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Shea erwachte am nächsten Morgen früh und verließ die Wärme seines Bettes, um sich in der feuchten Kälte der Morgenluft hastig anzuziehen. Er war so früh aufgestanden, daß, wie er entdeckte, im ganzen Haus noch niemand wach war, weder ein Gast noch einer von der Familie. Er ging von seinem kleinen Zimmer an der Rückseite des Hauptgebäudes zum großen Gastzimmer, wo er mit vor Kälte klammen Fingern im Kamin ein Feuer anzündete. In den frühen Morgenstunden, bevor die Sonne über die Hügel heraufkam, war es im Tal immer noch besonders kühl, selbst in der wärmsten Jahreszeit. Shady Vale — das Schattental — war wohlgeschützt, nicht nur vor den Augen der Menschen, sondern auch vor der Unbill schlechten Wetters, das vom Nordland herunterzog.

Während aber die schweren Stürme des Winters und Frühlings das Tal verschonten, ließ sich die bittere Kälte des frühen Morgens das ganze Jahr über ringsum in den hohen Hügeln nieder und hielt sich bis weit in den Tag hinein. Meist konnte erst die Wärme der Mittagssonne den kalten Hauch vertreiben.

Das Feuer knackte und prasselte, als Shea in einem der hohen Sessel die Beine ausstreckte und über die Ereignisse des vergangenen Abends nachdachte. Wie konnte Allanon ihn erkannt haben? Er hatte das Tal selten verlassen und hätte sich an den anderen gewiß erinnert, wäre er ihm bei einer seiner vereinzelten Wanderungen begegnet. Allanon hatte sich geweigert, die ganzen Geheimnisse, die ihn umgaben, zu lüften.

Er hatte stumm weitergegessen, erklärt, das Gespräch habe Zeit bis zum nächsten Morgen, und war wieder zu der drohenden Gestalt geworden, als die ihn Shea beim Eintreten empfunden hatte. Nach der Mahlzeit hatte er gebeten, zu seinem Zimmer gebracht zu werden, damit er schlafen könne.

Weder Shea noch Flick hatten ihn dazu bringen können, ein weiteres Wort über seine Reise nach Shady Vale und über sein Interesse an Shea fallen zu lassen. Die beiden Brüder hatten sich danach noch allein unterhalten, und Flick hatte die Geschichte seiner Begegnung mit Allanon und den Vorfall mit dem angsterregenden Schatten erzählt.

Shea fragte sich wiederum, woher Allanon ihn kennen konnte. Er ging sein Leben durch. Die frühen Jahre waren nur eine verschwommene Erinnerung. Er wußte nicht, wo er geboren worden war, wenngleich er einige Zeit, nachdem die Ohmsfords ihn adoptiert hatten, gehört hatte, sein Geburtsort sei eine kleine Gemeinde im Westland. Sein Vater war gestorben, bevor er, Shea, alt genug gewesen war, einen bleibenden Eindruck von ihm zu gewinnen. Seine Mutter hatte ihn einige Zeit aufgezogen, und er konnte sich an einzelne Bruchstücke seines Lebens mit ihr erinnern, an das Spiel mit Elfen-Kindern, umgeben von riesigen Bäumen und tief grüner Einsamkeit. Er war fünf Jahre alt gewesen, als sie plötzlich krank geworden war und beschlossen hatte, zu ihren eigenen Leuten ins Dorf Shady Vale zurückzukehren. Sie mußte damals schon gewußt haben, daß sie sterben würde, aber ihre erste Sorge galt ihrem Sohn. Die Reise nach Süden gab ihr den Rest, und sie starb in der Tat kurze Zeit, nachdem sie beide das Tal erreicht hatten.

Die Verwandten seiner Mutter waren alle tot, bis auf die Ohmsfords, die nicht mehr als entfernte Onkeln und Vettern waren.

Curzad Ohmsford hatte seine Frau kaum ein Jahr früher verloren. Shea wurde von ihm aufgenommen, und die beiden Jungen waren als Brüder aufgewachsen, beide mit dem Namen Ohmsford. Shea hatte seinen wahren Namen nie erfahren und fragte auch nicht danach. Die Ohmsfords waren die einzige Familie, die ihm etwas bedeutete. Manchmal störte es ihn, daß er ein Halbblut war, aber Flick hatte tapfer erklärt, das sei ein ausgesprochener Vorteil, weil ihm das die Instinkte und den Charakter von zwei Rassen verleihe.

Doch nirgends konnte sich Shea an eine Begegnung mit Allanon erinnern. Es war, als habe nie eine solche stattgefunden.

Vielleicht war es wirklich so. Er drehte sich auf dem Stuhl herum und starrte zerstreut ins Feuer. Der düstere Wanderer hatte etwas an sich, das ihn erschreckte. Vielleicht war es Einbildung, aber Shea wurde das Gefühl nicht los, daß der Mann auf irgendeine Weise seine Gedanken lesen, ihn gänzlich durchschauen konnte, wenn es ihm beliebte. Es schien lächerlich zu sein, aber dieses Gefühl wollte sich nicht unterdrücken lassen, seitdem er dem Mann begegnet war.

Auch Flick hatte davon gesprochen. Er war sogar noch weitergegangen und hatte seinem Bruder in der Dunkelheit ihres Zimmers zugeflüstert, er betrachte Allanon als gefährlich.

Shea reckte sich und seufzte tief. Draußen begann es hell zu werden. Er stand auf, um mehr Holz auf das Feuer zu legen, und hörte die Stimme seines Vaters im Flur, die sich laut knurrend über die Zustände im allgemeinen beklagte. Shea seufzte resigniert, schob seine Gedanken beiseite und hastete in die Küche, um bei den morgendlichen Vorbereitungen zu helfen.

Es wurde fast Mittag, bis Shea von Allanon wieder etwas zu sehen bekam, der offenbar den ganzen Vormittag in seinem Zimmer geblieben war. Er tauchte ganz plötzlich hinter dem Haus auf, als Shea sich unter seinem großen Schattenbaum ausruhte und einen kleinen Imbiß zu sich nahm. Sein Vater war im Haus beschäftigt, Flick irgendwo unterwegs.

Der dunkle Fremde vom vergangenen Abend wirkte in der Mittagssonne nicht weniger unheimlich; er war noch immer eine schattenhafte Gestalt von unglaublicher röße, auch wenn er nun statt des schwarzen einen grauen Mantel zu tragen schien. Er ging auf Shea zu, setzte sich ins Gras und blickte geistesabwesend auf die Berge im Osten, die über den Bäumen aufragten. Die beiden Männer schwiegen lange Minuten, bis Shea es schließlich nicht mehr aushielt und sagte:

»Weshalb seid Ihr ins Tal gekommen, Allanon? Weshalb habt Ihr mich gesucht?«

Das düstere Gesicht wandte sich ihm zu, und ein schwaches Lächeln kräuselte die Lippen.

»Eine Frage, junger Freund, die nicht so leicht zu beantworten ist, wie du das möchtest. Die beste Art, dir zu erwidern, ist vielleicht die, dich zuerst zu befragen. Hast du von der Geschichte des Nordlandes etwas gelesen?« Er machte eine Pause. »Kennst du das Schädelreich?«

Shea erstarrte bei dem Namen, der für alles Entsetzliche im Leben stand, wirklich und eingebildet, ein Name, mit dem man kleine Kinder schreckte, die nicht brav waren, oder erwachsenen Männern Schauer über den Rücken jagte, wenn vor dem verglühenden Feuer am Abend Geschichten erzählt wurden. Es war ein Name, der an Geister und Kobolde erinnerte, an die verschlagenen Waldgnome des Ostens und die großen Bergtrolle des fernen Nordens. Shea blickte in das düstere Gesicht vor sich und nickte langsam.

»Ich bin Historiker, Shea, unter anderem — vielleicht der weitestgereiste lebende Historiker heutzutage, da außer mir in über fünfhundert Jahren nur wenige das Nordland betreten haben. Ich weiß viel über die Rasse des Menschen, das jetzt niemand ahnt. Die Vergangenheit ist eine verschwommene Erinnerung geworden, und das ist vielleicht ganz gut, denn in den letzten zweitausend Jahren ist die Geschichte des Menschen nicht gerade ruhmreich gewesen. Die Menschen heute haben die Vergangenheit vergessen; sie wissen wenig von der Gegenwart und nichts von der Zukunft. Die Rasse der Menschen lebt fast ausschließlich innerhalb der Grenzen des Südlandes. Sie weiß nichts vom Nordland und seinen Völkern, und wenig vom Ostland und Westland. Bedauerlich, daß die Menschen ein so unwissendes Volk geworden sind, denn einstmals sind sie von allen Rassen jene mit der größten Visionskraft gewesen. Aber jetzt begnügen sie sich damit, abgesondert von den anderen Rassen zu leben, isoliert von den Problemen im Rest der Welt. Sie begnügen sich damit, weil diese Probleme sie noch nicht berührt haben, wohlgemerkt, und weil die Angst vor der Vergangenheit sie dazu bewogen hat, die Zukunft nicht zu genau zu betrachten.«


Shea ärgerte sich ein wenig über diese weitreichenden Anschuldigungen und erwiderte scharf: »Wenn man Euch hört, ist es etwas Schlimmes, in Ruhe gelassen werden zu wollen.

Ich kenne genug von der Geschichte — nein, vom Leben-, um zu begreifen, daß die einzige Hoffnung des Menschen zu überleben darin besteht, abseits der Rassen zu sein, um alles wieder aufzubauen, was er in den vergangenen zweitausend Jahren verloren hat. Dann wird er vielleicht klug genug sein, es nicht ein zweitesmal zu verlieren. Er hat sich durch seine unablässige Einmischung in die Angelegenheiten anderer und seine fehlgeleitete Ablehnung einer Isolationshaltung in den Großen Kriegen beinahe völlig vernichtet.«

Allanons Gesicht wurde hart.

»Die katastrophalen Folgen dieser Kriege sind mir bewußt — die Ergebnisse von Macht und Habgier, die der Mensch durch eine Kombination von Sorglosigkeit und bemerkenswerter Kurzsichtigkeit auf sich selbst herabgezogen hat. Das ist lange her — und was hat sich geändert? Du glaubst, der Mensch könne neu anfangen, nicht wahr, Shea? Nun, es dürfte dich nicht wenig überraschen, zu erfahren, daß manche Dinge sich nie ändern und die Gefahren der Macht stets gegenwärtig sind, auch noch für eine Rasse, die sich selbst schon fast völlig ausgelöscht hat. Die Großen Kriege der Vergangenheit mögen vorbei sein — die Kriege der Rassen, der politischen Anschauungen und des Nationalismus, und die endgültigen der reinen Energie, der äußersten Macht. Aber heute stehen wir vor neuen Gefahren, und sie bedrohen die Existenz der Rassen mehr als irgendeine der alten. Wenn du glaubst, der Mensch sei frei, um ein neues Leben aufzubauen, während der Rest der Welt vorbeizieht, weißt du von der Geschichte überhaupt nichts!« Er verstummte zornig. Shea starrte ihn aber trotzig an, obwohl er sich klein und ängstlich fühlte. »Genug davon!« fuhr Allanon fort, und er griff nach Sheas Schulter. »Die Vergangenheit liegt hinter uns, und es ist die Zukunft, mit der wir uns befassen müssen. Laß mich kurz dein Gedächtnis auffrischen, was die Geschichte des Nordlands und die Legende des Schädelreichs angeht. Wie du sicher weißt, haben die Großen Kriege dem Zeitalter ein Ende gemacht, in dem der Mensch allein die beherrschende Rasse darstellte. Der Mensch ist fast völlig ausgerottet worden, und selbst die Geographie, die er kannte, wurde total verändert, völlig umgeformt. Länder, Nationen und Regierungen hörten alle auf zu existieren, als die letzten Angehörigen der Menschheit nach Süden flohen, um zu überleben. Es dauerte fast tausend Jahre, bevor der Mensch sich wieder über das Niveau der Tiere, die er zu seiner Ernährung jagte, erhoben hatte und eine fortschrittliche Zivilisation errichtete. Diese war primitiv, gewiß, aber es gab Ordnung und so etwas wie Regierung. Dann begann der Mensch zu entdecken, daß es außer ihm auch noch andere Rassen gab, die die Welt bewohnten — Wesen, die die Großen Kriege überlebt und ihre eigenen Rassen entwickelt hatten. In den Gebirgen die riesigen Trolle, von ungeheurer Kraft und Wildheit, aber ganz zufrieden mit dem, was sie hatten. In den Wäldern und auf den Hügeln gab es die kleinen, verschlagenen Kreaturen, die wir jetzt Gnome nennen. Um die Rechte auf das Land wurde in den Jahren nach den Großen Kriegen manche Schlacht ausgefochten, die beiden Rassen schadete. Aber man kämpfte ums Überleben, und im Gehirn eines Wesens, das um sein Leben kämpft, hat die Vernunft keinen Platz.

Der Mensch entdeckte auch, daß es noch eine Rasse gab — eine Rasse von Menschen, die unter die Erde geflüchtet war, um die Auswirkungen der Großen Kriege zu überleben. Jahrelanges Leben in den riesigen Höhlen unter der Erdkruste, ohne Sonnenlicht, veränderte ihr Aussehen. Sie wurden klein und breit, mit mächtigen Armen und Brustkörben, starken, dicken Beine n für das Klettern und Laufen unter der Erde.

Ihre Sehfähigkeit im Dunkeln wurde der anderer Wesen überlegen, aber im Sonnenlicht waren sie halb blind. Sie lebten viele hundert Jahre unter der Erde, bis sie endlich wieder heraufkamen, um auf der Oberfläche zu wohnen. Ihre Augen sahen zuerst sehr schlecht, und sie hausten deshalb in den dunkelsten Wäldern des Ostlandes. Sie entwickelten ihre eigene Sprache, kehrten später aber wieder zur Menschensprache zurück. Als der Mensch Überreste dieser verlorenen Rasse erstmals entdeckte, nannte er sie Zwerge, nach einer fiktiven Rasse der alten Zeit.« Allanons Stimme verklang, und er schwieg einige Minuten, während er auf die in der Sonne grellgrün schimmernden Hügel blickte. Shea überdachte die Sätze des Historikers. Einen Troll hatte er nie gesehen; Gnome und Zwerge auch nur einen oder zwei, an die er sich kaum erinnerte.

»Und die Elfen?« fragte er schließlich.

Allanon sah ihn nachdenklich an und senkte den Kopf.

»Ah, ja, ich hatte sie nicht vergessen. Eine bemerkenswerte Rasse von Wesen, die Elfen. Vielleicht das großartigste Volk überhaupt, wenngleich das noch keinem ganz aufgegangen ist. Die Geschichte des Elfen-Volks muß jedoch noch warten; es genügt, zu sagen, daß es sie in den großen Wäldern des Westlandes immer gegeben hat, obwohl die anderen Rassen sie in diesem Stadium der Geschichte selten zu Gesicht bekamen.

Nun wollen wir sehen, wieviel du von der Geschichte des Nordlandes weißt, mein junger Freund. Heute ist es ein Land, das fast von niemand anderem als den Trollen bewohnt wird, ein unfruchtbares, düsteres Land, wo nur wenige Angehörige anderer Rassen unterwegs sind, geschweige sich niederlassen. Die Trolle haben sich natürlich angepaßt. Heute leben die Menschen in der Wärme und Behaglichkeit des milden Südlandklimas. Sie haben vergessen, daß einst auch das Nordland von Wesen aller Rassen besiedelt war, nicht nur von den Trollen in den Gebirgsgegenden, sondern auch von Menschen, Zwergen und Gnomen im Tiefland und in den Wäldern. Das war in den Jahren, als alle Rassen erst anfingen, mit neuen Ideen, neuen Gesetzen und vielen neuen Kulturen eine neue Zivilisation aufzubauen. Die Zukunft sah sehr vielversprechend aus, aber heute haben die Menschen vergessen, daß es diese Zeit je gegeben hat — vergessen, daß sie mehr als eine geschlagene Rasse sind, die versucht, abgesondert von jenen zu leben, die sie besiegt und ihren Stolz verletzt haben.

Damals gab es keine Aufteilung in Länder. Es war eine Wiedergeburt der Erde, auf der jede Rasse eine zweite Chance erhielt, eine Welt aufzubauen. Die Bedeutung der günstigen Gelegenheit wurde natürlich nicht erkannt. Man beschäftigte sich zu sehr damit, festzuhalten, was man als das Seinige betrachtete, und enge, kleine Privatwelten zu errichten. Jede Rasse war davon überzeugt, daß sie dazu bestimmt sei, in den künftigen Jahren die beherrschende Macht zu sein — zusammengedrängt wie ein Rudel zorniger Ratten, das ein vertrocknetes, armseliges Stück Käse bewacht. Und der Mensch, o ja, stürzte sich in all seiner Glorie genau wie die anderen gierig auf die Chance. Hast du das gewußt, Shea?«

Der Talbewohner schüttelte langsam den Kopf; er konnte nicht glauben, daß das, was er hörte, die Wahrheit war. Man hatte ihm erzählt, der Mensch sei seit den Großen Kriegen verfolgt gewesen, im Kampf um seine Würde und Ehre, um das kleine Land, das ihm gehörte. Er habe sich immer vor der reinen Wildheit der anderen Rassen schützen müssen. Der Mensch sei bei diesen Kämpfen nie der Unterdrücker gewesen, stets der Unterdrückte. Allanon lächelte grimmig, als er die Wirkung seiner Worte sah. Er fuhr fort:

»Du hast nicht geahnt, daß es so steht, wie ich sehe. Gleichgültig — das ist noch die kleinste Überraschung, die ich dir zu bereiten habe. Die Menschen sind nie das großartige Volk gewesen, für das sie sich gehalten haben. Damals kämpften die Menschen genau wie die anderen, wenngleich ich zugeben will, daß sie vielleicht ein höheres Ehrgefühl und ein deutlicheres Bestreben zum Wiederaufbau hatten als andere, und daß sie ein wenig zivilisierter waren.« Allanon sprach die letzten Worte mit betontem Sarkasmus aus. »Aber alle diese Dinge haben wenig mit dem Hauptthema unseres Gesprächs zu tun, das ich dir in Kürze klarzumachen hoffe. Es war ungefähr zur gleichen Zeit, als die Rassen einander entdeckt hatten und um die Oberherrschaft kämpften. Damals öffnete der Druiden-Rat die Hallen von Paranor im unteren Nordland. Die Geschichte drückt sich sehr verschwommen aus, was die Ursprünge und Absichten der Druiden angeht, wenn man auch glaubt, daß sie eine Gruppe hochintelligenter Männer aus allen Rassen waren, erfahren in vielen der verlorenen Künste der alten Welt. Sie waren Philosophen und Visionäre, befaßt mit dem Studium der Künste und Wissenschaften, alles zugleich, aber mehr noch, sie waren die Lehrer und die Verleiher der Macht — der Macht neuen Wissens über die Wege des Lebens. Sie wurden geführt von einem Mann namens Galaphile, einem Historiker und Philosophen wie ich, der die größten Männer des Landes zusammenrief, um einen Rat zu bilden und Frieden und Ordnung zu schaffen. Er stützte sich auf ihr Wissen, um das Szepter über die Rassen zu führen, auf ihre Fähigkeit, Wissen zu vermitteln, um das Vertrauen der Leute zu gewinnen.

Die Druiden waren in diesen Jahren eine sehr mächtige Kraft, und die Pläne Galaphiles schienen aufzugehen. Aber als die Zeit verging, zeigte sich, daß manche Mitglieder des Rates Kräfte besaßen, die weit über jene der anderen hinausgingen, Kräfte, die in einigen wenigen phänomenalen, genialen Gehirnen geschlummert hatten und stärker geworden waren. Es würde schwerfallen, dir diese Kräfte zu beschreiben, ohne sehr viel Zeit in Anspruch zu nehmen — mehr Zeit, als wir zur Verfügung haben. Was für unsere Zwecke Wichtigkeit hat, ist, zu begreifen, daß manche im Rat, welche die genialsten Gehirne besaßen, zur Überzeugung gelangten, sie seien ausersehen, die Zukunft der Rassen zu gestalten. Zuletzt lösten sie sich vom Rat, um eine eigene Gruppe zu bilden, verschwanden für einige Zeit und wurden vergessen.

Etwa hundertfünfzig Jahre später fand innerhalb der menschlichen Rasse ein schrecklicher Bürgerkrieg statt, der sich schließlich zum Ersten Krieg der Rassen, wie die Historiker ihn nannten, ausweitete. Seine Ursache war selbst damals schon unklar und ist inzwischen beinahe vergessen. Einfach ausgedrückt, lehnte sich ein kleiner Teil der menschlichen Rasse gegen die Lehren des Rates auf und bildete eine mächtige und gut ausgebildete Armee. Der vorgebliche Zweck der Erhebung war die Unterwerfung des Rests der Menschheit unter eine zentrale Herrschaft zur Verbesserung der Rasse und der Förderung ihres Stolzes als Volk.

Mit der Zeit schlössen sich fast alle Teile der Rasse der neuen Sache an, und man führte Krieg gegen die anderen Rassen, angeblich, um das neue Ziel zu erreichen. Die Hauptfigur war ein Mann namens Brona — ein archaischer Gnomen-Ausdruck für >Meister<. Man behauptete, er sei der Führer jener Druiden im ersten Rat gewesen, die sich abgespalten hatten und im Nordland verschwunden waren. Keine verläßliche Quelle hat je gemeldet, ihn gesehen oder mit ihm gesprochen zu haben, und am Ende kam man zu dem Schluß, Brona sei nur ein leerer Name, eine fiktive Gestalt. Die Revolte, wenn du sie so nennen willst, wurde schließlich von der vereinigten Macht der Druiden und der anderen alliierten Rassen unterdrückt.

Hast du davon gewußt, Shea?«

»Ich habe vom Druiden-Rat, seinen Absichten und Leistungen gehört — alles uralte Geschichte, weil der Rat vor langer Zeit ausgestorben ist. Ich habe vom Ersten Krieg der Rassen gehört, allerdings nicht so, wie Ihr ihn schildert. Der Krieg war für die Menschen eine bittere Lehre.«

Allanon wartete geduldig, während Shea hinzusetzte:

»Ich weiß, daß die Überlebenden unserer Rasse nach dem Ende des Krieges in den Süden geflohen und seitdem dort geblieben sind. Man baute die Heimstätten und verlorenen Städte wieder auf und versuchte Leben zu schaffen, statt es zu zerstören. Ihr scheint das als Isolierung aus Angst zu betrachten.

Ich glaube aber, daß es die beste Art zu leben gewesen und geblieben ist. Zentralregierungen sind stets die größte Gefahr für die Menschheit gewesen. Jetzt gibt es keine mehr — kleine Gemeinschaften sind die Regel des Lebens. Es gibt Dinge, von denen sich am besten alle fernhalten.«

Der hochgewachsene Mann lachte tonlos.

»Du weißt so wenig, auch wenn zutrifft, was du sagst.

Binsenweisheiten sind die nutzlosen Kinder von Einsichten, die zu spät dran sind, junger Freund. Nun, ich will mit dir nicht über Einzelheiten gesellschaftlicher Reform streiten, geschweige denn über politisches Aktivwerden. Das müssen wir auf ein andermal verschieben. Sag mir, was du von dem Wesen namens Brona weißt. Vielleicht... nein, warte einen Augenblick. Da kommt jemand...«

Die stämmige Gestalt Flicks tauchte auf. Der junge Mann blieb stehen, als er Allanon sah, und zögerte, bis Shea ihm winkte. Er kam langsam heran, den Blick auf das dunkle Gesicht gerichtet, als der große Mann ihn anlächelte.

»Ich wollte nicht stören...«, begann Flick.

»Du Storst nicht«, sagte Shea sofort, aber Allanon schien anderer Meinung zu sein.

»Das Gespräch war für deine Ohren allein bestimmt«, sagte er zu Shea. »Wenn dein Bruder bleiben will, wird er über sein eigenes Schicksal in den kommenden Tagen entschieden haben. Ich möchte eindringlich vorschlagen, daß er sich den Rest unseres Gesprächs nicht anhört, ja sogar vergißt, daß wir beide miteinander gesprochen haben. Aber die Wahl liegt bei ihm.«

Die Brüder sahen einander verwirrt an, doch das grimmige Gesicht Allanons verriet, daß er keine Späße machte.

»Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet«, sagte Flick schließlich, »aber Shea und ich sind Brüder, und was dem einen zustößt, muß auch dem anderen geschehen. Wenn er Kummer hat, muß ich diesen mit ihm teilen — das ist meine eigene freie Entscheidung.«

Shea blickte ihn erfreut an. Er war stolz auf seinen Bruder und lächelte. Flick zwinkerte ihm zu und setzte sich. Der schwarze Wanderer strich sich den Bart, lächelte ganz unerwartet auch und sagte:

»Die Entscheidung ist wahrlich deine eigene, und du hast dich durch deine Worte als Bruder erwiesen. Aber es kommt auf Taten an. Du magst die Entscheidung in den kommenden Tagen bedauern...« Er verstummte und sah auf Flicks gesenkten Kopf hinunter, bevor er sich wieder Shea zuwandte.

»Nun, ich kann meine Ausführungen nicht noch einmal von vorn beginnen. Dein Bruder Flick wird versuchen müssen, uns zu folgen, so gut er kann. Nun sag mir, was du von Brona weißt, Shea.«

Shea dachte einige Zeit nach und zuckte dann die Achseln.

»Eigentlich nicht viel. Er ist eine Legende, wie Ihr sagt, der angebliche Führer der Erhebung im Ersten Krieg der Rassen.

Er soll ein Druide gewesen sein, der den Rat verließ und seine böse Macht dazu gebrauchte, die Gehirne seiner Anhänger zu beherrschen. Historisch ist er nie gesehen, nie gefangengenommen, in der letzten Schlacht nicht getötet worden. Es hat ihn also nie gegeben.«

»Historisch zutreffend, gewiß«, murmelte Allanon. »Was weißt du von ihm im Zusammenhang mit dem Zweiten Krieg der Rassen?«

Shea lächelte kurz.

»Nun, die Legende meint, er sei auch hinter diesem Krieg die treibende Kraft gewesen, aber auch das hat sich als Mythos erwiesen. Er soll dasselbe Wesen gewesen sein, das die Armeen der Menschen im Ersten Krieg aufstellte, nur hieß er diesmal der Dämonen-Lord — der böse Widerpart zum Druiden Brimen. Ich glaube, Brimen soll ihn aber im Zweiten Krieg getötet haben. Doch das sind alles nur Erfindungen.«

Flick nickte eifrig, Allanon schwieg. Shea wartete auf eine Bestätigung.

»Wohin soll uns das Ganze eigentlich führen?« fragte er.

Allanon sah ihn scharf an und zog eine Braue hoch.

»Deine Geduld ist erstaunlich gering, Shea. Schließlich haben wir binnen Minuten die Geschichte von tausend Jahren abgehandelt. Falls du dir jedoch zutraust, dich noch kurze Zeit zu bezähmen, glaube ich, dir versprechen zu können, daß deine Frage beantwortet wird.«

Shea nickte geknickt. Es waren nicht die Worte selbst, die schmerzten, sondern die Art, wie Allanon sie aussprach, mit spöttischem Lächeln und kaum verborgenem Sarkasmus. Der Talbewohner erholte sich aber schnell und zuckte die Achseln.

»Nun gut«, sagte Allanon. »Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nur für den geschichtlichen Hintergrund gesprochen.

Nun kommt der Grund, weshalb ich nach dir gesucht habe.

Ich rufe die Ereignisse des Zweiten Krieges der Rassen in dein Gedächtnis zurück — des letzten Krieges in der neuen Geschichte der Menschen, vor noch nicht fünfhundert Jahren im Nordland geführt. Der Mensch war an diesem Krieg nicht beteiligt; er war der Besiegte des Ersten und lebte tief im Herzen des Südlandes, ein paar kleine Gemeinden, die sich bemühten, die Bedrohung totaler Auslöschung zu überleben.

Dies war ein Krieg der großen Rassen- der Elfen und Zwerge gegen die Macht der wilden Gebirgstrolle und der verschlagenen Gnome.

Nach dem Ende des Ersten Krieges teilte sich die bekannte Welt in die bestehenden vier Länder auf, und die Rassen lebten lange Zeit im Frieden. In dieser Zeit nahmen Macht und Einfluß des Druiden-Rates stark ab, da das Bedürfnis nach seiner Hilfe nicht mehr zu bestehen schien. Man muß gerechterweise hinzufügen, daß die Druiden in ihrer Aufmerksamkeit für die Rassen nachgelassen hatten, und über Jahre hinweg verloren die neuen Mitglieder die Absichten des Rates aus den Augen und wandten sich von den Problemen der Leute ab und persönlichen Dingen zu, führten ein abgeschlosseneres Dasein des Studiums und der Meditation. Die Elfen waren die mächtigste Rasse, beschränkten sich aber auf ihr abgeschiedenes Heimatland tief im Westen, wo sie sich damit begnügten, vergleichsweise abgesondert zu leben — ein Fehler, den sie schwer bereuen sollten. Die anderen Völker zerstreuten sich und bildeten kleinere, weniger geeinigte Gesellschaften, vorwiegend im Ostland, wenn sich auch manche Gruppen in Teilen des West- und Nordlandes niederließen, in den Grenzgebieten.

Der Zweite Krieg der Rassen begann, als eine riesige Armee von Trollen aus dem Charnal-Gebirge herabkam und das ganze Nordland eroberte, einschließlich der Druiden-Festung in Paranor. Die Druiden waren von innen durch mehrere ihrer eigenen Leute verraten worden, die der feindliche Befehlshaber, damals noch unbekannt, mit Versprechungen und Angeboten zu sich herübergezogen hatte. Die verbleibenden Druiden wurden bis auf ganz wenige, die entkamen oder zu der Zeit unterwegs gewesen waren, gefangengenommen und in die Verließe der Burg geworfen. Man bekam sie nie mehr zu Gesicht. Jene, die dem Schicksal ihrer Genossen entrannen, verstreuten sich über die vier Länder und verbargen sich. Die Troll-Armee ging sofort gegen die Zwerge im Ostland vor, in der klaren Absicht, jeden Widerstand so schnell wie möglich zu unterdrücken. Die Zwerge versammelten sich aber tief in den riesigen Wäldern des Anar, die nur sie gut genug kannten, um dort längere Zeit überleben zu können, und hielten sich gegen die Troll-Armeen, trotz der Unterstützung derselben durch einige Gnomen, die sich ihnen angeschlossen hatten. Der Zwergen-König Raybur schrieb in der Geschichte seines Volkes nieder, wen er als den wahren Feind entdeckt hatte — den Rebellen-Druiden Brona.«

»Wie konnte der Zwergen-König das glauben?« warf Shea ein. »Wenn es zuträfe, wäre der Dämonen-Lord über fünfhundert Jahre alt! Ich glaube, irgendein ehrgeiziger Mystiker muß dem König das eingeredet haben, um eine alte, überholte Legende wiederzubeleben — vielleicht, um sich eine bessere Stellung zu verschaffen.«

»Das ist eine Möglichkeit«, räumte Allanon ein. »Aber laß mich fortfahren. Nach langen Monaten des Kampfes wurden die Trolle offenbar in den Glauben versetzt, die Zwerge seien geschlagen, und so wandten sie sich mit ihren Kriegslegionen nach Westen und marschierten gegen das mächtige Elfen-Königreich auf. Aber in der Zeit, als die Trolle gegen die Zwerge gekämpft hatten, waren die wenigen aus Paranor entkommenen Druiden von dem berühmten Mystiker Brimen, einem alten und hochgeschätzten Ratsälteren, versammelt worden. Er führte sie ins Elfen-Reich im Westland, um die Leute dort vor der neuen Bedrohung zu warnen und sich auf die fast sichere Invasion der Nordländer vorzubereiten. Der Elfen-König war in diesem Jahr Jerle Shannara — vielleicht der größte aller Elfen-Könige, mit Ausnahme Eventines. Brimen warnte den König vor dem bevorstehenden Angriff, und der Elfen-Herrscher stellte schnell seine Armeen auf, bevor die Troll-Horden die Grenzen erreicht hatten. Paßt nun gut auf!«

Shea und Flick nickten.

»Brimen gab Jerle Shannara für die Schlacht mit den Trollen ein besonderes Schwert. Wer immer das Schwert auch ergriff, sollte unbesiegbar sein — selbst gegen die unheimliche Macht des Dämonen-Lords. Als die Troll-Legionen das Tal von Rhenn im Grenzgebiet des Elfen-Reichs betraten, wurden sie von den Armeen der Elfen, die aus den Höhen herabkamen, angegriffen, umzingelt und in einer zweitägigen Schlacht schwer geschlagen. Die Elfen wurden angeführt von den Druiden und Jerle Shannara, der das mächtige Schwert trug, das er von Brimen erhalten hatte. Sie kämpften gemeinsam gegen die Troll-Armeen, denen angeblich die zusätzliche Kraft von Wesen aus der Geisterwelt unter der Herrschaft des Dämonen-Lords beistand. Aber der Mut des Elfen-Königs und die Macht des sagenhaften Schwertes überwältigten die Geisterwesen und vernichteten sie. Als die Überreste der Troll-Armeen versuchten, über die Ebenen von Streleheim die Sicherheit des Nordlandes fliehend zu erreichen, gerieten sie zwischen die Elfen-Verfolger und eine Armee von Zwergen, die sich aus dem Ostland näherte. Es kam zu einer mörderischen Schlacht, in der die Troll-Armee fast bis auf den letzten Mann aufgerieben wurde. Während des Kampfes verschwand Brimen von der Seite des Elfen-Königs und stand dem Dämonen-Lord selbst gegenüber. Es steht geschrieben, daß die beiden sich gegenseitig im Kampf vernichteten und nie mehr gesehen wurden. Man fand nicht einmal die Leichen.

Jerle Shannara trug das berühmte Schwert bis zu seinem Tod einige Jahre später. Sein Sohn gab die Waffe dem Druiden-Rat in Paranor, wo die Klinge in einen riesigen Block Tre-Stein gesteckt und in ein Gewölbe in der Druidenburg verbracht wurde. Ich bin sicher, ihr kennt die Legende von diesem Schwert und was es bedeutet für alle Rassen. Das große Schwert ruht heute in Paranor, wie seit fünfhundert Jahren. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?«

Flick nickte staunend, immer noch gebannt von der erregenden Erzählung, aber Shea entschied plötzlich, daß er genug gehört hatte. Nichts von allem, was Allanon von der Geschichte der Rassen berichtet hatte, war erwiesen. Er hatte ihnen eine Legende erzählt, die seit undenklichen Zeiten von Eltern an kleine Kinder weitergegeben wurde.

»Was hat das alles mit Eurem Erscheinen in Shady Vale zu tun?« fragte Shea abweisend. »Wir haben von einer Schlacht gehört, die vor fünfhundert Jahren stattfand — von einer Schlacht, die nicht einmal etwas mit den Menschen zu tun hat.

Es tut mir leid, aber ich finde die ganze Geschichte schwer verdaulich. Die Erzählung vom Schwert Jerle Shannaras ist bei allen Rassen wohlbekannt, aber sie ist eben nur eine Erfindung, keine Tatsache — eine herausgeputzte Heldengeschichte, um in den Rassen, die daran teilhaben, ein Gefühl der Loyalität und des Pflichtbewußtseins zu erzeugen, ein Märchen für Kinder, ehe sie in die Verantwortung des Lebens hineinwachsen. Warum verliert Ihr Zeit mit dieser Geschichte, wenn ich nur eine schlichte Antwort auf eine schlichte Frage haben will? Warum sucht Ihr mich?« Shea verstummte, als er sah, wie Allanons Gesicht sich vor Zorn rötete und die mächtigen Brauen sich über plötzlich aufleuchtenden Lichtfunken in den Augen zusammenzogen.

Der hochgewachsene Mann schien gegen eine innere Wut von großer Heftigkeit anzukämpfen.

»Narr... du Narr«, fauchte der Riese. »Du weißt so wenig... Kinder seid ihr! Was weiß die Menschheit von der Wahrheit — was hat der Mensch anderes getan, als sich zu verstecken, in den tiefsten Gebieten des Südlandes wie ein entsetztes Kaninchen angstvoll in seinen Bau zu kriechen? Du wagst zu sagen, daß ich ein Märchen verbreite — du, der du in deinem behüteten Tal nie etwas von Mühsal erlebt hast. Ich bin gekommen, um das Blut von Königen zu finden, aber entdeckt habe ich einen kleinen Jungen, der mich zutiefst enttäuscht. Du bist nichts als ein Kind!«

Flick wünschte sich, im Boden versinken oder einfach verschwinden zu können, als er zu seiner Verblüffung Shea aufspringen sah, das schlanke Gesicht zorngerötet, die Fäuste geballt. Shea war so von Wut übermannt, daß er nicht sprechen konnte und zitternd vor Zorn und Demütigung seinem Ankläger gegenüberstand. Allanon war jedoch nicht beeindruckt.

»Halt, Shea! Sei nicht ein noch größerer Narr! Achte auf das, was ich dir jetzt sage. Alles, was ich dir erzählt habe, ist durch die Zeiten als Legende überliefert und den Menschen so mitgeteilt worden. Aber die Zeit für Märchen ist vorbei.«

»Was ich dir mitgeteilt habe, ist nicht Legende, sondern Wahrheit.

Das Schwert gibt es wirklich; es liegt in Paranor. Doch was das Wichtigste ist: Der Dämonen-Lord ist Wirklichkeit!

Er lebt heute, und das Schädelreich ist sein Gebiet!«

Shea zuckte zusammen. Er begriff, daß der Mann nicht bewußt log — daß er das Ganze nicht für ein Märchen hielt. Er atmete tief ein und setzte sich langsam, den Blick noch immer auf das dunkle Gesicht gerichtet. Plötzlich kamen ihm die Worte des Historikers zum Bewußtsein.

»Ihr sagtet >Könige<... Ihr sucht einen König...?«

»Wie lautet die Legende des Schwerts von Shannara? Wie die Inschrift auf dem Tre-Steinblock?«

Shea konnte sich nicht erinnern. Er antwortete:

»Ich weiß es nicht... kann mich nicht entsinnen. Irgend etwas von einem nächsten Mal...«

»Von einem Sohn!« sagte Flick plötzlich. »Wenn der Dämonen-Lord wieder im Nordland erscheine, werde ein Sohn des Hauses Shannara auftreten und das Schwert gegen ihn ergreifen.

Das war die Legende!«

Shea blickte erregt Allanon an.

»Wie betrifft mich das?« fragte er schnell. »Ich bin kein Sohn des Hauses Shannara — ich bin nicht einmal ein Elf. Ich bin ein Halbblut, kein Elf, kein König. Eventine ist der Erbe des Hauses Shannara. Wollt Ihr behaupten, ich sei ein verlorener Sohn — ein vermißter Erbe? Das glaube ich nicht!«

»Du hast Elfen-Blut in dir, Shea, du bist nicht der leibliche Sohn Curzad Ohmsfords. Das weißt du. Und Eventine entstammt nicht direkt dem Haus Shannara.«

»Ich habe immer gewußt, daß ich ein Adoptivsohn bin«, gab Shea zu, »aber ich kann doch nicht von... Flick, sag es ihm!«

Aber sein Bruder starrte ihn nur verwundert an. Shea verstummte plötzlich und schüttelte ungläubig den Kopf, während Allanon nickte und sagte.

»Du bist ein Sohn des Hauses Shannara — aber nur halb, und weit entfernt von der direkten Abstammungsfolge, die man in den letzten fünfhundert Jahren zurückverfolgen kann.

Ich habe dich als Kind gekannt, Shea, bevor du bei den Ohmsfords wie ein eigenes Kind aufgenommen worden bist.

Deine Mutter gehörte zur Rasse der Menschen. Dein Vater war von den Elfen — ein großer Mann. Sie starben beide, als du noch sehr klein warst, und du bist zu Curzad Ohmsford gekommen und von ihm wie sein eigener Sohn aufgezogen worden. Aber du bist ein Nachkomme Jerle Shannaras, wenn auch ein entfernter und nicht von reinem Elfenblut.«

Shea nickte abwesend, verwirrt und immer noch argwöhnisch.

Flick sah seinen Bruder an, als habe er ihn noch nie gesehen.

»Was bedeutet das alles?« fragte er Allanon.

»Was ich euch erzählt habe, ist auch dem Herrn der Dunkelheit bekannt, obwohl er noch nicht weiß, wo du lebst oder wer du bist. Aber seine Abgesandten werden dich früher oder später finden, und dann wirst du vernichtet.«

Sheas Kopf zuckte hoch, und er sah Flick erschrocken an, als er sich an den Bericht über den riesigen Schatten am Rand des Tales erinnerte. Auch sein Bruder fühlte sich von einem kalten Hauch angeweht.

»Aber warum?« fragte Shea stockend. »Was habe ich getan, um das zu verdienen?«

»Du mußt noch vieles begreifen lernen, bevor du die Antwort auf diese Frage verstehen kannst, Shea«, erwiderte Allanon, »und ich habe nicht die Zeit, dir jetzt alles zu erklären.

Du mußt mir glauben, wenn ich dir sage, daß du von Jerle Shannara abstammst, daß du Elfenblut in dir hast und daß die Ohmsfords dich nur aufgenommen haben. Du bist nicht der einzige Sohn des Hauses Shannara, aber der einzige, der heute noch lebt. Die anderen waren Elfen, man fand sie leicht und tötete sie. Das hat den Schwarzen Lord so lange gehindert, dich zu finden — er ahnte nicht, daß es im Südland einen Halbsohn gibt. Von den Elfen-Söhnen wußte er.

Aber wisse dies, Shea. Die Macht des Schwertes ist grenzenlos — es ist die eine große Furcht, mit der Brona lebt, die einzige Macht, der er vielleicht nicht standzuhalten vermag.

Die Legende vom Schwert ist ein mächtiges Amulett in den Händen der Rassen, und Brona möchte der Legende ein Ende bereiten. Er wird es dadurch erreichen, daß er das ganze Haus Shannara ausrottet, damit kein Sohn mehr auftreten und das Schwert gegen ihn erheben kann.«

»Aber ich wußte nicht einmal von dem Schwert«, wandte Shea ein. »Ich wußte nicht einmal, wer ich war, wußte nichts vom Nordland oder —«

»Darauf kommt es nicht an!« unterbrach ihn Allanon scharf. »Wenn du tot bist, gibt es keinen Zweifel über dich mehr.« Seine Stimme verlor sich in einem Murmeln, und er blickte wieder zu den fernen Berggipfeln hinüber. Shea ließ sich im Gras langsam zurücksinken und starrte in das blasse Blau des Spätwinterhimmels, über den kleine Wölkchen zogen.

Er schloß die Augen und dachte an sein Leben im Tal, an die gemeinsamen Pläne mit Flick, an ihre Hoffnungen. Sie würden alle in Rauch aufgehen, wenn zutraf, was er erfahren hatte. Schließlich setzte er sich wieder auf.

»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte er langsam. »Es gibt so viele Fragen, die ich Euch stellen muß. Der Gedanke, etwas anderes zu sein als ein Ohmsford, verwirrt mich — jemand zu sein, den der Tod durch die Hand eines — einer Legende bedroht. Was, meint Ihr, soll ich tun?«

Allanon lächelte zum erstenmal freundlich.

»Im Augenblick nichts. Noch droht dir keine unmittelbare Gefahr. Denk über alles nach, was ich dir gesagt habe, und wir sprechen ein andermal über die Folgen. Da beantworte ich gern alle deine Fragen. Aber sprecht mit keinem darüber, auch nicht mit eurem Vater. Das gilt für euch beide. Tut so, als habe dieses Gespräch nicht stattgefunden, bis wir Gelegenheit haben, uns näher mit den Problemen zu beschäftigen. «

Die beiden jungen Männer nickten und sahen einander an.

Allanon erhob sich lautlos und streckte sich, bevor er auf die Brüder hinuntersah, die ebenfalls aufgestanden waren.

»Legenden und Mythen, die es in der Welt von gestern nicht gegeben hat, wird es in der von morgen geben. Böses, unbarmherzig und verschlagen, wird, nachdem es Jahrhunderte geschlummert hat, erwachen. Der Schatten des Dämonen-Lords wird auf die vier Länder fallen.« Er schwieg kurze Zeit. »Ich wollte nicht grob werden«, sagte er mit sanfter Stimme, »aber wenn dies das Schlimmste ist, was in den kommenden Tagen geschehen wird, solltet ihr froh sein. Du stehst langfristig vor einer echten Bedrohung, Shea, nicht vor einem Märchen, das man lachend abtun kann. Nichts, was geschieht, wird gerecht für dich sein. Du wirst vieles über das Leben lernen, das dir nicht gefallen wird.« Er verstummte, ein langer, grauer Schatten vor dem Grün der Hügel. Eine Hand griff kurz nach Sheas Schulter, dann wandte er sich ab und verschwand.

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