Der Morgen graute über den beherrschenden Graten und Gipfeln der Drachenzähne mit einer kalten, düsteren Entschlossenheit, die weder heiter noch willkommen war. Wärme und Helligkeit der aufgehenden Sonne wurden von niedrigen Wolken-formationen und dichtem Nebel, der sich zwischen den dräuenden Höhen niederließ und regungslos verharrte, völlig abgeschirmt. Der Wind fegte mit wilder Kraft über den nackten Fels, fauchte durch Schluchten und schroffe Abstürze, über Hänge und Grate, stürzte sich auf die dürftige Vegetation und glitt doch mit ungreifbarer Schnelligkeit durch das Gemisch aus Wölken und Nebelschwaden, um es auf unerklärliche Weise unberührt zu lassen. Das Geräusch des Windes war wie das tiefe Brausen des Meeres, das an freien Strand brandet, schwer und wogend, die nackten Gipfel mit einem eigenartigen Rauschen umtönend, das, war man nur lange genug davon eingehüllt, eine eigene Stille hervorrief. Vögel hoben und senkten sich mit dem Wind, ihre Schreie klangen zerstreut und dumpf. In dieser Höhe gab es nur wenige Tiere - vereinzelte Herden einer besonders zähen Gattung von Bergziegen und kleine, pelztragende Mäuse, die in den innersten Spalten der Felsen lebten. Die Luft war mehr als kühl; sie war bitter kalt. Schnee bedeckte die Höhen der Drachenzähne, und der Wandel der Jahreszeiten hatte wenig Einfluß in dieser Höhe auf eine Temperatur, die selten über den Nullpunkt stieg.
Es war ein tückisches Gebirge, riesig, hochragend und unglaublich massiv. An diesem Morgen schien es von einer seltsamen Erwartung erfüllt zu sein, und die acht Männer, die den kleinen Trupp aus Culhaven bildeten, wurden das Gefühl der Beunruhigung nicht los, das ihre Gedanken beschäftigte, als sie immer tiefer in das kalte Grau hineinstapften. Es war mehr als die bedrückende Prophezeiung Brimens oder selbst die Erkenntnis, daß sie bald versuchen sollten, die verbotene Halle der Könige zu durchschreiten. Irgend etwas wartete auf sie, etwas, das geduldig und verschlagen war, eine Lebenskraft, verborgen in dem nackten, felsigen Gelände, durch das sie zogen, erfüllt von rachsüchtigem Haß auf sie, auf der Lauer, während sie sich tiefer in das riesige Gebirge vorwärts kämpften, hinter dem das uralte Reich Paranor lag. Sie marschierten in einer unregelmäßigen Reihe nach Norden, auseinandergezogen als Silhouetten vor dem nebligen Hintergrund, eng in wollene Mäntel gekleidet, um sich vor der Kälte zu schützen, die Köpfe gesenkt. Die Hänge und Schluchten waren bedeckt mit Geröll und durchzogen von verborgenen Spalten, die das Fortkommen erschwerten. Mehr als einmal stürzte einer aus der kleinen Gruppe in aufstiebendem Geröll und Staub zu Boden. Aber das verborgene Ding zog es vor, nicht in Erscheinung zu treten; es begnügte sich damit, wissen zu lassen, daß es da sei, und darauf zu warten, daß dieses Wissen den Widerstand der acht Männer untergrub. Dann würden aus den Jägern Gejagte werden.
Es dauerte nicht lange. Beharrlich nagten Zweifel an ihren erschöpften Gemütern - Zweifel, die phantomgleich aus den Ängsten und tief verborgenen Geheimnissen der Männer aufstiegen.
Durch die Kälte und das Brausen des sich steigernden Windes voneinander getrennt, blieb jeder für sich, und die Unfähigkeit, sich miteinander verständigen zu können, steigerte das wachsende Gefühl der Unruhe nur noch. Höndel war der einzige, der dagegen immun zu sein schien. Seine schweigsame, einzelgängerische Natur hatte ihn abgehärtet gegen Selbstzweifel, und sein um Haaresbreite gelungenes Entkommen aus den Fängen der aufgebrachten Gnome im Jade-Paß hatte zumindest vorübergehend jede Todesfurcht in ihm ausgelöscht. Er war dem Tod nah gewesen, so nah, daß ihn am Ende nur der Instinkt gerettet hatte.
Die Gnomen waren aus allen Richtungen auf ihn losgestürzt, bedenkenlos den Hang hinaufgestürmt, so wutentbrannt, daß allein Blutvergießen ihrem Haß ein Ventil verschaffen konnte. Er war blitzschnell in die Randgebiete des Wolfsktaags entwischt und hatte sich im Dickicht verborgen, während die Gnome ihre Kräfte verausgabten, bis einer von ihnen in Reichweite gekommen war. Es hatte nur Sekunden gedauert, den Ahnungslosen zu betäuben, den Gefangenen in seine unverwechselbare Zwergkleidung zu stecken und dann um Hilfe zu schreien. Die Gnome vermochten in der Dunkelheit, geblendet durch ihre Erregung, nichts anderes zu erkennen als das Gewand. Sie rissen ihren eigenen Genossen in Stücke, ohne es zu ahnen. Höndel hatte sich weiter verborgen gehalten und war am nächsten Tag heimlich durch den Paß geschlüpft, ein weiteres Mal davongekommen.
Die Leute aus dem Tal und die Elfen verfügten nicht über Höndels starkes Selbstvertrauen. Die Prophezeiung des Schattens von Brimen hatte sie betäubt. Im Geheul des stürmischen Bergwindes schienen die Worte sich unablässig zu wiederholen.
Einer von ihnen würde sterben müssen. Gewiß, die Prophezeiung hatte es anders ausgedrückt, aber der Sinn war unverwechselbar. Eine bittere Aussicht für sie, die keiner einfach hinnehmen wollte. Auf irgendeine Weise gedachten sie einen Weg zu finden, um die Voraussage Lügen zu strafen.
Allanon, weit voraus, die riesige Gestalt vorgebeugt im Wind, sann über die Ereignisse nach, die im Tal von Shale stattgefunden hatten. Zum hundertsten Mal dachte er an die seltsame Begegnung mit dem Schatten Brimens, des uralten Druiden, der dazu verdammt war, im Zwischenreich zu wandeln, bis der Dämonen-Lord endgültig besiegt war. Es war jedoch nicht die Erscheinung des wandernden Geistes, die ihn jetzt so verstörte. Es war das entsetzliche Wissen, das er in sich trug, tief verborgen unter seinen schwärzesten Wahrheiten. Sein Fuß stieß gegen einen Felssporn, so daß er stolperte und nur mühsam das Gleichgewicht halten konnte. Ein kreisender Habicht im Grau ließ einen schrillen Schrei hören und stieß über einem fernen Grat aus dem Himmel herab. Der Druide drehte den Kopf, als die dünne Reihe hinter ihm versuchte, Anschluß zu halten. Er hatte von dem Schatten mehr erfahren als die Worte der Prophezeiung.
Davon hatte er den anderen jedoch nichts gesagt, die ganze Wahrheit jenen, die ihm vertrauten, verschwiegen, so wie er ihnen auch nicht die ganze Geschichte hinter dem legendären Schwert von Shannara erzählt hatte. Seine tiefliegenden Augen glühten vor innerer Wut über die mißliche Lage, in die er sich versetzt hatte, weil er ihnen nicht alles anvertraut hatte, und für einen Augenblick überlegte er, ob er das nicht doch nachholen sollte. Sie hatten alle so viel gegeben, und dabei war das erst der Anfang... Aber Augenblicke später schob er den Gedanken unwirsch beiseite. Die Notwendigkeit war eine mächtigere Göttin als die Wahrheit.
Das Morgengrauen ging langsam in das Grau des Mittags über, und der Marsch ins Gebirge wurde fortgesetzt. Die Grate und Hänge kamen und gingen mit einer tristen Eintönigkeit, die in den Gehirnen der erschöpften Wanderer den Eindruck erweckte, als kämen sie überhaupt nicht voran. Vor ihnen erhob sich eine riesige, hochragende Kette von Gipfeln düster vor dem nebligen Horizont im Norden, und es sah ganz so aus, als schritten sie direkt auf eine Mauer aus undurchdringlichem Gestein zu. Dann gelangten sie in eine breite Schlucht, die steil hinabführte zu einem schmalen, gewundenen Pfad zwischen zwei hohen Felswänden, wo er sich im dichten Nebel verlor. Allanon führte sie in das wirbelnde Grau, als der Horizont verschwand und der Wind erstarb. Die Stille trat schlagartig und unerwartet ein, klang beinahe wie ein gehauchtes Wispern durch die gewaltigen Felsmassive und sprach mit gedämpfter, behutsamer Stimme in die Ohren der sich dahintastenden Wanderer. Dann verbreiterte sich der Paß ein wenig, der Nebel lichtete sich und zeigte eine hohe, höhlenartige Öffnung in der Felswand, wo der Schlängelpfad aufhörte.
Der Zugang zur Halle der Könige.
Er war ehrfurchtgebietend, majestätisch, erschreckend. Auf beiden Seiten des schwarzen Eingangs stand je eine gewaltige steinerne Statue, in den Fels gehauen, weit über dreißig Meter hoch im schwarzen Gestein. Die steinernen Wächter waren in Gestalt von rüstungsbewehrten Kriegern geformt worden, wachsam im Halbdunkel stehend, die Hände auf den Knäufen riesiger Schwerter, deren Spitzen an ihren Füßen standen. Ihre verwitterten, bärtigen Gesichter waren zernarbt von Zeit und Wind, aber die Augen wirkten beinahe lebendig, starr auf die acht Sterblichen gerichtet, die an der Schwelle der uralten von ihnen bewachten Halle standen. Über dem großen Eingang dienten drei in den Fels gemeißelte Wörter in einer seit Jahrhunderten vergessenen alten Sprache als Warnung für jene, die einzutreten gedachten, mit dem Hinweis, daß dies das Grabmal der Toten sei. Hinter der riesigen Öffnung gab es nur Schwärze und Stille.
Allanon versammelte die anderen um sich und sagte:
»Vor vielen Jahren, vor dem Ersten Krieg der Rassen, diente ein Kultus von Männern, deren Ursprünge sich in der Zeit verloren haben, als Priester für die Totengötter. In diesen Höhlen begruben sie die Monarchen der vier Länder zusammen mit ihren Familien, Dienern, bevorzugten Gütern und einem großen Teil ihres Reichtums. Die Legende behauptete, daß nur die Toten in diesen Kammern überdauern konnten, und nur die Priester erhielten die Erlaubnis, die Bestattung der toten Herrscher zu sehen.
Alle anderen, die hier eindrangen, wurden nie mehr gesehen.
Mit der Zeit starb der Kult aus, aber das in der Halle der Könige eingeführte Böse blieb bestehen, blind den Priestern dienend, deren Gebeine Jahre zuvor in die Erde zurückgekehrt waren. Nur wenige gelangten je hindurch...« Er unterbrach sich, als er in den Augen seiner Zuhörer die unausgesprochene Frage las. »Ich bin durch die Halle der Könige gegangen - ich allein aus dieser Zeit, und nun ihr. Ich bin ein Druide, der letzte, der noch auf dieser Erde wandelt. Wie Brimen, wie vor ihm Brona, habe ich die schwarzen Künste studiert und bin ein Zauberer. Ich besitze nicht die Macht des Schwarzen Lords - aber ich kann uns sicher durch diese Höhlen zur anderen Seite der Drachenzähne führen.«
»Und dann?« Balinors Frage tönte leise aus dem Nebel.
»Ein schmaler Felspfad, von den Menschen >Drachenfalte< genannt, führt aus dem Gebirge hinab. Dort angelangt, werden wir Paranor vor uns sehen.«
Lange herrschte verlegenes Schweigen. Allanon wußte, was die anderen dachten, ging aber nicht darauf ein. Er fuhr fort:
»Hinter diesem Eingang gibt es eine Anzahl von Gängen und Höhlen, ein Labyrinth für den, der den Weg nicht weiß. Manche Stellen sind gefährlich, andere nicht. Bald nach dem Eintreten werden wir den Tunnel der Sphinxe erreichen, Riesenstatuen wie diese Wächter hier, aber halb Mensch, halb Tier. Wer in ihre Augen blickt, wird auf der Stelle in Stein verwandelt. Ihr müßt also Augenbinden tragen. Außerdem seilt ihr euch an. Ihr müßt euch auf mich konzentrieren, nur an mich denken, denn ihr Wille, ihr geistiger Befehl, ist stark genug, euch zu zwingen, die Binden von den Augen zu reißen und in ihre Augen zu starren.«
Die sieben Männer sahen einander betroffen an. Sie begannen an der Weisheit des ganzen Unternehmens bereits zu zweifeln, während Allanon seinen Vortrag fortsetzte:
»Hinter den Sphinxen führen einige harmlose Korridore zum Gang der Winde, einem Tunnel, bewohnt von unsichtbaren Wesen, Banshies genannt, nach den legendären Astralgeistern. Sie sind nicht mehr als Stimmen, aber diese Stimmen vermögen Sterbliche in den Wahnsinn zu treiben. Ihre Ohren werden zur Sicherheit verschlossen, aber wieder kommt es darauf an, daß ihr euch auf mich konzentriert, euren Geist von dem meinen überdecken laßt, um zu verhindern, daß er der vollen Wirkung dieser Stimmen ausgesetzt ist. Ihr müßt euch entspannen und dürft euch nicht gegen mich wehren. Versteht ihr?«
Er zählte siebenmal ein kaum wahrnehmbares Kopfnicken. »Nach dem Korridor der Winde werden wir im Grabmal der Könige sein. Dann kommt nur noch ein Hindernis...« Er verstummte und richtete den Blick wachsam auf den Höhleneingang.
Einen Augenblick lang schien es, als wolle er den Satz zu Ende führen, aber statt dessen winkte er sie zum dunklen Eingang.
Sie standen unsicher zwischen den Steinriesen, während der graue Nebel die hohen Felswände ringsum einhüllte. Die schwarze, gähnende Öffnung lag vor ihnen wie das offene Maul eines riesigen Raubtiers. Allanon zog eine Reihe von breiten Stoffstreifen hervor und gab jedem einen davon. Mit einem langen Kletterseil banden sie sich aneinander fest, Durin mit seinen sicheren Füßen übernahm die Führung, der Prinz von Callahorn bildete die Nachhut. Die Augenbinden wurden umgelegt, und die Männer faßten sich an den Händen, um eine Kette zu bilden.
Augenblicke danach zog die Kolonne bedachtsam durch den Eingang zur Halle der Könige.
In den Höhlen herrschte eine tiefe, lastende Stille, verstärkt durch das plötzliche Ersterben des Sturmwindes und ihrer hallenden Schritte auf dem Felspfad. Der Tunnelboden war seltsam glatt und eben, aber die Kälte, die seit Jahrhunderten im uralten Gestein lagerte, drang schnell in ihre angespannten Leiber, bis sie fröstelten. Keiner sprach, jeder versuchte sich zur Ruhe zu zwingen, während Allanon sie vorsichtig durch eine Reihe von Biegungen führte. Shea, in der Mitte der sich vorantastenden Kolonne, spürte, wie Flicks Hand die seine fest umklammerte. Seit ihrer Flucht aus dem Tal waren sie einander noch nähergekommen, verbunden nun mehr durch gemeinsame Erlebnisse als durch Verwandtschaft. Was immer auch mit ihnen geschehen mochte, Shea hatte das Gefühl, daß diese enge Verbundenheit nicht mehr verlorengehen konnte. Er würde auch nicht vergessen, was Menion für ihn getan hatte. Er dachte kurz über den Prinzen von Leah nach und mußte lächeln. Der Hochländer hatte sich in den vergangenen Tagen so gewandelt, daß er beinahe ein anderer Mensch geworden war. Den alten Menion gab es noch, aber er besaß jetzt eine neue Dimension, die zu definieren Shea schwerfiel. Aber letztlich hatten sie sich alle verändert, Menion, Flick und er selbst auch, auf vielerlei, nicht so leicht zu ergründende Art. Er fragte sich, ob Allanon die Veränderung in ihm wahrgenommen hatte - Allanon, der ihn stets mehr als Jungen denn als richtigen Mann behandelte.
Sie kamen unsicher zum Stehen, und in der tiefen Stille danach flüsterte die befehlende Stimme des Druiden lautlos im Gehirn jedes einzelnen der Männer:
Denkt an meine Warnung, richtet eure Gedanken auf mich, konzentriert euch allein auf mich.
Dann setzte sich die Reihe wieder in Bewegung, mit hohl hallenden Schritten. Augenblicklich spürten die Männer mit ihren verbundenen Augen die Gegenwart einer lautlos und geduldig wartenden Wesenheit vor sich.
Die Sekunden huschten vorbei, als die Gruppe tiefer in die Höhlen vorstieß. Die Männer wurden sich riesiger, stiller Gestalten bewußt, die auf beiden Seiten emporragten - Gestalten, aus Stein gemeißelt, mit Gesichtern, die menschlich waren, aber auf den geduckten Leibern nicht zu beschreibender Tiere. Die Sphinxe. In ihren Gedanken konnten die Männer diese Augen sehen, das verblassende Bild Allanons durchdringend, und sie spürten die Belastung bei dem Versuch, sich auf den riesigen Druiden zu konzentrieren. Der drängende Wille der Steinungeheuer bohrte sich in ihre Gehirne, wand und schlängelte sich in ihre wirren Gedanken, dem Augenblick entgegenstrebend, in dem menschliche Augen ihrem eigenen, leblosen Blick begegnen würden. Jeder einzelne spürte einen wachsenden Drang, die Binde von den Augen zu reißen, der Dunkelheit zu entfliehen und frei auf die wundersamen Wesen zu blicken, die stumm auf sie herabstarrten.
Aber gerade als es schien, daß das bohrende Flüstern der Sphinxe die erlahmende Entschlossenheit der bedrängten Männer durchbrechen und ihre Gedanken vom sich auflösenden Bild Allanons gänzlich fortzureißen schien, stieß sein eiserner Wille mit der Schärfe eines Messers in ihr Inneres und rief ihnen wortlos zu:
Denkt allein an mich.
Sie gehorchten instinktiv und lösten sich von dem fast überwältigenden Trieb, in die steinernen Gesichter emporzublicken. Der unheimliche Kampf setzte sich erbarmungslos fort, als die Männer sich, in der Stille schwitzend und schwer atmend, durch das wirre Labyrinth unsichtbarer Erscheinungen vorwärtskämpften, aneinandergebunden durch das Seil an ihren Hüften, die Kette fest umklammerter Hände und die befehlende Stimme Allanons. Keiner lockerte den Griff. Der Druide führte sie ruhig an der Sphinxreihe vorbei, den eigenen Blick starr auf den Boden gerichtet, mit seinem unbezähmbaren Willen darum kämpfend, die Gedanken seiner blinden Schützlinge an sich zu binden. Dann blieben die Gesichter der Steinkreaturen endlich zurück und ließen die Sterblichen in der Stille und der Dunkelheit allein.
Sie gingen weiter durch eine lange Reihe gewundener Gänge.
Dann kamen sie wieder zum Stehen, und Allanons leise Stimme durchdrang die Schwärze mit dem Befehl, die Augenbinden abzunehmen.
Sie taten es zögernd und sahen sich in einem engen Tunnel, wo das unbehauene Gestein ein unheimliches grünes Licht abgab. Ihre angespannten Gesichter wirkten wie Masken im seltsamen Schimmer. Die Männer sahen sich kurz an, um sich zu vergewissern, daß sie noch alle zur Stelle waren. Die schwarze Gestalt des Druiden huschte lautlos die Reihe entlang, prüfte die Festigkeit des Seils um ihre Körper und wies warnend darauf hin, daß sie den Korridor der Winde noch vor sich hatten. Er stopfte Stoff fetzen in ihre Ohren und band sie mit den vorher als Augenbinden benützten Streifen fest, um die Geräusche der unsichtbaren Wesen zu dämpfen, die Allanon Banshies genannt hatte.
Dann reichten die Männer einander wieder die Hände.
Der Zug bewegte sich langsam durch den grünschimmernden engen Tunnel. Die Männer konnten ihre Schritte kaum noch hören.
Dieser Teil der Höhle erstreckte sich fast eine Meile weit, dann wurde der Gang breiter, wuchs zu einem hochragenden Korridor, der völlig schwarz war. Die Felswände wichen zurück, und die Decke hob sich, bis beide ganz dem Blick entschwanden und die Gruppe allein in einer seltsamen, dunklen Zwischenwelt stand, wo nur der glatte Höhlenboden bestätigte, daß die Erde sich unter ihnen nicht ganz aufgelöst hatte. Allanon führte sie ohne Zögern in die Schwärze hinein.
Dann begann abrupt das Geräusch. Das wahnsinnige Toben erfaßte sie, ohne daß sie darauf vorbereitet gewesen wären, und einen Augenblick lang herrschte Panik. Es entstand ein ungeheuerliches Brausen, als tobten tausend Sturmwinde voller Wut und unerbittlicher Kraft. Aber darunter tönte der grausige Schrei von gemarterten Seelen, Stimmen, die sich gequält durch alle vorstellbaren Schrecknisse der Unmenschlichkeit wanden, in äußerster Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, ohne Aussicht auf Erlösung. Aus dem Brausen wurde ein gellendes Kreischen, das sich zu solchen Dimensionen steigerte, daß die Männer Gefahr liefen, den Verstand zu verlieren. Die furchtbaren Laute fluteten über sie hinweg, spiegelten ihre eigene, wachsende Verzweiflung, drangen unbarmherzig tiefer und schälten die zerfetzten Nervenenden wie Hautschichten ab, bis die nackten Knochen freizuliegen schienen.
Es hatte nur einen Augenblick gedauert. Ein zweiter, und sie wären verloren gewesen. Aber noch einmal wurden die hoffnungslos betäubten Menschen gerettet, diesmal vor gnadenlosem Wahnsinn, als der machtvolle Wille Allanons das irre Kreischen übertönte, um sie mit schützender Beschwichtigung einzuhüllen.
Die Schreie und das Brausen schienen nachzulassen und zu einem seltsamen Summen herabzusinken, als das grimmige, dunkle Gesicht sich in die sieben fiebrigen Gehirne schob und die stahlharten Gedanken beruhigend und befehlend sprachen:
Zwingt euch zur Ruhe - denkt nur an mich.
Die Männer stolperten mechanisch durch die lastende Dunkelheit des Tunnels, während ihre Gedanken nach der Rettungsleine von Vernunft und Ruhe griffen, die der Druide ihnen hinhielt. Die Wände des Ganges vibrierten unter den noch immer hörbaren Schreien, und das massive Gestein der Höhle grollte auf furchterregende Weise. Ein letztesmal erhoben sich die Stimmen der Banshies in fieberhafter Grellheit, wild kreischend in dem verzweifelten Bemühen, die vom mächtigen Geist des Druiden errichtete Mauer im Unterbewußtsein niederzureißen, aber die Mauer gab nicht nach, die Macht der Stimmen verbrauchte sich und erstarb zu einem toten Geflüster. Einen Augenblick später verengte sich der Gang wieder, und die Gruppe hatte den Korridor der Winde hinter sich.
Bis ins Mark erschüttert, die Gesichter schweißüberströmt, blieben die Männer dumpf stehen, als Allanon ein Zeichen gab.
Sie rüttelten ihre Gedanken mühsam in eine angedeutete Ordnung, entfernten das Seil von ihren Körpern und auch die Ohrenstöpsel.
Sie standen in einer kleinen Höhle, vor zwei riesigen Steintüren mit eisernen Klampen. Auch aus den Felswänden ringsum drang das seltsame grünliche Leuchten. Allanon wartete geduldig, bis alle sich erholt hatten, dann winkte er sie nach vorn.
Er blieb vor dem Steinportal stehen. Auf den schwachen Druck mit einer Hand öffneten sich die massiven Flügel weit. Die tiefe Stimme des Druiden war in der Stille nur ein Flüstern.
»Die Halle der Könige.«
Seit über tausend Jahren hatte niemand außer Allanon das verbotene Grabgewölbe betreten. Die ganze Zeit hindurch war es sonst unberührt geblieben - eine gigantische, kreisrunde Höhle mit glatten, polierten Riesenwänden; die Decke schimmerte in dem gleichen grünlichen Licht wie die Tunnels, die sie durchschritten hatten. An der gewölbten Wand der Riesenrotunda standen mit demselben trotzigen Stolz, den sie im Leben wohl auch gezeigt hatten, Steinstatuen der toten Herrscher, alle der Mitte der Kammer zugewandt, dem unheimlichen Altar, der sich in Form einer zusammengerollten Schlange dort erhob. Vor jeder Statue war der Toten Reichtum aufgehäuft, Kisten und Truhen voll kostbarer Steine und Metalle, Pelze, Waffen, allen Lieblingsgütern der Verstorbenen. In den Wänden unmittelbar hinter jeder Statue befanden sich die versiegelten rechteckigen Öffnungen mit den Überresten der Toten - Könige, ihre Familien, Dienerschaft. Inschriften über den verschlossenen Krypten meldeten die Geschichte der dort ruhenden Herrscher, häufig in Sprachen, die keiner der staunenden Wanderer kannte. Die ganze riesige Höhle war erfüllt von dem grünlichen Licht. Metall und Gestein schienen die Farbe zu schlucken. Auf allem lag Staub, eine dicke Schicht Steinpulver, die sich im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hatte und jetzt in Weinen Wolken aufwallte, als die Schritte der Männer sie aufwühlten. Seit über tausend Jahren hatte niemand die Ruhe dieser uralten Höhle gestört, niemand an ihre Geheimnisse gerührt und es gewagt, die Türen zu öffnen, die die Toten und ihren Besitz schützten. Niemand außer Allanon.
Und nun...
Shea schauderte heftig, ohne es sich erklären zu können. Er durfte eigentlich nicht hier sein; er hörte eine ferne, schwache Stimme, die ihm das sagte. Die Halle der Könige war ein Grab - ein Grab für die uralten Toten, kein Ort für die Lebenden. Etwas faßte nach ihm, und er zuckte zusammen. Allanons Hand hatte seine Schulter berührt. Der Druide starrte ihn mit zusammengezogenen Brauen an und rief die anderen leise zu sich.
»Durch diese Türen am anderen Ende der Halle gelangt man zur Aula«, sagte er und lenkte ihre Blicke auf das andere Ende der Rotunda. »Eine breite Steintreppe führt hinab zu einem großen See, gespeist von einer Quelle, die irgendwo tief im Innern des Gebirges entspringt. Am Fuß der Treppe, direkt vor dem See, steht der Scheiterhaufen, wo die hier begrabenen Monarchen eine gewisse Anzahl von Tagen aufgebahrt lagen, je nach Rang und Reichtum, vermutlich, damit ihre Seelen ins Jenseits zu entkommen vermochten. Wir müssen diese Höhle durchschreiten, um den Tunnel zu erreichen, der uns zur Drachenfalte auf der anderen Seite des Gebirges führt.« Er machte eine Pause und atmete tief. »Als ich das erstemal diese Höhlen durchschritt, vermochte ich mich vor den Augen der Wesen zu verbergen, die hier sind, um Eindringlinge zu vernichten. Für euch kann ich das nicht tun. In der Aula ist etwas, dessen Macht die meine übertreffen mag. Es konnte mich zwar nicht wahrnehmen, aber ich spürte es in den Tiefen des Sees. Unter der Treppe, neben dem See, führen schmale Gänge zum anderen Ende der Höhle und zu den Tunnels dahinter. Diese Gänge sind die einzigen Wege, die am See vorbeiführen. Was immer den Scheiterhaufen auch bewachen mag, es wird sich dort auf uns stürzen. Balinor, Menion und ich werden den linken Gang benützen, um das Wesen aus seinem Versteck zu locken. Wenn wir angegriffen werden, führt Höndel die anderen auf dem rechten Weg hinaus. Bleibt nicht stehen, bis ihr die Drachenfalte erreicht habt. Versteht ihr?«
Sie nickten langsam. Shea fühlte sich in einer Falle gefangen, aber es hatte jetzt keinen Zweck, darüber zu reden. Allanon richtete sich zu seiner vollen Höhe von sieben Fuß auf und grinste drohend. Seine großen Zähne blitzten. Der kleine Talbewohner fühlte sich von einer Kälte durchzuckt, die ihn wieder einmal daran erinnerte, wie gut es war, nicht zu den Gegnern des Mystikers zu gehören. Balinor zog mit einer schnellen Bewegung sein großes Schwert, daß die Klinge klirrte. Höndel war schon unterwegs durch die Halle, den schweren Streitkolben in der Hand.
Menion wollte folgen, zögerte aber und blickte zweifelnd auf die aufgehäuften Schätze an den Gräbern. Konnte es schaden, wenn er etwas mitnahm? Die Talbewohner und Elfen folgten Höndel und Balinor. Allanon beobachtete den Hochländer, die Arme verschränkt. Menion drehte sich um und sah ihn fragend an.
»Das würde ich an Eurer Stelle nicht tun«, warte ihn Allanon.
»Alles ist überzogen mit einer Substanz, die für die Haut lebender Wesen giftig ist. Berührt etwas, und Ihr seid eine Minute später tot.«Menion starrte ihn einen Augenblick ungläubig an, warf noch einen kurzen Blick auf die Schätze und schüttelte resigniert den Kopf. Er hatte die Höhle halb durchschritten, als er plötzlich auf einen Gedanken kam. Er zog zwei lange, schwarze Pfeile aus dem Köcher und trat an eine offene Truhe voller Goldstücke.
Vorsichtig rieb er die Metallspitzen der Pfeile am Edelmetall, wobei er darauf achtete, mit den Händen nichts zu berühren als die gefiederten Pfeilenden. Er grinste zufrieden und kehrte zu den anderen zurück. Was jenseits der Steintüren auch warten mochte, es würde Gelegenheit bekommen, seine Widerstandsfähigkeit gegen das Gift zu beweisen, das angeblich für jedes Lebewesen tödlich war. Die Gruppe drängte sich um Allanon, mit kalt blinkenden Waffen. Eine Stille legte sich über die Umgebung, gestört nur von den Atemzügen der acht Männer. Shea warf noch einen Blick zurück auf die Halle der Könige. Die Gruft wirkte unberührt, bis auf die Spur von Fußabdrücken im Staub. Eine dichte Wolke des Staubes schwebte in der Luft, durchwoben von dem grünlichen Licht, und begann langsam auf den Boden zurückzusinken. Mit der Zeit würden alle Spuren ihres Hierseins wieder ausgelöscht werden.
Auf Allanons Berührung hin öffnete sich das steinerne Portal, und die Männer traten lautlos hinaus in die Aula. Sie standen auf einer hohen Plattform, die zu einem breiten Alkoven führte und dann in breiten Stufen nach unten ging. Die Höhle dahinter war riesig, eine ungeheure, hohe Kaverne, die immer noch die volle, unveränderte Pracht ihrer groben, natürlichen Schöpfung durch die bedächtigen Hände der Natur zeigte. Von der hohen Decke hingen gezackte Stalaktiten, Steinzapfen, gebildet vom Wasser und den Steinablagerungen der Jahrtausende. Unter diesen Gebilden lag ein langer, rechteckiger See in Form eines Beckens, gefüllt mit tiefem, grünem Wasser, die Oberfläche glatt und glasartig.
Wenn ein einzelner Wassertropfen von den Stalaktiten herabfiel, lief eine Kräuselung über die Oberfläche und verschwand.
Die Männer traten vorsichtig an den Rand der Plattform und blickten hinab auf den hohen Steinaltar am Fuß der Treppe vor dem See; das uralte Gestein war zerschrundet und an manchen Stellen sogar bröckelig. Die Höhle wurde düster erhellt von phosphoreszierendem, streifen förmigem Licht, das über die Felswände zuckte.
Langsam stiegen die Männer die Treppe hinunter, und ihre Augen richteten sich auf das einzelne Wort, das in den Altar gemeißelt war. Ein paar kannten seine Bedeutung. Valg- ein Wort aus der alten Gnomensprache. Es bedeutete >Tod<. Ihre Schritte hallten dumpf durch die Riesenhöhle. Nichts regte sich. Alles war eingehüllt in Alter und Schweigen. Als sie unten ankamen, zögerten sie einen Augenblick, die Blicke auf den reglosen See gerichtet. Allanon winkte Höndel und seine Schutzbefohlenen ungeduldig nach rechts, dann ging er mit Menion und Balinor auf den linken Gang hinaus. Ein Fehltritt hätte den Untergang bedeutet. Von der anderen Seite des Sees verfolgte Shea, wie die drei Gestalten sich an der rauhen Steinwand entlang tasteten. Im Wasser blieb alles ruhig. Sie hatten bald die Hälfte des Weges zurückgelegt, und Shea wagte zum ersten Mal zu atmen.
Dann wölbte sich die Oberfläche des Sees hoch, und aus den Tiefen schoß ein Alptraum herauf. Schlangenförmig im Aussehen, schien das ekelhafte Ungeheuer die ganze Höhle auszufüllen, als sein schleimumhüllter Körper hinaufstieg und die alten Stalaktiten bersten ließ. Ein Wutschrei gellte durch die Höhle.
Der Riesenleib wand und bog sich. Lange Vorderbeine mit tödlichen Krallen griffen in die leere Luft, und die Riesenkiefer krachten lärmend zusammen, die schwarzen, spitzen Zähne knirschten. Die großen, starren Augen leuchteten rot zwischen Knollen und verkümmerten Hörnern auf dem mißgestalteten Kopf. Die ganze Masse des Wesens war umhüllt von einer Reptilhaut, tropfend vor Unflat und Schmutz aus den schwärzesten Gruben der Unterwelt. Aus dem Maul quoll Gift, das ins Wasser klatschte und dort dampfend aufzischte. Das Monster funkelte die drei Menschen auf dem Seitenweg an und fauchte haßerfüllt.
Mit aufgerissenen Kiefern, kreischend vor Erwartung, stürzte es sich auf sie.
Alle reagierten auf der Stelle. Menion Leahs großer Bogen sirrte unablässig, als die vergifteten Pfeile mit tödlicher Genauigkeit hinausflogen und sich tief in das ungeschützte innere Fleisch des klaffenden Schlangenmauls bohrten. Das Wesen bäumte sich vor Schmerzen auf, und Balinor ergriff sofort die Initiative. Der riesenhafte Mann aus dem Grenzland trat an den Rand des Laufgangs und hieb mit Wucht auf den Unterarm des Wesens ein. Zu seinem Entsetzen glitt das mächtige Schwert an der dicken Schleimschicht der Schuppenhaut ab. Der zweite Unterarm schlug nach dem Angreifer und verfehlte nur knapp, als Balinor zur Seite sprang. Auf der anderen Seite hetzte Höndel zum offenen Tunnel am anderen Ende des Sees und trieb die Talbewohner und die Elfen-Brüder vor sich her. Einer von ihnen löste jedoch einen versteckten Hebel aus, und eine schwere Steinplatte kippte in die Öffnung und versperrte den Weg. Verzweifelt warf Höndel sich dagegen, aber die Steinbarrikade rührte sich nicht.
Das Ungeheuer war vom Krachen des stürzenden Steins angezogen worden. Es zog sich vom Kampf mit Menion und Balinor zurück und rauschte auf die kleineren Feinde zu. Das wäre das Ende gewesen, hätte der kampferfahrene Zwerg nicht schnell reagiert. Er ließ den Steinblock sein und stürzte sich ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit auf das Riesenungeheuer, um den schweren, eisernen Streitkolben mit Wucht in eines der glühenden Augen zu stoßen. Die Waffe traf mit solcher Kraft, daß das Auge barst. Das Ungeheuer fuhr in Todesqual hoch und krachte an die spitzen Stalaktiten, während es sich hin- und her warf. Tödliche Gesteinsbrocken regneten überall herab. Flick wurde am Kopf getroffen und stürzte zu Boden. Höndel blieb unter einem Regen von Steinklumpen begraben. Die anderen drei wichen zurück an den blockierten Fluchtweg, während der riesige Angreifer vor ihnen hochfuhr.
Endlich griff Allanon in den ungleichen Kampf ein. Er hob beide Arme, streckte die schmalen Hände aus, und seine Finger schienen aufzuleuchten. Blendende, blaue Flammen schössen aus den Fingerspitzen und trafen den Schädel des tobenden Wesens.
Die Gewalt dieses neuen Angriffs betäubte den Drachen, und er zuckte kreischend vor Wut und Schmerz im brodelnden Wasser des Sees. Der Druide trat schnell ein paar Schritte vor und schlug ein zweites Mal zu, ließ die blauen Flammen an den Schädel der außer sich geratenen Bestie zucken und riß das ganze Ungeheuer herum. Der zweite Treffer schleuderte den schuppigen Riesenleib an die Höhlenwand, wo er, hilflos von Zuckungen gepeitscht, die Steinplatte lockerte, die den Fluchtweg versperrte.
Shea und die Elfen-Brüder hatten den bewußtlosen Flick kaum noch wegziehen können, um ihn davor zu bewahren, von dem massigen Leib erdrückt zu werden. Sie hörten die Steinplatte herausfallen, entdeckten den offenen Tunnel und brüllten den anderen die Nachricht zu. Balinor hatte das wild zuckende Ungeheuer erneut angegriffen, als es in Reichweite gekommen war, vergeblich nach dem Kopf zielend, der herabstieß, immer noch halb betäubt von Allanons Flammenblitzen. Allanon hatte den Blick auf den Drachen gerichtet, und nur Menion sah, wovon die anderen brüllten. Er winkte sie mit heftigen Bewegungen zur Öffnung. Dayel und Shea hoben Flick auf und trugen ihn in den Tunnel. Durin wollte ihnen folgen, zögerte jedoch, als er den bewußtlosen Höndel unter der Geröllawine sah. Er kehrte um, rannte zu ihm hin, packte den schlaffen Arm des Zwerges und versuchte vergeblich, ihn unter dem Gestein herauszuziehen.
»Hinaus!« brüllte Allanon, der den Elf plötzlich bemerkte.
Der Drache nützte diesen Augenblick, um zurückzuschlagen.
Mit einem gewaltigen Hieb seines Krallenarmes wischte er Balinor beiseite und schleuderte ihn an die Höhlenwand. Menion sprang auf das Ungeheuer zu, aber der Prinz von Leah wurde umgeworfen und war nicht mehr zu sehen. Der Drache, von seinen Wunden immer noch gepeinigt, hatte nichts anderes im Sinn, als die hochgewachsene Gestalt im schwarzen Gewand zu erreichen und zu zerquetschen. Das Untier hatte noch eine Waffe in Reserve und setzte sie nun ein. Die giftgeifernden Kiefer klafften weit beim Anblick der einsam und verloren wirkenden Gestalt, und mächtige Flammen fauchten hinaus und hüllten den Druiden völlig ein. Durin, der von seinem Platz aus alles verfolgen konnte, ächzte vor Entsetzen. Shea und Dayel, die gleich hinter dem Eingang zum Fluchttunnel standen, waren vor Schrecken keines Gedankens mehr fähig, als sie Allanon von den Flammen umzüngelt sahen. Aber eine Sekunde später erloschen sie, und Allanon stand unberührt vor den entgeisterten Beobachtern.
Seine Hände hoben sich, die blauen Flammenblitze zuckten aus den ausgestreckten Fingern, trafen den Drachenschädel mit ungeheurer Kraft und schleuderten den schuppigen Körper wieder zurück. Dampf stieg in großen Wolken aus dem aufgepeitschten Wasser und vermischte sich mit Staub und Rauch des Kampfes zu einem dichten Nebel, der alles zu verhüllen begann.
Dann tauchte Balinor aus dem Dunst neben Durin auf, die Kleidung zerrissen und zerfetzt, den schimmernden Kettenpanzer verkratzt, das Gesicht von Schweiß und Blut gezeichnet. Gemeinsam zogen sie Höndel unter dem Geröll hervor. Der Prinz von Callahorn hob die schlaffe Gestalt auf seine Schulter und winkte Durin vor sich in den Gang, wo Dayel und Shea mit dem bewußtlosen Flick warteten. Balinor befahl ihnen, den Ohnmächtigen aufzuheben, und ohne sich zu vergewissern, ob sie es taten, verschwand er im dunklen Korridor, Höndel auf der Schulter, das große Breitschwert in der freien Hand. Die Elfenbrüder gehorchten sofort, aber Shea zögerte und hielt sorgenvoll Ausschau nach Menion. Die große Höhle sah verwüstet aus, die langen Reihen von Stalaktiten waren zerschmettert, die Ufergänge bedeckt von Geröll und alles verhüllt von Staub und Dampf. Auf der einen Seite der Kaverne konnte man den Riesenleib des Drachen noch erkennen, der sich in Zuckungen an der Wand hin- und her warf, eine Masse von Schuppen und Blut.
Weder Menion noch Allanon waren zu sehen. Doch dann tauchten sie aus dem dichten Dunst auf, Menion leicht hinkend, aber den Bogen und das Schwert von Leah fest umklammernd, Allanons schwarze Gestalt zerrauft, mit Staub und Asche bedeckt.
Wortlos winkte der Druide den Talbewohner weiter, und gemeinsam stolperten die drei durch die halb blockierte Öffnung.
Was danach geschah, lief in der Erinnerung aller nur nebelhaft ab. Betäubt eilten die erschöpften Männer durch den Tunnel, die beiden verwundeten und bewußtlosen Kameraden mitschleppend.
Die Zeit dehnte sich qualvoll, aber dann, ganz plötzlich, standen sie im Freien, blinzelten im grellen Licht der Nachmittagssonne, am Rand einer gefährlich steilen Felswand. Rechts von ihnen wand sich die Drachenfalte hinab zum offenen Hügelland.
Plötzlich begann der ganze Berg drohend zu grollen und unter ihren Füßen in kurzen Stößen zu erzittern. Mit einem scharfen Befehl trieb Allanon sie den engen Pfad hinunter. Balinor übernahm die Führung, immer noch Höndel auf der Schulter, dahinter Menion Leah. Durin und Dayel folgten ihnen, Flick schleppend. Dahinter kamen Shea und schließlich Allanon. Das unheimliche Grollen im Inneren des Berges hielt an. Langsam stieg die kleine Gruppe den schmalen Weg hinab. Er schlängelte sich zwischen überhängenden Felsen und an plötzlichen Abstürzen uneben dahin, und die Männer mußten sich in regelmäßigen Abständen an die Felswand pressen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und hundert Meter tief in den Abgrund zu stürzen.
Die Drachenfalte trug ihren Namen zu Recht. Die ständigen Biegungen und Haken des Weges verlangten konzentrierte Aufmerksamkeit und Vorsicht, und die immer wieder auftretenden Erdstöße erschwerten die Aufgabe nur noch mehr.
Sie waren nur ein kurzes Stück auf dem gefährlichen Pfad vorangekommen, als ein neues Geräusch hörbar wurde, ein tiefes Brausen, das bald das Grollen des Berges übertönte. Shea, mit Allanon am Ende des Zuges, vermochte die Quelle des Geräusches nicht auszumachen, bis er sie fast erreicht hatte. Er ging um eine Felskante herum, die ihn auf einen nordwärts gerichteten Sims führte, und entdeckte einen riesigen Wasserfall. Tonnen schäumenden Wassers stürzten mit ohrenbetäubendem Brüllen in einen breiten Fluß hinab, der zwischen den Bergketten dahinrauschte und mit einer Reihe von Stromschnellen östlich zu den Rabb-Ebenen führte. Der gewaltige Fluß fegte unmittelbar unter dem Sims vorbei, auf dem er stand, und das schäumende Wasser klatschte und brodelte an die Bergwände. Shea warf noch einen letzten Blick darauf und hastete dann auf Allanons Anweisung den Weg hinab. Die anderen hatten schon einen Vorsprung erzielt und waren für den Augenblick nicht zu sehen.
Shea war etwa dreißig Meter weit gekommen, als ein plötzlicher Erdstoß, heftiger als die anderen, den Berg bis ins Mark erschütterte.
Ohne Vorwarnung brach das Wegstück, auf dem er stand, ab und glitt den Hang hinab, den hilflosen Talbewohner mitreißend. Er stieß einen Entsetzensschrei aus und versuchte, sich abzufangen, als er sich auf einen steilen Überhang zurutschen sah, der scharf zum tobenden Fluß im Talboden abstürzte.
Allanon sprang vor, als Shea in einer Wolke von Staub und Gestein zu dem tödlichen Überhang hinabfegte.
»Pack irgend etwas!« schrie der Druide. »Halt dich fest!«
Shea griff vergebens hinaus, versuchte sich in die Felswand zu krallen und bekam im letzten Augenblick, am Abgrund, einen Felsvorsprung zu fassen. Er lag flach an der fast vertikalen Stelle und wagte nicht, hinaufzuklettern. Seine Arme drohten den Dienst zu versagen.
»Festhalten, Shea!« rief Allanon. »Ich hole ein Seil! Nicht bewegen!«
Allanon rief die anderen, aber ob sie hätten helfen können, erfuhr Shea nie. Als der Druide um Hilfe schrie, erschütterte ein neuerlicher Stoß den Berg und riß den unglücklichen Talbewohner von seinem dürftigen Halt los und ließ ihn hinausschießen über den Überhang, bevor er auch nur daran denken konnte, sich irgendwo festzuhalten. Mit wild rudernden Armen und Beinen stürzte er kopfüber in das reißende Wasser des Flusses. Allanon sah hilflos zu, als Shea mit enormer Wucht aufschlug, an die Oberfläche kam und davongerissen wurde nach Osten, der Ebene entgegen, umhergeschleudert im brodelnden Strom wie ein kleiner Korken, bis er dem Blick entschwand.