19

Die drei seltsamen Weggenossen zogen nordwärts durch das rauhe Hügelland, bis sie mittags kurz Rast machten, um ein paar Bissen zu essen. Das Gelände war unverändert geblieben, eine Aneinanderreihung schroffer Erhebungen und tiefer Senken, die das Fortkommen beträchtlich erschwerten. Selbst der bärenstarke Keltset mußte mit den beiden anderen zusammen klettern und hinabrutschen, ohne ebenen Boden zu finden, auf dem aufrechtes Gehen möglich gewesen wäre. Das Land war nicht nur bucklig und mißgestaltet, sondern auch ziemlich unfruchtbar und trostlos. Die Hügel waren grasbewachsen und von Büschen und kleinen Bäumen bepflanzt, wirkten aber einsam und verwildert.

Das Gras war ein hohes, peitschenartiges Kraut von solcher Zähigkeit, daß es mit schmerzender Kraft an die Hosenbeine der Männer schlug. Wenn es von den schweren Stiefeln niedergetreten wurde, richtete es sich Sekunden später wieder auf. Shea schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und konnte nirgends erkennen, daß hier schon andere Leute durchgekommen waren. Die verstreut stehenden Bäume waren knorrig und verkrümmt, voll kleiner Blätter, aber sie wirkten wie Stiefkinder der Natur, verkümmert schon von Geburt an. Von Tieren oder Vögeln war keine Spur zu sehen, und seit der Morgendämmerung war den drei Männern kein anderes Lebewesen begegnet.

Es mangelte jedoch nicht an Gesprächsstoff. Einige Male wünschte Shea sich sogar, Panamon Creel möge seiner eigenen Stimme überdrüssig werden und schweigen. Der hochgewachsene Dieb sprach beinahe unaufhörlich mit seinen Begleitern, mit sich selbst und bei Gelegenheit mit niemandem. Er sprach über alles mögliche, auch über viele Dinge, von denen er offenkundig nichts verstand. Das einzige Thema, das er bewußt mied, war Shea selbst. Er tat so, als sei der junge Mann ein Spießgeselle, ein Komplice, mit dem er offen über seine Erlebnisse sprechen konnte. Er vermied es aber sorgfältig, über Sheas Herkunft, die Elfensteine oder das Ziel der Reise zu sprechen. Anscheinend hielt er es für das Beste, den lästigen Talbewohner so schnell wie möglich nach Paranor zu bringen und dann das Weite zu suchen.

Shea hatte keine Ahnung, wohin die beiden vorher gewollt hatten.

Vielleicht waren sie sich darüber selbst nicht im klaren gewesen.

Die Situation war schwierig genug, dachte er; die Diebe wußten so gut wie er, daß er versuchen würde, ihnen die Steine wieder abzunehmen. Fraglich war nur noch die Art und Weise.

Gelegentlich warf Shea einen Blick auf den stummen Berg-Troll und fragte sich, was für eine Person hinter dem ausdruckslosen Äußeren verborgen sein mochte. Der Troll zeigte eine Haltung von unbestreitbarer Würde, und in den tiefliegenden Augen funkelte eine Intelligenz, die Shea zu der Ansicht gelangen ließ, daß Keltset weitaus vielschichtiger sein mochte, als sein Begleiter annahm oder zumindest bekundet hatte. Wie bei Allanon hatte Shea das Gefühl, daß Panamon Creel ihm nicht die ganze Wahrheit verraten hatte. Aber im Gegensatz zu dem Druiden war der Dieb wohl ein Lügner, bei dem man kaum etwas für bare Münze nehmen durfte. Allerdings wurde Shea auch nicht das Gefühl los, daß der Scharlachrote mehr sein mochte als ein simpler Straßenräuber.

Sie brachten das Mittagsmahl schnell hinter sich. Während Keltset ihr Kochgerät einpackte, erklärte Panamon Shea, daß sie nicht mehr weit vom Jannisson-Paß an der Nordgrenze des Hügellandes entfernt seien. Nach dem Paß würden sie die Ebenen von Streleheim durchqueren, um in westlicher Richtung nach Paranor zu gelangen. Dort würden sie sich trennen, betonte der Dieb, und Shea könne sich mit seinen Freunden vereinigen oder zur Druidenfestung gehen, ganz nach Belieben. Shea nickte stumm und räumte seine Sachen zusammen. Sie marschierten weiter zu den niedrigen Bergen, die vor ihnen auftauchten. Shea war überzeugt davon daß das ferne Gebirge zur Linken ein Ausläufer der Drachenzähne war, aber die Bergkette hatte ein gänzlich anderes Aussehen, und zwischen den beiden Gebirgszügen mußte der Jannisson-Paß liegen. Sie waren dem Nordland sehr nah gekommen, und für Shea gab es keine Umkehr.

Panamon Creel erzählte wieder ausführlich von seinen Abenteuern.

Seltsamerweise erwähnte er Keltset dabei kaum, ein weiterer Hinweis für Shea, daß der Räuber weniger über den Berg-Troll wußte, als er vorgab. Shea gewann langsam den Eindruck, daß der Troll für den Scharlachroten ein ebensolches Rätsel war wie für ihn. Der Troll war Shea zwar vorher wie ein hundeähnlicher Begleiter des Diebes erschienen, aber bei näherer Betrachtung gewann Shea den Eindruck, daß er aus ganz anderen Gründen mit dem Scharlachroten unterwegs war. Shea rätselte über die stolze Haltung und distanzierte Art des Trolls. Keltset hatte die Gnomen schnell und rücksichtslos niedergemacht, aber im Rückblick sah es ganz so aus, als habe er das getan, weil es sein mußte - nicht, um seinen Begleiter zu befriedigen oder die Steine in seinen Besitz zu bringen. Shea vermochte nicht zu erkennen, was Keltset in Wirklichkeit sein mochte, aber ganz gewiß war er kein unterdrückter, ausgestoßener Einzelgänger.

Der Tag war besonders warm, und Shea begann heftig zu schwitzen. Das Gelände wurde keineswegs ebener, und es war mühsame, langwierige Arbeit, die Höhen zu überwinden. Panamon redete fast ununterbrochen und lachte und scherzte mit Shea, als seien sie alte Freunde. Shea hörte sich pflichtgetreu die Geschichten über Panamons Frauen an, worunter auch eine schöne Königstochter gewesen sein sollte, die der Räuber nur verloren hatte, weil ihr Vater dazwischengetreten war und sie in ein fernes Land geschickt hatte. Shea seufzte mitleidig, aber lachte innerlich, als Panamon behauptete, er sei noch immer auf der Suche nach ihr.

Etwa zwei Stunden später erreichten sie den Paß, eine Lücke zwischen den zwei Bergzügen, breit und leicht zugänglich. Shea wußte, daß das Charnal-Gebirge, die Heimat der Berg-Trolle, nördlich von ihnen lag und die rechte Bergkette ein Ausläufer davon sein mußte. Die trostlosen und nahezu unerforschten Gipfel waren seit Jahrhunderten eine riesige Wildnis, bewohnt allein von den grimmigen und kriegerischen Trollen. Die Berg-Trolle waren die größte Gattung dieser Art, und es gab noch mehrere andere, die in diesem Teil des Nordlandes lebten. Wenn Keltset zu den Berg-Trollen gehörte, vermutete Shea, daß sie intelligenter sein mußten, als die Südländer annahmen. Es erschien ihm seltsam, daß seine eigenen Landsleute so wenig über eine andere Rasse wußten, die ihre Welt mit bewohnte. Selbst die Schulbücher hatten die Trolle als unwissende und unzivilisierte Völker bezeichnet.

Panamon gebot am Zugang zum breiten Paß Halt und ging einige Schritte voraus, wachsam auf die hohen Hänge zu beiden Seiten blickend. Nach einigen Minuten schickte er Keltset voraus.

Der Riesentroll setzte sich in Bewegung und verschwand zwischen den Felsen. Panamon schlug Shea vor, sich zu setzen, und lächelte selbstzufrieden angesichts seiner Schlauheit, die ihn hieß, eine mögliche Falle von Sheas Freunden rechtzeitig auszumachen.

Redselig begann der Scharlachrote, von einem neuen Abenteuer zu erzählen, das Shea wie die anderen unglaublich und maßlos übertrieben fand. Er dachte an seine Freunde, die er schnell würde finden müssen, wenn er hoffen wollte, in diesem Gebiet zu überleben. Der Dämonen-Lord und seine Gehilfen würden überall nach ihm suchen, und wenn sie ihn entdeckten, bevor er bei Allanon und den anderen Zuflucht gefunden hatte, war sein Tod gewiß. Immerhin, es bestand die Möglichkeit, daß sie inzwischen die Druidenfestung eingenommen und das kostbare Schwert von Shannara an sich gebracht hatten.

Keltset tauchte plötzlich im Paß auf und winkte ihnen. Sie eilten zu ihm und gingen mit ihm weiter. Es gab im Paß wenig Deckung, die einen Hinterhalt ermöglicht hätte, und sie sahen bald, daß an dieser Stelle wohl kaum Gefahr drohte. Die drei Wanderer brauchten fast eine Stunde, um den langgezogenen Paß zu überwinden, aber der Weg war angenehm, und die Zeit verging schnell. Als sie das nördliche Ende erreichten, sahen sie Ebenen weit hinausreichen und dahinter wieder eine Bergkette aufragen, die nach Westen zu verlaufen schien. Sie marschierten hinaus auf das ebene Gelände, das auf drei Seiten von Bergen und Wäldern umgeben war und sich nach Osten öffnete. Die Ebene war bewachsen mit einem dünnen, hellgrünen Gras, das in zottigen Büscheln aus der trockenen Erde ragte. Es gab kleine Gebüsche, alle nur kniehoch für Shea, dürre und krumme Gewächse. Anscheinend wurden die Ebenen sogar im Frühling nicht saftig grün, und es existierte hier wenig Leben.

Shea wußte, daß sie sich ihrem Ziel näherten, als Panamon die kleine Gruppe nach Westen führte, einige hundert Meter nördlich des Waldes und Gebirges zu ihrer Linken, um gegen Überraschungsangriffe gesichert zu sein. Als Shea den Scharlach-roten fragte, wo Paranor liege, lächelte der Dieb nur und sagte, sie kämen immer näher darauf zu. Shea gab es auf, Fragen zu stellen, und betrachtete stattdessen seine Umgebung, die für ihn eine ganz neue Welt darstellte. Er hatte zwar Angst um sein Leben, war aber entschlossen, sich nichts entgehen zu lassen. Das war die fabelhafte Odyssee, von der Flick und er früher immer geträumt hatten.

Bis es Spätnachmittag wurde, schwitzten alle drei stark, und die Laune wurde in der unbarmherzigen Hitze immer schlechter.

Keltset schritt ein wenig abseits von den anderen dahin, das plumpe Gesicht ausdruckslos. Panamon war verstummt und schien nur noch darauf bedacht zu sein, den Weg hinter sich zu bringen und Shea loszuwerden, den er als Bürde zu betrachten begonnen hatte. Shea war müde und litt an Schmerzen. Die drei Männer gingen geradewegs der Sonne entgegen, ungeschützt im freien Gelände, die Augen zusammengekniffen vor dem grellen Glanz. Es wurde immer schwerer, das Land vor sich zu erkennen, als die Sonne zum westlichen Horizont hinab sank, und Shea gab es schließlich auf und verließ sich auf Panamons Geschicklichkeit, sie nach Paranor zu bringen. Die Wanderer näherten sich dem Ende der Bergkette rechts auf der Nordseite, und wo die Berge aufhörten, schien die Ebene sich in eine unendliche Weite zu öffnen. Sie war so riesig, daß Shea den Horizont sehen konnte, wo der Himmel die vertrocknete Erde berührte. Als er schließlich fragte, ob das die Ebenen von Streleheim seien, schwieg Panamon, nickte dann aber kurz.

Sie verließen das auf drei Seiten eingeschlossene Tal und gingen hinaus auf den Ostteil der Streleheim-Ebenen, eine weite, flache Landschaft, die sich nach Norden und Westen erstreckte.

Das Land vor ihnen, parallel zu den Felswänden und Wäldern zu ihrer Linken, war überraschend hügelig. Vom Tal aus war das nicht wahrzunehmen, man sah es erst, wenn man die Gegend selbst erreichte. Es gab sogar kleine Baumhaine und Gebüsch, und... noch etwas anderes, dem Land Fremdes. Alle drei Wanderer entdeckten es gleichzeitig, und Panamon gebot abrupt Halt, um argwöhnisch in die Ferne zu starren. Shea kniff die Augen zusammen und beschattete sie mit der Hand. Er sah eine Reihe seltsamer Stangen in der Erde, und auf mehrere hundert Meter in alle Richtungen verstreut Haufen von farbigem Stoff und glänzenden Metall- oder Glasstücken. Er konnte kaum die Bewegung einer Anzahl kleiner, schwarzer Objekte zwischen und an den Haufen ausmachen. Schließlich rief Panamon laut diejenigen an, die vor ihnen waren. Zu ihrem Schrecken rauschten rabenschwarze Schwingen, begleitet von dem gräßlichen Gekreisch gestörter Aasfresser, als die schwarzen Objekte sich plötzlich in riesige Geier verwandelten, die langsam und widerwillig emporschwebten und davonflatterten. Panamon und Shea blieben vor Verwunderung wie angewurzelt stehen, während Keltset ein Stück vorausging. Nach kurzer Zeit kam er zurück und winkte seinem Begleiter. Der Scharlachrote nickte.

»Es hat einen Kampf gegeben«, sagte er. »Da vorne liegen Tote!«

Die drei Männer schritten auf den Kampfplatz zu. Shea blieb ein wenig zurück, aus Angst, die regungslosen Gestalten könnten seine Freunde sein. Die seltsamen Stangen wurden endlich erkennbar: es waren Lanzen und Fahnenstangen. Die glänzenden Teile waren die Klingen von Schwertern und Messern, manche von Flüchtenden weggeworfen, andere noch von den Händen der Toten umklammert. Aus den Kleiderbündeln wurden Männer, blutdurchtränkte Leichname, die regungslos in der glühenden Sonne lagen. Shea würgte es, als der Leichengestank zu ihm drang und er die Fliegen surren hörte. Panamon schaute sich um und lächelte grimmig. Er wußte, daß der Talbewohner den Tod aus solcher Nähe noch nie gesehen hatte.

Shea kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an und zwang sich, die anderen zum Schlachtfeld zu begleiten. Mehrere hundert Leichen lagen dort am Boden. Nirgends war eine Bewegung zu erkennen; hier gab es nur Tote. Man hatte keinen Pardon gegeben und keinen erwartet. Ein langer, erbitterter Kampf bis zum Ende. Er erkannte sofort die Gnomen-Standarten, und auch die gelblichen Leiber waren leicht unterscheidbar. Erst als er sich jedoch einige der Leichname näher angesehen hatte, entdeckte er, daß ihre Gegner Elfensoldaten gewesen waren.

Panamon blieb in der Mitte des Feldes stehen. Shea starrte die Szene voll Grausen an, und sein Blick glitt fassungslos von einem Leichnam zum anderen, von Gnom zu Elf. In diesem Augenblick wußte er, was der Tod wirklich bedeutete, und er wurde von Angst übermannt. Da war nichts von Abenteuer, nichts von Wahlfreiheit und Hingabe, sondern nichts als Ekel und Entsetzen.

Alle diese Männer waren für eine sinnlose Sache gestorben, vielleicht, ohne je zu wissen, wofür sie gekämpft hatten. Nichts war es wert, ein solches Gemetzel zu veranstalten - gar nichts.

Eine plötzliche Bewegung Keltsets veranlaßte ihn, wieder auf seine Begleiter zu achten, und er sah, daß der Troll eine Standarte aufhob. Die Flagge war zerfetzt, die Stange abgebrochen. Auf der Flagge war eine Krone über einem Baumwipfel zu sehen, umgeben von einem Kranz aus gewundenen Zweigen. Keltset wirkte erregt und gestikulierte heftig mit Panamon. Der andere zog die Brauen zusammen und sah sich hastig die Gesichter der in der Nähe liegenden Toten an. Keltset schaute sich sorgenvoll um, und seine Augen richteten sich auf Shea. Augenblicke danach kam Panamon zurück, mit grimmiger Miene.

»Wir haben hier ernsthafte Probleme, Freund Shea«, sagte er.

»Die Standarte ist das Banner des königlichen Elfenhauses Elessedil - Eventines persönliche Fahne. Ich kann seine Leiche unter den Toten nicht finden, aber das beruhigt mich nicht.

Wenn dem Elfenkönig etwas zugestoßen ist, könnte das zu einem Krieg von unfaßbaren Ausmaßen führen. Das ganze Land wird in Flammen aufgehen!«

»Eventine!« entfuhr es Shea. »Er schützte die Nordgrenzen von Paranor für den Fall,..« Shea verstummte plötzlich, aus Angst, sich verraten zu haben, aber Panamon Creel hatte weiter gesprochen und anscheinend nichts gehört.

»Das ergibt keinen Sinn - Gnomen und Elfen im Kampf hier in der Wildnis. Was kann Eventine so weit von seinem Land fortgeführt haben? Es muß um etwas Besonderes gegangen sein.

Ich kann nicht ver-« Er brach plötzlich ab und starrte Shea an.

»Was hast du eben gesagt? Was war das mit Eventine?«

»Nichts«, stammelte Shea. »Ich habe nichts...«

Der hochgewachsene Räuber packte Shea am Rock und zog ihn mit einem Ruck zu sich heran.

»Versuch nicht, mir etwas vorzumachen, kleiner Mann!« fauchte der Scharlachrote. »Du weißt etwas - heraus damit! Ich habe mir schon die ganze Zeit gedacht, daß du mehr über die Steine und den Anlaß für die Gnomen, dich einzufangen, gewußt hast, als du zugeben wolltest. Jetzt ist Schluß mit diesen Heimlichkeiten! Heraus damit!«

Aber Shea erfuhr nie, wie er geantwortet hätte. Während er hilflos im Griff des starken Räubers zappelte, fiel plötzlich ein riesiger, schwarzer Schatten über sie und fegte mit einem machtvollen Rauschen weiter, als ein monströses Wesen vom Himmel herabstieß. Entsetzt riß Shea die Augen auf. Panamon Creel, noch immer zornig, aber nun auch verwirrt, ließ Shea los und drehte sich dem fremdartigen Wesen zu. Shea stand auf schwankenden Beinen, das Blut zu Eis erstarrt. Das Wesen war einer der furchtbaren Schädelträger des Dämonen-Lords. Es blieb keine Zeit mehr zur Flucht; sie hatten ihn endlich gefunden.

Die grausamen roten Augen des Wesens huschten über den Troll, der regungslos an seinem Platz stand, richteten sich kurz auf den scharlachroten Dieb und erreichten endlich den kleinen Talbewohner, saugten sich in ihn hinein, erforschten seine wirren Gedanken. Panamon Creel starrte verwirrt auf das Ungeheuer, geriet aber keineswegs in Panik. Er wandte sich dem bösartigen Wesen ganz zu und begann grimmig zu grinsen, während er einen Arm hob.

»Was für ein Wesen du auch sein magst, bleib mir vom Leib«, sagte er scharf. »Es geht allein um diesen Mann hier und nicht...«

Die glühenden Augen richteten sich haßerfüllt auf ihn, und er konnte plötzlich nicht weitersprechen. Er starrte das schwarze Wesen entsetzt und überrascht an.

»Wo ist das Schwert, Sterblicher?« krächzte die Stimme drohend.

»Ich spüre seine Gegenwart! Gib es mir!«

Panamon Creel glotzte das schwarze Monstrum verständnislos an, dann warf er einen Blick auf das angstvolle Gesicht Sheas.

Zum ersten Mal wurde ihm klar, daß die gräßliche Kreatur aus irgendeinem Grund der Feind des Talbewohners war.

»Es ist nutzlos, zu bestreiten, daß du es hast!« zischte die Stimme. »Ich weiß, daß es hier unter euch ist, und ich muß es haben. Es ist aussichtslos, sich gegen mich zu wehren. Euer Kampf ist zu Ende. Der letzte Erbe des Schwertes ist längst gefaßt und vernichtet. Ihr müßt mir das Schwert geben!«

Panamon war sprachlos. Er wußte nicht, wovon das schwarze Ungeheuer sprach, begriff aber, daß es keinen Sinn hatte, ihm das klarmachen zu wollen. Das geflügelte Monster war entschlossen, sie alle zu töten, und für Erklärungen blieb keine Zeit mehr. Der Räuber hob die linke Hand und fuhr mit dem Eisenhaken über seinen Schnurrbart. Er lächelte tapfer und warf einen kurzen Blick auf seinen riesenhaften Begleiter. Sie wußten beide instinktiv, daß das ein Kampf bis auf den Tod werden würde.

»Seid nicht töricht, Sterbliche!« krächzte das Wesen. »Ihr kümmert mich nicht - nur das Schwert. Ich kann euch leicht vernichten - selbst bei Tag.«

Plötzlich entdeckte Shea einen Hoffnungsschimmer. Allanon hatte einmal gesagt, die Macht der Schädelträger lasse mit dem Licht des Tages nach. Vielleicht waren sie nicht unbesiegbar, wenn die Sonne schien. Vielleicht hatten die beiden kampferfahrenen Räuber eine Chance. Aber wie konnten sie hoffen, etwas zu töten, das nicht sterblich war, sondern nur der Geist eines Toten, ein Gespenst, in physischer Form verkörpert? Augenblicke lang regte sich nichts, dann trat das Wesen plötzlich einen Schritt vor. Panamon riß sofort sein Breitschwert heraus und duckte sich. Keltset trat gleichzeitig einige Schritte vor, von einer regungslosen Statue zu einer Kampfmaschine mit eisernen Muskeln geworden, den schweren Streitkolben in der Hand, die mächtigen Beine gespreizt. Der Schädelträger zögerte, und seine glühenden Augen richteten sich auf den näherkommenden Troll.

Plötzlich wurden die blutroten Augen aufgerissen.

»Keltset!«Nur ein kurzer Augenblick blieb zu überlegen, woher der Schädelträger den stummen Riesen kennen mochte - der Bruchteil einer Sekunde entgeisterter Ungläubigkeit in den Augen des Wesens, die Fassungslosigkeit im Blick Panamon Creels widerspiegelnd, dann griff der riesige Troll mit ungeheurer Geschwindigkeit an. Der Streitkolben flog durch die Luft, geschleudert von Keltsets mächtigem Arm, und traf das Wesen krachend an der Brust. Panamon sprang bereits vor, Eisenhaken und Schwert sausten nieder. Doch das tödliche Nordlandwesen war nicht so leicht zu besiegen. Es erholte sich von dem Schlag mit dem Streitkolben, wehrte Panamons Waffen mit einer Klauenhand ab und stieß den Mann zu Boden. Im nächsten Augenblick begannen die glühenden Augen zu schwelen, und Blitze von sengendem rotem Licht schössen auf den betäubten Dieb zu. Er rollte sich blitzschnell zur Seite, und die Blitze streiften ihn nur, versengten seinen scharlachroten Rock und warfen ihn nieder, als er sich aufraffen wollte. Bevor aber der Angreifer ein zweitesmal seine Blitzstrahlen abfeuern konnte, hatte Keltset sich auf ihn gestürzt.

Selbst das geflügelte Ungeheuer wirkte neben der Riesengestalt des Berg-Trolls klein. Die beiden rollten in unbarmherzigem Kampf über den Boden. Panamon lag immer noch auf den Knien und schüttelte betäubt den Kopf. Shea begriff, daß er etwas tun mußte, lief zu ihm und packte verzweifelt einen Arm.

»Die Steine!« flehte er wild. »Gebt mir die Steine, und ich kann helfen!«

Das zerschundene Gesicht wandte sich ihm zu, aber die Augen leuchteten zornig auf, und Panamon stieß den Talbewohner weg.

»Sei still und halte dich fern!« brüllte er, als er schwankend aufstand. »Keine Tricks, Freund! Bleib, wo du bist!«

Er packte sein Schwert und kam seinem Begleiter zu Hilfe, der vergeblich versuchte, den Schädelträger entscheidend zu treffen.

Lange Minuten wogte der Kampf der drei hin und her, über den stillen Leichen der gefallenen Gnomen und Elfen. Panamon war bei weitem nicht so stark wie die beiden anderen, aber sehr schnell und beweglich. Er vermochte jedes Mal auszuweichen, wenn die rötlichen Blitze auf ihn zuzuckten. Die unglaubliche Stärke Keltsets erwies sich sogar der des schwarzen Ungeheuers ebenbürtig, und das böse Wesen schien in Verzweiflung zu geraten.

Die rauhe Trollhaut war an vielen Stellen versengt und verbrannt, aber der Riese schüttelte die Blitze nur ab und kämpfte weiter. Shea hätte gern geholfen, aber an Größe und Kraft war er weit unterlegen, und seine Waffen hätten gegen das Ungeheuer nichts auszurichten vermocht. Wenn er nur die Steine an sich hätte bringen können...

Endlich ermüdeten auch die beiden Männer unter den unaufhörlichen Attacken des Geisterwesens. Ihre Hiebe hatten keine langanhaltende Wirkung, und sie begriffen langsam, daß menschliche Kraft allein den Angreifer nicht vernichten konnte.

Sie begannen zu unterliegen. Plötzlich stolperte Keltset und stürzte auf ein Knie. Das Schädelwesen schlug sofort zu und schlitzte dem schutzlosen Troll vom Hals bis zur Hüfte die Haut auf. Keltset stürzte zu Boden. Panamon schrie vor Wut auf und hieb wild auf das Wesen ein, aber seine Schläge wurden abgewehrt, und in seiner Hast vergaß er, sich zu decken. Der Bote des Dämonen-Lords schlug die Hakenhand des Diebs weg, und die tödlichen Blitze fauchten durch die Brust Panamons, daß er bewußtlos zusammensank. Der Schädelträger hätte ihn an Ort und Stelle getötet, wenn Shea nicht eine abgebrochene Lanze gepackt und sie in das Gesicht des Ungeheuers gerammt hätte. Die Klauenhände wurden zu spät emporgerissen, um den schmerzhaften Hieb abzuwehren, und preßten sich stattdessen auf das schwarze Gesicht. Panamon lag noch immer regungslos am Boden, aber Keltset war wieder auf den Beinen und packte das Wesen mit eisernem Griff.

Es blieben nur Sekunden, bevor das Monstrum sich wieder befreit hatte. Shea hetzte auf Panamon Creel zu und schrie, er solle aufstehen. Der Dieb bemühte sich mit unmenschlicher Kraft, sank aber geblendet und erschöpft zurück. Shea schüttelte ihn. »Nur die Steine könnten noch helfen!« schrie er. Das sei ihre einzige Chance, zu überleben! Er schaute sich nach den beiden Kämpfenden um und entdeckte zu seinem Entsetzen, daß Keltsets Griff sich zu lockern begann. In wenigen Augenblicken würde sich das Wesen befreit haben, und alles würde vorbei sein.

Da wurde ihm plötzlich von Panamons blutiger Faust der Lederbeutel mit den Steinen in die Hand gedrückt.

Shea riß die Verschnürung auf und schüttelte die drei Steine auf seine Handfläche. In diesem Augenblick riß sich der Schädelträger von Keltset los und wollte dem Kampf ein Ende machen.

Shea kreischte wild und hielt dem Monster die Steine entgegen, flehte ihre fremdartige Macht an, ihm zu helfen. Der blendende, blaue Glanz breitete sich aus, gerade als das Wesen sich herumdrehte.

Zu spät sah der Schädelträger den Sohn von Shannara die Macht der Steine zum Leben erwecken. Zu spät richtete er den glühenden Blick auf den Talbewohner und ließ die roten Lichtblitze hinauszucken. Das mächtige blaue Licht wehrte die Attacke ab und schoß als ungeheurer Energiestrom auf die geduckte schwarze Gestalt zu. Das Licht traf das Schädelwesen mit zischendem Laut, hielt es fest und leerte den schwarzen Geist aus der sterblichen Hülle, während das Ungeheuer qualvoll aufschrie und sich wand. Keltset sprang auf, griff nach einer Lanze und stieß sie mit aller Kraft durch den Rücken des Schädelträgers.

Das Nordlandwesen erbebte, warf sich mit einem gellenden Laut herum und sank zur Erde, während der schwarze Leib sich in Staub auflöste. Sekunden später war er verschwunden, und nur ein kleines Häufchen schwarzer Asche blieb zurück. Shea stand regungslos, die Steine ausgestreckt, deren blaues Licht noch immer auf den Staub gerichtet war. Dann zuckte der Staub noch einmal auf, und aus der Mitte erhob sich eine dünne, schwarze Wolke, die emporfegte wie ein dünner Rauchfaden und in der Luft verschwand. Das blaue Licht erlosch schlagartig, der Kampf war vorbei, die drei Sterblichen standen wie Statuen in der Stille und Leere des blutigen Schlachtfeldes.

Lange Sekunden regte sich keiner. Shea und Keltset starrten auf das kleine Aschenhäufchen, als befürchteten sie, es könnte wieder zum Leben erwachen. Panamon Creel lag auf den Knien und versuchte vergeblich zu erfassen, was geschehen war.

Schließlich trat Keltset vor und fuhr mit der Stiefelspitze in die Asche des Schädel-trägers. Shea sah ihm zu und steckte mechanisch die drei Elfensteine in den Lederbeutel, bevor er ihn in seinem Rock verwahrte. Als ihm plötzlich Panamon einfiel, drehte er sich hastig um, aber der Südländer richtete sich bereits auf und sah den Talbewohner mit seinen braunen Augen verwundert an.

Keltset eilte herbei und half seinem Begleiter hoch. Panamon war angesengt und verwundet, er schien sich aber nichts gebrochen zu haben. Er schüttelte Keltsets Arm ab und wankte auf Shea zu.

»Ich hatte also recht mit dir«, knurrte er und schüttelte den Kopf. »Du hast viel mehr gewußt, als du sagen wolltest - vor allem, was die Steine angeht. Warum hast du mir nicht gleich die Wahrheit gesagt?«

»Ihr wolltet ja nicht hören«, sagte Shea schnell. »Außerdem habt Ihr mir die Wahrheit auch nicht gesagt, über Euch so wenig wie über Keltset.« Er warf einen Blick auf den Troll-Riesen. »Ich glaube, Ihr wißt nicht sehr viel über ihn.«

Das zerschundene Gesicht starrte Shea ungläubig an, dann begann es zu grinsen.

»Du magst recht haben«, sagte Panamon Creel unerwartet.

»Ich gelange langsam auch zu der Meinung, daß ich nichts über ihn weiß.« Er begann zu lachen, sah den Berg-Troll scharf an und wandte sich Shea wieder zu. »Du hast uns das Leben gerettet, Shea, und das können wir nie wieder gutmachen. Aber ich möchte damit beginnen, daß ich dir sage, die Steine gehören dir.

Ich werde nie mehr darüber streiten. Mehr noch, du hast mein Versprechen, daß mein Schwert und meine Geschicklichkeit, so weit vorhanden, dir zu Diensten stehen, sollte die Notwendigkeit sich je noch einmal ergeben.« Er holte tief Luft und schwankte. Shea wollte ihm zu Hilfe kommen, aber der hochgewachsene Dieb schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir werden gute Freunde, Shea«, murmelte er. »Das können wir aber nicht sein, wenn wir voreinander etwas verbergen. Ich meine, du schuldest mir eine Erklärung, was die Steine betrifft, ebenso das Wesen, das meine ruhmreiche Laufbahn beinahe beendet hätte, und das verflixte Schwert, von dem ich nie etwas gehört habe.

Dafür werde ich dir reinen Wein über ein paar, äh, Mißverständnisse einschenken, was Keltset und mich angeht. Bist du einverstanden?«

Shea sah ihn argwöhnisch an und runzelte die Stirn, nickte aber dann und lächelte sogar schwach.

»Brav, Shea«, lobte Panamon und schlug dem Talbewohner auf die schmale Schulter. Im nächsten Augenblick brach der scharlachrote Mann zusammen, geschwächt vom Blutverlust und der Überanstrengung. Die anderen beiden sprangen ihm bei, und trotz seiner Behauptung, mit ihm sei alles in Ordnung, zwangen sie ihn, liegen zu bleiben, während Keltset ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht abwischte. Shea war verwundert über die schnelle Verwandlung des Troll-Riesen von einer Kampfmaschine in einen sanften, ruhigen Pfleger. Er hatte etwas ganz Besonderes an sich, und Shea war überzeugt davon, daß Keltset im Zusammenhang stand mit dem Dämonen-Lord und der Suche nach dem Schwert von Shannara. Es war kein Zufall gewesen, daß der Schädelträger den Troll gekannt hatte. Die beiden waren einander schon vorher begegnet und hatten sich nicht in Freundschaft getrennt.

Panamon war nicht bewußtlos, aber es stand außer Zweifel, daß er noch nicht in der Verfassung war, den Marsch fortzusetzen.

Er versuchte mehrmals vergeblich, aufzustehen, aber Keltset schob ihn immer wieder zurück. Panamon fluchte gräßlich und verlangte, aufstehen zu dürfen, aber es nützte nichts.

Schließlich sah er ein, daß er nichts erreichte, und bat, für eine Zeit aus der Sonne getragen zu werden, damit er sich ausruhen könne. Shea schaute sich auf der nackten Ebene um und kam schnell zu dem Schluß, daß sie hier keinen Schatten finden würden.

Der einzige Ort in vernünftiger Entfernung, wo es Schatten gab, war der Wald im Süden, rings um die Druidenfestung, innerhalb der Grenzen von Paranor. Panamon hatte zwar vorher erklärt, er wolle nicht in die Nähe von Paranor, aber nun lag die Entscheidung nicht mehr allein bei ihm. Shea deutete nach Süden, zu dem ungefähr eine Meile entfernten Wald, und Keltset nickte zustimmend. Der Verwundete sah, was Shea vorschlug, und rief, er wolle um keinen Preis in den Wald getragen werden, selbst wenn er hier an Ort und Stelle sterben müsse. Shea versuchte ihn zu beruhigen und erklärte, von seinen Kameraden habe er nichts zu befürchten, falls sie auf sie stoßen sollten, aber der Räuber schien beunruhigter zu sein von den sonderbaren Gerüchten über Paranor, die er gehört hatte. Shea mußte lachen, als er an Panamons prahlerische Erzählungen und bestandene Abenteuer dachte. Keltset war inzwischen aufgestanden und ließ den Blick über die Landschaft gleiten. Die beiden anderen sprachen noch miteinander, als er sich bückte und Panamon abrupt ein Zeichen gab. Der Räuber zuckte zusammen, und sein Gesicht wurde bleich, dann nickte er kurz. Shea wollte erschrocken aufstehen, aber Panamon hielt ihn zurück.

»Keltset hat im Gebüsch südlich von uns eine Bewegung entdeckt.

Von hier aus kann er nicht sagen, was es ist. Gerade am Rand des Schlachtfeldes, auf halbem Weg zwischen uns und dem Wald.«

Shea wurde kreideweiß.

»Halt deine Steine bereit, für alle Fälle«, sagte Panamon leise.

»Was sollen wir tun?« fragte Shea angstvoll, den Lederbeutel umklammernd.

»Zuschlagen, bevor der andere es kann - was sonst?« sagte Panamon gereizt und winkte Keltset, ihn aufzuheben.

Der Riese bückte sich und hob den Scharlachroten hoch. Shea griff nach dem Breitschwert Panamons und folgte langsam dem Berg-Troll, der mit ruhigen, mühelosen Schritten nach Süden ging. Panamon redete unaufhörlich, trieb Shea zur Eile an und rügte Keltset wegen seines zu rauhen Umgangs mit Verwundeten.

Shea drehte argwöhnisch den Kopf hin und her und suchte vergeblich nach einem Ursprung der Gefahr. Mit der rechten Hand umklammerte er den Lederbeutel, in dem die unschätzbaren Elfensteine lagen, ihre einzige Waffe gegen die Macht des Dämonen-Lords. Sie hatten etwa hundert Meter zurückgelegt, als Panamon plötzlich anhalten ließ und sich bitter über seine verletzte Schulter beklagte. Keltset ließ seine Last auf den Boden gleiten und richtete sich auf.

»Meine Schulter hält diese ungebührliche Mißachtung von Knochen und Gewebe nicht aus«, knurrte Panamon Creel gereizt und sah Shea bedeutungsvoll an.

Der Talbewohner begriff, daß dies die Stelle sein mußte, und er öffnete mit zitternden Händen den Beutel, um die Steine herauszunehmen.

Dann schaute er sich hastig um und richtete den Blick auf ein Dickicht. Sein Herz schlug bis zum Hals hinauf, als er dort eine ganz schwache Bewegung wahrnahm.

Keltset fuhr plötzlich herum, sprang in das Dickicht und war verschwunden.

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