26

»Gerumpel, nichts als Gerumpel!« brüllte Panamon Creel wütend und versetzte dem Haufen von wertlosen Metallklingen und billigen Schmuckstücken einen zweiten Tritt. »Wie kann ich ein solcher Narr gewesen sein? Ich hätte das sofort sehen müssen!«

Shea ging stumm zum nördlichen Rand der Lichtung und starrte auf die undeutliche Spur, die Orl Fane bei seiner Flucht hinterlassen hatte. Er war der Lösung so nahe gekommen. Er hatte das kostbare Schwert schon in den Händen gehabt – nur um es erneut zu verlieren, weil er die Wahrheit nicht hatte erkennen können. Keltset stand neben ihm, herabgebeugt zum feuchten, laubbedeckten Boden, die Fährte prüfend. Shea drehte sich nach dem tobenden Panamon um.

»Es war nicht Eure Schuld - Ihr hattet keinen Grund, das zu befürchten«, murmelte er bedrückt. »Ich hätte seinem Toben mehr Aufmerksamheit schenken müssen. Ich wußte, worauf zu achten war, und habe es versäumt, die Augen offenzuhalten, gerade, als es darauf ankam.«

Panamon nickte, dann zuckte er die Achseln und fuhr mit seinem eisernen Handhaken über den Schnurrbart. Er gab dem alten Gerumpel noch einmal einen Tritt, rief Keltset herbei und brach zusammen mit ihm das Lager ab, packte die Ausrüstung und Waffen ein. Shea beobachtete sie, noch immer nicht fähig, ganz zu erfassen, was geschehen war. Panamon rief ihm brummig zu, er möge mithelfen, und er gehorchte stumm. Panamon Creel war offenbar am Ende seiner Geduld angelangt und hatte genug davon, einen dummen, kleinen Talbewohner zu beschützen, auf der Suche nach Leuten, die vielleicht Creels Gegner sein mochten, und nach einem Schwert, von dem nur Shea etwas wußte, aber das er nicht einmal erkannte, wenn er es in den eigenen Händen hielt. Der scharlachrote Straßenräuber und sein riesiger Begleiter hatten um dieses rätselhaften Schwertes willen schon einmal beinahe ihr Leben verloren, und einmal war gewiß mehr als genug. Shea blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, seine Freunde zu finden, aber dann würde er Allanon gegenübertreten und eingestehen müssen, daß er versagt hatte. Es schauderte ihn vor der Aussicht, vor den grimmigen Druiden treten zu müssen.

Er entsann sich plötzlich der sonderbaren Prophezeiung im Shale-Tal, an jenem dunklen, nebligen Morgen vor über einer Woche. Der Schatten Brimens hatte vor der Gefahr in den düsteren Drachenzähnen gewarnt und erklärt, einer aus der Gruppe werde Paranor nicht sehen, einer die andere Seite des Gebirges nicht erreichen, aber als erster die Hand auf das Schwert von Shannara legen. Alles war genau vorhergesagt worden, aber in der Erregung und Belastung der letzten Tage hatte Shea es vergessen gehabt.

Er schloß müde die Augen und fragte sich, aus welchem Grund er Teil dieses unfaßbaren Rätsels war, das sich um einen Krieg mit der Geisterwelt und ein legendäres Schwert drehte. Er kam sich so klein und hilflos vor, daß er sich am liebsten hingelegt hätte, um zu sterben. So viel hing von ihm ab, wenn man Allanon glauben wollte, und er war der Aufgabe von Anfang an nicht gewachsen gewesen. Er hatte von sich aus gar nichts leisten können und war stets auf andere angewiesen gewesen. Wie viel hatten sie alle für ihn geopfert, damit er die Hände auf das Zauberschwert legen könne, und nun...

»Ich habe mich entschieden. Wir verfolgen ihn.« Panamon Creels Stimme durchschnitt scharf die Stille in der kleinen Lichtung.

Shea starrte das breite Gesicht entgeistert an.

»Ins Nordland, meint Ihr?«

Der Scharlachrote warf ihm einen zornigen Blick zu.

»Er hat mich zum Narren gehalten. Ich würde mir lieber selbst die Kehle durch-schneiden, als die kleine Ratte entkommen lassen.

Wenn ich ihn diesmal in die Hände bekomme, wird er Fraß für die Würmer sein.« Das Gesicht blieb unentwegt, aber die Stimme klang haßerfüllt. Das war die andere Seite Panamons - des kalten Berufsverbrechers, der unbarmherzig ein ganzes Gnomenlager niedergemacht und sich der unvergleichlichen Macht eines Schädelträgers zum Kampf gestellt hatte. Er tat das nicht für Shea oder auch nur, um das Schwert von Shannara an sich zu bringen. Sein Stolz war verletzt, und das forderte Rache.

Shea warf einen Seitenblick auf den regungslosen Keltset, aber der riesige Berg-Troll ließ keine Gemütsbewegung erkennen; sein rauhes Gesicht war leer, die tiefliegenden Äugen verrieten keinen Ausdruck. Panamon lachte scharf und trat ein paar Schritte auf den zögernden Talbewohner zu.

»Denk nach, Shea. Unser Gnomenfreund hat alles sehr vereinfacht, als er verriet, wo sich das Schwert befindet, das du schon so lange suchst. Du weißt jetzt, wo es ist.«

Shea nickte.

»Haben wir Aussicht, ihn einzuholen?«

»Das klingt schon besser - das ist die Einstellung, die wir brauchen.« Panamon grinste ihn zuversichtlich an. »Natürlich können wir ihn einholen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Das Problem besteht darin, daß ihn vorher jemand anderer einholen könnte. Keltset kennt das Nordland so gut wie nur irgendeiner. Der Gnom wird sich vor uns nicht verbergen können. Er wird fliehen müssen, immer weiterfliehen, weil er niemanden hat, an den er sich wenden kann, nicht einmal seine eigenen Leute. Niemand weiß, wie er auf das Schwert gestoßen ist oder auf welche Weise er seinen Wert erkannte, aber ich bin mir sicher, daß ich mich nicht getäuscht habe, wenn ich ihn für einen Deserteur und Leichenfledderer halte.«

»Er könnte zu den Gnomen gehört haben, die das Schwert dem Dämonen-Lord überbringen sollten - oder vielleicht war er gar ein Gefangener?« meinte Shea.

»Wahrscheinlich letzteres«, sagte Panamon und starrte nachdenklich in den grauen Nebel des Waldmorgens, so, als versuche er, sich an etwas zu erinnern. Die Sonne war über dem östlichen Horizont schon emporgestiegen, hell und warm, und ihr Licht drang in die .dunklen Winkel des Waldes. Nur der Morgennebel hatte sich noch nicht gelichtet, so daß die drei Wanderer in einem dunstigen Gemisch aus Sonnenlicht und verblassender Nacht standen. Der Himmel im Norden erschien unerklärlich dunkel und drohend, selbst für den frühen Morgen, und Panamon starrte die ungewohnte Schwärze lange an. Schließlich drehte er sich wieder um.

»Im Norden geht Seltsames vor«, sagte er. »Keltset, machen wir uns auf den Weg. Wir müssen den Gnomen finden, bevor er einer Patrouille in den Weg läuft. Ich möchte nicht, daß ein anderer ihm den Garaus macht!«

Der riesenhafte Berg-Troll übernahm mit schnellen Schritten die Führung, den Kopf ein wenig gesenkt, während seine Blicke den Boden absuchten und die Spur aufnahmen. Panamon und Shea folgten ihm mit langen Schritten. Die Fährte, die Orl Fane hinterlassen hatte, war für Keltsets scharfen Blick deutlich erkennbar.

Er drehte sich kurz um und machte ein Zeichen, das Panamon für Shea übersetzte. Der Gnom laufe schnell und ohne Rücksicht auf die Spuren, die er hinterlasse. Offenbar habe er ein bestimmtes Ziel im Auge.

Shea begann sich zu fragen, wohin der Gnom wollte. Wenn er das Schwert mitbrachte, konnte er sich vielleicht bei seinen eigenen Leuten wieder Gunst verschaffen. Aber Orl Fane war in seiner ganzen Art höchst wirrköpfig erschienen, und Shea glaubte, daß der Gnom sich nicht verstellt hatte. Er hatte sich aufgeführt wie das Opfer eines Wahnsinns, den er nicht zu steuern vermochte, und in abgerissenen Sätzen gesprochen, die auf ihre wirre Art die Wahrheit verraten hatten, was den Verbleib des Schwertes anging. Hätte Shea gründlicher nachgedacht, wäre ihm das aufgefallen - er hätte erkannt, daß Orl Fane das kostbare Schwert mit sich herumtrug. Nein, der Gnom hatte die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn überschritten, und seine Handlungen würden nicht berechenbar sein. Er würde vor ihnen fliehen, aber wohin?

»Jetzt fällt es mir ein«, sagte Panamon, während sie über die Ebenen von Streleheim eilten. »Das geflügelte Ungeheuer behautete gestern steif und fest, wir wären im Besitz des Schwertes. Es erklärte uns immer wieder, es spüre die Nähe des Schwertes - und das war wirklich der Fall, denn Orl Fane versteckte sich im Gebüsch und hatte die Waffe in seinem Sack verstaut.«

Shea nickte und erinnerte sich verbittert an den Vorfall. Der Schädelträger hatte ihnen ungewollt verraten, daß das Schwert in der Nähe war, aber in der Hitze und Wut des Kampfes hatte man darauf nicht geachtet. Panamon wütete weiter vor sich hin und schilderte, was er mit dem Gnomen anfangen würde, wenn sie ihn faßten. Dann blieb der Waldrand plötzlich zurück, und Streleheims Ebenen dehnten sich vor ihnen.

Erstaunt blieben die drei stehen und starrten ungläubig auf das schreckliche Schauspiel im Norden - eine riesige, ununterbrochene Wand von Schwärze, himmelwärts ragend, bis sie in der Unendlichkeit des Alls verschwand, am ganzen Horizont entlang das Nordland umschließend. Es war, als habe der Schädelkönig das Land mit einem Leichentuch von tiefster Schwärze zugedeckt.

Es war mehr als die Dunkelheit einer bewölkten Nacht.

Es war ein lastender, schwerer Nebel, der nach Norden bis ins Herz des Schädelreiches führte. Für Shea war es der entsetzlichste Anblick, der sich ihm je geboten hatte. Seine Angst wurde noch gesteigert durch die plötzliche Überzeugung, daß die riesige Wand langsam nach Süden kroch und die ganze Welt zu bedecken schien. Das hieß, daß der Dämonen-Lord sich näherte...

»Was, um Himmels willen, ist das?« flüsterte Panamon entsetzt.

Shea schüttelte geistesabwesend den Kopf. Auf diese Frage gab es keine Antwort. Was sich hier zeigte, überstieg die Fassungskraft sterblicher Menschen. Die drei starrten lange Zeit auf die massive Wand, als erwarteten sie irgendein Ereignis. Dann bückte Keltset sich und suchte das Gras ab, ging weiter, kam zurück und deutete genau auf den Mittelpunkt der schwarzen Mauer. Panamon zuckte zusammen.

»Der Gnom läuft direkt darauf zu«, murmelte er ergrimmt.

»Wenn wir ihn nicht einholen, bevor er dort ist, wird die Dunkelheit seine Spur völlig verbergen und wir finden ihn nie.«

Mehrere Meilen vor ihnen, am grauen Randbereich der schwarzen Wand aus Nebel und Dunst, zögerte die kleine, gekrümmte Gestalt Orl Fanes zeitweilig, als die grünlichen Augen angstvoll und verständnislos in die wirbelnde Dunkelheit starrten. Der Gnom war seit seiner Befreiung in den frühen Morgenstunden unbeirrt nach Norden gelaufen, zuerst so schnell er konnte, bis seine Kräfte nachließen, dann in einem schlurfenden Trab, immer ein Auge nach hinten gerichtet, um die unvermeidliche Verfolgung zu erkennen. Sein Gehirn funktionierte nicht mehr normal; seit Wochen lebte er von Instinkt und Glück, beraubte die Toten, mied die Lebenden. Er konnte sich nicht dazu bringen, an etwas anderes als das nackte Überleben zu denken. Selbst sein eigenes Volk hatte ihn verstoßen, als ein Wesen, niedriger denn die Insekten, die vor ihren Füßen am Boden herumkrochen. Es war ein wildes, rauhes Land, das ihn umgab - ein Land, in dem man alleine nicht lange bestehen konnte. Aber er war allein, und das einst normale Gemüt hatte sich nach innen gewandt, die Ängste, die dort lauerten, verdrängt und den Wahnsinn entstehen lassen.

Aber der unvermeidliche Tod kam nicht schnell und schmerzlos, das Schicksal ließ in dem Fliehenden immer wieder einen Hoffnungsschimmer aufkeimen und spielte ihm das Mittel in die Hand, die scheinbar unerreichbare Wärme menschlicher Gemeinschaft wiedererlangen zu können. Der verzweifelte Gnom hatte von dem legendären Schwert von Shannara erfahren, dessen schreckliches Gemeimnis warnend über die starren Lippen eines Sterbenden auf der Ebene von Streleheim gedrungen war, kurz bevor die Augen brachen. Dann hatte er das Schwert in Händen - den Schlüssel zur Macht über die Sterblichen.

Aber der Wahnsinn blieb, die Ängste und Zweifel zerrten unablässig an seiner versagenden Vernunft, während er überlegte, was zu tun sei. Dieses fatale Zögern führte zur Gefangennahme des Gnoms und zum Verlust des begehrten Schwertes – seines Rettungsankers für eine Wiederaufnahme bei seinem Volk. Die Vernunft wich der Verzweiflung und dem Toben, und das schon stark aus dem Gleichgewicht geratene Gehirn gab den letzten Widerstand auf. Es blieb jetzt nur noch Raum für einen brennenden, fordernden Gedanken - das Schwert mußte ihm gehören, oder sein Leben war verspielt. Er prahlte vor seinen ahnungslosen Gegnern damit, daß das Schwert sein sei, daß nur er wisse, wo man es finden könne, und verriet ungewollt sich selbst damit, vertat seine letzte Chance, es zu besitzen. Aber die Fremden hatten nicht aufgepaßt und ihn als schwachsinnig empfunden. Dann die Flucht mit dem Schwert, die Jagd nach Norden...

Er blieb stehen und starrte entgeistert auf die geheimnisvolle schwarze Wand, die ihm den Weg versperrte. Ja, nach Norden, nach Norden, dachte er, und seine Augen weiteten sich. Dort lagen Sicherheit und Erlösung für einen Ausgestoßenen. Tief im Innern spürte er einen unheimlichen Wunsch, umzukehren, aber ihn ließ der Gedanke nicht los, daß seine Rettung allein im Nordland liege. Dort würde er ihn finden... den Meister. Den Dämonen-Lord. Sein Blick richtete sich auf das alte Schwert an seinem Gürtel. Es war viel zu groß für ihn, und die Spitze schleifte am Boden. Er strich über den ziselierten Griff mit der Fackel, wo der Tarnanstrich bereits abblätterte. Er umfaßte den Griff krampfhaft, als versuche er, aus ihm Kraft zu ziehen. Narren!

Narren sie alle, dachte er, die ihn nicht mit dem Respekt behandelt hatten, der ihm gebührte. Denn er war der Träger des Schwertes, der Hüter der größten Legende, welche die Welt je gekannt, und er würde es sein, der... Er schob den Gedanken hastig beiseite, aus Angst, die Leere ringsum könnte in sein Gehirn blicken und ihm das Geheimnis entreißen.

Vor ihm wartete die grauenhafte Dunkelheit. Orl Fane hatte Angst davor, wie vor allem, aber es gab keinen anderen Weg für ihn. Dumpf erinnerte er sich an seine Verfolger - den riesigen Troll, den einarmigen Mann, dessen Haß er spürte, und den Jüngling, der halb Mensch, halb Elfenwesen war. An jenem war etwas, das sich der Gnom nicht erklären konnte, etwas, das mit störrischer Beharrlichkeit an seinem zermürbten Geist nagte.

Er schüttelte verwirrt den Kopf und ging weiter hinein in das Grau vor der schwarzen Wand. Die Luft war tot und still. Er schaute nicht um, bis die Schwärze ihn ganz umgab und die Stille im plötzlichen Fauchen des Windes und tropfender Feuchtigkeit verschwand. Als er kurz umschaute, entdeckte er zu seinem Entsetzen, daß dort nichts war- nichts als dieselbe Schwärze, die ihn in schweren, undurchdringlichen Schichten umgab. Der Wind begann zu heulen, und er spürte in der Dunkelheit andere Wesen.

Zuerst waren sie nur eine dunkle Ahnung in ihm, dann leise Schreie, die durch den Dunst zu dringen und sich fragend um ihn zu drängen schienen. Endlich erschienen sie als lebendige Leiber und berührten ihn mit krummen Fingern. Er lachte furienhaft auf und wußte auf irgendeine Weise, daß er sich nicht länger in einer Welt lebender Wesen befand, sondern in einer Welt des Todes, wo seelenlose Wesen in hoffnungsloser Suche nach einem Huchtweg aus ihrem Gefängnis umherwanderten. Er stolperte zwischen sie hinein, lachend, vor sich hinschwätzend, sogar fröhlich singend. Sein Geist war nicht mehr Bestandteil des sterblichen Körpers. Ringsum folgten die Wesen der dunklen Welt in vertraulicher Gesellschaft. Sie wußten, daß der irrsinnige Sterbliche fast schon einer von ihnen war. Es handelte sich nur um eine Frage der Zeit. Wenn das sterbliche Leben erloschen wird, würde er sein wie sie - verloren auf ewig. Orl Fane würde endlich heimgefunden haben.

Fast zwei Stunden vergingen, während die Sonne emporstieg, und die drei Verfolger standen vor der Wand aus Nebel, in der ihr Opfer verschwunden war. Sie blieben stehen wie er und starrten stumm auf die unheimliche Schwärze, die Schwelle zum Reich des Dämonen-Lords. Der Dunst schien in Schichten auf der abgestorbenen Erde zu liegen, jede ein wenig dunkler als die lindere, immer düsterer, immer unheimlicher. Panamon Creel Hing mit gemessenen Schritten auf und ab, ohne den Blick von der Schwärze abzuwenden, während er seinen Mut zusammenzunehmen versuchte. Keltset hatte den Boden abgesucht und mit einer kurzen Bewegung angezeigt, daß der Gnom wirklich nach Norden weitergegangen war, dann erstarrte er zur Regungslosigkeit, die Arme verschränkt, die Augen schmale Schlitze unter den buschigen Brauen.

Es blieb keine andere Wahl, dachte Shea, bereits entschlossen, in seiner Hoffnung nicht einmal durch die Aussicht beirrt, dass sie in der Dunkelheit die Spur verlieren würden. Aus irgendeinem Grund war sein Selbstvertrauen zurückgekehrt. Auf einmal schien für ihn festzustehen, daß sie Orl Fane einholen und das Schwert an sich bringen würden. Irgend etwas trieb ihn an, beruhigte ihn, vertraute ihm an, daß er nicht scheitern werde – eine innere Stimme, die ihm neuen Mut einflößte. Er wartete ungeduldig auf Panamons Entschuß.

»Was wir tun, ist Wahnsinn«, murmelte der Scharlachrote, als er wieder einmal an Shea vorbeiging. »Ich spüre den Tod in dieser Wand...« Er verstummte und sah Shea an.

»Wir müssen weitergehen«, sagte Shea tonlos.

Panamon warf einen Blick auf seinen riesigen Freund, aber der Berg-Troll rührte sich nicht. Der Dieb wartete noch einen Augenblick, offenbar verstört, weil Keltset seine Meinung nicht kundgeben wollte. Früher, als sie zu zweit gewesen waren, hatte der Riese stets sein Einverständnis bekundet, wenn Panamon sich an ihn gewandt hatte, aber in der letzten Zeit hielt sich der Troll auffällig zurück.

Endlich nickte der Abenteurer, und die drei Männer stürzten sich in den Dunst. Der Boden war flach, und eine Weile kamen sie zügig voran. Als der Nebel dichter wurde, nahm die Sicht immer mehr ab, bis sie einander nur noch als verschwommene Schatten sahen. Panamon ließ haltmachen, zog einen Strick aus seinem Rucksack und schlug vor, sie sollten sich aneinander binden, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. Sie taten es und gingen weiter. Man hörte nichts als das Scharrren ihrer Stiefel auf der harten Erde. Der Nebel war nicht feucht, schien aber trotzdem auf eine höchst unliebsame Art an ihrer Haut zu haften. Shea erinnerte sich dabei an den düsteren, unheimlichen Nebelsumpf.

Die Luft schien sich immer heftiger zu bewegen, je tiefer sie eindrangen, dabei schien kein Wind zu wehen. Schließlich waren sie von allen Seiten eingehüllt und standen in undurchdringlicher Dunkelheit.

Sie gingen, wie es schien, stundenlang, aber ihr Zeitgefühl verwirrte sich in dem lautlosen, schwarzen Dunst, der sie umgab.

Das Seil bewahrte sie vor der Einsamkeit des Todes, der im Nebel lauerte, und es verband sie nicht nur untereinander, sondern auch mit der Welt von Sonne und Licht, die sie hinter sich gelassen.

Es war eine Zwischenwelt, in die sie sich hineingewagt hatten, eine Welt halben Lebens, wo die Sinne erstickten und alle Ängste aufbrandeten. Man konnte spüren, wie der Tod die Dunkelheit zerteilte, eine Berührung hier, eine Berührung dort, das sterbliche Wesen streifend, das er eines Tages ergreifen würde. Das Unwirkliche wurde in dieser fremdartigen Dunkelheit beinahe annehmbar, als alle Beschränkungen der menschlichen Sinne in traumartigen Erinnerungen verschwanden und die Visionen des inneren Geistes, des Unbewußten, sich nach vorn drängten und um Beachtung warben.

Eine Weile war es beinahe angenehm, sich diesen Verlockungen des Unbewußten zu überlassen, und danach war es weder angenehm noch widerlich, sondern einfach abtötend. Lange Zeit setzte sich dieses letztere Gefühl durch, beruhigend, ihrem Geist einlullend, so daß Körper und Geist von der trägen Schläfrigkeit der alten Lotusesser erfüllt wurden. Die Zeit löste sich vollends auf, und die Nebelwelt erstreckte sich ins Unendliche.

Aus den trüben Winkeln der Welt des Lebens kam die kriechende Empfindung von brennendem Schmerz, der Sheas gefühllosen Körper plötzlich durchzuckte. Sein Geist befreite sich schlagartig von der Trägheit, die seine Gedanken umnebelte, und der sengende Schmerz in seiner Brust wurde stärker. Immer noch schläfrig, seltsam gewichtslos, tastete er schlaff nach seinem Rock, bis seine Hand endlich die Quelle der Störung berührte - einen kleinen Lederbeutel. Dann wurde er plötzlich wach, als er die kostbaren Elfensteine umklammerte. Er war wieder bei sich.

In plötzlichem Entsetzen wurde ihm klar, daß er ausgestreckt am Boden lag, nicht mehr aufrecht stand, nicht einmal mehr wußte, wie er hierhergekommen war. Vezweifelt griff er nach dem Seil an seiner Hüfte und zerrte heftig daran. Er wurde belohnt von einem schwachen Stöhnen; seine Begleiter waren noch in der Nähe. Er stemmte sich in die Höhe und begriff, was geschehen war. Die grausige Zwischenwelt ewigen Schlafes hatte sie beinahe überwältigt, hatte sie eingelullt und ihre Sinne eingeschläfert, bis sie hingestürzt und dem Tod immer mehr entgegengerückt waren. Nur die Macht der Steine hatte sie gerettet.

Shea fühlte sich unendlich schwach, nahm aber den letzten Rest seiner Kraft zusammen und zerrte wild am Seil, holte Panamon Creel und Keltset zurück vom Abgrund des Todes, zurück in die Welt der Lebenden. Er schrie wild, während er am Seil riß, dann taumelte er zu ihnen und stieß mit den Füßen die am Boden liegenden Männer an, bis der Schmerz sie wieder zum Leben erweckte.

Lange Minuten später waren sie wach genug, um zu begreifen, was mit ihnen vorgegangen war; mit dem Erwachen trieb der Lebensgeist auch den Willen wieder an, um das Dasein zu kämpfen. Sie klammerten sich aneinander, bemüht, wach zu bleiben. Dann gingen sie blindlings durch die Dunkelheit, setzten einen Fuß vor den anderen, und jeder Schritt bedeutete eine ungeheure Anstrengung von Körper und Geist. Shea ging voraus, ungewiß, in welcher Richtung, aber er verließ sich auf seinen von den Elfensteinen geleiteten Instinkt.

Lange Zeit stolperten sie durch die endlose Dunkelheit, rangen darum, bei Bewußtsein zu bleiben, während der träge Nebel sie umwallte. Das fremdartige, schlafähnliche Gefühl des Todes versuchte sie niederzuzwingen, ihre erschöpften Körper zu veranlassen, die wohlverdiente Ruhe zu suchen. Aber die Sterblichen wehrten sich mit eiserner Entschlossenheit, ihre Kraft war ein Rest von Mut und Verzweiflung, der, auch wenn alles andere dahin war, nicht aufgab.

Endlich löste sich die schwere Erschlaffung, schien sie sich zurückzuziehen in den schwarzen Nebel. Diesmal war es dem Tod nicht gelungen, den Lebenswillen zu brechen. Es würde andere Gelegenheiten geben für diese drei, aber vorläufig würden sie in der Welt der Menschen noch ein wenig länger existieren. Die Trägheit verschwand, mit ihr die Schläfrigkeit - nicht wie ein gewöhnlicher Schlaf, sondern mit der leisen Warnung einer Wiederkehr.

Die drei Wanderer waren plötzlich wieder wie vorher, ihre Muskeln waren frei, der Geist war wach. Es gab nicht das Bedürfnis, zu gähnen oder sich zu strecken, sondern nur eine schwache Erinnerung, daß der Schlaf des Todes ein Schlummer ohne Empfindung, ohne Zeit war.

Lange Zeit sprachen sie nichts, obwohl sie wiederbelebt waren.

Sie dachten mit dumpfer Angst an den Vorgeschmack des Todes, den sie erlebt hatten, und wußten, daß eines Tages der Augenblick kommen würde, in dem er sie aus seinem Griff nicht mehr entließ. Sekundenlang hatten sie am Abgrund gestanden und in das düstere Reich geblickt - etwas, das keinem Sterblichen vor Ablauf seiner Zeit beschieden war. So nah dem Tod gewesen zu sein, war betäubend, erschreckend, beinahe unerträglich.

Aber dann verschwanden die Erinnerungen bis auf das verschwommene Wissen, daß sie dem Tod nur knapp entronnen waren. Sie gewannen ihre Fassung wieder und suchten weiter nach einem Ende der sie erstickenden Dunkelheit. Panamon fragte Shea leise, ob er glaube, daß sie noch auf dem richtigen Weg seien, und der kleine Talbewohner nickte kurz. Was für eine Rolle spielte es, daß er es nicht wußte? dachte Shea. Welche Richtung sollten sie sonst nehmen? Wenn seine Instinkte versagten, konnte ihnen ohnehin nichts mehr helfen. Die Elfensteine hatten ihn schon einmal gerettet; er vertraute wieder auf sie.

Er fragte sich, wie es Orl Fane bei dem Versuch ergangen sein mochte, die unheimliche Nebelwand zu durchschreiten. Vielleicht hatte der geistesgestörte Gnom seine eigene Methode gefunden, der tödlichen Wirkung zu entgehen, aber es erschien ihm unwahrscheinlich. Wenn der Gnom irgendwo hingestürzt war, konnte das Schwert als verloren gelten in der undurchdringlichen Dunkelheit; sie würden es nie mehr rechtzeitig finden. Diese schreckliche Aussicht veranlaßte Shea, sich den Kopf zu zerbrechen, zu überlegen, ob das Schwert irgendwo in der Nähe liegen mochte, vielleicht nur Meter entfernt.

Dann wurde aus der Schwärze plötzlich stumpfes Grau, und die Nebelwand lag hinter ihnen. Es geschah so schnell, daß sie völlig überrascht wurden. In der einen Minute waren sie eingehüllt in Schwärze, kaum fähig, einander zu erkennen, in der nächsten standen sie erschrocken unter dem bleiernen Himmel des Nordlandes.

Sie schauten sich um in dem Land, wo sie herausgetreten waren.

Es war das Trostloseste an Gegend, das Shea je gesehen hatte - noch düsterer als das Tiefland von Clete und die unheimlichen Schwarzen Eichen im fernen Südland. Das Gelände war nackt und unfruchtbar, eine graubraune Erde gänzlich ohne Sonne und pflanzliches Leben. Nicht einmal die robustesten Sträucher hatten hier überlebt - eine stumme Warnung, daß dies wahrlich das Reich des Schwarzen Lords war. Die Erde erstreckte sich in niedrigen, unebenen Hügeln aus hartem Lehm nach Norden, nirgends war auch nur ein Grashalm zu sehen. Stumpfe Steinblocke ragten vor dem grauen Horizont empor, und an manchen Stellen gab es staubige, trockene Rinnen, wo Flüsse schon vor langer Zeit versiegt waren. Nirgends ein Lebenslaut - nicht einmal das Summen von Insekten in der lauernden Stille. Nichts war in diesem einst lebensvollen Land geblieben als der Tod. Weit im Norden, steil in den leeren Himmel aufragend, erhob sich eine Kette schroffer Gipfel. Shea wußte, ohne fragen zu müssen, daß dies die Heimat Bronas, des Dämonen-Lords, war.

»Was schlägst du jetzt vor?« fragte Panamon Creel. »Wir haben die Fährte ganz verloren. Wir wissen nicht einmal, ob unser Gnomenfreund lebendig aus der Wand herausgekommen ist. Ich glaube eher, daß er es nicht überlebt hat.«

»Wir müssen weiter nach ihm suchen«, erwiderte Shea ruhig.

»Während diese fliegenden Wesen nach uns suchen«, betonte der andere. »Das Ganze wird gefährlicher, als ich angenommen habe, Shea. Ich muß dir offen sagen, daß ich rasch das Interesse an dieser Jagd verliere - vor allem, wenn ich nicht weiß, gegen wen oder was ich kämpfe. Wir wären vorhin beinahe gestorben, und ich konnte nicht einmal sehen, was uns bedrängt hat.«

Shea nickte verständnisvoll. Er fühlte sich plötzlich als Herr der Lage. Zum ersten Mal in seinem Leben machte Panamon Creel sich Gedanken darüber, ob er davonkommen konnte, und sei es mit schwer verwundetem Stolz. Es hing jetzt von Shea ab, dafür zu sorgen, daß die Reise weiterging. Keltset stand abseits, die braunen Augen auf den Talbewohner gerichtet, während die buschigen Brauen sich zusammenzogen. Wieder fiel Shea die Intelligenz in diesem Blick auf. Er wußte noch immer nichts über den Berg-Troll, hätte aber gern viel erfahren. Keltset schien der Schlüssel zu einem seltsamen, wichtigen Geheimnis zu sein, das nicht einmal Panamon Creel kannte, auch wenn er sich einer engen Freundschaft mit dem Riesen rühmte.

»Die Möglichkeiten sind begrenzt«, sagte Shea nach einer langen Pause. »Wir können Orl Fane auf dieser Seite der Nebelwand suchen und das Risiko auf uns nehmen, den Schädelträgern zu begegnen, oder wir können versuchen, umzukehren...« Er verstummte, als er sah, daß Panamon blaß wurde.

»Ich gehe da nicht mehr hindurch - jedenfalls nicht gleich«, erklärte der Scharlachrote nachdrücklich. Er schüttelte heftig den Kopf und hob den Armstumpf mit dem Eisenhaken, begann aber plötzlich verlegen zu grinsen. Er war zu abgehärtet, zu erfahren, um sich längere Zeit niederdrücken zu lassen. Er kämpfte die Erinnerungen an die grausigen Geschehnisse im Nebel nieder und ermannte sich. Wenn er bei diesem Abenteuer das Leben verlieren sollte, dann mit dem Mut und der Entschlossenheit, die ihm in den vielen Jahren bisher gute Dienste geleistet hatten.

»Denken wir einmal gründlich nach«, sagte er und begann wieder auf und ab zu gehen. »Wenn der Gnom nicht durch die Nebelbarriere gekommen ist, wird das Schwert dort noch liegen - wir können es uns jederzeit holen. Aber wenn er entkommen ist wie wir, wo kann er dann...?« Er verstummte plötzlich und schaute sich in der Landschaft um. Keltset trat heran und wies auf die Gipfel an der Grenze des Schädelreiches.

»Ja, natürlich, du hast wieder einmal recht«, sagte Panamon mit schwachem Lächeln. »Er muß von Anfang an dorthin unterwegs gewesen sein. Das ist der einzige Ort für ihn.«

»Zum Dämonen-Lord?« sagte Shea leise. »Bringt er ihm das Schwert?«

Der andere nickte kurz. Shea wurde blaß bei dem Gedanken, den Gnomen bis zur Schwelle des Geisterkönigs zu verfolgen, ohne die Zauberkräfte Allanons zu Hilfe rufen zu können. Würden sie entdeckt, waren sie hilflos, wenn die Elfensteine ihnen nicht beistanden. Die Steine mochten zwar gegen die Schädelträger mächtig genug gewesen sein, aber es erschien doch höchst zweifelhaft, daß sie gegen ein so furchtbares Wesen wie Brona etwas auszurichten vermochten.

Die erste Frage war, ob es Orl Fane gelungen sein konnte, den tödlichen Nebel zu durchdringen. Sie beschlossen, dem Rand der wallenden Wand nach Westen zu folgen, um vielleicht auf die Fährte zu stoßen, die der fliehende Gnom hinterlassen haben würde. Wenn sie in dieser Richtung nichts entdeckten, gedachten sie es gen Osten zu versuchen. Sollte dann von Orl Fane noch immer keine Spur zu finden sein, mußten sie annehmen, daß er im mörderischen Nebel umgekommen war, und sie würden gezwungen sein, ihn dort zu suchen, um das Schwert zurückzuholen.

Keiner war für die letzte Möglichkeit, aber Shea versprach, die Macht der Elfensteine einzusetzen, in der Hoffnung, sie würden ihnen den Weg zum Schwert weisen. Ihr Gebrauch würde zweifellos die Geisterwelt auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen, aber sie würden dieses Risiko eingehen müssen, wenn sie in der undurchdringlichen Schwärze etwas finden wollten.

Die drei Wanderer machten sich eilig auf den Weg, und Keltset suchte unaufhörlich den Boden nach Fußspuren des Gnomen ab.

Schwerlastende Wolkenhaufen verhüllten den ganzen Himmel und breiteten einen düsteren, grauen Dunst über das Nordland.

Shea versuchte zu schätzen, wieviel Zeit vergangen war, seitdem sie in die Nebelwand eingedrungen waren, aber er fand keine Anhaltspunkte. Es mochten einige Stunden, konnten aber auch mehrere Tage gewesen sein. Jedenfalls nahm die graue Düsternis immer mehr zu und kündigte den Anbruch der Nacht und ein zeitweiliges Ende ihrer Suche nach Orl Fane an.

Die hochgetürmten grauen Wolken wurden dunkler und zogen schwerfällig am Himmel dahin. Der Wind war stärker geworden und fegte wild über die nackten Hügel und durch die tiefen Rinnen.

Es wurde rasch kälter, so kalt, daß die drei Männer sich in ihre Jagdumhänge wickeln mußten, während sie weitergingen.

Es zeigte sich bald, daß ein Sturm aufkam, und sie begriffen, daß ein starker Regenguß alle Spuren verwischen würde, die der flüchtende Gnom hinterlassen haben mochte. Und wenn sie dazu gezwungen sein sollten, zu erraten, ob er entkommen war oder nicht...

Aber durch einen glücklichen Zufall entdeckte Keltset Fußspuren auf der nackten Erde - Fußspuren, die aus der Nebelwand kamen und nach Norden führten. Der Berg-Troll zeigte Panamon Creel,daß die Abdrücke von einer kleinen Person, vermutlich einem Gnomen, stammen mußten und daß die Person dahingetorkelt war, entweder vor Erschöpfung oder weil sie verletzt war. Erbaut von dieser Entdeckung, gewiß, Orl Fanes Fährte wiedergefunden zu haben, folgten sie den Spuren in Richtung Norden, und zwar viel schneller als zuvor. Vergessen war die Qual dieses Vormittags. Vergessen war die Bedrohung durch den allgegenwärtigen Dämonen-Lord, dessen Reich unmittelbar vor ihnen lag. Vergessen waren Erschöpfung und Verzweiflung nach dem Verlust des Schwertes von Shannara. Orl Fane sollte ihnen nicht noch einmal entkommen.

Der Himmel wurde zusehends dunkler. Weit im Westen grollte Donner, ein drohendes Rumpeln, das der Wind schnell durch das ganze Nordland trug. Es würde ein schrecklicher Sturm werden, beinahe so, als habe die Natur beschlossen, dem sterbenden Land neues Leben einzuhauchen, indem sie es reinwusch, damit es wieder fruchtbarer Boden für lebende Wesen sein konnte. Die Luft war bitter kalt, und der Wind fegte mit schneidender Heftigkeit durch ihre Kleidung. Sie spürten ihn jedoch kaum, und ihre Augen suchten angestrengt den Horizont nach einer Spur ihres Opfers ab. Die Fährte sah frischer aus; Orl Fane konnte nicht mehr weit vor ihnen sein.

Die Landschaft hatte sich merklich verändert. Der Boden blieb nackt und eisenhart, überstreut mit Felsbrocken, aber er wurde immer hügeliger und rauher, so daß sie nur noch langsam vorankamen.

Die rissige, trockene Erde erschwerte das Gehen besonders, weil jede Vegetation fehlte, die ein wenig Halt geboten hätte. Als die Hügel und Täler immer steiler und schroffer wurden, kamen die drei Wanderer nur noch kletternd und abrutschend voran.

Der zunehmende Westwind fegte nun mit ohrenbetäubendem Heulen heran und drohte die Männer manchmal umzureißen.

Der Staub wirbelte in dichten Wolken auf und wehte an die Gesichter der Männer. Es wurde bald so schlimm, daß sie sich in einem Sandsturm wähnten. Die ganze Landschaft war windumtost und von Sand eingehüllt. Das Atmen fiel schwer, sehen konnten sie fast gar nichts mehr, und schießlich erkannten nicht einmal mehr Keltsets scharfe Augen Spuren des Fliehenden am Boden. Wahrscheinlich gab es überhaupt nichts mehr zu sehen, so wild wirbelte der Wind die Erde auf, aber die drei gingen weiter.

Aus dem fernen Donnergrollen war ein nahezu unaufhörliches Krachen geworden, während die Blitze vom Himmel herabzuckten.

Der Himmel war schwarz geworden, obwohl sie das kaum noch wahrnahmen. Vom westlichen Horizont her näherte sich ein dichter Dunst - offenkundig eine Regenwand von größter Heftigkeit, vorangetrieben vom heulenden Wind. Es wurde so schlimm, daß Panamon brüllte, sie müßten stehenbleiben.

»Es hat keinen Zweck! Wir müssen einen Unterschlupf finden, bevor uns der Sturm ganz erfaßt!«

»Wir können jetzt nicht aufgeben!« schrie Shea zornig, aber seine Stimme wurde vom Donnerkrachen fast übertönt.

»Sei kein Narr!« Der Räuber kämpfte sich zu ihm vor und sank auf ein Knie, während er die Augen vor dem peitschenden Sand schützte. Auf der rechten Seite sah er einen hohen Hügel mit großen, überhängenden Felsblöcken, die ein wenig Zuflucht vor der Gewalt des Sturmes zu bieten schienen. Er winkte den beiden anderen, gab es auf, weiter nach Norden vorzudringen, und wandte sich den Felsen zu. Schwere Regentropfen begannen herabzufallen und auf der Haut der Männer zu zerplatzen; das Donnerkrachen steigerte sich zu ohrenbetäubender Lautstärke.

Shea starrte weiter nach Norden in die Dunkelheit, kaum bereit, Panamons Entscheidung hinzunehmen und die Verfolgung aufzugeben, wo er doch wußte, daß sie ihrem Ziel so nah waren.

Sie hatten die Felsen fast schon erreicht, als er eine Bewegung wahrnahm. Ein gleißender Blitzstrahl beleuchtete eine kleine Gestalt am Kamm eines hohen Hügels weit vor ihnen, die sich mühsam gegen den Sturm vorankämpfte. Shea schrie wild auf und packte Panamons Arm, um auf den inzwischen wieder in der Dunkelheit verschwundenen Hügel zu zeigen. Sekundenlang blieben die drei Männer wie erstarrt stehen und versuchten die Schwärze zu durchdringen, während der Regen wolkenbruchartig herunterrauschte und sie durchnäßte. Ein zweitesmal zuckten Blitze und zeigten wieder den fernen Hügel mit der winzigen Gestalt, die noch immer versuchte, den Kamm zu erreichen.

Dann war die Erscheinung verschwunden, und nur der Regen umgab sie.

»Das ist er! Das ist er!« schrie Shea. »Ich verfolge ihn!« Ohne auf die beiden anderen zu achten, stürzte er den Hang hinunter, entschlossen, sich das Schwert nicht noch einmal entgehen zu lassen.

»Shea! Nein! Shea!« schrie ihm Panamon vergeblich nach.

»Keltset, hol ihn zurück!«

Der Riesentroll hetzte den Hügel hinunter, überholte den kleinen Talbewohner, ergriff ihn mühelos mit einem Arm und trug ihn hinauf zum wartenden Panamon. Shea wehrte sich verzweifelt und brüllte aus Leibeskräften, aber er hatte keine Chance, sich dem eisernen Griff des Riesen zu entwinden. Der Sturm erreichte seinen Höhepunkt, und der gewaltige Regen narbte die ungeschützte Erde, auf der große Brocken und Felsblöcke in tief eingeschnittene Rinnen hinabrutschten, wo sich schon reißende Bäche bildeten. Panamon führte sie in die Felsen und achtete nicht auf Sheas Drohungen und Flüche, während er nach einem Unterschlupf suchte. Nach kurzer Umschau wählte er eine Stelle oben auf dem Kamm, die auf drei Seiten von hohen Felsblöcken geschützt war. Mühsam hinaufkletternd, erreichten die drei Männer endlich erschöpft die bescheidene Zuflucht, wo sie zusammensanken. Panamon bedeutete Keltset, Shea loszulassen.

Zornig wandte sich der Talbewohner dem hochgewachsenen Abenteurer zu, während ihm der Regen in Augen und Mund lief.

»Seid ihr verrückt?« tobte er im Donner und Krachen der Blitze. »Ich hätte ihn eingeholt! Ich hätte ihn...«

»Shea, hör zu!« unterbrach ihn Panamon hastig. Der Sturm schien für einen Augenblick zu erlahmen, als Shea zögerte. »Er war uns zu weit voraus, um bei diesem Wetter eingefangen zu werden. Wir wären alle weggefegt oder von Geröllawinen mitgerissen worden. Es ist zu gefährlich bei diesem Gewittersturm, unterwegs zu sein - auch nur wenige Meter, geschweige denn Meilen. Beruhige dich. Wir können die Überreste des Gnoms suchen, wenn der Sturm vorbei ist.«

Shea wollte noch etwas einwenden, atmete aber tief ein und beruhigte sich, als seine Vernunft die Oberhand gewann. Er sah ein, daß Panamon recht hatte.

Die volle Wucht des Sturmes tobte über das ungeschützte Land, riß die nackte Oberfläche auf und gestaltete sie neu. Langsam wurden die Hügel hinabgewaschen in die überschwemmten Flußtäler, und die alten Streleheim-Ebenen weiteten sich zum riesigen Nordland. Zusammengekauert im Schutz der mächtigen Felsen, starrte Shea hinaus auf die Regenwände, die in endlosen Güssen kamen und gingen und die Trostlosigkeit des sterbenden Landes verhüllten. Es schien, als lebe nichts mehr außer ihnen.

Wenn der Sturm lange genug anhielt, mochten sie alle fortgespült werden, und das Leben konnte einen neuen Anfang machen, dachte er düster.

Obwohl der Regen in ihrem kleinen Unterschlupf nicht direkt auf sie herabprasselte, entkamen sie der eisigen Feuchtigkeit nicht; in ihrer durchnäßten Kleidung fühlten sie sich elend genug. Zuerst blieben sie in erwartungsvollem Schweigen sitzen, als warteten sie darauf, daß der Sturm nachlasse und die Jagd auf Orl Fane weitergehen könne, aber mit der Zeit wurden sie des Wartens überdrüssig und begannen sich anders zu beschäftigen, überzeugt davon, daß Regen und Wind noch lange anhalten würden. Sie aßen ein paar Bissen, mehr aus Notwendigkeit, denn aus Hunger, und versuchten dann, so gut es ging, ein wenig zu schlafen. Panamon hatte zwei Decken retten können, die wasserdicht verpackt gewesen waren, und er gab sie Shea. Der Talbewohner lehnte ab und wollte sie seinen Freunden überlassen, aber Keltset, den kaum etwas aus der Ruhe zu bringen schien, schlief bereits. So wickelten Panamon und Shea sich in die warmen Decken und starrten, nebeneinander sitzend, stumm ins Leere.

Nach einer Weile sprachen sie miteinander über die Vergangenheit, über ruhige Zeiten und ferne Orte, um in dieser Stunde der Einsamkeit und Trostlosigkeit etwas Gemeinsames zu haben.

Wie üblich bestritt Panamon den Großteil des Gesprächs, aber die Berichte über seine Abenteuer klangen anders als sonst.

Das Element der Unwahrscheinlichkeit und Tollheit fehlte, und zum ersten Mal erkannte Shea, daß der scharlachrote Dieb vom wahren Panamon Creel erzählte. Es war eine beiläufige, fast sorglose Unterhaltung - wie eine von alten Freunden, die sich nach Jahren wiedersehen.

Panamon berichtete von seiner Jugend und dem schweren Leben, das den Menschen in seiner Umgebung beschieden gewesen war. Er suchte darin keine Entschuldigung für sich, verlegte sich nicht auf Ausreden, sondern erzählte schlicht von längst vergangenen Jahren, die in der Erinnerung lebendig geblieben waren.

Der kleine Talbewohner wiederum sprach von seiner Kindheit mit seinem Bruder Flick und erinnerte sich an die aufregenden Ausflüge in die Wälder von Duln. Er erzählte lächelnd von dem unberechenbaren Menion Leah, der ihm in mancher Beziehung wie ein junger Panamon Creel vorkam. Die Zeit verrann, während sie sich unterhielten, den Sturm unbeachtet ließen und zum ersten Mal ein Zusammengehörigkeitsgefühl empfanden. Während die Stunden vergingen und die Dunkelheit kam, begann Shea den anderen zu verstehen, ihn kennenzulernen, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Vielleicht konnte sich auch der Scharlachrote besser in den kleinen Talbewohner einfühlen. Shea hoffte es.

Als die Nacht herabsank und auch der Regen aufhörte, so daß nichts blieb als das Tosen des Windes und das Gluckern und Rauschen des Wassers, drehte sich das Gespräch um den schlafenden Keltset. Leise stellten die beiden Männer Mutmaßungen über die Herkunft des riesigen Berg-Trolls an, versuchten zu entdecken, was ihn hergeführt hatte, wie er dazu gekommen war, die selbstmörderische Wanderung ins Nordland zu wagen. Er war im Charnal-Gebirge zu Hause, das wußte Panamon, und vielleicht wollte er in seine Heimat zurückkehren, aber er war von dort nicht vertrieben worden - jedenfalls nicht von seinen eigenen Leuten. Vielleicht von einer anderen Macht? Der Schädelträger hatte ihn auf Anhieb erkannt - wieso? Selbst Panamon gab zu, daß Keltset mehr war als ein bloßer Dieb und Abenteurer.

Etwas Unbegreifliches mußte mit ihm geschehen sein, ein schreckliches Geheimnis, das er mit keinem teilen wollte. In den Augen des Schädelträgers war Angst zu lesen gewesen. Die beiden Männer wickelten sich schließlich fester in ihre Decken und schliefen ein.

Загрузка...