Sie rückten zehn Meilen in die Wolfsktaag-Berge vor, ehe Allanon haltmachen ließ. Der Paß und die Gefahr, von den Gnomen angegriffen zu werden, lagen weit zurück, und sie befanden sich nun tief in den Wäldern. Ihr Marsch war bis dahin schnell und unbehindert vor sich gegangen, die Wege waren breit und gut begehbar gewesen, das Terrain flach, wiewohl sie sich im hohen Gebirge befanden. Die Luft war frisch und kühl, so daß die Wanderung beinahe angenehm war, und die warme Nachmittagssonne schien auf sie herunter. Die Wälder waren in diesen Bergen durch Felsflanken und nackte, schneebedeckte Gipfel zerrissen. Obschon dies historisch ein verbotenes Land war, selbst für die Zwerge, fand niemand einen Hinweis auf etwas Außergewöhnliches, das eine Gefahr angezeigt hätte. Alle normalen Geräusche des Waldes waren vernehmbar, vom Zirpen der Insekten bis zu den fröhlichen Liedern einer Vielzahl bunter Vögel.
»In einigen Stunden machen wir Rast für die Nacht«, sagte Allanon, nachdem er die anderen um sich versammelt hatte.
»Ich verlasse euch aber am frühen Morgen, um jenseits des Wolfsktaag nach Spuren des Dämonen-Lords und seiner Gehilfen zu suchen. Sobald wir unseren Weg durch das Gebirge und eine kurze Strecke des Anar-Waldes bewältigt haben, müssen wir noch die Ebenen jenseits des Drachenzahns überqueren, kurz vor Paranor. Wenn die Wesen des Nordlands oder ihre Verbündeten den Zugang gesperrt haben, muß ich das jetzt wissen, damit wir uns schnell für einen anderen Weg entscheiden können.«
»Geht Ihr allein?« fragte Balinor.
»Ich glaube, es ist sicherer für uns alle, wenn ich allein gehe.
Ich bin nur in geringer Gefahr, und ihr habt jeden Mann nötig, wenn ihr wieder zu den Anar-Wäldern kommt. Die Gnomen werden alle Pässe bewachen, um dafür zu sorgen, daß ihr das Gebirge nicht lebend verlassen könnt. Höndel kann euch dort so gut führen wie ich, und ich werde versuchen, euch unterwegs wieder irgendwo zu treffen, bevor ihr die Ebenen erreicht.«
»Welche Route nehmt Ihr?« fragte der Zwerg.
»Der Jade-Paß bietet den besten Schutz. Ich markiere den Weg mit winzigen Stoffetzen — wie früher. Rot bedeutet Gefahr. Haltet euch an die weißen, und alles wird gutgehen. Nun aber weiter, solange es noch hell ist!«
Sie marschierten weiter durch das Wolfsktaag-Gebirge, bis die Sonne im Westen hinter den Bergen versank und man den Pfad nicht mehr genau sehen konnte. Die Nacht war mondlos, wenn auch die Sterne einen schwachen Schimmer über die schroffe Landschaft warfen. Sie lagerten unter einer hohen, gezackten Felswand, die sich wie eine riesige Klinge einige hundert Fuß hoch in den Nachthimmel erhob. Auf den offenen Seiten des Lagerplatzes standen hohe Fichten, die sie im Halbkreis umgaben, so daß sie gut geschützt waren. Sie aßen wieder kalte Speisen, noch immer nicht bereit, ein Feuer anzuzünden, von dem sie verraten worden wären. Höndel stellte die ganze Nacht über Wachen auf, und man wechselte sich für jeweils einige Stunden ab. Nach der Mahlzeit wurde kaum etwas gesprochen, man rollte sich in die Decken und schlief sofort ein.
Shea erbot sich, die erste Wache zu übernehmen, weil er seinen Beitrag zum Wohle der Gemeinschaft noch immer für zu gering hielt. Er begann nun zu begreifen, wie wichtig es war, das Schwert zurückzuholen, wie sehr die Bewohner der vier Länder darauf zum Schutz gegen den Dämonen-Lord angewiesen waren.
Allanon hatte sich wortlos hingelegt und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen. Shea beobachtete ihn während seiner zweistündigen Wache immer wieder und zog sich zurück, als Durin ihn ablöste. Erst als Flick nach Mitternacht seinen Wachdienst antrat, regte sich die riesige Gestalt ihres Anführers.
Allanon stand auf, wickelte sich fester in den großen, schwarzen Mantel und blickte für einige Zeit auf die Schlafenden, bevor er sich ohne Wort und Geste abwandte und in nördlicher Richtung in der Dunkelheit des Waldes verschwand.
Allanon marschierte den ganzen Rest der Nacht hindurch ohne Pause zum Jade-Paß und zu den Ebenen im Westen.
Seine schwarze Gestalt glitt mit der Behendigkeit eines flüchtigen Schattens durch den stillen Wald. Seine Erscheinung schien körperlos zu sein und über das Leben kleinerer Wesen hinwegzuhuschen, die ihn kurz erblickten und wieder vergaßen.
Wieder dachte er über ihre Reise nach Paranor nach, grübelte und sann und fühlte sich seltsam hilflos im Angesicht dessen, was sicherlich der Untergang eines Zeitalters war. Die anderen errieten seine Rolle bei den Ereignissen nur in allem, was bevorstand und schon geschehen war, aber er allein war gezwungen, mit der Wahrheit hinter seinem eigenen Schicksal und dem ihrigen zu leben. Er murrte halblaut vor sich hin, verabscheute, was geschah, wußte aber, daß ihm kein anderer Weg offenstand.
Bei Tagesanbruch eilte er durch einen besonders dichten Wald, der sich mehrere Meilen weit über bergiges Gelände mit Felsbrocken und umgestürzten Baumstämmen erstreckte.
Er bemerkte sofort, daß dieser Teil des Waldes seltsam still war, als habe eine besondere Art von Tod ihre eisige Hand auf die Erde gelegt. Die Fährte hinter ihm war sorgfältig mit winzigen weißen Stoffstreifen gekennzeichnet. Er ging langsamer. Bis zu diesem Punkt hatte es nichts gegeben, was Besorgnis in ihm erregt hätte, aber nun meldete sich sein sechster Sinn in ihm, der ihn warnte, daß nicht alles so sei, wie es sich gehörte. Er erreichte eine Gabelung des Weges. Ein breiter, hindernisloser Pfad, der so aussah, als sei er früher eine richtige Straße gewesen, führte nach links, hinab in ein tiefes Tal, wie es den Anschein hatte. Man konnte es kaum erkennen, weil der Wald alles überwuchert hatte und nach einigen hundert Metern den Pfad allen Blicken entzog. Der zweite Weg verlief durch dichtes Unterholz. Nicht mehr als eine Person gleichzeitig vermochte sich dort hindurchzuwinden, wenn man den Weg nicht mit einer Axt oder einem schweren Hackmesser verbreiterte. Dieser schmale Durchlaß führte hinauf zu einem hohen Grat neben dem Jade-Paß.
Der hochgewachsene Mann erstarrte plötzlich, als er die Gegenwart eines anderen Wesens spürte, einer unbezweifelbar bösen Lebensform irgendwo tiefer auf dem Weg ins unsichtbare Tal. Er hörte kein Geräusch, keine Bewegung. Was immer es sein mochte, es wartete lieber unten auf dem Weg auf seine Opfer. Allanon riß hastig zwei Stoffstreifen ab, einen roten, einen weißen, markierte mit dem roten Fetzen den breiteren, ins Tal führenden Weg und mit dem weißen den schmaleren, der zum Grat führte. Dann lauschte er wieder, konnte die Gegenwart des Wesens auch spüren, aber keine Bewegung wahrnehmen. Die Kraft des Wesens war der seinen nicht gewachsen, aber sie konnte den Männern gefährlich werden, die ihm folgten. Er glitt lautlos über den schmalen Weg und verschwand im Dickicht. Fast eine Stunde verging, bevor das Wesen, das auf dem ins Tal führenden Weg lauerte, nachzusehen beschloß. Es war hochintelligent, eine Möglichkeit, die Allanon nicht bedacht hatte, und es wußte, daß jenes Wesen, das oben vorbeigekommen war, seine Gegenwart gespürt und eine andere Richtung eingeschlagen hatte. Er wußte ebensogut, daß der Mann viel größere Kräfte besaß als es selbst, darum lag es regungslos im Wald und wartete, bis er fort war. Nun hatte es lange genug gewartet. Minuten später starrte es auf die Gabelung, wo die beiden Stoffstreifen im Wind flatterten. Wie dumm solche Markierungen waren, dachte das Wesen verschlagen, und mit schwerfälligen Schritten bewegte es seine riesige, mißgestaltete Masse vorwärts.
Balinor hatte die letzte Wache, und als die ersten goldenen Strahlen über die Berge im Osten fluteten, weckte er die anderen aus ihrem friedlichen Schlaf. Sie standen hastig auf und schlangen ein Frühstück hinunter, während sie sich in der noch kühlen Luft des sonnigen Tages warmzuhalten versuchten.
Sie packten ihre Sachen und bereiteten ihren Abmarsch vor. Jemand fragte nach Allanon, und Flick erwiderte schläfrig, der Historiker sei kurz nach Mitternacht aufgebrochen, ohne ein Wort zu sagen. Niemand wunderte sich.
Eine halbe Stunde später war die Gruppe unterwegs nach Norden durch die Wälder des Wolfsktaag, in der gewohnten Reihenfolge. Höndel hatte seinen Platz allerdings dem erfahrenen Menion Leah überlassen, der sich mit der Gewandtheit einer großen Katze durch das Unterholz bewegte.
Höndel empfand einen gewissen Respekt für den Prinzen von Leah.
Mit der Zeit würde dieser als Waldläufer nicht zu übertreffen sein. Es bedurfte nur noch der Aneignung einiger Fertigkeiten, und dafür gedachte der schweigsame Zwerg zu sorgen.
Eine beunruhigende Einzelheit erweckte die Aufmerksamkeit Höndels, obwohl sie seinem Begleiter völlig entging.
Die Fährte zeigte keine Spuren des Mannes, der erst vor Stunden hier gegangen war. Obwohl Höndel den Boden sorgfältig absuchte, fand er nicht den Ansatz einer menschlichen Fußspur.
Die weißen Stoffstreifen tauchten regelmäßig auf, wie Allanon es versprochen hatte, aber von seinem Vorüberkommen war nichts mehr zu bemerken. Höndel kannte die Geschichten über den rätselhaften Wanderer und hatte gehört, daß er ungewöhnliche Kräfte besaß. Er wäre aber nie auf den Gedanken gekommen, der Mann sei in der Lage, seine Spur gänzlich verwischen zu können. Der Zwerg konnte es nicht begreifen, beschloß aber, das für sich zu behalten.
Balinor, der wieder als letzter den Zug beschloß, dachte ebenfalls über den geheimnisvollen Mann aus Paranor nach, den Historiker, der so viel wußte, was anderen nie in den Sinn gekommen, den Wanderer, der überall gewesen zu sein schien und von dem man doch so wenig zu berichten verstand. Er kannte Allanon schon seit vielen Jahren, während er im Reich seines Vaters aufgewachsen war, besaß aber keine deutliche Erinnerung an ihre Begegnungen. Die weisen Männer in allen Ländern kannten Allanon als Gelehrten und Philosophen ohne seinesgleichen. Andere kannten ihn nur als Reisenden, der mit gutem Rat nicht geizte und eine Art grimmigen klaren Menschenverstands besaß, dem Irrtümer nicht nachzuweisen waren. Balinor hatte von ihm gelernt und zu ihm ein Vertrauen gefaßt, aus dem ein beinahe blinder Glaube geworden war. Trotzdem war ihm der riesige schwarze Wanderer stets ein Rätsel geblieben, und beinahe zufällig ging ihm auf, dass er in der ganzen Zeit keine Anzeichen des Alterns an ihm hatte wahrnehmen können.
Der Weg führte wieder aufwärts und wurde schmaler, als sich die hohen Bäume und das Dickicht wie eine Wand um die Wanderer schlössen. Menion hatte sich an die Stoffstreifen gehalten und zweifelte nicht, auf dem richtigen Weg zu sein. Es war beinahe Mittag, als der Weg sich unerwartet gabelte.
Menion blieb erstaunt stehen.
»Das ist seltsam. Eine Gabelung und keine Markierung — ich kann nicht begreifen, warum Allanon uns hier keinen Hinweis hinterlassen haben sollte.«
»Es muß irgend etwas damit geschehen sein«, meinte Shea grübelnd. »Welchen Weg nehmen wir?«
Höndel suchte den Boden ab. Auf dem Pfad, der zum Grat hinaufführte, sah man Spuren geknickter Zweige und abgefallener Blätter. Auf dem unteren Weg gab es dagegen Fußspuren, wenn auch sehr undeutliche. Instinktiv wußte er, dass Gefahr auf einem, wenn nicht auf beiden der Wege drohte.
»Gefällt mir nicht«, knurrte er. »Da ist etwas nicht in Ordnung.
Die Hinweise sind wirr, vielleicht mit Absicht.«
»Vielleicht war das Gerede, das Land hier sei tabu, doch nicht so falsch«, sagte Flick trocken und setzte sich auf einen umgestürzten Baum.
Balinor kam heran und besprach sich mit Höndel; der Zwerg gab zu, daß es über den unteren Weg schneller gehen würde. Aber nichts deutete darauf hin, welchen Weg Allanon genommen hatte. Schließlich warf Menion die Hände in die Luft und verlangte eine Entscheidung.
»Wir wissen alle, daß Allanon hier nicht weitergegangen wäre, ohne einen Hinweis zu hinterlassen, also muß mit den Zeichen entweder etwas geschehen oder Allanon etwas zugestoßen sein. Wir können aber nicht hier sitzenbleiben. Er hat gesagt, wir wollten uns am Jade-Paß oder in den Wäldern dahinter treffen, also stimme ich für den unteren Weg — wo es am schnellsten geht.«
Höndel trug wieder seine Bedenken vor, Balinor und die anderen diskutierten erregt miteinander und schlössen sich dann der Meinung Menions an. Sie gedachten, dem schnelleren Weg zu folgen, aber besonders wachsam zu sein, bis sie das rätselhafte Gebirge hinter sich gelassen hatten.
Sie bildeten wieder eine Reihe, und Menion ging voran. Sie eilten den abfallenden Weg hinunter, der sie in ein von hohen Bäumen beschirmtes Tal zu führen schien. Nach kurzer Zeit begann der Weg sich zu verbreitern, Bäume und Unterholz wichen zurück, und das Gefalle wurde weniger steil. Ihre Ängste legten sich, als der Marsch geringere Anstrengung erforderte, und es war erkennbar, daß hier einmal vor langer Zeit eine wichtige Verbindungsstraße durch die Landschaft geführt hatte. Sie waren kaum eine Stunde unterwegs, als sie den Talboden erreichten. Die Bäume hinderten sie, sich genau zu orientieren, weil man nichts sah als den Weg vor und den wolkenlosen blauen Himmel über sich.
Nach kurzer Zeit entdeckte die Gruppe ein ungewöhnliches Gefüge, das sich wie ein riesiger Rahmenbau aus dem Wald erhob. Es schien Teil des Waldes selbst zu sein, wenn man von der geometrischen Ausrichtung der Glieder absah, und nach Augenblicken waren sie nahe genug herangekommen, um eine Reihe von Riesentragbalken zu erkennen, bedeckt mit Rost, quadratische Ausschnitte des Himmels einrahmend.
Die Wanderer gingen langsamer und schauten sich vorsichtig um, ob das nicht eine Art Falle für unvorsichtige Reisende sein mochte. Aber nichts rührte sich, so daß sie weitergingen, angelockt von dem Bau, der vor ihnen wartete.
Plötzlich hörte die Straße auf, und der fremdartige Rahmenbau stand ganz vor ihnen, mit vor Alter verfallenden riesigen Metallbalken, aber noch immer aufrecht und stabil. Sie waren Teil einer frühen, alten Stadt, aus einer Zeit, an die niemand sich mehr erinnerte, die vergessen war wie das Tal und die Berge, in denen sie gestanden hatte — ein letztes Denkmal für eine Zivilisation längst verschwundener Wesen. Das Metallgerüst war eingelassen in Fundamente wie aus Stein, die nun zerfielen, zernagt von der Zeit und dem Wetter. An manchen Stellen sah man Überreste von Mauern. Eine große Anzahl dieser verfallenden Bauten war zusammengedrängt, reichte einige hundert Meter weit und endete an der Waldwand, die dem Eindringen des Menschen in die unzerstörbare Natur ein Ende gesetzt hatte. In den Bauten und durch Fundamente und Gerüste wuchsen Buschwerk und kleine Bäume in solchem Überfluß, daß die Stadt eher zu ersticken als zu verfallen schien. Die Gruppe starrte stumm auf die fremdartigen Zeugen einer anderen Zeit.
»Was ist das für ein Ort?« fragte Shea schließlich leise.
»Die Überreste irgendeiner großen Stadt«, sagte Höndel achselzuckend und sah den jungen Talbewohner an. »Seit Jahrhunderten ist hier niemand mehr gewesen.«
Balinor trat auf das am nächsten stehende Gerüst zu und kratzte an dem Metallträger. Große Rost- und Schmutzkrusten lösten sich ab, und darunter sah man eine stumpfe, stahlgraue Farbe, die anzeigte, wieviel Kraft noch in dem Bau steckte. Die anderen folgten ihm, als er umherging und die Fundamente prüfte, die aussahen wie Stein. Er blieb an einer Ecke stehen und wischte Sehmutz und Staub weg. In der verfallenden Wand war ein Datum zu lesen. Sie beugten sich alle vor.
»Diese Stadt war schon vor den Großen Kriegen hier«, sagte Shea verblüfft. »Ich kann es nicht glauben — das muß das älteste noch vorhandene Bauwerk sein.«
»Ich weiß noch, was Allanon uns von den Menschen dieser Zeit erzählt hat«, erklärte Menion. »Das große Zeitalter, hat er gesagt — und was hat es uns zu zeigen? Nichts als ein paar Eisenträger.«
»Rasten wir ein paar Minuten, bevor wir weitergehen?« sagte Shea. »Ich möchte mir die anderen Bauten noch schnell ansehen.«
Balinor und Höndel tauschten besorgte Blicke aus, erklärten sich dann aber mit einer kurzen Rast einverstanden, vorausgesetzt, alle blieben eng beisammen. Shea ging, begleitet von Flick, zur nächsten Ruine. Höndel setzte sich und blickte argwöhnisch auf die hohen Strukturen; jeder Augenblick, den sie in diesem Metalldschungel zu lange verweilten, erschien ihm gefährlich. Nach wenigen Minuten hing Höndel einem Tagtraum nach, in dem Culhaven und seine Familie vorkamen. Er ermahnte sich, wachsam zu sein. Alle waren in Sichtweite, aber Shea und Flick hatten sich ein Stück entfernt, um die Überreste der alten Zivilisation zu studieren. Im selben Augenblick bemerkte Höndel, daß es im Wald ringsum totenstill geworden war. Nicht einmal der Wind regte sich mehr im friedlichen Tal, kein Vogel flog darüber hinweg, kein, einziges Insekt konnte man summen hören. Der eigene Atem klang laut in seinen Ohren.
»Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu«, sagte er und griff instinktiv nach seinem schweren Streitkolben.
In diesem Moment entdeckte Flick etwas Schmutzig-Weißes am Boden neben dem Bau, den er und Shea betrachteten, vom Fundament halb verborgen. Neugierig näherte er sich den Gegenständen, bei denen es sich um Stöcke und Teile verschiedener Größe zu handeln schien, die wahllos verstreut herumlagen. Shea bemerkte vom Interesse seines Bruders nichts und entfernte sich von dem Gebäude, um gebannt die Überreste eines anderen anzustarren. Flick trat näher, konnte aber immer noch nicht erkennen, was die weißen Stöcke sein mochten. Erst als er vor ihnen stand und sie auf der dunklen Erde in der hellen Mittagssonne schimmern sah, erkannte er sie mit einem eisigen Schauer als Gebeine.
Der Dschungel hinter dem stämmigen Talbewohner barst mit einem donnernden Peitschen von Ästen und Strauchwerk auseinander. Aus seinem Versteck sprang ein graues, vielbeiniges Ungeheuer von monströser Größe, eine alptraumhafte Mutation von lebendem Fleisch und Maschine.
Krumme Beine hielten einen Körper aufrecht, der halb aus Metallplatten, halb aus behaartem Fleisch bestand. Ein insektenartiger Kopf schwankte auf einem Metallhals. Tentakel mit Stacheln wippten über zwei glühenden Augen und malmenden Kiefern, die gierig auf- und zuschnappten. Geschaffen von Menschen einer anderen Zeit, um die Bedürfnisse seiner Herren zu erfüllen, hatte es die sie vernichtende Katastrophe überlebt, war aber im Überleben und im Bewahren seines Jahrhunderte alten Daseins mit Metallteilen als Ersatz für seine zerfallende Form zu einem mißgestalteten Ungeheuer geworden — und schlimmer noch, zu einem Menschenfresser.
Es stürzte sich auf sein unglückliches Opfer, bevor jemand sich zu bewegen vermochte. Shea stand am nächsten, als das riesenhafte Ungeheuer mit einem Bein seinen Bruder traf, ihn zu Boden warf und dort festnagelte, während die malmenden Kiefer sich herabsenkten. Shea überlegte nicht lange; er brüllte auf und riß sein kurzes Jagdmesser heraus, um seinem Bruder zu Hilfe zu eilen. Das Wesen hatte sein bewußtloses Opfer gepackt, als seine Aufmerksamkeit auf den anderen Menschen gelenkt wurde, der wild heranstürzte. Es zögerte bei diesem unerwarteten Angriff und trat einen Schritt zurück, die hervorquellenden grünen Augen auf den winzigen Mann vor sich gerichtet.
»Shea, nicht!« schrie Menion entsetzt, als der Talbewohner verzweifelt auf eines der verkrümmten Glieder des Monstrums einstach. Aus den Tiefen des Riesenkörpers drang ein erbostes Fauchen, und das Wesen schlug mit einem Fuß nach Shea, um ihn zu Boden zu werfen. Shea sprang aber rechtzeitig zur Seite und hieb aus einer anderen Position mit seinem winzigen Messer auf das Ungeheuer ein. Vor den entsetzten Augen der anderen Reisenden stürmte der Alptraum aus dem Urwald mit wirbelnden Gliedern auf den Talbewohner zu. Gerade als Shea Flick packen wollte, um ihn in Sicherheit zu bringen, stieß ihn das Monster um, und für Sekunden verschwand alles in einer großen Staubwolke.
Es war so schnell gegangen, daß noch kein anderer Gelegenheit gefunden hatte einzugreifen. Höndel hatte ein Wesen von dieser Größe und Wildheit noch nie gesehen, ein Wesen, das offenbar seit unzähligen Jahren in diesem Gebirge lebte und auf unglückliche Opfer wartete. Der Zwerg war vom Schauplatz am weitesten entfernt, eilte den Talbewohnern aber sofort zu Hilfe. Nun reagierten auch die anderen. Als der Staub sich legte und den gräßlichen Schädel freigab, sirrten drei Bogensehnen gleichzeitig, und die Pfeile drangen tief und mit hörbarem Aufschlag in die schwarze, behaarte Masse.
Das Wesen krächzte wutentbrannt, richtete sich auf und suchte nach den neuen Angreifern.
Die Herausforderung blieb nicht unbeantwortet. Menion Leah ließ den Bogen fallen und riß das Schwert aus der Scheide, um es mit beiden Händen zu umklammern.
»Leah! Leah!« der Kriegsruf von tausend Jahren gellte auf, als der Prinz über die zerfallenden Fundamente hinwegstürzte und das Monster angriff. Balinor hatte sein eigenes Schwert herausgerissen und eilte dem Hochländer zu Hilfe.
Durin und Dayel feuerten eine Salve nach der anderen in den Schädel der Riesenbestie, die vor Wut aufheulte, mit den Vorderbeinen nach den Pfeilen tastete und sie von der dicken Haut abzustreifen versuchte. Menion erreichte das Scheusal vor Balinor und stieß sein Schwert in eines der Beine. Als das Ungeheuer sich aufbäumte und Menion wegstieß, erhielt es einen harten Schlag auf den Schädel; Höndels Keule hatte mit Wucht zugeschlagen. Eine Sekunde später stand Balinor mit gespreizten Beinen vor dem riesigen Wesen und trennte mit gewaltigen Hieben eines der Glieder ab. Die Bestie wehrte sich verzweifelt und versuchte erfolglos, einen der Angreifer zu Boden zu werfen und zu zerquetschen. Die drei Männer stießen ihre Kriegsrufe aus und hieben mit aller Macht auf das Ungeheuer ein. Sie griffen die ungeschützten Flanken an und lenkten das Ungetüm zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Durin und Dayel rückten näher und feuerten ununterbochen Pfeile auf das Riesenziel ab. Viele prallten von den Metallplatten ab, aber der Pfeilregen lenkte das erboste Wesen ab. Einmal erhielt Höndel einen so heftigen Schlag, daß er für einige Sekunden das Bewußtsein verlor, und der Gigant wollte ihm blitzschnell den Rest geben, aber Balinor setzte seine ganzen Kräfte ein und hieb so wild und erbarmungslos auf das Ungeheuer ein, daß dieses von dem am Boden liegenden Zwerg abließ und sich notgedrungen gegen Balinor wandte.
Schließlich wurde das rechte Auge des Ungeheuers durch einen der Pfeile Durins oder Dayels getroffen. Stark aus dem verletzten Auge blutend, wie aus einem Dutzend anderer, größerer Wunden ebenfalls schon, wußte das Monster, dass es den Kampf verloren hatte und sein Leben würde drangeben müssen, wenn es nicht sofort die Flucht ergriff. Es führte eine Scheinattacke gegen den nächsten Angreifer, fuhr plötzlich mit erstaunlicher Behendigkeit herum und stürmte zu seinem sicheren Versteck im Wald. Menion nahm kurz die Verfolgung auf, aber das Wesen war schneller und verschwand zwischen den riesigen Bäumen. Die fünf Retter kümmerten sich sofort um die beiden am Boden liegenden Brüder, die sich nicht bewegten. Höndel untersuchte sie. Sie hatten zahlreiche Wunden und Blutergüsse davongetragen, sich aber offenbar nichts gebrochen. Es war schwer zu sagen, ob sie innere Verletzungen erlitten hatten. Beide waren von dem Wesen gestochen worden, Flick am Nacken, Shea an der Schulter; die häßlichen, dunkelroten Stellen ließen erkennen, daß die Haut durchbohrt war. Gift! Die beiden Männer blieben ohne Bewußtsein, ihre Atmung war flach, ihre Haut blaß, fast grau.»Dagegen kann ich sie nicht behandeln«, sagte Höndel sorgenvoll.
»Wir müssen sie zu Allanon bringen. Er versteht etwas von diesen Dingen; wahrscheinlich könnte er ihnen helfen.«
»Sie liegen im Sterben, nicht wahr?« flüsterte Menion.
Höndel nickte bedrückt. Balinor übernahm sofort das Kommando, befahl Durin und Menion, Stangen für Tragbahren zu schlagen, während er und Höndel Matten vorbereiteten, um die Brüder hineinlegen zu können. Dayel hielt Wache für den Fall, daß das Wesen unerwartet noch einmal auf tauchen sollte. Fünf zehn Minuten später waren die Bahren fertig, die Bewußtlosen sorgfältig verschnürt und gegen die Kälte der bevorstehenden Nacht in Decken gehüllt. Die Gruppe war marschbereit. Höndel übernahm die Führung, während die anderen vier die Bahren trugen. Sie hasteten durch die Ruinen der toten Stadt und fanden nach wenigen Minuten einen Pfad, der aus dem versteckten Tal hinausführte.
Die grimmigen Gesichter des Zwerges und der Bahrenträger richteten sich in nutzlosem Zorn noch einmal auf die aus dem Wald ragenden Metallgerüste.
Sie verließen mit schnellen Schritten das Tal, stiegen die sanften Hänge der Bergkette hinauf, auf dem breiten, von Bäumen gesäumten Weg, und dachten nur an die Verwundeten, die sie schleppten. Die vertrauten Geräusche des Waldes kehrten wieder und zeigten an, daß die Gefahr im Tal gebannt war. Keiner von ihnen achtete darauf, außer Höndel, der automatisch alle Veränderungen registrierte. Er dachte verbittert an die Entscheidung, die sie in das Tal geführt hatte, fragte sich, was mit Allanon und seinen Markierungszeichen geschehen sein mochte. Er war sicher, daß der schwarze Wanderer Hinweise gegeben hatte, bevor er den Weg nach oben gewählt hatte, und er konnte sich nur vorstellen, daß vielleicht das Ungeheuer selbst sie entdeckt, ihren Sinn begriffen und sie entfernt hatte. Er schüttelte den Kopf über seine Dummheit und stapfte weiter.
Sie erreichten den Talrand und liefen weiter durch die Wälder, die sich in alle Richtungen erstreckten. Der Pfad wurde wieder schmal und zwang sie, mit den Bahren hintereinander zu gehen. Der Nachmittagshimmel färbte sich rot, der Tag ging zu Ende. Höndel schätzte, daß ihnen kaum noch eine Stunde Tageslicht blieb. Er wußte nicht, wie weit sie vom Jade-Paß noch entfernt waren, neigte aber zu der Annahme, daß es nicht mehr weit sein konnte. Sie wußten alle, daß sie nicht haltmachen würden, sobald es dunkel wurde, daß sie in dieser Nacht auf Schlaf verzichten mußten, wenn sie die Brüder retten wollten. Sie mußten Allanon schnell finden und die beiden Talbewohner behandeln lassen, bevor das Gift seine zerstörende Wirkung tat. Keiner äußerte etwas, niemand fand es notwendig, über die Sache zu sprechen. Es gab nur eine Wahl, und sie nahmen sie an.
Als die Sonne eine Stunde später im Westen hinter den Bergen versank, waren die Arme der Bahrenträger steif und gefühllos.
Balinor ordnete eine kurze Rast an, und die Männer sanken keuchend auf den Boden. Höndel überließ seine führende Position für die Nacht Dayel, der offenbar am meisten erschöpft war vom Schleppen der Bahre. Die Brüder waren nach wie vor bewußtlos, ihre Gesichter schimmerten aschfahl im verblassenden Licht und waren von dünnen kleinen Schweißtropfen bedeckt. Höndel tastete nach ihrem Puls und konnte in den schlaffen Armen nur noch schwache Lebenszeichen wahrnehmen. Menion lief neben der Gruppe auf und ab und drohte Rache gegen alles, was ihm in den Sinn kam.
Nach kurzen zehn Minuten wurde der Marsch fortgesetzt.
Die Sonne war untergegangen, und sie marschierten in der Dunkelheit, die nur vom Sternenlicht und einer ganz dünnen Mondsichel erhellt wurde. Auf dem gewundenen und unebenen Weg kamen sie nur langsam voran. Höndel hatte Dayels Platz an Flicks Tragbahre übernommen, während der Elf seine hochentwickelten Sinne benutzte, um in der Dunkelheit den Weg zu finden. Der Zwerg dachte wehmütig an die Stoffstreifen, die Allanon zu hinterlassen versprochen hatte. Unterwegs, während seine Arme die Last der Bahre noch nicht spürten, sah er beinahe zerstreut zu zwei hohen Gipfeln hinüber, die links von ihm aufragten. Es dauerte einige Minuten, bis er schlagartig begriff, daß er den Zugang zum Jade-Paß vor sich hatte.
Im selben Augenblick teilte Dayel den anderen mit, daß der Weg sich vor ihnen in drei Fortsetzungen teilte. Höndel erwiderte sofort, daß sie die linke Abzweigung zum Paß nehmen mußten. Ohne Pause liefen sie weiter. Der Weg führte sie hinaus aus den Bergen zu den beiden Gipfeln. Als sie erkannten, daß das Ziel nahe war, marschierten sie in ihrer Erleichterung schneller, mit neuer Kraft, genährt von der Erwartung, daß sie Allanon treffen würden. Shea und Flick lagen nicht mehr regungslos auf den Bahren, sondern begannen zu zucken und sich unter den festgeschnürten Decken hin- und her zu werfen. In den vergifteten Körpern fand ein Kampf statt zwischen dem zugreifenden Tod und dem starken Lebenswillen. Ihre Körper hatten die Abwehr noch nicht aufgegeben. Balinor wandte sich den anderen zu und sah, dass sie starr auf ein Licht blickten, das am schwarzen Horizont zwischen den beiden Gipfeln blinkte. Dann hörten ihre Ohren das ferne Geräusch eines dröhnenden Stampfens und ein Stimmengesumm aus der Richtung, in der das Licht leuchtete.
Balinor befahl weiterzumarschieren, aber er wies Dayel gleichzeitig an, vorauszueilen und die Augen offenzuhalten.
»Was ist das ?« fragte Menion.
»Aus dieser Entfernung bin ich nicht sicher«, erwiderte Durin. »Hört sich wie Trommeln und singende Männer an.«
»Gnome«, sagte Höndel düster.
Nach einer weiteren Stunde waren sie nahe genug, um zu erkennen, daß der Lichtschein von Hunderten kleiner Feuer herrührte und das Geräusch wirklich von Dutzenden von Trommeln und vielen, vielen singenden Männern stammte.
Die Laute waren inzwischen ohrenbetäubend laut geworden.
Die beiden Spitzen am Jade-Paß ragten vor ihnen auf wie Eingangssäulen. Wenn die singenden und trommelnden Leute Gnomen waren, würden sie in das mit einem Tabu belegte Land keine Posten schicken, dachte Balinor, also mußte ihre Gruppe einigermaßen in Sicherheit sein, bis sie den Paß erreichte. Das Dröhnen der Trommeln und der Gesang hallten durch den dunklen Wald. Wer hier den Paß blockierte, würde eine Weile bleiben. Kurze Zeit später hatte die Gruppe den Paßrand erreicht, gerade vor dem Feuerschein. Sie huschten ins Dunkel und berieten sich.
»Was geht da vor?« fragte Balinor sorgenvoll, als sie alle im Wald kauerten.
»Von hier aus schwer zu sagen, wenn man kein Hellseher ist«, brummte Höndel. »Der Gesang hört sich nach Gnomen an, aber die Worte sind nicht zu verstehen. Ich gehe am besten hin und sehe nach.«
»Lieber nicht«, sagte Durin. »Das ist eine Aufgabe für Elfen, nicht für einen Zwerg. Ich bin viel schneller und leiser als ihr und nehme jeden Wachtposten wahr.«
»Dann übernehme am besten ich das«, erklärte Dayel. »Ich bin kleiner, leichter und schneller als irgendeiner von euch. Bin gleich wieder zurück.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er im Wald.
Durin fluchte leise vor sich hin, um die Sicherheit seines jungen Bruders fürchtend. Wenn im Jade-Paß wirklich Gnomen warteten, würden sie einen Elf, den sie entdeckten, sofort töten.
Höndel knirschte mit den Zähnen und lehnte sich an einen Baum. Shea begann sich wilder hin- und herzuwerfen, stöhnte und versuchte, die Decken abzustreifen. Flick verhielt sich ähnlich, nur weniger heftig. Menion und Durin wickelten die beiden enger in ihre Decken und zogen die Ledergurte fester. Das Stöhnen wurde fortgesetzt, aber angesichts des Lärms vom Lagerplatz brauchte man nicht zu befürchten, belauscht zu werden. Lange Minuten vergingen.
Endlich tauchte Dayel aus der Dunkelheit wieder auf.
»Sind es Gnomen?« fragte Höndel.
»Hunderte«, erwiderte Dayel dumpf. »Sie sitzen vor dem Paß, an Dutzenden von Lagerfeuern. Es muß irgendeine Zeremonie sein, der Art nach, wie sie ihre Trommeln schlagen und singen. Das Schlimmste ist, daß sie alle zum Paß blicken.
Unbeobachtet kann niemand hinein und hinaus.« Er verstummte und warf einen Blick auf die Bahren, bevor er sich Balinor wieder zuwandte. »Ich habe den ganzen Zugang und beide Seiten ausgespäht. Es gibt keinen Weg als den direkt durch die Gnomen. Sie haben uns in der Falle.«