkt und übersät von kleinen Pfützen, die der gesättigte Boden noch nicht hatte aufnehmen können, aber der anhaltende Regen war weitergezogen, abgelöst von klarem Himmel und Sonne, die dem Morgen Fröhlichkeit verliehen. Die Bewohner von Kern waren über Stunden hinweg in versprengten Gruppen eingetroffen, allesamt erschöpft, entsetzt von dem Geschehenen, in Angst vor dem Bevorstehenden. Ihre Heimat war zur Gänze zerstört. Alle wussten noch gar nicht, dass die Nordländer nach dem unerwarteten Angriff auf ihr Heerlager alles in Brand gesteckt hatten.

Die Evakuierung der todgeweihten Stadt war ein Wunder an Erfolg gewesen. Die Menschen besaßen zwar kein Zuhause mehr, aber sie waren am Leben und, für den Augenblick, in Sicherheit. Die Nordländer hatten den Massenausbruch nicht bemerkt, weil ihre Aufmerksamkeit ganz von dem tapferen Haufen der Legionärssoldaten in Anspruch genommen worden war. Die Legionäre hatten das Heerlager angegriffen und erreicht, dass selbst die am weitesten vorgeschobenen Außenposten zurückgeholt worden waren, da man der irrigen Ansicht gewesen war, es handele sich um einen Großangriff. Bis der Feind dahinter kam, dass es sich nur um ein Ablenkungsmanöver handelte, das Verwirrung stiften sollte, war die Insel schon evakuiert; die Bevölkerung hatte sich auf dem schnellströmenden Mermidon-Fluß in Sicherheit gebracht und war vom wutentbrannten Feind nicht mehr einzuholen gewesen.

Menion Leah betrat als einer der letzten die ummauerte Stadt, zerschlagen und ausgelaugt. Die Wunden an seinen Füßen hatten sich auf dem Zehnmeilenmarsch vom Mermidon nach Tyrsis wieder geöffnet, aber er hatte es abgelehnt, sich tragen zu lassen. Mit letzter Kraft schleppte er sich die breite Rampe zum Tor in der Außenmauer hinauf, auf der einen Seite gestützt von der getreuen Shirl, die ihm keinen Schritt von der Seite gewichen war, auf der anderen gehalten von dem ebenso müden Janus Senpre.

Der jugendliche Legionskommandeur hatte die Kämpfe der grausamen nächtlichen Schlacht überlebt und war auf demselben kleinen Floß entkommen, das auch Menion und Shirl fortgetragen hatte. Die Strapazen, die sie hatten erdulden müssen, hatten sie einander näher gebracht, und auf der Fahrt nach Süden hatten sie offen, wenngleich mit gedämpften Stimmen, über die Auflösung der Grenzlegion gesprochen. Sie waren sich einig darin, dass die Legion gebraucht wurde, wenn Tyrsis den Ansturm einer Streitmacht von der Größe der Nordland-Armee überstehen wollte. Überdies besaß nur der vermisste Balinor genug Erfahrung und Geschicklichkeit im Kampf, um sie zu führen. Der Prinz musste also schnell gefunden und an die Spitze der Legion gestellt werden, wenngleich sein Bruder sich dieser Maßnahme zweifellos widersetzen würde; ebenso gewiss war, dass dieser die Wiederaufstellung der legendären Streitmacht ablehnen würde, die er in so unsinniger Weise aufgelöst hatte.

Weder Menion Leah noch Janus Senpre ahnten in diesem Augenblick, wie schwer ihre Aufgabe sein würde, obwohl sie vermuteten, dass Balinor von seinem Bruder festgesetzt worden war, als er vor einigen Tagen Tyrsis erreicht hatte. Nichts desto weniger waren sie entschlossen, Tyrsis nicht so leicht aufzugeben wie Kern. Diesmal musste man sich stellen und kämpfen.

Ein Trupp schwarzgekleideter Palastwachen empfing die kleine Gruppe am Tor der Stadt, übermittelte herzliche Grüße des Königs und bestand darauf, sie sofort zu ihm zu bringen. Als Janus Senpre erwiderte, er habe gehört, der König sei todkrank und bettlägerig, fügte der Offizier schnell, wenn auch verspätet hinzu, die Einladung stamme von Palance, dem Sohn des Königs. Nichts hätte Menion lieber sein können - er brannte darauf, hinter die Palastmauern zu gelangen, um sich dort umzusehen. Vergessen waren Erschöpfung und Schmerzen, wiewohl die Begleiter bereitstanden, jederzeit helfend einzugreifen. Der Offizier winkte den Wachen an der Innenmauer, und man brachte einen reichgeschmückten Wagen, der die Neuankömmlinge zum Palast bringen sollte. Menion und Shirl stiegen ein, aber Janus Senpre lehnte es ab, sie zu begleiten; er wolle sich zuerst um das Wohl seiner Soldaten in den verlassenen Legionskasernen kümmern. Mit entwaffnendem Nachdruck versprach er, ihnen später zu folgen.

Als der Wagen zur Innenmauer fuhr, winkte der jugendliche Kommandeur Menion noch einmal zu, dann marschierte er, begleitet vom grauhaarigen Fandrez und einigen ausgewählten Offizieren, zu den Kasernen der Legion. Menion lächelte in der Kutsche schwach vor sich hin und hielt Shirls Hand in der seinen.

Der Wagen rollte durch das Innentor und erreichte die Hauptstraße, auf der es von Leben wimmelte. Die Bevölkerung der ummauerten Stadt war an diesem Tag früh aufgestanden, um die unglücklichen Flüchtlinge aus der Schwesterstadt zu begrüßen und sowohl Freunden als auch Fremden Essen und Unterkunft anzubieten. Alle wollten mehr wissen über das riesige Invasionsheer, das sich nun ihrer eigenen Stadt näherte. Überall standen sorgenvolle, ängstlich wirkende Menschen, sprachen bedrückt miteinander und blickten verwundert auf die langsam vorbeirollende Kutsche mit ihrer Eskorte. Einzelne zeigten mit Fingern oder winkten erstaunt, als sie das schlanke Mädchen erkannten, das im Wagen saß, blass und müde wirkend. Menion neben ihr biss die Zähne zusammen, als die Schmerzen in den Füßen wieder zunahmen. Nun war er froh darüber, nicht mehr gehen zu müssen.

Gebäude, Straßen und Plätze der großen Stadt huschten vorbei, überall herrschte Gedränge. Der Hochländer atmete tief ein und lehnte sich zurück in die Polster, Shirls Hand noch immer in der seinen. Er schloss ein wenig die Augen und verlor sich in dem grauen Nebel, der seine Gedanken einhüllte. Die Stadt mit ihren Menschenmengen verblasste zu einem Hintergrundsummen, das ihn einlullte.

Er war im Begriff, ganz einzuschlafen, als er eine Hand an seiner Schulter spürte. Er richtete sich auf und sah vor ihnen das weite Palastgelände liegen, ais die Kutsche zur Sendic-Brüc ke hinauffuhr. Menion schaute hinunter auf die von der Sonne beschienenen Parks und Gärten unter der Brücke. Von Bäumen beschattet, prangten Blumenbeete in allen Farben. Alles sah friedlich und behaglich aus, so, als gehöre dieser Teil der Stadt nicht zur übrigen turbulenten Welt.

Am anderen Ende der Brücke öffneten sich die Tore zum Palast. Menion riss ungläubig die Augen auf. Entlang der ganzen Einfahrt standen Soldaten der Palastwache, makellos in ihren schwarzen Uniformen mit dem Abzeichen des Falken, in starrer Habachtstellung. Trompeten verkündeten das Eintreffen der Kutsche und ihrer Insassen. Menion Leah war erstaunt. Man empfing sie mit allen Ehren, wie sie gewöhnlich nur den höchsten Führern der vier Länder zuerkannt wurden, eine Tatsache, auf welche die wenigen Monarchien im riesigen Südland für gewöhnlich sehr achteten. Palance Buckhannah war offenbar entschlossen, nicht nur die Umstände unbeachtet zu lassen, unter denen seine Gäste erschienen, sondern sich auch über die unverletzlichen Traditionen von Jahrhunderten hinwegzusetzen.

»Er muss verrückt sein - völlig verrückt!« brauste Menion auf.

»Wozu macht er das? Wir werden von einer Invasionsarmee belagert, und er amüsiert sich mit einer Truppenparade!«

»Menion, überlegt Euch, was Ihr zu ihm sagt. Wir müssen Geduld haben, wenn wir Balinor von Nutzen sein wollen.« Shirl griff nach seiner Schulter und lächelte warnend. »Vergesst auch nicht, dass er mich liebt, so irregeleitet er auch sein mag. Er ist ein guter Mensch gewesen, und Balmors Bruder bleibt er.«

Menion sah trotz seiner Ungeduld und Unbeherrschtheit ein, dass sie recht hatte. Es war nichts gewonnen, wenn er zeigte, dass er sich über das unsinnige Gepränge ärgerte; vielmehr war er gut beraten, sich den Launen des Prinzen zu fügen, bis Balinor gefunden und befreit war. Er lehnte sich zurück und blickte mit erzwungener Ruhe auf die Soldaten zu beiden Seiten der Zufahrt. Die Trompetenstöße schienen von allen Seiten zu ertönen, und im Vorhof des Palastes hatten Berittene Aufstellung genommen. Die Kutsche kam zum Stillstand, und an der Tür erschien die große Gestalt des neuen Herrschers von Callahorn. Sein breites Gesicht war von einem nervösen, freudigen Lächeln erhellt.

»Shirl - Shirl, ich dachte schon, ich sehe dich nie wieder!« Er streckte die Arme aus, half ihr aus der Kutsche und drückte sie für einen Augenblick an sich, bevor er zurücktrat. »Ich ... ich glaubte, ich hätte dick für immer verloren.«

Menion Leah stieg langsam aus und lächelte schwach, als Palance sich ihm zuwandte.

»Prinz von Leah, Ihr seid wahrlich willkommen in meinem Reich«, sagte Palance und griff nach seiner Hand. »Ihr habt mir ... einen großen Dienst geleistet. Alles, was ich besitze, gehört auch Euch ... alles. Wir werden Freunde sein, Ihr und ich. Enge Freunde. Es ist ... so lange her, seit ...« Er verstummte plötzlich und starrte Menion an, offenbar in Gedanken versunken. Seine Worte klangen unnatürlich und nervös, so, als wisse er selbst nicht immer genau, was er sagte. Wenn er nicht schon völlig dem Wahnsinn verfallen ist, dachte Menion, muss er zumindest schwer krank sein.

»Ich freue mich sehr, in Tyrsis zu sein«, gab er zurück, »wenn ich mir auch wünsche, dass die Umstände für alle Beteiligten angenehmer sein möchten.«

»Ihr meint natürlich meinen Bruder«, fuhr ihn Palance an, dessen Gesicht sich rötete. Menion war verblüfft.

»Palance, er meint die Invasion der Nordland-Armee, die Verwüstung von Kern«, warf Shirl schnell ein.

»Ja ... Kern ...« Seine Stimme erstarb, und er schaute sich besorgt um, als vermisse er jemanden. Menion folgte seinem Beispiel und registrierte, dass Stenmin nicht zur Stelle war. Nach Shirls und Senpres Worten war der Prinz stets in Begleitung seines Beraters. Menion wechselte mit Shirl einen Blick.

»Ist etwas nicht in Ordnung, My Lord?« Menion gebrauchte die förmliche Anrede, um die Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu erregen.

»Ihr könnt mir ... und diesem Reich helfen, Menion Leah«, sagte Palance sofort. »Mein Bruder möchte sich an meiner Stelle zum König aufschwingen. Er möchte mich töten lassen. Mein Berater Stenmin hat mich davor bewahrt aber es gibt noch andere Feinde ... überall Feinde! Wir beide müssen Freunde sein. Wir müssen zusammenstehen gegen jene, die mir meinen Thron abjagen wollen - die Böses gegen Shirl im Schilde führen. Mit Stenmin kann ich nicht ... reden wie mit einem Freund. Aber mit Euch könnte ich es.« Ersah Menion in beinahe kindlicher Erwartung an. Ein Gefühl starken Mitleids für diesen Sohn Ruhl Buckhannahs durchpulste den Hochländer, und er wünschte sich, für den Unglücklichen etwas tun zu können. Er lächelte traurig und nickte.

»Ich wusste, dass Ihr zu mir steht!« rief Palance und lachte freudig. »Wir sind beide königlichen Geblüts, und das ... verbindet uns. Wir werden uns gut verstehen, Menion. Aber nun müsst Ihr Euch ausruhen.«

Plötzlich schien ihm einzufallen, dass seine Palastgarde noch immer stramme Haltung einnahm und geduldig darauf wartete, entlassen zu werden. Mit einer ruckartigen Handbewegung bedeutete der neue Herrscher Callahorns dem Kommandeur der Garde, dass er die Soldaten wieder zu ihren gewöhnlichen Pflichten einsetzen konnte. Dann betrat er mit Shirl und Menion das Gebäude, wo eine Anzahl von Dienern schon wartete, um die Gäste zu ihren Zimmern zu führen. Er blieb stehen, sah seine Besucher an und beugte sich vertraulich vor.

»Mein Bruder ist in den Verliesen unter uns eingesperrt. Ihr braucht keine Angst zu haben.« Er sah sie bedeutungsvoll an, bevor er einen Blick auf die Dienerschaft warf. »Er hat überall Freunde, wisst Ihr.«

Menion und Shirl nickten, weil Menion es von ihnen erwartete.

»Dann wird er also nicht aus den Verliesen entkommen können?« fragte Menion unschuldig.

»Er hat es gestern nacht versucht ... zusammen mit seinen Freunden.« Palance lächelte zufrieden. »Aber wir haben sie ertappt und in die Falle gelockt. Sie werden die Verliese nicht mehr verlassen. Stenmin ist jetzt dort ... Ihr müsst ihn kennen lernen ...« Wieder richtete er sich unentschlossen auf, sah zu den Dienern hinüber und winkte einige heran. Er befahl ihnen, seine Freunde zu ihren Gemächern zu führen, damit sie ein Bad nehmen und sich umkleiden konnten, bevor sie mit ihm frühstückten. Die Sonne stand erst eine Stunde am Himmel, und die Flüchtlinge aus Kern hatten seit dem vergangenen Abend nichts gegessen. Menions nur provisorisch verbundene Wunden mussten behandelt werden, und der Hausarzt stand schon bereit, die Verbände zu wechseln. Menion brauchte auch Schlaf, aber zur Ruhe würde er erst später kommen. Die kleine Gruppe ging durch einen langen Korridor, als Shirl plötzlich ihren Namen rufen hörte. Sie drehte sich um. Der neue Herrscher von Callahorn kam ihnen nachgeeilt, blieb vor Shirl stehen, zögerte und umarmte sie dann. Menion hielt das Gesicht abgewendet, hörte aber deutlich mit, was gesprochen wurde.

»Du darfst mich nie wieder verlassen, Shirl.« Es war ein Befehl, keine Bitte, auch wenn die Stimme leise klang. »Du musst für immer in Tyrsis bleiben als meine Frau.«

Es blieb einen langen Augenblick still.

»Palance, ich glaube, wir -« begann Shirl stockend.

»Nein, sag nichts. Keine Diskussion- nicht jetzt«, unterbrach Palance sie schnell. »Später ... wenn wir allein sind, wenn du ausgeruht bist ... dann ist Zeit dafür. Du weißt, dass ich dich liebe ... immer geliebt habe. Und du hast mich auch geliebt, ich weiß es.«

Wieder blieb es lange Augenblicke still, dann ging Shirl mit schnellen Schritten an Menion vorbei und zwang die Diener, voranzustürzen, um ihr den Weg zu ihren Räumen zu zeigen. Der Hochländer holte Shirl ein und wagte nicht, nach ihrer Hand zu greifen, solange ihr Gastgeber im Korridor stand und ihnen nachblickte. Shirl hielt den Kopf gesenkt, so dass die langen, roten Haare ihr Gesicht halb verhüllten. Sie blieben beide stumm, als die Bediensteten sie durch den breiten Korridor zum Westflügel des alten Palastes führten. Dort trennten sie sich kurze Zeit, damit der Arzt Menions Wunden behandeln und frisch verbinden konnte. Danach lag auf dem großen Himmelbett frische Kleidung, und das heiße Bad wartete, aber Menion wollte von beidem nichts wissen. Er verließ hastig sein Zimmer, klopfte leise an die Nebentür, öffnete sie und trat ein. Shirl erhob sich von ihrem Bett, als er die schwere Holztür schloss, dann lief sie auf ihn zu und schlang die Arme um ihn.

Sie klammerten sich lange Zeit aneinander, spürten den warmen Lebensstrom in ihren Körpern, lauschten auf ihren Herzschlag. Menion streichelte sanft das dunkelrote Haar und presste Shirl an seine Brust. Sie verließ sich auf ihn; dieser Gedanke erleichterte ihn. Wenn ihre eigene Stärke, ihr Mut versagte, hielt sie sich an ihn. Menion begriff, dass er sie mit verzweifelter Kraft liebte.

Es war höchst seltsam, dass dies jetzt geschah, da ihre Welt ringsum zu zerfallen schien und der Tod in den Schatten lauerte.

Menions turbulentes Leben während der vergangenen Wochen hatte ihn von einem bedrohlichen Kampf in den anderen gerissen, jedes mal auf Leben und Tod, vom Standpunkt sterblicher Wesen aus offenkundig sinnlos; das Ganze fand seine Logik allein in der seltsamen Legende vom rätselhaften Schwert von Shannara und dem Dämonen-Lord. In diesen schrecklichen Tagen seit Culhaven hatte ihn das Leben umtobt wie eine Schlacht, und er war richtungslos umhergewirbelt worden. Seine tiefe Freundschaft und Liebe zu Shea und seine nun unterbrochene Gemeinschaft mit den Mitgliedern der Gruppe, die nach Paranor und noch weiter gezogen war, hatten ein schwaches Gefühl der Stabilität hervorgerufen, einen Fingerzeig, dass irgend etwas von Bestand sein würde, während der Rest der Welt davon gerissen wurde. Dann hatte er unerwartet Shirl Ravenlock gefunden, und der überstürzte Ablauf der Dinge, die gemeinsam erlebten Gefahren, verbunden mit einer voraussehbaren Verflechtung persönlicher Bedürfnisse, hatten sie untrennbar miteinander verbunden. Menion schloss die Augen und presste Shirl fester an sich.

Palance war wenigstens in einer Hinsicht von Nutzen gewesen - er hatte ihnen verraten, dass Balinor und vermutlich auch die anderen in den Verliesen irgendwo unter dem Palast eingesperrt waren. Offenkundig war bereits ein Ausbruchsversuch gescheitert. Menion war entschlossen, keinen Fehler zu begehen. Er besprach sich leise mit Shirl, bemüht, zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Wenn Palance darauf bestand, Shirl in seiner Nähe zu halten, um ihr seinen Schutz angedeihen zu lassen, würde sie in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt sein. Eine größere Bedrohung war jedoch die Besessenheit des Prinzen, sie zu heiraten, in dem falschen Glauben, sie liebe ihn. Palance Buckhannah schien am Rand des völligen Wahnsinns zu stehen. Er mochte jeden Augenblick das seelische Gleichgewicht verlieren, und wenn das geschah, solange Balinor sein Gefangener war ... dann ... Menion unterbrach seine Gedankengänge; er wusste, dass die Zeit keine Spekulationen darüber zuließ, was morgen geschehen mochte. Es würde nicht mehr von Bedeutung sein, denn die Inva sionsarmee aus dem Norden würde dann vor den Toren stehen. Balinor musste deshalb auf der Stelle befreit werden. Menion hatte einen starken Verbündeten in Janus Senpre, aber der Palast wurde bewacht von den schwarzuniformierten Soldaten, die nur dem Herrscher dienten, und dieser schien im Augenblick allein Palance Buckhannah zu sein. Niemand wusste, was aus dem alten König geworden war; seit Wochen hatte ihn keiner mehr gesehen. Offenkundig konnte er sich von seinem Krankenbett nicht erheben, aber dafür hatte man nur das Wort seines Sohnes - und sein Sohn verließ sich auf die Behauptung des sonderbaren Mystikers Stenmin.

Shirl hatte einmal erwähnt, sie habe Palance nie länger als einige Augenblicke ohne seinen Berater gesehen, aber bei der Ankunft aus Kern war Stenmin nirgends zu entdecken gewesen. Das musste als merkwürdig gelten, da doch praktisch jeder wusste, dass Stenmin die eigentliche Macht ausübte. Shirls Vater hatte in der Ratshalle von Kern erklärt, der bösartige Mystiker scheine einen gefährlichen Einfluss auf den jüngeren Sohn Ruhl Buckhannahs auszuüben. Wenn Menion nur dahinterkommen konnte, worauf diese Macht über Palance beruhte - er war überzeugt davon, dass der Mystiker der Schlüssel zum sonderbaren Verhalten des Prinzen war. Aber es blieb zuwenig Zeit. Menion würde mit dem Wenigen, das er wusste, auskommen müssen, um an sein Ziel zu gelangen.

Als er Shirl verließ und in sein eigenes Zimmer zurückkehrte, um zu baden und sich umzuziehen, entwickelte er in seinem Inneren bereits einen Plan zur Befreiung Balinors. Er beschäftigte sich mit den Einzelheiten auch dann noch, als er gebadet hatte. Es wurde an die Tür geklopft. Er schlüpfte in einen Hausrock, der bereitgelegt war, ging durch das Zimmer und öffnete die Tür. Einer der Diener brachte ihm das Schwert von Leah. Er bedankte sich lächelnd und ließ die kostbare Waffe aufs Bett fallen, während er sich entsann, dass er das Schwert während der Wagenfahrt neben sich auf den Sitz gelegt und es dann vergessen hatte. Seine Gedanken wichen ein wenig ab, während er sich anzog, und er dachte stolz an die Kämpfe, die das Schwert schon erlebt hatte. Er hatte so viel durchgemacht, seitdem Shea bei ihm aufgetaucht war - bei den meisten Menschen hätte es ausgereicht für ein ganzes Leben.

Er starrte vor sich hin und dachte traurig an seinen vermissten Freund. Zum tausendstenmal fragte er sich, ob der kleine Talbewohner noch am Leben sein mochte. Eigentlich gehörst du nicht nach Tyrsis, sagte er sich bitter. Shea hatte sich auf ihn verlassen, aber es hatte den Anschein, als sei ihm das übel bekommen, denn Menion hatte sich immer wieder durch die Wünsche Allanons beeinflussen lassen, obschon sein Gewissen ihm bei jeder Gelegenheit gesagt hatte, er schade seinem Begleiter, wenn er sich dem Rat des Druiden beuge. Der Gedanke, dass er seine klare Verantwortung für den Talbewohner hatte zurücktreten lassen, ärgerte ihn zutiefst. Es war nicht zu leugnen, dass er die Entscheidungen, die ihn zuletzt nach Tyrsis geführt hatten, allein getroffen hatte. Es gab eben außer Shea auch noch andere, die seiner Hilfe dringend bedurften ...

Er ging mit gemessenen Schritten durch das große Zimmer und ließ sich auf das weiche Bett fallen. Seine ausgestreckte Hand berührte das kühle Metall seines Schwerts. Er betastete es versonnen, als er sich zurücklegte und über die Probleme nachdachte, die es zu bewältigen galt. Shirls angstvolles Gesicht stand vor seinem inneren Auge. Sie war ihm von allerhöchster Wichtigkeit; er konnte sie jetzt nicht verlassen, um die Suche nach Shea wiederaufzunehmen, gleichgültig, was die Folgen sein mochten. Eine bittere Wahl war das, wenn es eine solche überhaupt gab, denn seine Pflicht ging über das Leben dieser beiden Menschen hinaus; sie galt Balinor und seinen gefangenen Kameraden und zuletzt auch den Menschen von ganz Callahorn. Wenn Shea noch lebte, war es Aufgabe von Allanon und Flick, ihn zu finden. Soviel hing von jedem einzelnen von ihnen ab, dachte er abwesend, während sich der Schlaf schon auf ihn hernieder senkte. Sie konnten nur darum beten, dass alles gut gehen möge ... beten und abwarten. Er schlief ein.

Wenig später gab es ihm einen Ruck, und er war schlagartig wach. Es mochte ein kaum wahrnehmbares Geräusch gewesen sein, vielleicht lag es auch an einem sechsten Sinn in ihm, jedenfalls wurde er aus einem Schlaf gerissen, der mit seinem Tod geendet hätte. Er lag regungslos auf dem großen Bett und lauschte. Aus der gegenüberliegenden Wand war ein schwaches Scharren zu vernehmen. Durch die Augenschlitze sah er, wie sich ein Gobelin bewegte. Ein Teil des massiven Mauerwerks dahinter schien sich nach vorn zu schieben, dann tauchte eine gebückte Gestalt im roten Umhang auf.

Menion zwang sich, ruhig weiterzuatmen, obwohl sein Herz heftig schlug und es ihn drängte, aufzuspringen und den rätselhaften Eindringling zu packen. Die Gestalt im Umhang huschte lautlos durch das Zimmer. Das fremde Gesicht drehte sich hastig hin und her und richtete sich dann wieder auf die im Bett liegende Gestalt des Hochländers. Der Eindringling war nur noch einen Meter vom Bett entfernt, als eine seiner schmalen Hände unter dem scharlachroten Umhang verschwand und mit einem langen, spitzen Dolch wieder auftauchte.

Menions ausgestreckte Hand lag auf dem Schwert, aber er bewegte sich noch immer nicht. Er wartete noch einen Augenblick länger, bis der Angreifer das Bett erreicht hatte, den Dolch in Hüfthöhe. Dann stieß Menion zu wie ein Raubvogel. Der schlanke Körper schnellte hoch und warf sich auf den Eindringling. Das noch in der Lederscheide steckende Schwert traf mit der Breitseite den Mann im Gesicht, dass es klatschte. Der Fremde taumelte zurück und hob abwehrend den Dolch. Das Schwert in der Scheide schlug ein zweites Mal zu, und der Dolch flog davon. Menion riss die rote Gestalt zu Boden und nagelte sie auf dem Teppich fest, während eine Hand sich um seine Kehle schloss.

»Rede, feiger Mörder!« knurrte er drohend.

»Nein, nein, wartet, Ihr habt Euch geirrt ... ich bin kein Feind ... bitte, ich kann nicht atmen ...« Ein Gurgeln drang aus der Kehle des Eindringlings, als Menions Zugriff sich noch verstärkte. Menion konnte sich nicht erinnern, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Das Gesicht war scharf geschnitten und spitz, umrahmt von einem kleinen, schwarzen Bart. Der Hochländer sah die hasserfüllten Augen, die zusammengebissenen Zähne, und er wusste, dass er sich nicht getäuscht haben konnte. Er riss den Eindringling hoch, ohne seinen Hals loszulassen.

»Dann erklär mir, wo mein Fehler liegen soll. Du hast eine Minute, bevor ich dir die Zunge abschneide und dich den Wachen übergebe.« Er ließ die Kehle des Mannes los und packte ihn an der Brust, während er mit der anderen Hand den Dolch aufhob.

»Das ist ein Geschenk, Prinz von Leah ... ein Geschenk vom König.« Die Stimme schwankte ein wenig. »Der König wollte seine Dankbarkeit bezeugen, und ich ... ich kam durch eine andere Tür herein, um Euch nicht im Schlaf zu stören.« Er machte eine Pause, als warte er auf irgend etwas, während er Menion ins Gesicht starrte. Er wartete nicht darauf, dass seine Geschichte geglaubt wurde - es war etwas anderes, ganz so, als rechne er damit, dass Menion noch mehr zu sehen bekommen werde ...

Menion Leah riss den Mann zu sich heran.

»Das ist wohl das Armseligste, was ich je gehört habe. Wer bist du, Halunke?«

Die Augen des anderen schienen vor Hass zu lodern.

»Ich bin Stenmin, der Berater des Königs.« Er schien sich wieder gefasst zu haben. »Ich belüge Euch nicht. Der Dolch ist ein Geschenk von Palänce Buckhannah, das ich Euch überbringen soll. Ich will Euch nichts Böses. Wenn Ihr mir nicht glaubt, geht zum König und fragt ihn.«

Es klang so zuversichtlich, dass Menion davon überzeugt war, Palänce würde bestätigen, was sein Berater behauptet hatte, ob es zutraf oder nicht. Menion hatte den gefährlichsten Mann in ganz Callahorn in seiner Gewalt, den bösartigen Zauberer, der zur Macht hinter dem Thron geworden war, den einen Mann, den er beseitigen musste, wenn Balinor gerettet werden sollte. Weshalb Stenmin es für angebracht gehalten hatte, ihn zu überfallen, obwohl sie einander vorher nie begegnet waren, wusste Menion nicht, aber wenn er ihn jetzt wieder freiließ oder auch nur vor Palance brachte, um ihn anzuklagen, gab er, Menion, die Initiative wieder aus der Hand und gefährdete erneut sein eigenes Leben. Er schleuderte Stenmin in einen Sessel und befahl ihm, sich nicht zu rühren. Stenmin blieb ruhig sitzen, und seine Augen glitten hin und her, während er sich nervös den kleinen Spitzbart strich. Menion betrachtete ihn und dachte über die Möglichkeiten nach, die ihm zur Verfügung standen. Er brauchte nur kurze Zeit, um sich zu entschließen. Er durfte nicht länger zuwarten, bis sich der richtige Augenblick, in dem er seine Freunde befreien konnte, von selbst einstellte; die Entscheidung drängte sich ihm auf.

»Aufstehen, Mystiker, oder wie Ihr Euch sonst zu nennen beliebt!« Das verschlagene Gesicht Stenmins blieb unbewegt, und Menion geriet in Wut. Er riss den Mann aus dem Sessel hoch. »Ich sollte Euch ohne Federlesen ins Jenseits befördern; die Menschen von Callahorn würden es mir danken. Aber noch brauche ich Eure Dienste. Führt mich zu den Verliesen, wo Balinor und die anderen eingekerkert sind - auf der Stelle!«

Stenmins Augen weiteten sich entsetzt.

»Woher könnt Ihr von ihm wissen ... diesem Verräter an seinem Reich?« rief der Mystiker erstaunt. »Der König selbst hat befohlen, seinen Bruder einzuschließen, bis ihn der natürliche Tod ereilt, Prinz von Leah, und selbst ich ...» Mit einem Ächzen erstarb seine Stimme, als Menion ihn wieder an der Kehle packte und zuzudrücken begann. Stenmins Gesicht verfärbte sich blaurot.

»Ich will keine Ausreden oder Erklärungen hören. Bringt mich zu ihm!«

Noch einmal packte er fester zu, und der nach Luft ringende Gefangene nickte schließlich heftig. Menion ließ ihn los, und der Halberstickte stürzte auf ein Knie. Menion Leah zog hastig den Morgenrock aus und kleidete sich an, legte das Schwert um und schob den Dolch in den Gürtel. Er überlegte einen Augenblick, ob er Shirl wecken sollte, schob den Gedanken aber rasch wieder beiseite. Sein Plan war gefährlich genug; es gab keinen vernünftigen Grund, auch ihr Leben in Gefahr zu bringen. Wenn es ihm gelingen sollte, seine Freunde zu befreien, würde Zeit genug bleiben, sie zu holen. Er wandte sich dem Gefangenen zu, zog den Dolch heraus und zeigte ihn Stenmin.

»Das Geschenk, das zu überbringen Ihr so gütig gewesen seid, bekommt Ihr zurück - aber anders, als Ihr denkt -, wenn Ihr versuchen solltet, mich zu betrügen oder in eine Falle zu locken«, sagte er drohend. »Kommt also nicht auf dumme Gedanken. Wenn wir diesen Raum verlassen, werdet Ihr mich über die Hintertreppen und -gange zu dem Kerker bringen, wo Balinor und seine Begleiter festgehalten werden. Wagt ja nicht, die Wachen zu alarmieren - der Tod wäre Euch sicher. Wenn Ihr Zweifel haben solltet an dem, was ich sage, lasst Euch warnen. Ich bin von Allanon in diese Stadt geschickt worden.«

Stenmin erbleichte, als erden Namen des riesenhaften Druiden hörte, und seine geweiteten Augen verrieten unverhüllte Furcht. Der scharlachrote Mystiker ging stumm zur Tür, und Menion folgte ihm auf den Fersen, die Hand am Dolch. Nun war die Zeit der alles entscheidende Faktor. Er musste blitzschnell handeln, Balinor und die anderen Gefangenen befreien und den seines Verstandes nicht mehr mächtigen Palance ergreifen, bevor die Palastgarde alarmiert wurde. Dann musste eine eilige Nachricht an Janus Senpre die Hilfe derjenigen bringen, die Balinor die Treue hielten, und die Macht der Monarchie sollte ohne Kampf wiederhergestellt werden können.

Die riesige Nordland-Armee würde sich im Grasland bei der Insel Kern bereits auf den Marsch nach Tyrsis machen. Wenn die Grenzlegion schnell genug aufgestellt und eingesetzt werden konnte, bestand die Aussicht, dass die Invasoren am Nordufer des Mermidon zum Stehen gebracht würden. Es würde diesen nahezu unmöglich sein, den angeschwollenen, reißenden Fluss zu überqueren, wenn das Ufer von einer Truppe verteidigt wurde. Der Feind würde mehrere Tage brauchen, um ein Flankenmanöver durchzuführen. In der Zwischenzeit konnten die verbündeten Armeen Eventines eintreffen. Menion wusste, dass also alles von den nächsten Minuten abhing.

Die beiden Männer traten hinaus. Menion schaute hastig in beide Richtungen, aber von den schwarzgekleideten Palastwachen war nichts zu sehen. Der Hochländer trieb Stenmin vor sich her, und der Mystiker führte so seinen Gegner wohl oder übel zu den inneren Räumlichkeiten des Palastgebäudes, durch Korridore, die zur Rückseite des weitläufigen Bauwerks führten. Zweimal kamen sie an Angehörigen der Palastwache vorbei, aber Stenmin enthielt sich jeder Bemerkung und ging mit gesenktem Kopf weiter.

Durch das Gitterwerk der Palastfenster konnte Menion die Gärten sehen, wo die Sonne hell auf die Farbenpracht der Blumen schien. Es war schon später Vormittag, und bald würde im Palast reges Treiben herrschen, wenn die üblichen Besucher und Geschäftsleute kamen. Von Palance Buckhannah war nichts zu sehen, und Menion konnte nur hoffen, dass der Prinz mit anderen Dingen beschäftigt war.

Während die beiden durch die Flure schritten, konnten sie hier und dort gedämpfte Stimmen hören. Bedienstete tauchten immer häufiger auf, eilig ihren Aufgaben zustrebend. Sie beachteten Stenmin und seinen Begleiter nicht. Vielleicht war das ein Hinweis, dass sie den Mystiker weder mochten noch ihm trauten. Niemand sprach sie an, und endlich näherten sie sich dem massiv gemauerten Zugang zu den Kellern des Palastes. Zwei bewaffnete Wachen standen vor der Tür, deren Riegel durch eine dicke Eisenstange gesichert worden waren.

»Bedenkt, was Ihr sagt«, warnte Menion den Mystiker flüsternd, als sie sich den Wachen näherten.

Sie hielten vor der großen Kellertür an, und Menions Hand lag auf dem Dolch, als er hinter Stenmin stand. Die Wachen sahen ihn neugierig an, dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf den Berater des Königs, der sie ansprach:

»öffnet die Tür, Wachen! Der Prinz von Leah und ich wollen die Weinkeller und die Verliese inspizieren.«

»Auf Befehl des Königs ist allen Personen der Zutritt verboten, Mylord«, erklärte einer der Soldaten.

»Ich bin hier auf Befehl des Königs!« schrie Stenmin zornig. Menion stieß ihn warnend an.

»Wache, das ist der persönliche Berater des Königs," nicht ein Feind des Reiches«, sagte der Hochländer mit einem Lächeln. »Wir besichtigen den Palast, und da ich es war, der die Verlobte des Königs gerettet hat, vermutet er, ich könnte die Entführer der Dame erkennen. Nun gut, wenn es sein muss, störe ich den König und hole ihn hierher ... « Er verstummte bedeutungsvoll. Er konnte nur hoffen, dass die Wachen Palances irrationales Verhalten gut genug kannten, um sich nicht dem Risiko aussetzen zu wollen, dass er hier erschien. Sie zögerten einen Augenblick, dann nickten sie stumm, lösten Sperrstange und Riegel und öffneten das massive Portal. Stenmin ging wortlos voraus. Scheinbar hatte er beschlossen, sich genau an Menions Anweisungen zu halten, aber der Prinz von Leah wusste nur zu gut, dass der Mystiker kein Dummkopf war. Wenn Balinor befreit wurde und das Kommando der Grenzlegion wieder übernahm, würde Stenmins Macht über den Thron von Callahorn gebrochen werden. Stenmin würde also ganz gewiss irgend etwas versuchen, aber Zeit und Ort waren noch nicht gekommen. Die schwere Tür schloss sich leise hinter ihnen, und sie stiegen in den von lodernden Fackeln erhellten Keller hinab.

Menion sah die Falltür in der Mitte des Kellerbodens sofort. Die Wachen hatten sich keine Mühe gegeben, sie ein zweites Mal durch Weinfässer zu tarnen. Es genügte, dass sie eine Reihe von Eisenstangen und Riegeln über der Steinplatte angebracht hatten, so dass an ein Entkommen von unten her nicht zu denken war. Menion konnte zwar nichts davon wissen, aber die Gefangenen waren nach dem gescheiterten Fluchtversuch in den frühen Morgenstunden dieses Tages nicht in ihre Zellen zurückgebracht worden. Vielmehr ließ man sie in der Dunkelheit der Kerkergänge frei herumlaufen. Neben dem versiegelten Zugang standen zwei Wachen. Sie starrten die Männer an, die man hereingelassen hatte. Menion sah einen Teller mit Käse und Brot auf einem der Weinfässer stehen, daneben zwei Becher und eine halbleere Flasche. Die beiden Wachen hatten Wein getrunken. Menion lächelte schwach.

Als die beiden den Kellerboden erreichten, tat Menion so, als interessiere er sich sehr für die Kellerräume, und begann mit Stenmin ein angeregtes Gespräch. Die Wachen richteten sich beim Anblick des königlichen Beraters auf. Der Hochländer spürte, dass sie durch den unerwarteten Besuch aus dem Gleichgewicht geraten waren, und beschloss, den Vorteil zu nutzen.

»Ich verstehe, was Ihr meint, Mylord«, sagte er und starrte den Mystiker drohend an. »Diese Männer haben im Dienst getrunken. Wenn die Gefangenen nun entkommen wären, während diese Männer berauscht herumlagen? Was dann? Der König muss das sofort erfahren, wenn wir unseren Rundgang beendet haben.«

Die Wachen erbleichten.

»Mylord, Ihr irrt Euch«, sagte einer von ihnen flehend. »Wir haben nur einen kleinen Schluck Wein zu uns genommen. Unsere Pflichten haben wir nicht -«

»Das soll der König entscheiden!« fuhr ihn Menion an.

»Aber - der König wird uns nicht anhören ...«

Stenmin machte zu diesem Theater ein finsteres Gesicht. Die Wachen legten das zu ihren Ungunsten aus und fürchteten für ihr Leben. Der Mystiker wollte etwas sagen, aber Menion trat schnell vor ihn hin, so, als wolle er Stenmin davor bewahren, sich im Zorn zu etwas hinreißen zu lassen. Er zog den Dolch und schwenkte ihn.

»Ja, gewiss, sie lügen wahrscheinlich«, sagte Menion mit unveränderter Stimme. »Immerhin, der König ist sehr beschäftigt, und ich belästige ihn ungern mit derlei Kleinigkeiten. Vielleicht ein mahnendes Wort an sie ...?«

Er schaute sich nach den Wachen um, die dumpf nickten, froh darüber, Stenmins Wut zu entkommen. Wie alle anderen Menschen im Reich fürchteten sie die Macht des unheimlichen Mystikers und vermieden es, ihn zu reizen.

»Nun gut, ihr seid gewarnt.« Menion steckte den Dolch wieder ein und drehte sich nach den zitternden Wachen um. »öffnet den Zugang zum Verlies und bringt die Gefangenen herauf!«

Er warf Stenmin einen drohenden Blick zu. Der Mystiker schien ihn nicht mehr zu sehen. Seine Augen starrten leer auf die Steinplatte, die den Zugang zu den Verliesen versperrte. Die Wachen hatten sich nicht gerührt, sondern sahen einander in neuer Verzweiflung an.

»Mylord, der König hat allen verboten, die Gefangenen zu sprechen gleichgültig, aus welchem Grund«, stieß einer der Soldaten schließlich hervor. »Ich darf sie nicht aus dem Verlies holen.«

»Ihr wollt also den Berater des Königs und seinen Ehrengast aufhalten.« Menion zögerte nicht. Er hatte mit solchen Hindernissen gerechnet. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als den König herzuholen ...«

Mehr brauchte es nicht. Die Wachen überlegten nicht mehr lange, sondern stürzten zur Steinplatte und klappten die Riegel und Stangen hoch. Sie zerrten an dem Eisenring, und die Falltür kippte schwerfällig, bis die Platte auf dem Steinboden lag. Mit gezogenen Schwertern riefen die Wachen in die Dunkelheit hinunter und befahlen den Gefangenen, heraufzukommen. Menion wartete angespannt neben Stenmin. Das Schwert von Leah lag in seiner Hand, und mit der anderen hielt er Stenmin fest; er zischte ihm noch einmal ins Ohr, er möge schweigen. Schritte wurden auf den Steinstufen hörbar. Sie tappten langsam herauf, dann erschien Balinors breite Gestalt, gefolgt von den Elfen-Brüdern und dem unverwüstlichen Höndel, dessen eigener Versuch, seine Freunde zu retten, Stunden zuvor gescheitert war. Sie bemerkten Menion nicht gleich, bis der Hochländer, der Stenmin mitzerrte, vortrat und den Wachen befahl:

»So ist es recht, treibt sie vorwärts, drängt sie zusammen! Solche Männer müssen gut bewacht werden. Sie sind stets gefährlich.«

Die erschöpften Gefangenen hoben erstaunt die Köpfe. Menion zwinkerte ihnen verstohlen zu, und die Eingeschlossenen wandten sich ab. Nur ein schwaches Lächeln auf Dayels jungem Gesicht verriet etwas von der Freude, die sie beim Anblick ihres alten Freundes empfanden. Sie waren ganz heraufgestiegen und standen nun in einiger Entfernung von den Wachen, die Menion den Rücken zukehrten. Bevor Menion den Mund wieder auftun konnte, riss sich Stenmin plötzlich los und sprang zur Seite, um die ahnungslosen Wachen zu warnen und ein Entkommen der Gefangenen zu verhindern.

»Wachen, das ist ein falsches Spiel ...«

Er konnte nicht zu Ende sprechen. Als die Wachen herumfuhren, sprang Menion wie eine Raubkatze auf den fliehenden Mystiker zu und riss ihn zu Boden. Die Soldaten bemerkten ihren Irrtum zu spät. Die vier Gefangenen zögerten keinen Augenblick, fielen über die Wachen her und entwaffneten sie im Handumdrehen. Die Soldaten waren binnen Augenblicken gefesselt und geknebelt, und man schleppte sie in einen Winkel des Kellers, wo sie den neugierigen Blicken entzogen waren. Stenmin wurde hochgerissen und seinen Gegnern gegenübergestellt. Menion warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tür an der Steintreppe, aber nichts rührte sich. Der Schrei Stenmins war offenbar ungehört verhallt. Balinor und die anderen traten freudestrahlend auf Menion zu, hieben ihm auf die Schulter und schüttelten ihm die Hand.

»Menion Leah, wir schulden Euch mehr, als wir je wiedergutmachen können«, sagte Balinor. »Ich dachte nicht, dass wir Euch wiedersehen würden. Wo ist Allanon?«

Menion berichtete kurz, dass er Allanon und Flick in einem Versteck über dem Lager des Nordland-Heeres zurückgelassen habe und nach Callahorn gekommen sei, um die Stadt vor dem drohenden Angriff zu warnen. Während er Stenmin hastig knebelte, damit der Mystiker nicht ein zweites Mal versuchen konnte, Alarm zu schlagen, schilderte der Hochländer, wie er Shirl Ravenlock gerettet hatte und nach Kern und schließlich nach Tyrsis geflohen war, nachdem die Inselstadt ein Opfer der Flammen geworden war. Seine Freunde hörten mit grimmigen Mienen zu.

»Wie es auch weitergehen mag, Hochländer«, sagte Höndel ruhig, »Ihr habt Euren Mann gestanden, und wir werden Euch das nie vergessen.«

»Die Grenzlegion muss sofort wiederaufgestellt und zum Mermidon geschickt werden, um die Stellung zu halten«, erklärte Balinor. »Wir müssen die untere Stadt auf der Stelle informieren. Dann gilt es, meinen Vater zu finden ... und meinen Bruder. Ich möchte aber Blutvergießen vermeiden. Menion, können wir uns darauf verlassen, dass Janus Senpre eingreift?«

»Er ist Euch und dem König treu.«

»Ihr müsst ihm eine Nachricht schicken, während wir hier bleiben«, fuhr der Prinz von Callahorn fort. Er trat auf Stenmin zu. »Sobald er Hilfe bringt, dürfte es keine Schwierigkeiten mehr geben - mein Bruder wird allein sein. Aber was ist mit meinem Vater ...?« Er blieb vor dem Mystiker stehen, nahm ihm den Knebel aus dem Mund und starrte ihn kalt an. Stenmin erwiderte kurz seinen Blick; seine hasserfüllten Augen loderten. Der Mystiker wusste, dass er besiegt war, wenn Palance gefangengenommen und als Herrscher von Callahorn abgesetzt wurde, und seine Verzweiflung wuchs von Minute zu Minute, als er seine Pläne in Rauch aufgehen sah. Menion, der bei den Elfen-Brüdern und Höndel stand, während Balinor sich den Gefangenen vornahm, fragte sich, was der Mann damit zu erreichen gehofft hatte, dass er Palance auf diese Weise beeinflusst hatte. Es war zwar kein Rätsel, weshalb er den geistig verwirrten, labilen Prinzen als den neuen König von Callahorn unterstützt hatte. Seine eigene Position war gesichert, wenn Balinors Bruder herrschte. Aber weshalb hatte er die Auflösung der Grenzlegion gefördert, obwohl er wusste, dass eine Invasionsarmee das kleine Südland-Reich zu überrennen drohte, um der aufgeklärten Monarchie ein Ende zu bereiten? Warum hatte er sich solche Mühe gegeben, Balinor unschädlich zu machen und den alten König in einem abgelegenen Teil des Palastes festzusetzen, wenn es ebenso leicht gewesen wäre, die beiden insgeheim zu töten? Und warum hatte er versucht, Menion Leah umzubringen, einen Mann, dem er vorher noch nie begegnet war?

»Stenmin, Eure Herrschaft über dieses Land und seine Menschen und Eure Macht über meinen Bruder sind beendet«, sagte Balinor mit eisiger Stimme. »Ob Ihr den morgigen Tag noch erlebt oder nicht, hängt davon ab, was Ihr von jetzt an tut, bis ich die Stadt wieder in der Gewalt habe. Was habt Ihr mit meinem Vater gemacht?«

Es blieb einen langen Augenblick still, während der Mystiker sich verzweifelt umsah, das Gesicht aschfahl vor Furcht.

»Er ... er ist im Nordflügel ... im Turm«, stieß er halblaut hervor.

»Wenn ihm etwas geschehen ist, Stenmin ...«

Balinor wandte sich ruckartig ab, und Stenmin wich zurück an eine Wand. Er fuhr mit der Hand nervös über seinen schwarzen Bart. Menion beobachtete ihn beinahe mitleidig, aber dann löste sich in seinem Gehirn schlagartig etwas aus. Ein Bild flammte auf - die Erinnerung an eine Szene vor Tagen an den Ufern des Mermidon nördlich von Kern, als er auf einer kleinen Anhöhe gelegen hatte, den Blick auf den windumtosten Fluss gerichtet. Dieselbe Geste - das Streichen über einen kleinen Spitzbart! Jetzt wusste er genau, was Stenmin im Schild führte. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, und er trat vor, Balinor beiseite schiebend, als sei dieser gar nicht vorhanden.

»Ihr seid der Mann am Ufer gewesen - der Entführer!« fuhr er Stenmin an. »Ihr habt versucht, mich zu töten, weil Ihr geglaubt habt, ich erkenne Euch als den Mann wieder, der Shirl entführt hat, der sie den Nordländern übergeben hat! Ihr Verräter! Ihr wolltet uns alle verraten und die Stadt dem Dämonen-Lord übergeben!«

Ohne auf die erregten Stimmen seiner Freunde zu hören, stürzte Menion sich auf den völlig aus der Fassung geratenen Mystiker, der sich ihm aber entwinden konnte und zur Kellertreppe sprang. Menion setzte ihm nach, das schimmernde Schwert seines Vaters erhoben. Auf halber Treppe holte er Stenmin ein, der gellend aufschrie, als Menion ihn herumriss. Aber noch kam das Ende nicht, denn als Menion mit dem Schwert ausholte und Stenmin an die Steinmauer presste, wurde plötzlich die massive Kellertür aufgestoßen. Sie krachte mit ohrenbetäubendem Lärm an die Wand. Unter dem Torbogen stand die breitschultrige Gestalt Palance Buckhannahs.

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