6

Sie verbrachten die Nacht im schützenden Grenzbereich der Schwarzen Eichen, in einer kleinen Lichtung, geborgen von den riesigen Bäumen und dichtem Gebüsch, das die Tristheit des Tieflands von Clete keine fünfzig Meter westlich vergessen ließ. Der dichte Nebel löste sich im Wald auf, und siekonnten hinaufblicken zu dem großartigen Dach ineinander verschlungener Äste mit ihrem dichten Laub, über hundert Meter hoch über ihren Köpfen. Wo im tödlichen Tiefland kein Lebenszeichen wahrzunehmen gewesen war, wisperten im Wald die Laute von Insekten und anderen Tieren durch die Nacht. Es war angenehm, wieder Leben zu hören, und die drei Wanderer fühlten sich zum erstenmal seit Tagen erleichtert.

Aber sie vergaßen nicht ihren ersten Marsch durch den Wald, als sie tagelang umhergeirrt waren und sich nur mit Mühe der hungrigen Wölfe erwehrt hatten. Und die Berichte von unglücklichen Reisenden, die versucht hatten, eben durch diesen Wald zu gelangen, waren zu zahlreich, um einfach abgetan werden zu können.

Die jungen Südländer fühlten sich aber in der Nähe des Waldrandes einigermaßen sicher und machten sich dankbar daran, ein Feuer zu entzünden. Trockenes Holz gab es hier im Überfluß. Sie zogen sich ganz aus und hängten ihre feuchten Sachen an eine Leine neben dem Feuer. Sie bereiteten schnell eine Mahlzeit zu — die erste warme seit fünf Tagen — und verschlangen sie binnen Minuten. Der Waldboden war weich und glatt, ein bequemes Bett, verglichen mit der feuchten Erde des Tieflands. Als sie stumm auf dem Rücken lagen und hinauf zu den sanft schwankenden Baumwipfeln blickten, schien das helle Licht des Feuers in schwachen, orangeroten Streif en emporzuschießen, so, als brenne in einem Heiligtum ein Altar. Das Licht tanzte und glitzerte auf der rauen Rinde und dem weichen, grünen Moos, das in dunklen Klumpen an den massiven Bäumen klebte. Die Waldinsekten summten zufrieden. Ab und zu flog eines in die Flammen und verlor mit kurzem Aufleuchten sein Leben. Ein-, zweimal hörten sie das Rascheln eines kleinen Tiers außerhalb des Lichtscheins.

Nach einer Weile drehte Menion sich auf die Seite und blickte Shea an.

»Was ist die Quelle der Kraft dieser Steine, Shea? Können sie jeden Wunsch erfüllen? Ich bin mir immer noch nicht gewiß ...« Er schüttelte den Kopf.

Shea blieb regungslos liegen und starrte nach oben, während er über die Ereignisse des Nachmittags nachdachte.

Dann blickte er zu Flick hinüber.

»Ich glaube nicht, daß ich soviel Einfluß auf sie habe«, sagte er. »Es war beinahe so, als hätten sie die Entscheidung getroffen...« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß ich sie beeinflussen kann.«

Menion nickte nachdenklich und ließ sich wieder zurücksinken.

Flick räusperte sich.

»Was macht das? Sie haben uns aus dem scheußlichen Moor geführt, nicht?«

Menion warf Flick einen Blick zu und zuckte die Achseln.

»Es könnte nützlich sein, zu wissen, wann wir uns auf diese Unterstützung verlassen können, meint ihr nicht?« Er atmete tief ein und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Nun, wenigstens sind wir schon so weit gekommen. Und jetzt das nächste Stück...« Er setzte sich auf und zeichnete eine Skizze der Umgebung in die trockene Erde. Shea und Flick richteten sich ebenfalls auf und schauten ihm zu.

»Hier sind wir.« Menion deutete auf einen Punkt der Zeichnung. »Jedenfalls nehme ich das an«, ergänzte er hastig.

»Im Norden liegt der Nebelsumpf, und noch weiter nördlich davon der Regenbogen-See, aus dem der Silberfluß zu den Anar-Wäldern fließt. Am besten marschieren wir morgen nach Norden, bis wir den Rand des Nebelsumpfs erreicht haben.

Wir gehen dann an ihm entlang und kommen auf der anderen Seite der Schwarzen Eichen heraus. Von dort könnten wir schnurgerade nach Norden gehen, bis wir auf den Silberfluß stoßen, der uns sicher zum Anar bringen müßte.« Er sah die beiden anderen an, die nicht gerade glücklich zu sein schienen. »Was ist los?« fragte er verwirrt. »Mit dem Plan kommen wir an den Schwarzen Eichen vorbei, ohne direkt hindurch zu müssen wie beim letztenmal. Vergeßt nicht, daß die Wölfe immer noch da sind.«

Shea nickte und runzelte die Stirn.

»Es liegt nicht am Plan allgemein«, begann er zögernd, »aber wir haben Geschichten vom Nebelsumpf gehört...«

Menion schlug sich verblüfft an die Stirn.

»Ach, nein! Doch nicht die Altweibergeschichte von einem Nebelgespenst, das am Rand des Sumpfes lauert und verirrte Reisende verschlingt? Erzählt mir nicht, daß ihr das glaubt!«

»So etwas mußt ausgerechnet du sagen«, regte sich Flick auf. »Du hast wohl vergessen, wer uns beim letztenmal versichert hat, wie ungefährlich die Schwarzen Eichen sind!«

»Na gut«, sagte Menion. »Ich behaupte nicht, daß das hier eine gefahrlose Gegend ist, in der sich keine seltsamen Wesen herumtreiben. Aber noch niemand hat dieses angebliche Sumpfungeheuer gesehen — die Wölfe aber schon! Was ist euch lieber?«

»Ich finde, dein Plan ist gut«, warf Shea hastig ein. »Doch ich würde es vorziehen, so weit wie möglich nach Osten auszuholen, wenn wir durch den Wald gehen, um den Nebelsumpf zu meiden.«

»Einverstanden!« sagte Menion. »Aber es mag ein bißchen schwierig werden, wenn wir drei Tage lang die Sonne nicht gesehen haben und nicht genau wissen, wo Osten ist.«

»Steig auf einen Baum.« sagte Flick leichthin.

»Auf einen...«, stammelte Menion. »Aber natürlich! Warum ist mir das nicht eingefallen? Ich klettere einfach sechzig Meter an glatter, feuchter, bemooster Baumrinde hinauf, lediglich mit Händen und Füßen.« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Sag mal, bist du verrückt?« Er sah zu Shea hinüber, um sich Bestätigung zu holen, aber dieser war schon bei seinem Bruder.

»Flick, hast du die Kletterausrüstung mitgebracht?« fragte er erregt, und als der andere nickte, schlug er ihm auf die Schulter. »Besondere Stiefel, Handschuhe und ein Seil«, erläuterte er dem verwirrten Menion begeistert. »Flick ist der beste Kletterer im Tal, und wenn einer diese Giganten bezwingt, dann er!«

Menion schüttelte verständnislos den Kopf.

»Die Stiefel und Handschuhe werden vor dem Gebrauch mit einem besonderen Mittel bestrichen, wodurch die Oberfläche so rauh wird, daß sie selbst an feuchter, bemooster Rinde greift. Er kann morgen auf eine der Eichen steigen und den Stand der Sonne feststellen.«

Flick nickte und grinste selbstzufrieden.

»Ja, wahrhaftig, Wunder über Wunder.« Menion klatschte in die Hände. »Sogar die Begriffsstutzigen fangen an zu denken. Freunde, wir können es noch schaffen.«

Als sie am nächsten Morgen erwachten, war der Wald noch dunkel, und nur schwache Spuren von Tageslicht drangen durch die Wipfel der gigantischen Eichen. Vom Tiefland war ein dünner Nebel herangekrochen, der aus der Entfernung so düster und trist wirkte wie zuvor. Es war kalt im Wald — nicht zu vergleichen, mit der feuchten, durchdringenden Kälte des Tieflands, aber doch ausgesprochen kühl. Ein typischer früher Waldmorgen. Sie frühstückten rasch, dann machte Flick sich bereit, auf einen der himmelhohen Bäume zu klettern. Er zog engschäftige, biegsame Stiefel und Handschuhe an, die Shea dann mit einer dicken, salbenartigen Masse aus einem kleinen Behälter bestrich. Menion sah zweifelnd zu, staunte aber, als Flick den Stamm umfaßte und mit einer Behendigkeit, die seiner gedrungenen Gestalt nicht anzusehen war, blitzschnell hinaufkletterte. Er erreichte das Gewirr der Äste und kam nur noch langsamer voran. Als er die obersten Äste erreicht hatte, war er kurze Zeit nicht mehr zu sehen, dann tauchte er wieder auf und kletterte herunter.

Sie packten ihre Sachen ein und marschierten in nordöstlicher Richtung los. Gestützt auf Flicks Sonnenbeobachtung, mußte ihr Weg zu einer bestimmten Stelle am Ostrand des Nebelsumpfs führen. Menion glaubte, daß der Marsch durch den Wald in einem Tag zu bewältigen sei. Es war jetzt früher Morgen, und sie waren entschlossen, die Schwarzen Eichen hinter sich zu lassen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Sie machten nur dreimal kurz Rast und aßen hastig zu Mittag, bevor sie jeweils wieder in größter Eile aufbrachen.

Der Tag verging schnell, und bald zeigten sich die ersten Anzeichen für das Hereinbrechen der Nacht. Der Wald erstreckte: sich noch immer vor ihnen ohne jede Lücke. Schlimmer noch, ein dichter grauer Nebel schien sich wieder ausbreiten zu wollen aber es war eine neue Art von Nebel , beinahe wie Rauch, der sich an Körper und Kleidung festsaugte. Er war, als griffen Hunderte kleiner, klammer, kalter Hände zu und versuchten den Körper niederzuziehen auf den Boden, und die die drei Wanderer verspürten Abscheu. Menion erklärt, daß der klebrige Dunst vom Nebelsumpf stamme und sie sich ganz in der Nähe des Waldrands befinden müßten.

Schließlich wurde der Nebel so dicht, daß sie nur noch ein paar Meter weit sahen. Menion verlangsamte seine Schritte immer mehr und sie blieben nah beieinander, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. Inzwischen war der Tag so weit fortgeschritten, daß der Wald auch ohne den Nebel schon beinahe schwarz ausgesehen hätte. Mit der zusätzlichen Trübung, hervorgerufen durch die wirbelnde Wand nebeliger Feuchtigkeit, konnte man kaum den Boden vor den Fußen Unterscheiden Es war fast so, als schwebten sie in einer Vorhölle, wo nur die Festigkeit des Bodens unter ihren Füßen einen Bezug zur Wirklichkeit hatte. Die Sicht wurde schließlich so schlecht, daß Menion die beiden anderen anwies, sich und ihn mit einem Seil aneinanderzubinden damit sie sich nicht verlieren konnten.

Das geschah, und der langsame Marsch ging weiter Menion wußte, daß sie dem Nebelsumpf sehr nah sein mußten, und starrte angestrengt in das Grau.

Als er endlich den Rand des Moors erreichte, nahm er das trotzdem nicht gleich wahr, bis er schon knietief im dicken, grünen Schlick stand. Sein Warnruf rettete Shea und Flick vor einem ähnlichen Schicksal. Sie packten das Seil, mit dem sie aneinander gebunden waren, und zogen ihren Kameraden aus dem Morast. Das trübe, schwarze Wasser tarnte den Schlamm und wer einmal tief genug hineingeriet, war rettungslos verloren. Seit urdenklichen Zeiten hatte die stille Oberfläche unvorsichtige Wesen dazu verlockt, sie überwinden zu wollen, und die Überreste der Unglücklichen lagen nun in der Tiefe. Die drei Reisenden standen am Ufer und starrten entsetzt auf den grausigen Sumpf. Besonders Menion schauderte.

»Was ist geschehen?« rief Shea plötzlich. »Wir hätten den Sumpf doch meiden sollen!«

Menion schaute sich um und schüttelte den Kopf.

»Wir sind zu weit im Westen herausgekommen. Wir müssen um den Morast herumgehen nach Osten, bis wir den Nebel und die Schwarzen Eichen hinter uns haben.« Er machte eine Pause, um die Tageszeit festzustellen.

»Ich verbringe die Nacht nicht an diesem Ort«, erklärte Flick entschieden. »Lieber laufe ich noch, bis ich umfalle.«

Sie beschlossen, am Rand des Nebelsumpfes weiterzugehen, bis sie offenes Land im Westen erreichen würden, und dort zu nächtigen. Shea sorgte sich zwar immer noch, in ungedecktem Gelände von den Schädelträgern entdeckt zu werden, aber seine Angst vor dem Sumpf überwog. Sie zogen das Seil um ihre Hüften fester und gingen hintereinander am unregelmäßigen Sumpfufer entlang, den Blick auf den kaum erkennbaren Pfad gerichtet. Menion führte sie mit Bedacht und mied das Gewirr heimtückischer Wurzeln und Pflanzen, deren verkrümmte und bizarre Formen sie in der Verschwommenheit des wogenden grauen Nebels wie Lebewesen erscheinen ließen. Manchmal wurde der Boden glitschig-weich, gefährlich wie der Sumpf selbst, und man mußte einen Umweg machen. Ein andermal versperrten riesige Bäume den Weg, deren starke Äste sich tief über das grün-schillernde Wasser neigten und wie leblos herabhingen, als warteten sie auf den Tod. Wenn das Tiefland von Clete ein sterbendes Land gewesen war, dann stellte dieser Sumpf den wartenden Tod dar — einen endlosen, alterslosen Tod, der kein Zeichen gab, keine Warnung, keine Regung erkennen ließ, geduckt in eben dem Land lauernd, das er so brutal zerstört hatte. Die eisige Feuchtigkeit des Tieflands herrschte auch hier, aber verbunden mit dem unerklärlichen Gefühl, daß das schwere, stehende Wasser des schleimigen Morasts auch den Nebel durchdrang und gierig nach den erschöpften Wanderern griff.

Der Nebel umwallte sie träge, aber von Wind war nichts zu merken, kein Lufthauch fuhr durch das hohe Sumpf gras oder die mächtigen Eichen. Alles war still, eine Stille des ewigen Todes, der sehr wohl wußte, wer hier der Herr war.

Sie waren vielleicht eine Stunde gegangen, als Shea spürte, daß etwas nicht mehr stimmte. Es gab keinen Anlaß für diese Empfindung; sie erfaßte ihn langsam, bis alle Sinne angespannt waren und versuchten, den Ursprung der Störung zu finden. Er ging stumm zwischen den beiden anderen dahin und lauschte aufmerksam, starrte zwischen den großen Eichen in den Wald, dann auf den Sumpf hinaus. Schließlich stand für ihn fest, daß sie nicht allein waren — daß dort draußen im Unsichtbaren etwas lauerte, verborgen im Nebel, aber fähig, sie zu beobachten. Einen Augenblick lang war der junge Talbewohner so entsetzt, daß er keines Wortes fähig war und nicht einmal eine Geste zustande brachte. Er lief automatisch weiter, das Gehirn wie gelähmt, und wartete auf das Unaussprechliche. Aber dann bezwang er mit ungeheurer Willensanstrengung seine Panik und brachte die beiden anderen Männer abrupt zum Stehen. Menion schaute sich fragend um und wollte etwas sagen, aber Shea legte den Finger an die Lippen und zeigte auf den Sumpf. Flick blickte schon wachsam in diese Richtung, da ihn sein sechster Sinn bereits auf die innere Unruhe seines Bruders aufmerksam gemacht hatte. Lange Augenblicke standen sie regungslos am Ufer, Augen und Ohren auf die undurchdringlichen Nebel gerichtet, die träge über dem toten Wasser schwebten. Die Stille war bedrückend.

»Ich glaube, du hast dich geirrt«, flüsterte Menion schließlich.

»Wenn man so müde ist, bildet man sich manches ein.«

Shea schüttelte den Kopf und sah Flick an.

»Ich weiß nicht«, gestand dieser. »Ich dachte, ich hätte auch etwas erfühlt...«

»Ein Nebelgespenst?« fragte Menion grinsend.

»Vielleicht hast du recht«, räumte Shea ein. »Ich bin todmüde und habe mich möglicherweise täuschen lassen. Gehen wir weiter, damit wir von hier fortkommen.«

Sie machten sich schleunigst wieder auf den Weg, aber in den folgenden Minuten achteten sie immer noch auf alles Ungewöhnliche.

Als nichts geschah, hingen sie anderen Gedanken nach. Shea hatte sich eben eingeredet, daß er einem Irrtum erlegen und seiner überreizten Phantasie zum Opfer gefallen war, als Flick aufschrie.

Augenblicklich spürte Shea, wie das Seil, das sie verband, heftig ruckte und ihn in die Richtung des tödlichen Sumpfes zu zerren begann. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte, unfähig, im Nebel irgend etwas unterscheiden zu können. Einen flüchtigen Augenblick lang glaubte er, seinen Bruder einen Meter über den Sumpf schweben zu sehen, das Seil noch um seinen Körper geschlungen. In der nächsten Sekunde fühlte Shea den kalten Schlick nach seinen Beinen greifen.

Sie hätten alle verloren sein können, wenn nicht die schnellen Reflexe des Prinzen von Leah gewesen wären. Beim ersten harten Ruck am Seil hatte Menion instinktiv nach dem einzigen gegriffen, das nahe genug war, um ihn auf den Beinen zu halten. Es war eine riesige Eiche, deren Äste so tief herabhingen, daß er sich an einem derselben festklammern konnte. Er schlang einen Arm um ihn, packte mit der anderen Hand das Seil und zerrte daran. Shea, schon bis zu den Knien im Morast, spürte, wie das Seil sich straffte, und versuchte mitzuhelfen.

Flick schrie in der Dunkelheit über dem Sumpf auf, und Menion und Shea brüllten gleichzeitig aufmunternde Worte.

Plötzlich hing das Seil zwischen Flick und Shea durch, und aus dem grauen Nebel tauchte die kräftige Gestalt Flicks auf, noch immer über der Wasseroberfläche hängend, die Hüften umfaßt von einer Art grünlichen, tangbewachsenen Greifarms.

Seine rechte Hand umklammerte den langen Silberdolch, der drohend glänzte, als er immer wieder auf das Ding einstach, das ihn festhielt. Shea zerrte heftig an dem Seil, das sie zusammenband, und versuchte seinem Bruder zu helfen, was ihm einen Augenblick später gelang, als der Greifarm in den Nebel zurückschnellte und Flick losließ, der prompt in den Sumpf stürzte.

Shea hatte seinen Bruder kaum aus dem Morast gezogen, ihm das Seil abgenommen und ihn auf die Beine gestellt, als gleich mehrere der grünlichen Arme aus der nebligen Dunkelheit herausschössen. Sie stießen den noch benommenen Flick nieder, und ein Tentakel legte sich um den linken Arm des verblüfften Shea, bevor er ausweichen konnte. Er spürte, wie er zum Sumpf gezogen wurde, und zog blitzschnell seinen eigenen Dolch, um heftig auf den schleimbedeckten Arm einzustechen. Währenddessen erblickte er im Sumpf etwas Riesiges, dessen Masse von der Nacht und dem Nebel verhüllt wurde. Auch Flick wurde wieder erfaßt, sogar von zwei Greifarmen, die ihn in den Morast zu ziehen suchten. Shea befreite sich tapfer von dem Tentakel, indem er ihn durchhackte; als er seinen Bruder zu erreichen versuchte, spürte er, wie ein anderer Arm sein Bein packte und ihn umriß. Sein Kopf prallte an eine Eichenwurzel, und er verlor das Bewußtsein.

Wieder wurden sie von Menion gerettet, der aus der Dunkelheit hervorsprang und das große Schwert schwang. Es durchtrennte mit einem Hieb den Arm, der den bewußtlosen Shea umklammerte. Eine Sekunde später war der Hochländer an Flicks Seite und hackte sich durch die Arme, die aus der Nacht nach ihm griffen. Mit einer Reihe gezielter Hiebe befreite er Flick. Für einen Augenblick verschwanden die Arme im Nebel über dem Sumpf, und Flick und Menion beeilten sich, den ohnmächtigen Shea vom Ufer wegzuzerren. Bevor sie jedoch die Sicherheit der mächtigen Eichen gewannen, stellten Menion und Flick sich vor den Bewußtlosen und hieben auf die Greif arme ein. Der Kampf ging lautlos vonstatten, abgesehen vom Keuchen der beiden Männer, die immer wieder zuschlugen, Fetzen und Stücke aus den Armen hieben, manchmal ganze Teile abtrennten. Aber nichts schien das Ungeheuer im Sumpf bremsen zu können, das nach jedem Hieb mit erneuerter Wut angriff. Menion verfluchte sich dafür, nicht den großen Eschenholzbogen herangeholt zu haben, um versuchen zu können, auf das zu schießen, was sich im Nebel verbarg.

»Shea!« brüllte er verzweifelt. »Shea, wach auf, oder wir sind verloren, beim Himmel!«

Die Gestalt hinter ihm regte sich.

»Steh auf, Shea!« flehte Flick heiser, denn er spürte, wie sein Arm ermüdete.

»Die Steine!« brüllte Menion. »Hol die Elfensteine!«

Shea richtete sich auf, wurde aber sofort wieder umgeworfen.

Er hörte Menion schreien und tastete blind nach seinem Rucksack, der einige Meter entfernt lag, unter peitschenden Greifarmen. Menion schien das im selben Augenblick zu erkennen und stürzte mit einem wilden Schrei vorwärts, mit dem Schwert eine Gasse für die anderen bahnend. Flick folgte ihm, den Dolch schwingend. Shea sprang mit letzter Kraft auch auf und warf sich dem Rucksack mit den kostbaren Elfensteinen entgegen. Er glitt zwischen mehreren Tentakeln hindurch, stieß die Hand in den Rucksack, fand den Beutel, als der erste Greifarm seine ungeschützten Beine umfaßte.

Stoßend und um sich schlagend kämpfte er darum, seine Freiheit für die wenigen Sekunden zu verteidigen, die er brauchte, um die Steine zu finden. Einen Augenblick glaubte er, sie seien ihm wieder entglitten, dann schloß sich seine Hand um den kleinen Beutel, und er riß ihn heraus. Ein plötzlicher Hieb der zuckenden Greifarme entriß ihm die Steine beinahe wieder, und er preßte den Beutel an seine Brust, als er die Schnur aufzog. Flick war so weit zurückgetrieben worden, daß er über Shea stolperte und hinstürzte, so daß die Greifarme auf beide herabstießen. Nun stand nur noch die schlanke Gestalt Menions dazwischen, deren Hände das große Schwert umfaßten.

Shea spürte, fast ohne zu wissen wie, die drei Steine in seiner Hand. Er stürzte nach hinten und raffte sich auf, stieß einen wilden Triumphschrei aus und streckte die Hand mit den schwach leuchtenden Elfensteinen vor. Die darin verschlossene Kraft flammte sofort auf und durchflutete die Dunkelheit mit gleißendem blauem Licht. Flick und Menion wichen zurück und bedeckten die Augen. Die Arme verhielten zögernd, und als die drei Männer einen Blick riskierten, sahen sie das grelle Licht der Elfensteine hinauszucken in den Nebel über dem Sumpf, die Schwaden wie mit einem Messer zerteilend.

Sie sahen den Strahl die riesige, unfaßbare Masse treffen, von der sie angegriffen worden waren und die nun träge im schleimbedeckten Wasser versank. Im selben Augenblick erreichte das Gleißen über dem verschwindenden Ungeheuer die Leuchtkraft einer kleinen Sonne, und auf dem Wasser dampften blaue Flammen, die zum verhüllten Himmel hinaufloderten.

Im nächsten Augenblick waren das blendende Licht und die Flammen verschwunden. Nebel und Nacht kehrten zurück, und die drei Kameraden standen wieder allein im Dunkel des Sumpflandes.

Sie steckten schnell ihre Waffen weg, griffen nach ihren Rucksäcken und eilten zurück unter die riesigen schwarzen Bäume. Der Sumpf blieb still wie vorher, das brackige Wasser zeigte keine Bewegung. Einige Augenblicke lang blieben die Männer stumm, als sie unter den Bäumen zusammensanken und tief atmeten, froh, noch am Leben zu sein. Der ganze Kampf war schnell abgelaufen, wie das Vorbeihuschen eines kurzen, entsetzlichen Augenblicks in einem nur allzu wirklichen Alptraum. Flick war vom Sumpfwasser völlig durchnäßt, Shea bis zu den Hüften. Beide fröstelten in der kalten Nachtluft; nach nur wenigen Augenblicken der Rast standen sie auf und machten sich Bewegung, um der Kälte zu trotzen.

Menion sah ein, daß sie schnell vom Sumpf fort mußten, raffte sich auf und warf sich den Rucksack auf die Schultern.

Shea und Flick folgten seinem Beispiel, wenn auch mit geringer Begeisterung. Sie besprachen sich kurz, um zu entscheiden, welche Richtung sie nun am besten einschlagen sollten.

Die Wahl war einfach: Weitergehen durch die Schwarzen Eichen und Gefahr laufen, sich zu verirren und von den herumziehenden Wolfsrudeln angefallen zu werden, oder am Sumpfufer weitergehen und vielleicht ein zweitesmal mit dem Nebelgespenst zusammenstoßen. Beides verlockte wenig, aber der Kampf mit dem Nebelgespenst war noch zu frisch im Gedächtnis, als daß sie bereit gewesen wären, sich auf eine Neuauflage einzulassen. Sie beschlossen also, im Wald zu bleiben, sich möglichst am Verlauf des Ufers zu orientieren und zu hoffen, daß sie in einigen Stunden offene Landschaft erreichen würden.

Der Marsch ging weiter wie zuvor, mit Menion an der Spitze, Shea einige Schritte hinter ihm und Flick als Nachhut.

Sie schritten schweigend aus, die Sinne auf das ersehnte freie, von der Sonne beschienene Grasland gerichtet, das sie zum Anar bringen würde. Der Nebel schien sich ein wenig zu lichten; während Menion nur ein Schatten war, konnte Shea ihn doch stets vor sich ausmachen. Die Minuten vergingen mit quälender Langsamkeit, dehnten sich zu endlosen Stunden, und sie stapften noch immer durch den nebligen Dunst des Eichenwaldes. Sie konnten nicht mehr beurteilen, wie weit sie gekommen waren oder wieviel Zeit insgesamt vergangen war. Bald spielte das keine Rolle mehr. Sie wurden zu Schlafwandlern in einer Welt halber Träume und wirrer Gedanken, ohne Unterbrechung im ermüdenden Marsch, eingesäumt von den endlosen schwarzen Baumreihen, an denen sie vorbeischritten. Die einzige Veränderung war, daß in der verhüllten Nacht von irgendwo Wind aufkam, zuerst säuselnd, dann zu einem Brausen anschwellend, das die drei Wanderer in seinen Bann schlug. Es rief sie an, erinnerte sie an die Kürze der Tage hinter und vor ihnen, warnte sie, daß sie sterbliche Wesen ohne Bedeutung in diesem Land seien, drängte sie, sich hinzulegen und sich dem Frieden des Schlafes zu überlassen. Sie hörten das lockende Flehen in ihrem Inneren und kämpften mit letzter Kraft dagegen an, konzentrierten sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, in nie endender Folge. Noch gingen sie alle hintereinander, im nächsten Augenblick guckte Shea nach vorn und konnte Menion nicht mehr sehen.

Zuerst wollte er es nicht glauben und ging langsam weiter, vergebens nach der schattenhaften Gestalt Ausschau haltend.

Dann, als ihn die Erkenntnis durchzuckte, daß sie getrennt worden waren, blieb er plötzlich stehen. Er griff wild nach seinem Bruder und bekam Flicks Rock zu fassen, als dieser müde gegen ihn taumelte. Flick starrte ihn leer an, ohne zu wissen, warum er stillstand, mit der einzigen Hoffnung, endlich zusammensinken und schlafen zu können. Der Wind schien triumphierend aufzuheulen, als Shea verzweifelt nach dem Hochland-Prinzen schrie und nur das Echo seiner Stimme hörte. Er rief immer wieder, bis sich seine Stimme fast überschlug, aber nichts war zu hören als das Rauschen des Windes in den Kronen der großen Eichen. Einmal glaubte er seinen Namen zu hören; er antwortete hastig und schleppte sich und den erschöpften Flick durch das Baumlabyrinth in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen zu sein schien. Aber da war nichts. Er ließ sich auf den Boden fallen und fuhr fort zu rufen, bis seine Stimme versagte, aber nur der Wind antwortete mit kaltem Brausen, um ihm zu sagen, daß er den Prinzen von Leah verloren hatte.

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