Als Shea am nächsten Tag erwachte, war es Mittag. Das grelle Sonnenlicht flutete mit stechender Kraft in seine Augen, als er wahrnahm, daß er auf dem Rücken im hohen Gras lag. Zuerst konnte er sich an die vergangene Nacht nicht erinnern; er wußte nur, daß er und Flick von Menion getrennt worden waren. Halb wach, schob er sich hoch, schaute sich schläfrig um und sah, daß er auf freiem Feld lag. Hinter ihm ragten die unheimlichen Schwarzen Eichen empor, und er konnte annehmen, daß er nach dem Verschwinden Menions auf irgendeine Weise den Weg allein durch den furchterregenden Wald gefunden haben mußte, bevor er erschöpft zusammengebrochen war. Er konnte nicht begreifen, woher er die Kraft dazu genommen hatte. Er erinnerte sich nicht einmal, aus dem endlosen Wald getreten zu sein, das langgesuchte Grasland vor sich, in dem er jetzt lag. Er rieb sich die Augen und seufzte wohlig in der warmen Sonne und der frischen Luft. Zum erstenmal seit Tagen schienen die Anar-Wälder erreichbar.
Plötzlich fiel ihm Flick ein, und er schaute sich angstvoll nach seinem Bruder um. Einen Augenblick später entdeckte er die stämmige Gestalt schlafend in der Nähe. Shea stand langsam auf, reckte sich und suchte seinen Rucksack. Er fand ihn und kramte darin herum, bis er den Beutel mit den Elfensteinen fand, um die Gewißheit zu haben, daß sie noch in seinem Besitz waren. Dann hob er den Rucksack auf und ging zu seinem schlafenden Bruder, um ihn zu wecken. Flick regte sich unwillig. Shea mußte ihn ein paar Mal rütteln, bevor er endlich widerwillig die Augen öffnete und mürrisch aufsah.
Als er Shea erblickte, setzte er sich auf und schaute sich langsam um.
»He, wir haben es geschafft!« rief er. »Aber ich weiß nicht, wie. Ich erinnere mich an nichts, nachdem wir Menion verloren haben, als an Laufen, Laufen, Laufen — bis meine Beine abzufallen drohten.«
Shea grinste bestätigend und schlug seinem Bruder auf die Schulter. Er empfand plötzlich tiefe Zuneigung zu Flick, einem Bruder, der mit ihm nicht blutsverwandt, aber sein bester Freund war.
»Wir haben es wirklich geschafft«, sagte er lächelnd, »und wir bewältigen auch den Rest des Weges, falls es mir gelingt, dich zum Aufstehen zu bewegen.«
»Man möchte nicht glauben, wie gemein manche Leute sein können.« Flick schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf und stand mühsam auf. Er sah seinen Bruder fragend an.
»Menion... ?«
»Verschwunden... ich weiß nicht, wo...«
»Mach dir keine Sorgen um den Schlingel. Er wird wieder auftauchen — wahrscheinlich im falschen Augenblick.«
Shea nickte stumm, und sie besprachen sich. Sie waren einig darin, daß es am besten sei, nach Norden zu gehen, bis sie den Silberfluß erreichten, der in den Regenbogen-See floß, und dann stromaufwärts bis zum Anar zu wandern. Mit etwas Glück würde auch Menion dem Fluß folgen und sie in wenigen Tagen einholen. Seine Geschicklichkeit und seine Instinkte würden ihm helfen, die Schwarzen Eichen hinter sich zu lassen und ihrer Spur zu folgen. Shea ließ seinen Freund ungern zurück, aber er war verständig genug, zu begreifen, daß jeder Versuch, ihn im Wald zu suchen, nutzlos war. Es blieb nichts anderes übrig, als den Marsch fortzusetzen.
Sie eilten durch das grüne, stille Gelände, in der Hoffnung, bis zum Einbruch der Nacht den Silberfluß zu erreichen. Es war schon mitten am Nachmittag, und sie wußten nicht, wie weit sie noch vom Fluß entfernt sein mochten. Mit der Sonne als Führer fühlten sie sich zuversichtlicher. Sie unterhielten sich miteinander, angeregt vom Sonnenschein, den sie so viele Tage vermißt hatten. Kleine Vögel stoben vor ihnen auf. Einmal glaubte Shea, im Licht der herabsinkenden Sonne im Osten die gebückte Gestalt eines alten Mannes zu sehen, die sich langsam von ihnen entfernte; aber das konnte auch eine Täuschung gewesen sein.
In der Dämmerung entdeckten sie im Norden das lange Band des Silberflusses, des Nährvaters des wundersamen Regenbogen-Sees und tausend abenteuerlicher Geschichten. Es hieß, daß es einen legendären König des Silberflusses gebe, dessen Reichtum und Macht jeder Beschreibung spotteten, dessen einzige Sorge es jedoch sei, daß das Wasser des großen Stroms für Mensch und Tier gleichermaßen rein und unbehindert fließe. Reisende bekämen ihn selten zu Gesicht, erzählten die Geschichten, aber er sei stets zur Stelle, um Hilfe anzubieten, sollte sie gebraucht werden, oder um Verstöße gegen die Ordnung zu bestrafen. Als Shea und Flick den Fluß erblickten, konnten sie nur erkennen, daß er im verblassenden Licht wunderschön aussah, mit der silbrigen Farbe, die sein Name verhieß. Als sie das Ufer endlich erreichten, war es zu dunkel geworden, als daß sie hätten sehen können, wie klar das Wasser wirklich war, aber sie tranken davon und fanden es gut.
Sie fanden am Südufer des Flusses eine kleine Wiesenlichtung unter den schützenden Kronen von zwei breiten, alten Ahornbäumen. Ein idealer Lagerplatz für die Nacht. Selbst der kurze Marsch dieses Nachmittags hatte sie ermüdet, und sie zogen es vor, in der offenen Landschaft nachts nicht umherzulaufen.
Sie hatten ihre Vorräte beinahe schon aufgebraucht, und nach der Abendmahlzeit würden sie sich Nahrung suchen müssen. Das war ein besonders entmutigender Gedanke, da ihre einzigen Waffen für das Erlegen von Wild die kurzen Jagdmesser waren. Auf Menions Langbogen konnten sie ja nicht mehr zurückgreifen. Sie aßen ihre letzten Vorräte stumm und ohne ein Feuer anzuzünden, das sie hätte verraten können. Es schien Halbmond, und die Nacht war wolkenlos, so daß die Tausende von Sternen in der grenzenlosen Galaxis strahlend weiß leuchteten und den Fluß und das Land in ein unheimliches grünes Licht tauchten.
»Hast du über alles nachgedacht, über unser Fortlaufen, meine ich?« sagte Shea, als sie satt waren. »Ist dir klar, was wir eigentlich tun?«
»Das fragst ausgerechnet du?« erwiderte Flick verblüfft.
Shea lächelte und nickte.
»Ich kann dich verstehen, aber ich muß das alles vor mir rechtfertigen, und es fällt mir nicht leicht. Ich begreife das meiste von dem, was Allanon zu uns gesagt hat, über die Gefahren für die Erben des Schwertes. Aber was soll es uns nützen, uns im Anar zu verbergen? Dieser Brona muß es noch auf etwas anderes als das Schwert von Shannara abgesehen haben, wenn er sich solche Mühe gibt, die Erben des Elfen-Hauses zu finden. Was ist das, wonach er sucht... was kann es sein...?«
Flick zuckte die Achseln und warf einen Kieselstein in den Fluß.
»Vielleicht will er die Herrschaft an sich reißen?« meinte er. »Ist das nicht bei jedem so, der ein wenig Macht erlangt?«
»Kein Zweifel«, sagte Shea unsicher und sagte sich, daß diese Form von Machtgier die Rassen dorthin gebracht hatte, wo sie heute waren, nach den langen, bitteren Kriegen, die beinahe alles Leben ausgelöscht hatten. Er sah Flick an.
»Was werden wir tun, wenn wir am Ziel sind?«
»Das wird uns Allanon sagen«, gab sein Bruder zurück.
»Allanon kann uns nicht ewig sagen, was wir zu tun haben «, antwortete Shea. »Außerdem bin ich immer noch nicht überzeugt, daß er uns die Wahrheit über sich gesagt hat.«
Flick nickte und fröstelte unwillkürlich.
»Ich weiß nicht so recht, ob ich die Wahrheit über diese Dinge wirklich wissen will. Ich bin nicht sicher, daß ich sie verstehen würde«, murmelte er.
Shea wunderte sich ein wenig und starrte wieder auf das mondbeschienene Wasser.
»Für Allanon mögen wir nur unbedeutende Leute sein«, sagte er, »aber von jetzt an unternehme ich nichts mehr ohne Grund.«
Die beiden legten sich hin und schliefen bald ein. Trotz der beruhigenden Geräusche des Lebens ringsum und des friedlichen Rauschens der Strömung schob sich mit der Zeit ein unentrinnbares, nagendes Gefühl der Besorgnis heimlich in ihre Traumwelt und wartete dort geduldig. Die beiden Schläfer warfen sich hin und her, unfähig, sich dieses Gefühls zu entledigen.
Vielleicht war es derselbe warnende Schatten, der sich in den unruhigen Gemütern der beiden Talbewohner niedergelassen hatte und sie nun im gleichen Augenblick weckte, den Schlaf aus ihnen vertrieb und sie gewahr werden ließ, daß die Luft von einer eisigen Tollheit erfüllt war, die sie erfaßte und niederzudrücken begann. Sie erkannten sie sofort, und in ihren Augen flackerte Panik, als sie regungslos dalagen und in die lautlose Nacht hineinhorchten. Minuten vergingen, und nichts geschah, aber sie warteten, bis sie endlich das gefürchtete Rauschen riesiger Schwingen hörten und auf den Fluß hinausblickten, wo die enorme, lautlose Erscheinung des Schädelträgers beinahe elegant aus dem Tiefland hinter dem Fluß heranschwebte. Die Talbewohner waren starr vor Entsetzen, unfähig, auch nur zu denken, geschweige denn, sich zu bewegen, als sie verfolgten, wie das Wesen sich näherte.
Es kam nicht darauf an, daß es sie noch nicht gesehen hatte, vielleicht nicht einmal wußte, daß sie in der Nähe waren. In wenigen Sekunden würde es sie jedenfalls wahrnehmen, und den Brüdern blieb keine Zeit, die Flucht zu ergreifen. Shea spürte, wie sein Mund austrocknete, und irgendwo in seinem Gehirn tauchte der Gedanke an die Elfensteine auf, aber er vermochte nicht zu handeln. Er saß gelähmt neben seinem Bruder und wartete auf das Ende.
Wie durch ein Wunder blieb es aus. Gerade, als es so aussah, als müsse der Gehilfe des Dämonen-Lords sie finden, erregte ein Lichtschein am anderen Ufer seine Aufmerksamkeit.
Schnell flog er darauf zu, dann blitzte es weiter unten erneut auf, und wieder — oder irrte er sich? Er suchte eifrig, überzeugt davon, daß die lange Suche ihr Ende gefunden hatte. Trotzdem vermochte er die Lichtquelle nicht zu entdecken.
Plötzlich blitzte es erneut auf, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Das aufgebrachte Ungeheuer fegte darauf zu; es wußte, daß das Licht tiefer in der Schwärze jenseits des Flusses war, irgendwo in den tausend kleinen Senken und Vertiefungen des Tieflands. Das geheimnisvolle Licht leuchtete immer wieder auf, jedesmal weiter landeinwärts fliehend. Die beiden Brüder blieben verborgen im Dunkeln, und ihre angstvollen Augen sahen dem fliegenden Schatten nach, bis er verschwunden war.
Sie blieben noch lange wie erstarrt. Wieder waren sie dem Tod nahe gewesen und noch einmal davongekommen. Sie lauschten stumm auf die Laute von Insekten und anderem Getier, das sich wieder bemerkbar machte. Einige Zeit später atmeten sie auf und blickten einander erstaunt an. Sie wußten, daß das Wesen fort war, vermochten aber nicht zu begreifen, wie sich das ergeben hatte. Bevor sie Gelegenheit hatten, darüber zu sprechen, tauchte das rätselhafte Licht plötzlich auf einer Erhebung mehrere hundert Meter hinter ihnen auf, verschwand kurz und erschien wieder, näher als vorher. Shea und Flick beobachteten es verwundert, als es ein wenig schwankend näherrückte.
Augenblicke später stand ein alter, uralter Mann vor ihnen, gebückt von den Jahren, gekleidet wie ein Holzfäller, das Haar silbern im Mondlicht, mit einem langen, weißen Bart, der säuberlich gestutzt war. Das seltsame Licht in seiner Hand wirkte aus der Nähe grell, und in der Mitte konnte man keine Flamme erkennen. Plötzlich verschwand es, und stattdessen umklammerte die knorrige Hand des alten Mannes einen zylindrischen Gegenstand. Er sah sie an und lächelte.
Shea blickte ruhig in sein altes Gesicht und spürte, daß der seltsame Alte seinen Respekt verdiente.
»Das Licht«, sagte Shea stockend. »Wie...?«
»Ein Spielzeug von Leuten, die lange tot und verschwunden sind«, sagte der alte Mann leise. »Verschwunden wie das böse Wesen dort draußen...« Er zeigte in die Richtung, wohin der Schädelträger davongeflogen war.
»Wir sind unterwegs nach Osten...«, begann Flick.
»Zum Anar.« Die sanfte Stimme unterbrach ihn, der alte Mann nickte. Plötzlich ging er an ihnen vorbei zum Fluß, drehte sich um und bedeutete ihnen, sich zu setzen. Shea und Flick gehorchten ohne Zögern, und sie fühlten sich plötzlich von einer gewaltigen Müdigkeit erfaßt.
»Schlaft, ihr jungen Wanderer, damit eure Reise kürzer sei.« Die Stimme wurde in ihren Gemütern lauter, befehlender.
Sie kamen gegen das Gefühl der Müdigkeit nicht auf und streckten sich auf der Wiese aus. Die Gestalt vor ihnen verwandelte sich langsam, und mit verschwommenem Blick glaubten sie zu erkennen, daß der alte Mann jünger wurde und seine Kleidung anders aussah. Shea murmelte etwas, versuchte wachzubleiben, zu begreifen, aber im nächsten Augenblick schliefen die beiden Brüder ein.
Im Schlaf schwebten sie wie Wolken durch vergessene Tage voll Sonne und Glück in ihrer friedlichen Heimat. Wieder streiften sie durch den heimeligen Duln-Wald und schwammen im kühlen Wasser des Rappahalladran-Flusses, ohne Angst und Sorgen. Sie liefen frei und unbekümmert über Berg und Tal, berührten, wie zum ersten Mal, jede Pflanze, jedes Tier, jeden Vogel und jedes Insekt mit einem neuen Verständnis ihrer Bedeutung als Lebewesen, wie klein es auch sein mochte. Sie schwebten und trieben dahin wie der Wind, rochen die Frische des Landes, sahen die Schönheit des Lebens.
Vergessen waren die langen, harten Tage der Wanderung durch das Tiefland von Clete, vergessen auch die Dunkelheit der Schwarzen Eichen, die Erinnerung an das Nebelgespenst und die verfolgenden Nachtwesen.
Die beiden wußten nicht, wie lange sie der Traumwelt angehörten oder was dort mit ihnen geschah. Als sie erwachten, sahen sie nur, daß sie sich nicht mehr am Ufer des Silberflusses befanden. Sie wußten ebenso, daß die Zeit neu und auf irgendeine Weise anders war; das Gefühl war erregend, aber es bot Sicherheit.
Als Shea langsam zu sich kam, nahm er wahr, daß er von Leuten umgeben war, die ihn beobachteten. Sie warteten. Er richtete sich auf, und sein verschwommener Blick zeigte ihm Gruppen kleiner Gestalten. Aus dem undeutlichen Hintergrund löste sich eine hochgewachsene, beherrschende Gestalt, die sich zu ihm herabbückte.
»Flick?« rief er besorgt und rieb sich die Augen.
»Du bist nun in Sicherheit, Shea«, sagte die tiefe Stimme.
»Das ist der Anar.«
Shea blinzelte und versuchte aufzustehen, aber die große Hand hielt ihn zurück. Sein Blick wurde klar, und er sah neben sich die Gestalt seines ebenfalls erwachten Bruders.
Ringsum standen die gedrungenen, breiten Gestalten der Leute, die Shea sofort als Zwerge erkannte. Shea sah das markante Gesicht der Gestalt vor ihm und den schimmernden Kettenpanzer um Hand und Unterarm, und er wußte, daß die Reise zum Anar zu Ende war. Sie hatten Culhaven und Balinor gefunden.
Für Menion war der letzte Teil des Weges zum Anar nicht so einfach gewesen. Als ihm klargeworden war, daß er die beiden Brüder verloren hatte, war er in Panik geraten. Er hatte keine Angst um sich selbst, dafür aber umso mehr um die Ohmsfords, wenn sie allein versuchen mußten, aus dem Wald der Schwarzen Eichen herauszufinden. Auch er hatte immer wieder gerufen, war blind in der Dunkelheit herumgetappt und schließlich zu dem Schluß gekommen, daß es sinnlos war. Erschöpft war er weiter durch den Wald marschiert und hatte sich mit dem Gedanken getröstet, er werde die anderen schon wiederfinden, sobald es hell werde. Er brauchte länger, als er erwartet hatte, erreichte erst bei Tagesanbruch den Waldrand und sank wenige Meter weiter im Gras zusammen.
Seine Kräfte waren verbraucht, und der Schlaf überfiel ihn augenblicklich. Als er erwachte, schien es ihm, daß er sehr lange geschlafen hatte, aber das war ein Irrtum. Er brach wieder auf, und da er sich weit südlich glaubte, beschloß er, sich sofort nach Norden zu wenden und zu versuchen, die Spur seiner Freunde zu entdecken.
Hastig nahm er den Rucksack auf, schulterte den Bogen, schnallte das Schwert um und eilte in Richtung Norden. Die wenigen Stunden Tageslicht verrannen schnell, und es war schon fast dunkel, als er die ersten Anzeichen bemerkte, daß jemand zum Fluß unterwegs gewesen war. Die Spur war schon einige Stunden alt, und er sah, daß es mehr als eine Person gewesen sein mußte. Menion eilte weiter, und kurz, bevor die Sonne ganz hinter dem Horizont versank, entdeckte er östlich von sich eine Gestalt, welche die Richtung wechselte.
Menion rief den Mann an, der zu erschrecken schien und sich entfernen wollte. Menion hastete ihm nach und rief ihm zu, er wolle ihm nichts Böses. Nach einigen Minuten holte er den Mann ein, der sich als Hausierer erwies und Kochgerät an entlegen wohnende Familien verkaufte. Der Hausierer, arg erschrocken-, starrte den hochgewachsenen Hochländer entsetzt an. Menion beeilte sich, ihm zu versichern, daß er nur zwei Freunde suche, von denen er während der Wanderung durch die Schwarzen Eichen getrennt worden sei. Durch die Schwarzen Eichen!! Das war das Schlimmste überhaupt, was er dem Mann hätte sagen können, der nun endgültig davon überzeugt war, daß sein Gegenüber den Verstand verloren haben mußte. Menion überlegte, ob er sich als Prinz von Leah zu erkennen geben sollte, entschied sich aber dagegen. Der Hausierer erklärte schließlich, er habe zwei Wanderer, die der Beschreibung entsprächen, am Nachmittag in geraumer Entfernung gesehen. Menion wußte nicht, ob der Mann das nur sagte, weil er um sein Leben fürchtete und sich gut mit ihm; stellen wollte. Es blieb ihm aber nichts anderes übrig, als sich damit zufrieden zu geben, und er verabschiedete sich von dem kleinen Mann, der hastig das Weite suchte.
Menion mußte einsehen, daß es schon zu dunkel war, um der Fährte seiner Freunde noch zu folgen, und er hielt Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz. Er fand zwei Fichten, die den besten Schutz zu bieten schienen, und blickte zum klaren Nachthimmel hinauf. Das Licht reichte aus, um dem Wesen aus dem Nordland die Suche nach den Talbewohnern zu erleichtern, und er hoffte inbrünstig, seine Freunde möchten besonnen genug sein, sich ein gutes Versteck zu suchen. Er kroch unter die tiefhängenden Zweige und verschlang den Rest seiner Vorräte, dann wickelte er sich in seine Decke und schlief ein, das Schwert neben sich.
Am nächsten Tag erhob sich Menion mit einem neuen Plan.
Wenn er quer durch das Gelände nach Nordosten ging, würde er die Brüder leichter einholen können. Er war überzeugt davon, daß sie am Silberfluß entlang östlich zum Anar gehen würden, so daß sein Weg und der ihre sich weiter flussaufwärts treffen mußten. Menion gab also die Verfolgung der Fährte auf und lief nach Osten, pfiff vor sich hin und freute sich schon auf die Wiederbegegnung mit Shea und Flick.
Unterwegs dachte er über die Ereignisse der letzten Tage nach und versuchte ihre Bedeutung zu ergründen. Er wusste wenig von der Geschichte der Großen Kriege und der Herrschaft des Druiden-Rates, vom rätselhaften Erscheinen des sogenannten Dämonen-Lords und seiner Niederlage gegen die vereinigten Kräfte von drei Nationen. Am meisten störte ihn, daß er fast gar nichts über die Legende des Schwertes von Shannara wußte, jener Wunderwaffe, die seit so vielen Jahren ein Symbol für Freiheit durch Tapferkeit darstellte. Nun gebührte es einem unbekannten Waisenjungen, halb Mensch, halb Elf. Der Gedanke war so absurd, daß er sich Shea in dieser Rolle immer noch nicht vorstellen konnte. Er begriff instinktiv, daß im Bild noch etwas fehlte, etwas so Grundlegendes, daß die Freunde, ohne es zu kennen, das Rätsel des Schwertes nicht zu lösen vermochten.
Menion erkannte auch, daß er nicht allein um der Freundschaft willen an diesem Abenteuer teilnahm. In dieser Beziehung hatte Flick gewiß recht. Selbst jetzt konnte Menion nicht genau sagen, warum er sich zu dieser Reise hatte überreden lassen. Er wußte, daß sein Interesse für andere nicht tief genug reichte und er seine Mitmenschen nie hatte wirklich kennenlernen wollen. Er hatte sich nie bemüht, die wichtigen Probleme des gerechten Regierens in einer Gesellschaft zu verstehen, wo das Wort des Monarchen das einzige Gesetz war. Trotzdem spürte er, daß er sich im Grunde mit jedem messen konnte.
Das ebene, grasbewachsene Tiefland verwandelte sich in rauhes, unfruchtbares Gelände, das sich in kleine Hügel und tiefe, grabenartige Täler zerklüftete, so daß er nur noch langsam vorankam. Menion suchte besorgt nach ebenerem Terrain, aber selbst von den steilen Erhebungen aus konnte man nicht weit sehen. Er stapfte unbeirrt weiter, verfluchte jedoch innerlich seinen Entschluß, diese Richtung einzuschlagen.
Seine Gedanken irrten ab, aber plötzlich horchte er auf, als er eine menschliche Stimme vernahm. Er lauschte einige Sekunden lang angestrengt, hörte aber nichts weiter und schob es auf den Wind oder seine Einbildung. Kurz danach hörte er wieder Laute, und diesmal war es der klare Ton einer Frauenstimme, die irgendwo vor ihm leise sang. Er ging schneller und fragte sich, ob seine Ohren ihm einen Streich spielten, doch die Stimme wurde lauter und lauter. Bald erfüllten die verlockenden Töne ihres Gesangs die Luft in fröhlicher, beinahe wilder Hingabe, die in die innersten Tiefen des Hochländers drang und ihn aufrief, ihr zu folgen. Fast in Trance ging er weiter und lächelte breit über die Bilder, die das fröhliche Lied in ihm weckte. Nur nebenbei fragte er sich, was eine Frau in diesem tristen Land suchte, Meilen von jeder Zivilisation entfernt.
Auf dem Kamm einer Anhöhe, die andere Hügel überragte, sah Menion sie unter einem kleinen, verkrümmten Baum sitzen, dessen lange, knorrige Äste ihn an Weidenwurzeln erinnerten.
Sie war ein junges Mädchen, sehr schön und in diesen Gefilden offenbar zu Hause. Sie sang unbeirrt weiter, als er näher kam und sie anlächelte. Sie erwiderte das Lächeln, stand aber weder auf, noch begrüßte sie ihn. Menion blieb vor ihr stehen, aber sie winkte ihn heran und deutete auf den Boden, um zu zeigen, daß er sich zu ihr setzen solle. In diesem Augenblick zuckte in ihm ganz tief ein warnender Nerv. Ein sechster Sinn, der von ihrem Gesang noch nicht eingelullt war, regte sich und verlangte zu wissen, weshalb dieses junge Mädchen einen Fremden auffordern sollte, sich zu ihr zu setzen.
Es gab für sein Zögern keinen anderen Grund als vielleicht das eingewurzelte Mißtrauen, das der Jäger gegenüber allen Dingen empfindet, die in der Natur nicht am rechten Platz zu sein scheinen. Auf jeden Fall hielt der Hochländer inne. In diesem Augenblick löste das Mädchen sich in Rauch auf, und Menion starrte den seltsam verkrüppelten Baum an.
Er zögerte und blickte um sich. Plötzlich öffnete sich der lockere Boden zu seinen Füßen und gab einen dicken Klumpen dicker, knorriger Wurzeln frei, die sich schnell um seinen Knöchel schlangen und ihn festhielten. Menion taumelte zurück, bemüht, sich zu befreien. Für einen Augenblick kam ihm das Ganze beinahe lächerlich vor, aber sosehr er sich auch anstrengte, er kam von den Wurzeln nicht los. Er hob den Kopf und sah, wie der fremdartige Baum — eben noch unbeweglich — sich langsam streckte und auf ihn zu bewegte, die Äste nach ihm reckend, die an ihren Spitzen kleine, aber tödlich aussehende Nadeln trugen. Menion ließ seinen Rucksack und den Bogen fallen und riß das Schwert heraus, als er begriff, daß das Mädchen mit seinem Lied nur eine Illusion gewesen war, um ihn an den Baum zu locken. Er hieb kurz auf die Wurzeln ein und durchtrennte sie hier und dort, aber es ging langsam, weil sie sich so fest um seine Knöchel geschlungen hatten, daß er weit ausholende Hiebe nicht riskieren konnte. Er geriet in Panik, als ihm klar wurde, daß er sich nicht rechtzeitig würde befreien können; er kämpfte das Gefühl aber nieder und schrie seinen Trotz gegen die Pflanze hinaus, die ihn fast schon erreicht hatte. Er holte mit dem Schwert wütend aus, durchtrennte eine Anzahl der zugreifenden Arme, und der Baum zog sich schaudernd ein Stück zurück. Menion wußte, daß er beim nächsten Angriff das Nervenzentrum treffen mußte, wenn er dem Baum den Garaus machen wollte. Aber die unheimliche Pflanze hatte andere Pläne; sie stieß die Arme einzeln vor und besprühte Menion mit den Nadeln. Viele verfehlten ihn, andere prallten harmlos von dem dicken Rock und seinen Stiefeln ab, aber dritte trafen die bloßen Hände und den Kopf und blieben stecken. Menion versuchte sie abzustreifen, während er weiteren Überfällen zu entgehen bemüht war, aber die kleinen Nadeln brachen ab und ließen ihre Spitzen in seiner Haut zurück.
Er spürte eine schleichende Schläfrigkeit und Betäubung in seinen Nerven. Er begriff sofort, daß die Nadeln eine Droge enthielten, die das Opfer des Baumes einschläfern sollten, damit es ihm zur leichten Beute wurde. Wild kämpfte er gegen die Lähmung an, sank aber bald hilflos auf die Knie, unfähig, sich zu wehren. Er wußte, daß der Baum gesiegt hatte.
Aber unfaßbarerweise schien der tödliche Baum zu zögern und dann langsam zurückzuweichen. Hinter Menion wurden Schritte laut. Er konnte den Kopf nicht wenden, um zu sehen, wer sich näherte. Eine tiefe Baßstimme warnte ihn auch davor, sich zu bewegen. Der Baum schien zum Angriff auszuholen, aber kurz bevor er wieder seine tödlichen Nadeln abfeuerte, wurde er von einer schweren Keule getroffen, die über die Schulter Menions flog. Der Baum wurde von dem mächtigen Hieb umgeworfen. Offenkundig verletzt, raffte er sich auf, um weiterzukämpfen. Hinter sich hörte Menion das Sirren einer Bogensehne, und ein langer, schwarzer Pfeil grub sich tief in den dicken Stamm des Baumes. Augenblicklich lockerten die Wurzeln um Menions Füße ihren Griff, zogen sich in die Erde zurück, und der Baum erbebte heftig, schwenkte die Äste und schleuderte seine Nadeln in alle Richtungen. Augenblicke später sank er langsam zu Boden und erschlaffte.
Von der Droge noch immer schwer betäubt, spürte Menion, wie die starken Hände seines Retters seine Schultern packten und ihn auf den Boden legten, während ein breites Jagdmesser die letzten Stränge um seine Füße zertrennte. Die Gestalt vor ihm war ein kräftig gebauter Zwerg, in grüner und brauner Waldbewohnerkleidung. Er war groß für einen Zwerg, etwas über fünf Fuß, und hatte ein kleines Waffenarsenal um seine Hüften gebunden. Er sah auf den betäubten Menion hinunter und schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Ihr müßt ein Fremder sein, um so etwas Dummes zu tun«, rügte er mit einer überraschend tiefen Baßstimme. »Niemand, der bei Verstand ist, läßt sich mit den Sirenen ein.«
»Ich komme von Leah... im Westen«, stieß Menion gepresst hervor.
»Ein Hochländer — hätte ich mir denken können.« Der Zwerg lachte auf. »Nun, keine Angst, in ein paar Tagen seid Ihr wieder ganz gesund. Die Droge kann Euch nichts anhaben, wenn wir Euch behandeln, aber Ihr werdet eine Weile nicht bei Besinnung sein.« Er lachte wieder und holte seine Streitkeule. Menion packte ihn mit letzter Kraft am Rock.
»Ich muß zum... Anar... Culhaven«, ächzte er. »Bringt mich zu Balinor...«
Der Zwerg sah ihn scharf an, aber Menion hatte schon das Bewußtsein verloren. Der Zwerg murmelte vor sich hin und hob die Waffen auf. Dann hob er mit erstaunlicher Kraft Menion auf seine breiten Schultern und begann, unablässig vor sich hinmurmelnd, auf die Wälder des Anar zuzustapfen.