3

Allanons Pläne für weitere Besprechungen im Gasthof erfüllten sich nicht. Er kehrte in sein Zimmer zurück, während Shea und Flick, nachdem sie sich noch unterhalten hatten, von ihrem Vater einen Auftrag erhielten, der sie zum Nordende des Tales führte. Es war dunkel, bis sie wieder zurückkamen, und sie hasteten in den Eßraum, um den Historiker weiter zu befragen, aber er erschien nicht. Sie verschlangen ihre Mahlzeit, unfähig, über den Nachmittag zu sprechen, während ihr Vater dabeisaß. Nach dem Essen warteten sie fast eine ganze Stunde, aber Allanon tauchte immer noch nicht auf, und schließlich gingen sie zu seinem Zimmer. Die Tür war unverschlossen, der Wanderer fort. Das Zimmer sah unbenutzt aus. Sie suchten hastig das ganze Gebäude ab, doch Allanon war nirgends zu finden. Sie kamen schließlich zu der Folgerung, daß er Shady Vale verlassen haben mußte. Shea war nicht begeistert, er empfand Unsicherheit darüber, nicht mehr unter der schützenden Hand des Historikers zu stehen.

Flick dagegen war froh, daß der Mann das Weite gesucht hatte. Er saß mit Shea in der Gaststube vor dem offenen Feuer und versuchte ihm klarzumachen, daß alles sich zum Besten wenden werde. Shea nickte ab und zu, hing aber seinen eigenen Gedanken nach, die sich immer wieder um Allanons Glaubwürdigkeit drehten. Endlich gab er auf und ging mit Flick in seine Stube, wo Flick sich auf das Bett fallen ließ, während Shea mit mürrischer Miene auf einen Stuhl sank.

Die beiden Kerzen auf dem kleinen Tisch am Bett warfen düstere Schatten in den großen Raum, und Flick schlief beinahe ein. Er streifte mit der Hand ein Stück Papier, das zwischen Matratze und Kopfkeil geschoben worden war. Er warf einen Blick darauf und sah, daß es ein Brief an Shea war.

»Was ist das?« murmelte er und überreichte den Brief seinem Bruder.

Shea riß den Umschlag auf und überflog die Zeilen, dann pfiff er leise vor sich hin und stand auf.

»Von Allanon«, sagte er zu Flick, der sich aufgesetzt hatte.

»Hör zu... «

»Ich habe keine Zeit, Dich zu finden und Dir alles zu erklären. Es hat sich etwas von allergrößter Wichtigkeit ereignet, und ich muß auf der Stelle fort — vielleicht ist es schon zu spät. Du mußt mir vertrauen und mir glauben, was ich Dir gesagt habe, selbst wenn ich nicht ins Tal zurückkehren kann. Du wirst in Shady Vale nicht lange sicher sein und mußt Dich darauf vorbereiten, schnell zu fliehen. Sollte Deine Sicherheit bedroht sein, findest Du in Culhaven in den Wäldern des Anar Zuflucht. Ich werde einen Freund schicken, der Dich führt. Vertraue auf Balinor. Sprich mit keinem über unsere Begegnung. Die Gefahr für Dich ist riesengroß. In der Tasche Deines braunen Reisemantels habe ich einen kleinen Beutel gesteckt, der drei Elfensteine enthält. Sie werden Dich leiten und schützen, wenn nichts anderes es mehr vermag. Sei gewarnt — sie sind für Shea allein und dürfen nur gebraucht werden, wenn alles andere versagt. Das Zeichen des Totenschädels wird die Warnung für Dich sein zu fliehen. Möge Dich das Glück begleiten, mein junger Freund, bis wir uns wiedersehen.« Shea sah seinen Bruder aufgeregt an, aber Flick schüttelte ungläubig den Kopf, zog die Brauen zusammen und sagte:

»Ich weiß nicht. Wovon redet er eigentlich — Totenschädel und Elfensteine? Von einem Ort Culhaven habe ich noch nie etwas gehört, und die Anar-Wälder sind Meilen von hier — Tage und Tage. Mir gefällt das nicht.«

»Die Steine!« rief Shea und sprang auf den hohen Eckschrank zu. Er suchte seinen braunen Reisemantel und brachte aus einer Tasche desselben einen kleinen Lederbeutel zum Vorschein, den er auf der Handfläche balancierte. Er wog ihn, zeigte ihn seinem Bruder, lief zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Die Zugschnur war schnell geöffnet, dann leerte er den Inalt des Beutels auf seine Hand. Drei dunkelblaue Steine fielen heraus, jeder von der Größe eines durchschnittlichen Kieselsteins, fein geschliffen und im schwachen Kerzenlicht hell leuchtend. Die Brüder starrten die Steine verwundert an und rechneten halb damit, daß sich etwas Wunderbares ereignen würde, aber nichts geschah. Die Steine lagen regungslos auf Sheas Hand und schimmerten wie kleine blaue Sterne, der Nacht entrissen, so klar, daß man beinahe durch sie hindurchsehen konnte, als seien sie gefärbtes Glas. Nachdem Flick seinen Mut zusammengenommen und einen der Steine berührt hatte, legte Shea sie in den Beutel zurück und steckte ihn in die Brusttasche.

»Nun, die Steine sind da. Das hat gestimmt«, meinte er.

»Vielleicht — vielleicht auch nicht. Es müssen gar keine Elfensteine sein«, antwortete sein Bruder argwöhnisch. »Woher kennst du dich aus — hast du schon einmal einen gesehen? Und was ist mit dem Rest des Briefes ? Ich kenne keinen Balinor und habe nie etwas von Culhaven gehört. Wir sollten die ganze Geschichte vergessen und Allanon dazu.«

Shea nickte zweifelnd. Auf die Worte Flicks wußte er keine Antwort. Dann meinte er aber doch;

»Warum sollen wir uns jetzt den Kopf zerbrechen? Wir brauchen nur die Augen für das Zeichen des Totenschädels offenzuhalten, was immer das sein mag, oder zu warten, bis Allanons Freund auftaucht. Vielleicht wird gar nichts geschehen.«

Sie waren beide müde und entschlossen sich zu schlafen. Shea schob den Beutel mit den Steinen unter sein Kissen. Er hatte sich entschieden, sie in den kommenden Tagen bei sich zu behalten.

Am nächsten Tag begann es zu regnen. Riesenhafte, hochragende Wolken schoben sich ganz plötzlich von Norden heran und bedeckten den ganzen Himmel, verhüllten die Sonne und ließen Fluten peitschenden Regens auf den kleinen Ort herniedergehen. Die ganze Arbeit auf den Feldern kam zum Stillstand, der Verkehr vom und zum Tal hörte auf — zuerst einen, dann zwei, schließlich drei volle Tage lang. Das Unwetter war ein gewaltiges Schauspiel blendender Blitzstrahlen, die durch den schwarzen Himmel zuckten, und tief grollenden Donners, der in erderschütternden Schlägen über das Tal hereinbrach, in endloser Wiederholung, bis er sich murrend und fauchend in der Schwärze des Nordens verlor.

Es regnete die ganzen drei Tage ohne Unterlaß, und die Menschen im Tal begannen sich zu sorgen, daß Wildbäche von den Bergen ihre kleinen Häuser und die ungeschützten Felder überschwemmen würden. Die Männer versammelten sich täglich in Ohmsfords Gasthof und berieten sich sorgenvoll bei ihren Bierkrügen, während sie immer wieder düstere Blicke auf den unablässig herunterrauschenden Regen warfen.

Flick und Shea hörten den Gesprächen stumm zu und betrachteten die besorgten Gesichter. Zuerst vertrauten sie darauf, daß der Sturm sich bald legen werde, aber nach drei Tagen schien er noch immer nicht nachlassen zu wollen.

Gegen Mittag des vierten Tages minderten sich die Regengüsse zu einem Nieselregen, verbunden mit dichtem Nebel und einer klebrigen, feuchten Schwüle, die allen zu schaffen machte. Das Gedränge im Gasthof ließ nach, als die Männer wieder zu ihrer Arbeit zurückkehrten, und Shea und Flick waren bald mit Aufräum- und Reparaturtätigkeiten beschäftigt.

Der Sturm hatte Fensterläden zerschmettert und Schindeln vom Dach gerissen. Dach und Wände der angebauten Flügel ließen Wasser durch, und der kleine Werkzeugschuppen hinter dem Haus war von einer umstürzenden Ulme fast plattgedrückt worden. Die jungen Männer brachten mehrere Tage damit zu, die Schäden zu beheben. Es war eine mühsame Arbeit, und die Zeit verging schleppend.

Nach zehn Tagen hörten die Regenfälle ganz auf, die großen Wolken zogen weiter, der Himmel wurde wieder hell und blau, besetzt nur noch mit weißen Wolkenstreifen. Die befürchtete Überschwemmung trat nicht ein, und als die Talbewohner auch die Feldarbeiten wiederaufnahmen, kam die warme Sonne heraus. Die Erde trocknete und wurde wieder hart. Mit der Zeit verschwanden auch die letzten Pfützen.

Shea und Flick hörten Gesprächsfetzen von den Unterhaltungen anderer Talbewohner. Niemand konnte sich an einen so heftigen Sturm zu dieser Jahreszeit erinnern. Er entsprach einem Wintersturm von der Art, wie sie gelegentlich im Norden vorkamen, wo ungeschützte Wanderer in den Bergen überrascht und von den Pässen und Wegen geschleudert wurden, um nie wieder aufzutauchen. Alle Bewohner im Tal dachten über die fortwährenden Gerüchte über sonderbare Ereignisse im Norden nach.

Die Brüder hörten aufmerksam zu, erfuhren aber nichts Konkretes. Shea achtete auf alle Fremden, die durch das Tal kamen, und suchte nach dem Zeichen des Totenschädels, aber mit der Zeit ließ seine Wachsamkeit nach, und er schalt sich einen Narren.

Nichts geschah, um einen Sinneswandel in ihm hervorzurufen, bis an einem Nachmittag, etwa drei Wochen nach Allanons plötzlichem Verschwinden, die Brüder am Abend ins Haus kamen und der Vater schon am Tisch saß. Er begrüßte seine Söhne.

»Für dich ist ein Brief eingetroffen, Shea«, sagte er, wobei er den Umschlag in seiner Hand schwenkte. »Von Leah.«

Shea griff überrascht nach dem Brief, während Flick aufstöhnte:

»Wußte ich doch! War zu schön, um wahr zu sein! Der größte Tunichtgut im ganzen Südland hat beschlossen, daß wir noch mehr leiden sollen. Zerreiß den Brief, Shea!«

Aber Shea hatte den Brief schon geöffnet und überflog ihn, ohne Flick zu beachten, der verärgert die Achseln zuckte und sich zu seinem Vater setzte.

»Er will wissen, wo wir uns versteckt haben«, sagte Shea.

»Wir sollen zu ihm kommen, sobald wir können.«

»Ja, gewiß«, sagte Flick. »Wahrscheinlich hat er Probleme und braucht jemanden, den er in Teufels Küche bringen kann.«

»Warum springen wir nicht einfach in die nächste Schlucht?«

»Weißt du noch, was passiert ist, als Menion Leah uns das letzte Mal eingeladen hat? Wir verirrten uns tagelang in den Schwarzen Eichen und wären beinahe von den Wölfen gefressen worden. Das vergesse ich nie. Die Schatten holen mich eher, bevor ich von dem noch einmal eine Einladung annehme.«

Sein Bruder lachte und schlug ihm auf die Schulter.

»Du bist neidisch, weil Menion ein Königssohn ist und leben kann, wie es ihm beliebt.«

»Ein Königreich von Pfützengröße«, gab Flick zurück.

»Und königliches Blut ist heutzutage billig. Schau dich an...«

Er stutzte und biß sich auf die Lippen. Sie warfen verstohlene Blicke auf ihren Vater, aber dieser hatte offenbar nichts bemerkt und aß ruhig weiter. Flick schnitt eine Grimasse, und Shea lächelte ihn an.

»Im Gasthof sucht dich einer, Shea«, sagte Curzad plötzlich.

»Er sprach von dem großen Fremden, der vor einigen Wochen hier war und nach dir fragte. Hab' ihn im Tal noch nie gesehen. Er ist draußen in der Gaststube.«

Flick stand langsam auf, während Shea sich an die Brust faßte, wo er die Elfensteine fühlte.

»Wie sieht der Mann aus?« fragte er schnell.

»Kann ich nicht genau sagen«, erwiderte sein Vater mit vollem Mund. »Er ist in einen langen, grünen Waldmantel gehüllt.

Heute Nachmittag erst in den Ort geritten — wunderschönes Pferd. Er wollte dich unbedingt sprechen. Sieh lieber gleich nach, was er will.«

»Hast du irgendein Zeichen gesehen?« fragte Flick dumpf.

Sein Vater hörte auf zu kauen und sah ihn erstaunt an.

»Was meinst du? Bist du zufrieden, wenn ich dir eine Kreidezeichnung mache? Was habt ihr denn?«

»Nichts, gar nichts«, sagte Shea hastig. »Flick wollte nur wissen, ob der Mann wie... wie Allanon aussieht... erinnerst du dich?«

»O ja«, sagte sein Vater mit schiefem Lächeln, während Flick erleichtert aufatmete. »Nein, eine Ähnlichkeit ist mir nicht aufgefallen, allerdings ist dieser Mann auch groß. Ich habe an der rechten Wange eine lange Narbe gesehen — wahrscheinlich von einem Messer.«

Shea nickte dankend und zog Flick mit hinaus. Sie eilten zu den breiten Doppeltüren. Shea öffnete sie einen Spalt und schaute in die überfüllte Gaststube. Zunächst sah er nichts als die vertrauten Gesichter der ihm bekannten Gäste, aber dann trat er zurück und schloß die Tür unauffällig.

»Er sitzt an der vorderen Ecke des Kamins. Ich weiß nicht, wer er ist, oder auch nur, wie er aussieht. Von hier aus sieht man nicht genug. Er trägt einen grünen Mantel. Wir müssen näher ran.«

»Da draußen?« meinte Flick. »Bist du verrückt? Er entdeckt dich auf der Stelle.«

»Dann geh du!« sagte Shea. »Leg ein paar Scheite aufs Feuer und sieh ihn dir an! Stell fest, ob er das Schädelzeichen trägt!«

Flick riß die Augen auf und traf Anstalten zu flüchten, aber Shea packte ihn am Arm und schob ihn durch die Türen in die Gaststube. Wieder durch einen Spalt blickte er ihm nach.

Er sah ihn unsicher zum Kamin gehen und in der Glut herumstochern, bevor er ein Scheit aufs Feuer legte. Flick ließ sich Zeit, offenbar, um den Mann im grünen Mantel genauer betrachten zu können. Der Fremde saß an einem Tisch in der Nähe des Kamins, mit dem Rücken zu Flick, aber ein wenig zur Seite gedreht.

Plötzlich, gerade als Flick zurückgehen wollte, bewegte sich der Fremde und sagte etwas. Flick erstarrte. Shea sah, wie sein Bruder sich umdrehte und dem Fremden antwortete, während er zu Sheas Versteck herüberschielte. Shea glitt tiefer in die Schatten und zog den Spalt zu. Sie mußten sich verraten haben. Während er überlegte, ob er das Weite suchen sollte, kam Flick mit blassem Gesicht durch die Tür.

»Er hat dich gesehen. Der Mann hat Augen wie ein Habicht. Er hat gesagt, ich soll dich zu ihm bringen.«

Shea überlegte und nickte dann ergeben. Wohin konnten sie schon laufen, ohne binnen Minuten gefunden zu werden?

»Vielleicht weiß er nicht alles«, sagte Shea. »Vielleicht glaubt er, wir wüßten, wo Allanon ist. Überleg dir, was du zu ihm sagst, Flick.« Er ging voraus durch die Schwingtüren und durch die Gaststube zu dem Tisch, an dem der Fremde saß. Sie blieben hinter ihm stehen und zögerten, aber er winkte sie mit einer Handbewegung heran, ohne sich umzudrehen.

Sie setzten sich und sahen einander stumm an. Der Fremde war ein großer, breitschultriger Mann, erreichte aber Allanons Größe nicht. Der Mantel bedeckte seinen ganzen Körper, so daß sie nur seinen Kopf sehen konnten. Seine Züge waren kräftig und markant, eigentlich angenehm, abgesehen von der dunklen Narbe, die vom Außenwinkel der rechten Braue bis fast zum Mundwinkel reichte. Die Augen erschienen Shea sonderbar sanft, von haselnußbrauner Farbe. Das blonde Haar war kurzgeschnitten und hing locker über der breiten Stirn und den kleinen Ohren. Shea fiel es schwer, zu glauben, daß dieser Mann der Feind sei, von dem Allanon gesprochen hatte. Selbst Flicks Argwohn schien nachgelassen zu haben.

»Es bleibt keine Zeit für Spiele, Shea«, sagte der Fremde plötzlich mit ruhiger Stimme. »Deine Vorsicht ist zu loben, aber ich trage nicht das Zeichen des Totenschädels. Ich bin ein Freund Allanons. Mein Name ist Balinor. Mein Vater ist Ruhl Buckhannah, der König von Callahorn.«

Die Brüder erinnerten sich des Namens sofort, aber Shea wollte kein Risiko eingehen.

»Woher weiß ich, daß Ihr die Wahrheit sprecht?«

Der Fremde lächelte.

»Von den drei Elfensteinen in deiner Brusttasche — die du von Allanon bekommen hast.«

Shea nickte überrascht. Nur ein Abgesandter des riesigen Historikers konnte von den Steinen wissen. Er beugte sich vor.

»Was ist mit Allanon geschehen?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete der große Mann leise. »Ich habe seit über zwei Wochen nichts von ihm gehört und gesehen. Als ich ihn verließ, war er unterwegs nach Paranor.

Es gab Gerüchte von einem Angriff auf die Burg; er fürchtete um die Sicherheit des Schwertes. Er hat mich hergeschickt, um dich zu schützen. Ich wäre schon früher gekommen, wurde aber vom Wetter aufgehalten — und von denen, die mir zu dir folgen wollten.« Er machte eine Pause und sah Shea ins Gesicht. »Allanon hat dir deine wahre Identität enthüllt und von der Gefahr gesprochen, der du dich einmal wirst stellen müssen. Ob du ihm geglaubt hast oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Die Zeit ist gekommen — du mußt sofort fliehen!«

»Einfach weggehen?« rief Shea. »Das kann ich nicht!«

»Du kannst es und wirst es, wenn du am Leben bleiben willst. Die Träger des Schädels vermuten dich im Tal. In ein, zwei Tagen finden sie dich, und das wird das Ende für dich sein, wenn du dann noch hier bist. Du mußt gleich fort. Reise schnell und mit leichtem Gepäck; halte dich an Wege, die du kennst, und suche Zuflucht im Wald, wo es geht. Wenn du im Freien unterwegs sein mußt, dann nur am Tag, wo ihre Macht schwächer ist. Allanon hat dir gesagt, wo du hingehen sollst, aber du mußt auf deine eigene Einfallskraft vertrauen, dein Ziel zu erreichen.«

Shea starrte den anderen verwundert an und wandte sich an Flick, der sprachlos war. Wie konnte der Mann erwarten, daß Shea einfach aufbrach?

»Ich muß gehen.« Der Fremde erhob sich plötzlich und raffte den Mantel enger um sich. »Ich würde dich mitnehmen, wenn ich könnte, aber man ist mir gefolgt. Diejenigen, die dich vernichten wollen, erwarten, daß ich dich früher oder später verrate. Sie sahen in mir einen Lockvogel. Ich wünsche, sie fahren fort, mir zu folgen, und ich kann dir dadurch Gelegenheit verschaffen, unbemerkt zu entschlüpfen. Ich reite eine Strecke nach Süden und dann in weitem Bogen nach Culhaven. Dort treffen wir uns. Merk dir, was ich gesagt habe. Bleib nicht länger im Tal — flieh heute noch! Tu, was Allanon verlangt hat, und bewache die Elfensteine gut! Sie sind eine mächtige Waffe.«

Shea und Flick standen ebenfalls auf und drückten die ausgestreckte Hand, wobei sie erstmalig sahen, daß der Arm von einem schimmernden Kettenpanzer umschlossen war. Balinor ging mit langen Schritten durch die Gaststube und verschwand in der Nacht.

»Also, was nun?« sagte Flick, der sich wieder auf den Stuhl fallen ließ.

»Woher soll ich das wissen?« gab Shea zurück. »Ich bin kein Wahrsager. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob stimmt, was er erzählt hat, so wenig wie bei Allanon. Wenn er recht hat — und ich werde das Gefühl nicht los, daß zumindest etwas Wahres an seinen Worten ist —, dann muß ich um aller Beteiligten willen das Tal verlassen. Falls jemand hinter mir her ist, müssen wir befürchten, daß andere, etwa du und Vater, zu Schaden kommen könnten, wenn ich bleibe.« Er starrte düster vor sich hin. Flick betrachtete ihn stumm, dann beugte er sich vor und legte die Hand auf die Schulter seines Bruders.»Ich gehe mit dir«, sagte er leise.

Shea fuhr herum und starrte ihn an.

»Das kann ich nicht zulassen. Vater würde das nie begreifen.

Außerdem gehe ich vielleicht nirgends hin.«

»Vergiß nicht, was Allanon gesagt hat — ich gehöre mit dir zusammen«, antwortete Flick störrisch. »Nicht nur in dieser Sache. Du bist mein Bruder. Ich kann dich nicht allein gehen lassen.«

Shea kämpfte mit sich, dann nickte er und lächelte.

»Wir sprechen später noch darüber. Auf jeden Fall kann ich nicht aufbrechen, bevor ich entschieden habe, wohin ich gehe und was ich brauche — falls ich überhaupt gehe. Ich muß Vater einen Brief hinterlassen- ich kann nicht einfach davonlaufen, gleichgültig, was Allanon und Balinor denken.«

Sie verließen den Tisch und kehrten zum Nachtmahl in die Küche zurück. Den Rest des Abends verbrachten sie ruhelos zwischen Küche und Gaststube, mit mehreren Abstechern ins Schlafzimmer, wo Shea seine Habe durchmusterte. Flick folgte ihm schweigend überall hin, von der Befürchtung geplagt, sein Bruder könne plötzlich beschließen, nach Culhaven aufzubrechen und ihn zurückzulassen. Er sah zu, wie Shea Kleidung und Ausrüstungsgegenstände in einen Ledersack stopfte, und als er ihn fragte, weshalb er packe, bekam er zur Antwort, das sei nur eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß er plötzlich fliehen müsse. Shea versicherte aber, er werde nicht gehen, ohne es Flick zu sagen, doch dieser blieb mißtrauisch und ließ Shea keine Minute aus den Augen.

Es war völlig dunkel, als Shea von einer Hand auf seinem Arm geweckt wurde. Er hatte nicht tief geschlafen, und die kalte Berührung weckte ihn sofort; sein Herz hämmerte. Er schlug um sich und wollte den unsichtbaren Angreifer packen.

Ein Zischen erreichte seine Ohren, und plötzlich erkannte er Flicks breites Gesicht im schwachen Licht der von Wolken teilweise verhangenen Sterne und des schmalen Sichelmonds.

Die Angst verschwand.

»Flick! Du hast mich...«

Seine Erleichterung schwand ebenso schnell, als Flicks kräftige Hand sich auf seinen offenen Mund preßte und das warnende Zischen sich wiederholte. Shea sah im Dunkeln die angstvollen Züge seines Bruders. Er wollte hoch, aber die kräftigen Arme packten ihn fester und zogen sein Gesicht näher an den verkrampften Mund heran.

»Nichts sagen«, flüsterte Flick ihm ins Ohr. »Das Fenster — leise!«

Die Hände lockerten den Griff und zogen ihn aus dem Bett, dann schlichen die beiden zum Fenster, das einen Spalt offen war. Als sie es erreichten, stieß Flick seinen Bruder an, mit Händen, die jetzt zitterten.

»Shea, am Haus — schau!«

Stumm vor Schrecken hob Shea den Kopf zur Fensterbrüstung und schaute vorsichtig hinaus in die Nacht. Er sah das Wesen fast augenblicklich — eine riesige, schreckliche, schwarze Erscheinung, halb geduckt, schleppte sich langsam durch die Schatten der Gebäude auf der anderen Seite des Gasthofs, den Buckelrücken bedeckt von einem Mantel, der sich wölbte und langsam blähte, als darunter etwas dagegenstieß und pulsierte. Das grausige Rasseln seines Atems war selbst aus dieser Entfernung deutlich vernehmbar, und die Füße erzeugten ein sonderbares schnarrendes Geräusch. Shea umklammerte das Fensterbrett, den Blick auf die sich nähernde Erscheinung gerichtet, und im gleichen Moment, in dem er sich unter dem halboffenen Fenster duckte, sah er deutlich einen Silberanhänger in Form eines funkelnden Totenschädels.

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