27

»Du da! He! Bleib stehen!«

Der scharfe Befehl tönte aus der Dunkelheit hinter Flick und drang wie ein Messer ins Zentrum seines schon erlahmenden Mutes. Der Talbewohner drehte sich voller Entsetzen um, so verstört, daß er nicht einmal mehr in der Lage war, die Flucht zu versuchen. Nun hatte man ihn endlich doch entdeckt. Es war nutzlos, das Jagdmesser zu ziehen, aber seine Finger blieben doch um den Griff geklammert, während er die herannahende Gestalt anstarrte. Er beherrschte die Gnomensprache kaum, aber der Befehl war unmißverständlich gewesen. Starr sah er zu, wie die stämmige, fluchende Gestalt sich aus der Dunkelheit zwischen den Zelten löste.

»Steh nicht einfach herum!« fauchte die Stimme. »Hilf mit!«

Entgeistert schaute Flick sich die gedrungene Gestalt genauer an, die auf ihn zuschlurfte, die Arme beladen mit Tellern und Tabletts, nahe daran, beim nächsten Schritt alles fallenzulassen. Flick sprang hinzu und nahm dem anderen einen Teil der Last ab. Der Geruch frisch gekochten Fleisches und verschiedenerGemüse stieg ihm in die Nase.

»So, das ist schon viel besser.« Der breitgebaute Gnom atmete erleichtert auf. »Noch ein Schritt, und ich hätte alles hingeworfen.

Eine ganze Armee im Lager, und keiner hilft mir, das Essen für die Häuptlinge zu tragen. Keiner! Ich muß alles alleine machen.

Man möchte toll werden - aber dir bin ich dankbar. Ich sorge dafür, daß du eine gute Mahlzeit bekommst.«

Flick verstand nur jedes zweite Wort des Geschwätzigen, und es war auch gar nicht wichtig. Worauf es ankam, war, daß man ihn nicht erkannt hatte. Flick atmete auf und balancierte die Teller, während sein neuer Begleiter munter weiterschwätzte. Flick nickte in Abständen, um zu zeigen, daß er der Meinung des anderen sei, auch wenn er fast nichts verstand. Seine Blicke huschten dabei unablässig über die Schatten zwischen den Zelten.

Er mußte in dieses eine Zelt gelangen, dieser Gedanke ließ ihn nicht los; er mußte wissen, was dort vorging. Der Gnom neben ihm setzte sich plötzlich, wie auf ein Stichwort hin, in Bewegung und ging mit vorsichtigen Schritten auf das Zelt zu, das kleine, gelbe Gesicht halb zur Seite gedreht, um weiter auf Flick einreden zu können. Es gab keinen Zweifel mehr; sie lieferten das Essen in dieses Zelt, das den Häuptlingen der beiden Nationen, aus denen die Riesenarmee sich rekrutierte, gehörte und dem furchtbaren Schädelträger.

Das ist Wahnsinn, dachte Flick plötzlich; man wird mich sofortentdecken. Aber er mußte einen Blick ins Innere werfen!

Dann standen sie am Eingang, vor den beiden riesigen Troll-Wachen, die sie überragten wie Bäume zwei Grashalme. Flick brachte es nicht über sich, seinen Blick zu erheben, da er wußte, daß er, hätte er das getan, nur auf eine gepanzerte Brust gestarrt hätte.

Flicks selbsternannter Freund pfiff trotz seiner Winzigkeit die Wachen an, gefälligst Platz zu machen und sie hineinzulassen, bevor das Essen kalt zu werden drohe. Einer der Posten trat in das hell beleuchtete Innere des Zeltes und sprach mit jemandem, dann tauchte er wieder auf und winkte die beiden Essenträger hinein. Der kleine Gnom nickte Flick über die Schulter zu, bevor er an den beiden Wachen vorbei ins Zelt trat, und Flick folgte ihm bangen Herzens, kaum fähig zu atmen. Flick schickte ein Stoßgebet zum Himmel und flehte um ein weiteres Wunder.

Das Innere des großen Zeltes war von großen Fackeln auf eisernen Pfosten um einen schweren Holztisch in der Mitte gut beleuchtet.

Trolls verschiedener Größe eilten im Zelt hin und her, manche mit zusammengerollten Landkarten unter den Armen.

Andere setzten sich zur langerwarteten Mahlzeit nieder. Alle trugen die militärischen Abzeichen der Maturen - Troll-Kommandeure.

Der rückwärtige Teil des Zeltes war abgeteilt von einem schweren Gobelin, den nicht einmal das helle Fackellicht zu durchdringen vermochte. Die Luft im Zelt war rauchig und verbraucht, so daß Flick das Atmen schwerfiel. Überall lagen Waffen und Rüstungsteile, an Pfosten hingen Schilde. Flick spürte die Gegenwart des Schädelträgers ganz deutlich; es konnte keinen Zweifel daran geben, daß dieser sich hinter dem als Trennwand dienenden Gobelin befand. Ein Wesen wie dieses aß nichts - sein sterbliches Ich war längst zu Staub zerfallen, und der Geist in ihm benötigte nur das Feuer des Dämonen-Lords, um seinen Hunger zu stillen.

Plötzlich entdeckte der Talbewohner etwas anderes. In der Nähe des Gobelins, halb verborgen durch die von den Fackeln erzeugten Rauchwolken und die hin- und hereilenden Trolle, saß auf einem hohen Stuhl eine undeutlich wahrnehmbare Gestalt.

Flick zuckte unwillkürlich zusammen, für einen Augenblick davon überzeugt, Shea vor sich zu haben. Die hungrigen Trolle kamen auf Flick zu, griffen nach den vollen Tellern und trugen sie zum Tisch, so daß sie für kurze Zeit Flicks Sicht einschränkten.

Die Trolle unterhielten sich halblaut miteinander, während sie Flick und dem Gnom das Essen abnahmen, aber ihre Sprache war dem kleinen Talbewohner völlig unverständlich. Er gab sich Mühe, noch mehr in seinen Mantel hineinzukriechen und nur ganz tief unter der Kapuze hervorzulugen. Eigentlich hätte er auffallen müssen, aber die Troll-Befehlshaber waren müde und hungrig und viel zu sehr mit ihren Invasionsplänen beschäftigt, um auf den ungewöhnlich großen Gnomen zu achten, der ihnen das Essen gebracht hatte.

Die letzen Tabletts wurden Flick und dem kleinen Gnomen abgenommen und auf den Tisch gestellt, während die Maturen sich dort versammelten. Der kleine Gnom, der Flick mit ins Zelt gebracht hatte, wandte sich zum Ausgang, aber Flick zögerte noch einen Augenblick, um die Gestalt an der Rückseite des Zeltes genauer zu betrachten.

Es war nicht Shea. Der Mann war ein Elf, etwa Mitte Dreißig, mit kräftigen, intelligenten Zügen. Auf diese Entfernung war mehr nicht auszumachen, aber Flick glaubte, Eventine vor sich zu haben, den jungen Elfenkönig, der nach Allanons Überzeugung entscheidend für Sieg oder Niederlage des Südlandes sein mochte. Im Westland, dem großen, fernen Reich der Elfen, gab es die mächtigste Armee der freien Welt. Wenn das Schwert von Shannara unwiederbringlich verloren war, besaß allein dieser Mann die Macht, den Dämonen-Lord aufzuhalten – dieser Mann, ein Gefangener, dessen Leben jeden Augenblick ausgelöscht werden konnte.

Flick spürte eine Hand auf seiner Schulter und zuckte heftig zusammen.

»Los, los, wir müssen gehen«, flüsterte ihm der kleine Gnom zu. »Du kannst ihn ein andermal anstarren. Er wird hier sein.«

Flick zögerte erneut, als ein tollkühner Plan in ihm reifte.

Hätte er sich Zeit genommen darüber nachzudenken, wäre er gewiß davor zurückgeschreckt, aber diese Zeit hatte er nicht, und über vernünftige Überlegungen war er längst hinaus. Es war bereits zu spät, aus dem Lager zu entfliehen und zu Allanon zurückzukehren, bevor es hell wurde, und er hatte sich hierher gewagt, um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Er gedachte noch nicht zu gehen.

»Los, sage ich, wir müssen... He, was soll das?« Der kleine Gnom schrie unwillkürlich auf, da Flick ihn grob am Arm gepackt hatte und auf die Troll-Kommandeure zustieß, die im Essen innehielten, als der Aufschrei durch das Zelt gellte. Sie starrten die beiden kleinen Gestalten verwundert an. Flick hob eine Hand und deutete fragend auf den gefesselten Gefangenen. Die Trolle folgten mechanisch seinem Blick. Flick wartete atemlos, bis einer der Trolle einen kurzen Befehl bellte, während die anderen nickten und die Achseln zuckten.

»Du bist verrückt, du hast den Verstand verloren!« keuchte der kleine Gnom entsetzt. »Was kümmert es dich, ob der Elf zu essen bekommt oder nicht? Was geht es dich an, ob er verhungert?«

Ein Troll rief sie zu sich, eine verkrümmte Hand reichte ihnen einen vollen Teller. Flick zögerte kurz und warf einen Blick auf seinen fassungslosen Begleiter, der den Kopf schüttelte und vor sich hinmurrte.

»Schau nicht mich an!« knurrte er. »Das war deine Idee! Du kannst ihn füttern!«

Flick verstand nicht alles, was der Gnom sagte, begriff aber den Sinn und beeilte sich, den Teller an sich zu nehmen. Zu keinem Zeitpunkt blickte er länger als für einen Moment in andere Gesichter, und selbst dann verbarg die tief herabgezogene Kapuze seine Züge. Er hielt den Mantel eng um sich gewickelt, als er auf den Gefangenen zuging, frohlockte aber innerlich über das Gelingen seines Plans. Wenn er nah genug an Eventine herankam, konnte er ihm klarmachen, daß Allanon in der Nähe war und man einen Befreiungsversuch unternehmen werde. Sorgenvoll warf er einen Blick über die Schulter. Die Trolle hatten sich wieder über ihre Teller gebeugt, und nur der kleine Koch sah ihm nach. Wenn Flick diesen Streich an irgendeinem anderen Ort als inmitten des feindlichen Lagers versucht hätte, wäre er wohl auf der Stelle entdeckt worden. Aber hier, im Hauptquartier der Befehlshaber, wo der schwarze Schädelträger nur Meter entfernt war, das Zelt umgeben von Tausenden von Soldaten, kam niemand auf den Gedanken, jemand könnte sich ins Lager oder gar in dieses bewachte Zelt eingeschlichen haben.

Flick ging ruhig auf den Gefangenen zu, das Gesicht unter der Kapuze verborgen, den Teller ausgestreckt. Eventine war von normaler Größe und Statur eines Mannes, wenn auch groß für einen Elf. Er trug Waldbewohnerkleidung, darüber die Reste eines Kettenpanzers, auf dem noch das Abzeichen des Hauses Elessedil undeutlich erkennbar war. Sein kräftig geschnittenes Gesicht zeigte Spuren von Schlägen und Wunden, Zeichen der Schlacht, die mit seiner Gefangennahme geendet hatte. Auf den ersten Blick schien nichts Besonderes an ihm zu sein; er stach nicht auf Anhieb hervor. Seine Miene blieb ausdruckslos, als Flick vor ihm stehenblieb. Offenbar gingen seine Gedanken in eine andere Richtung. Dann bewegte er ein wenig den Kopf, und die dunkelgrünen Augen richteten sich auf die kleine Gestalt.

Als Flick die Augen sah, erstarrte er. Sie spiegelten eine wilde Entschlossenheit, eine unbeugsame Charakterstärke und innere Überzeugung wider, die Flick auf irgendeine Weise an Allanon erinnerten. Sie griffen in ihn hinein, packten, bildlich gesprochen, seinen Geist und verlangten seine Aufmerksamkeit, seinen Gehorsam. Er hatte diesen Blick noch bei keinem gesehen, nicht einmal bei Balinor, den sie alle als natürliche Führerpersönlichkeit anerkannten. Wie die des schwarzen Druiden erschreckten ihn die Augen des Elfenkönigs. Flick senkte den Blick auf den Teller und überlegte. Mechanisch spießte er einen Fleischbissen mit der Gabel auf. Dieser Winkel des Zeltes war nur schwach beleuchtet, und der Rauch trug dazu bei, seine Bewegungen vor dem Feind zu verbergen. Nur der kleine Gnom beobachtete ihn, aber ein einziger Fehler würde genügen, um alle auf ihn zustürzen zu lassen.

Er hob langsam den Kopf, bis der Fackelschein sein Gesicht für den aufmerksamen Gefangenen erhellte. Als ihre Blicke einander begegneten, huschte ein Zucken der Überraschung über das sonst ausdruckslose Elfengesicht, und eine Braue hob sich.

Flick schob schnell die Lippen vor, um Schweigen zu gebieten, und blickte wieder auf den Teller. Eventine konnte sich nicht selbst bedienen, so daß Flick begann, ihn zu füttern. Der Elfenkönig wußte nun, daß er kein Gnom war, aber Flick fürchtete, belauscht zu werden, wenn er mit dem König sprach, selbst im Flüsterton. Er dachte plötzlich daran, daß hinter dem dicken Gobelin der Schädelträger lauerte, und wenn er ein scharfes Hörvermögen besaß... Aber es gab für Flick keine Wahl; er mußte, bevor er ging, mit dem Gefangenen sprechen. Eine zweite Gelegenheit mochte sich nicht ergeben. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, als er die Gabel an Eventines Mund führte.

»Allanon.«

Das Wort war nur gewispert, kaum vernehmbar. Eventine öffnete den Mund und nickte schwach, das Gesicht versteinert.

Flick hatte genug. Es war Zeit, von hier zu verschwinden, bevor ihn das Glück im Stich ließ. Er drehte sich langsam um und ging zurück zu dem wartenden Gnomenkoch, der halb nervös, halb angewidert wirkte. Die Troll-Befehlshaber speisten noch immer, als er an ihnen vorbeiging, und unterhielten sich leise. Sie hoben nicht einmal die Köpfe. Flick gab dem kleinen Gnom den Teller, murmelte etwas Unverständliches und hastete dann hinaus, vorbei an den Wachen, bevor sein verblüffter Begleiter reagieren konnte. Während er scheinbar unbekümmert davonschlenderte, trat der Gnom aus dem Zelt und schrie ihm etwas nach, das Flick nicht verstand. Der kleine Talbewohner drehte sich um und winkte dem Koch zu, bevor er in der Dunkelheit verschwand.

Im Morgengrauen begann die Nordland-Armee nach Süden, Richtung Callahorn, zu marschieren. Flick hatte vorher nicht aus dem Lager entwischen können; während also Allanon verbittert, und sorgenvoll von seinem Versteck zwischen den Felsen aus hinabblickte, war das Objekt seiner Befürchtungen gezwungen, seine Verkleidung einen Tag länger zu tragen. Die schweren Regenfälle am Morgen hatten Flick beinahe dazu veranlaßt, einen Fluchtversuch zu wagen, weil er überzeugt davon war, die Regengüsse würden Allanons Farbe von seiner Haut waschen und ihn entlarven. Aber eine Flucht bei Tag erwies sich als undurchführbar; er wickelte sich fest in seinen Umhang und versuchte möglichst wenig aufzufallen. Zu seiner Freude schien die gelbliche Tönung seiner Haut nicht zu verschwinden. Sie verblaßte zwar ein wenig, aber im allgemeinen Durcheinander des Aufbruchs schien das niemand zu bemerken. Tatsächlich war es das schreckliche Wetter, das Flick vor einer Entdeckung bewahrte.

Wäre es ein warmer, trockener Sommertag voll Sonnenschein gewesen, hätten die Soldaten viel eher Gelegenheit zu Scherzen und Albernheiten gehabt, und außerdem wäre kein schwerer Jagdumhang nötig gewesen, in dem man nur geschwitzt hätte.

Flick hätte ihn ablegen müssen, wie die anderen, und sich damit sofort verraten. Im hellen Licht wäre er auf der Stelle entdeckt worden. Der heftige Regen, der Flick davor rettete, erlaubte ihm, sich abseits zu halten, während die riesige Invasionsarmee durch das Grasland in das Königreich Callahorn einmarschierte.

Das schlechte Wetter hielt den ganzen Tag an und, wie sich herausstellen sollte, noch Tage darauf. Die dunklen Wolken verbarrikadierten sich zwischen Sonne und Erde in riesigen, hochgetürmten Massen. Der Regen prasselte unerbittlich herunter, gepeitscht vom Wind, oder nieselte melancholisch, um den falschen Glauben zu wecken, früher oder später müsse es damit doch ein Ende haben. Die Luft war kühl, manchmal sogar schneidend kalt, und die durchnäßten Soldaten froren erbärmlich blieb beim Marsch den ganzen Tag auf den Beinen, völlig durchnäßt, aber erleichtert darüber, daß er sich bewegen konnte, ohne aufzufallen. Er vermied es, länger bei irgendeiner Gruppe zu bleiben und wich allen Situationen aus, die dazu hätten führen können, daß sich ein Gespräch entwickelte. Die Nordland-Armee war so riesig, daß es leichtfiel, sich immer wieder anderen Trupps anzuschließen, und überdies kam ihm noch zu Hilfe, daß es keine Bemühungen zu geben schien, irgendeine Marschdisziplin aufrechtzuerhalten. Entweder nahm man es mit der Disziplin im allgemeinen nicht so genau, oder die einzelnen Soldaten waren so gedrillt, daß man keine Offiziere als Aufsicht brauchte.

Flick konnte sich letzteres eigentlich nicht vorstellen und vermutete, daß die Angst vor den allgegenwärtigen Schädelträgern und ihrem unheimlichen Meister die Trolle und Gnome daran hinderte, sich irgendwelche Frechheiten zu erlauben. Jedenfalls blieb der kleine Talbewohner ein unauffälliger Angehöriger der Nordland-Streitmacht. Er gedachte den Einbruch der Nacht abzuwarten, bevor er die Flucht ergriff, um Allanon wiederzufinden.

Am späten Nachmittag hatte die Armee den über die Ufer getretenen oberen Mermidon unmittelbar gegenüber der Inselstadt Kern erreicht. Wieder schlug die Armee ein Lager auf. Die Befehlshaber begriffen, daß der Mermidon infolge der schweren Regenfälle nicht ohne große Risiken überwunden werden konnte; man würde auch unter normalen Bedingungen viele riesengroße Flöße brauchen, um die Soldaten überzusetzen und das andere Ufer zu erobern. Es gab keine Flöße, also mußten sie gebaut werden. Das erforderte mehrere Tage, und man rechnete damit, daß bis dahin der Regen nachlassen, das Hochwasser zurückgehen und eine unbehinderte Uberquerung des Stroms möglich sein würde. Auf der anderen Seite, in Kern, war die Streitmacht entdeckt worden, während Menion Leah noch im Hause Shirl Ravenlocks schlief, und die Menschen gerieten in Panik, als sie das Ausmaß der Gefahr, in der sie schwebten, erkannten.

Die feindliche Invasionstruppe konnte es sich nicht leisten, Kern zu umgehen und direkt nach Tyrsis vorzustoßen.

Kern mußte genommen werden; infolge der verringerten Garnison würde das nicht schwer sein. Nur der anschwellende Fluß und der Sturm verhinderten zunächst den Angriff.

Flick wußte von diesen Dingen nichts und dachte nur an die Flucht. Der Sturm mochte in wenigen Stunden aufhören, so daß Flick mitten im feindlichen Lager der Entdeckung ausgesetzt war. Schlimmer noch, die Invasion ins Südland hatte begonnen, und jeden Tag konnte es zu einer Schlacht mit der Grenzlegion kommen. Er konnte in die Gefahr geraten, als vermeintlicher Gnom gegen seine eigenen Freunde kämpfen zu müssen.

Flick hatte sich seit seiner ersten Begegnung mit Allanon vor Wochen in Shady Vale sehr verändert. Er hatte eine innere Kraft und Reife erlangt, ein Selbstvertrauen, dessen er sich nie für fähig gehalten hätte. Aber die vergangenen vierundzwanzig Stunden hatten ihn auf eine überaus harte Probe gestellt, eine so harte, daß selbst der erfahrene Höndel daran zu beißen gehabt hätte. Der kleine Talbewohner, unerfahren und verwundbar, spürte, daß er nahe daran war, die Nerven zu verlieren, sich ganz dem schrecklichen Gefühl von Angst und Zweifel zu überlassen, das ihn bei jedem Schritt begleitete.

Shea war der Anlaß für seine Entscheidung gewesen, die gefahrvolle Reise nach Paranor zu wagen, und mehr noch, er war derjenige gewesen, der einen beruhigenden Einfluß auf den pessimistischen, mißtrauischen Flick ausgeübt hatte. Nun war Shea schon seit vielen Tagen spurlos verschwunden, niemand wußte, ob er überhaupt noch lebte, und sein Bruder gab zwar nicht die Hoffnung auf, ihn früher oder später wiederzufinden, aber er hatte sich auch in seinem ganzen Leben noch nie so einsam gefühlt, Nicht nur befand er sich in einem fremden Land, hineingezogen in ein wahnsinniges Unternehmen gegen ein geheimnisvolles Wesen, das nicht einmal von dieser Welt war, senden er stand auch noch ganz allein inmitten Tausender von Nordländern, die ihn ohne Bedenken töten würden, sobald sie entdeckten, wer er in Wirklichkeit war. Die ganze Situation war unerträglich, und er fing an zu bezweifeln, daß irgend etwas von seinen Handlungen sinnvoll gewesen sei.

Während die riesige Armee am Ufer des Mermidon im Schatten der Abenddämmerung kampierte, irrte ein bedrückter, angstvoller Flick unsicher durch das Lager und versuchte verzweifelt, an seiner Entschlossenheit festzuhalten. Es regnete immer noch unablässig, und aus den Soldaten wurden verschwommene Schatten, die durcheinanderwimmelten, während das Wasser alles durchtränkte. Bei solchem Wetter konnte man nicht einmal Lagerfeuer entzünden, so daß der Abend dunkel und undurchdringlich blieb. Flick schlich lautlos herum und registrierte den Ort des Hauptquartiers, die Anordnung der Gnomen- und Troll-Streitkräfte und die Aufstellung der Postenlinien, da er glaubte, sein Wissen könne für Allanon von Nutzen sein, wenn es darum ging, die Flucht des Elfenkönigs in die Wege zu leiten.

Ohne Schwierigkeiten fand er das große Zelt wieder, in dem die Maturen der Trolle und ihr wertvoller Gefangener untergebracht waren, aber es war, wie das ganze Lager, dunkel und kalt, eingehüllt in Nebel und Regen. Er hatte nicht einmal die Gewißheit, daß Eventine sich dort noch aufhielt; er mochte in ein anderes Zelt gebracht oder auf dem Marsch nach Süden fortgeschafft worden sein. Die beiden riesigen Troll-Wachen standen nach wie vor am Zelteingang, aber im Inneren schien sich nichts zu regen.

Flick starrte das Zelt lange an und schlich wieder davon.

Als die Nacht herabsank und die Soldaten sich zum Schlafen niederlegten, beschloß Flick, die Flucht zu wagen. Er hatte keine Ahnung, wo er Allanon finden konnte; er vermutete nur, daß der Druide der Invasionsarmee nach Süden gefolgt war. In der Dunkelheit und im Regen würde es nahezu unmöglich sein, ihn aufzustöbern, und er konnte bestenfalls hoffen, sich irgendwo verbergen zu können, bis es hell wurde, um dann auf die Suche zu gehen. Er huschte zum Ostrand des Lagers, stieg vorsichtig über schlafende Gestalten, wand sich zwischen Bagage und Rüstungen hindurch, noch immer in seinen durchnäßten Jagdumhang gehüllt.

Er hätte in dieser Nacht wohl sogar ohne jede Verkleidung durch das Heerlager gehen können. Zur Dunkelheit und dem inzwischen nachlassenden Regen kam noch ein tief hängender, wallender Nebel, der über das Grasland herangekrochen war und alles so dicht einhüllte, daß man kaum zwei Meter weit sehen konnte. Ohne es zu wollen, dachte Flick wieder an Shea. Die Suche nach seinem Bruder war der eigentliche Anlaß für ihn gewesen, sich ins Lager zu schleichen. Er hatte über Shea nichts erfahren, allerdings damit auch kaum gerechnet. Er war durchaus darauf vorbereitet gewesen, entdeckt und gefangengenommen zu werden, kaum, daß er sich ins Lager geschlichen hatte, aber noch immer war er frei. Wenn er jetzt zu entkommen und Allanon zu finden vermochte, wenn es ihnen gelingen sollte, den Elfenkönig zu befreien und...

Flick blieb plötzlich stehen und duckte sich neben einem mit Segeltuch abgedeckten Bagagestapel. Selbst wenn er auf irgendeine Weise den Druiden ausfindig machte, was konnten sie für Eventine tun? Es erforderte Zeit, Balinor in der ummauerten Stadt Tyrsis zu erreichen, und viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.

Was würde aus Shea werden, während sie sich bemühten, Eventine zu befreien - wer war für das Südland wichtiger als Flicks Bruder, seitdem das Schwert von Shannara verlorengegangen war? Aber vielleicht wußte Eventine etwas über Shea? Vielleicht wußte er, wo Shea sich befand - vielleicht sogar, wohin man das mächtige Schwert gebracht hatte?

Flicks erschöpftes Gehirn begann die Möglichkeiten zu überdenken.

Er mußte Shea finden; nichts war im Grunde wichtiger für ihn. Es gab niemanden mehr, der ihm helfen konnte, seitdem Menion sich auf den Weg gemacht hatte, die Städte von Callahorn zu warnen. Selbst Allanon schien seine gewaltigen Reserven ohne Erfolg ausgeschöpft zu haben. Aber Eventine mochte wissen, wo Shea war, und Flick allein war in der Lage, in diesem Punkt etwas zu unternehmen.

Fröstelnd wischte er sich den Regen vom Gesicht und starrte in den Nebel. Wie konnte er auch nur daran denken, dort noch einmal hinzugehen? Er stand am Rande der Panik und Erschöpfung, selbst wenn er kein weiteres Risiko mehr auf sich nahm.

Aber die Nacht war ideal geeignet - dunkel, neblig, undurchdringlich.

Eine solche Gelegenheit mochte sich in der kurzen, noch verfügbaren Zeit nicht mehr einstellen, und niemand konnte sie nutzen außer ihm. Wahnsinn - Wahnsinn! dachte er verzweifelt. Wenn er noch einmal hinging, wenn er versuchte, Eventine auf eigene Faust zu befreien... würde man ihn töten.

Aber plötzlich entschied er, daß dies genau das war, was er tun würde. Shea war der einzige, der ihm wirklich am Herzen lag, und der Elfenkönig schien allein Kenntnis davon zu haben, was mit seinem vermißten Bruder geschehen war. Flick war alleine so weit gekommen, hatte vierundzwanzig qualvolle Stunden lang versucht, sich zu verbergen, am Leben zu bleiben in einem Lager voller Feinde, die ihn nicht zu bemerken schienen. Es war ihm sogar gelungen, in das Zelt der Troll-Kommandeure vorzudringen, nah genug an den großen König des Elfenvolks heranzukommen, um ihm eine kurze Nachricht zu übermitteln. Vielleicht war dies alles das Ergebnis blinden Zufalls gewesen, ein flüchtiges Wunder, aber konnte er jetzt die Flucht ergreifen, obwohl er so wenig vorzuweisen hatte? Er lächelte schwach über sein eigenes dumpfes Gefühl für das Heroische. Eine unwiderstehliche Herausforderung gewann Macht über ihn, nachdem er sich bislang immer erfolgreich dagegen gewehrt hatte. Wahrscheinlich würde sie seinen Untergang herbeiführen. Frierend, erschöpft, dem seelischen und körperlichen Zusammenbruch nahe, gedachte er trotzdem diesen letzten Einsatz zu wagen, einfach, weil die Umstände ihn zu dieser Zeit an diesen Ort geführt hatten. Ihn allein. Menion Leah würde grinsen, wenn er das sehen könnte, dachte Flick grimmig und wünschte sich gleichzeitig, der wilde Hochländer möge hier sein, um ihm etwas von seinem unbekümmerten Mut abzugeben. Aber Menion war nicht hier, und die Zeit verrann schnell.

Dann war er, fast ohne es selbst zu merken, durch das Lager zurückgegangen und kauerte atemlos vor dem großen Maturen-Zelt. Regen und Schweiß rannen in kleinen Bächen über sein erhitztes Gesicht in die tropf nasse Kleidung, während er regungslos auf das Zelt starrte. Von neuem überfielen ihn die Zweifel.

Das grauenhafte Wesen, das dem Dämonen-Lord diente, war beim ersten Mal dortgewesen, ein schwarzes, seelenloses Instrument des Todes, das Flick vernichten würde, ohne nachzudenken.

Es mochte auch jetzt im Zelt sein, schlaflos wachend, wartend, vorbereitet auf eben einen solchen Versuch, wie Flick ihn unternehmen wollte. Schlimmer noch, der Elfenkönig konnte fortgebracht worden sein...

Flick schob die Zweifel beiseite und atmete tief ein. Langsam nahm er seinen ganzen Mut zusammen, den Blick auf das Zelt gerichtet, das in der Dunkelheit als nebliger Schatten aufragte. Er konnte nicht einmal die Umrisse der riesigen Troll-Wachen erkennen.

Er griff unter den Umhang und zog das kurze Jagdmesser hervor, seine einzige Waffe. Er prägte sich innerlich noch einmal die Stelle ein, wo Eventine bei der ersten Begegnung gesessen hatte, dann kroch er langsam vorwärts.

Er kauerte an der nassen Leinwand des Riesenzelts, den kalten Stoff am Gesicht, während er auf die Geräusche im Inneren lauschte. Eine Viertelstunde verging, während er regungslos im Dunkeln verharrte und die Atemzüge und Schnarchlaute im Zelt an sein Ohr dringen ließ. Er erwog kurz, durch den Eingang ins Zelt zu schleichen, verwarf diesen Gedanken aber wieder, weil er wußte, daß er im Dunkeln über eine Anzahl schlafender Trolle würde hinwegsteigen müssen, um dorthin zu gelangen, wo er Eventine vermutete. Stattdessen suchte er sich die Stelle aus, wo nach seiner Erinnerung der schwere Gobelin als Trennwand hing - die Ecke, wo der Elfenkönig an einen Stuhl gefesselt gewesen war. Er stach das Messer in die Leinwand und begann senkrecht zu schneiden, Zentimeter für Zentimeter.

Er konnte sich später nicht mehr erinnern, wie lange er gebraucht hatte, um die Zeltwand aufzuschlitzen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, und er wagte dabei kaum zu atmen. Mit der Zeit kam er sich vor, als sei er mutterseelenallein in dem riesigen Lager, verlassen von allem menschlichen Leben im schwarzen Leichentuch des Nebels. Niemand kam in seine Nähe, jedenfalls sah er keinen vorbeigehen, und kein Laut drang an sein Ohr. Er mochte in diesen verzweifelten Minuten wahrlich allein auf der Welt sein...

Dann klaffte ein langer, vertikaler Schlitz in der Zeltwand und lud ihn ein, hineinzusteigen. Vorsichtig schob er die Hände hinein und tastete herum, fand nichts als den trockenen, aber kalten Zeltboden. Er zwängte den Kopf durch den Schlitz und starrte angstvoll in die tiefe Schwärze des Zeltinneren, wo die Trolle schliefen. Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und wünschte sich verzweifelt, seine Atemzüge möchten in seinen Ohren nicht so laut klingen. Er kam sich nackt und schutzlos vor.

Seine Augen brauchten viel zu lange, um sich anzupassen, und er durfte nicht riskieren, in diesen Sekunden von einem zufällig vorbeikommenden Soldaten entdeckt zu werden. Er schob seinen Körper in das Innere des Zeltes. Die Atemzüge und Schnarchlaute stockten, und ab und zu drehte sich jemand auf die Seite, aber niemand wurde gänzlich wach. Flick kauerte endlose Minuten an seinem Platz und blickte in höchster Spannung um sich, bemüht, die Umrisse von Männern, Tischen und Gepäck in der Schwärze des Inneren zu erkennen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich vermochte er die am Boden liegenden Gestalten auszumachen, die fest in ihre Decken gewickelt waren. Zu seinem Erstaunen entdeckte er, daß eine einzelne Gestalt nur Zentimeter von ihm entfernt am Boden lag. Hätte er versucht, seinen Weg gleich fortzusetzen, wäre er über den Schläfer gestolpert und hätte ihn gewiß geweckt. Die Angst flutete wieder in ihn hoch, und einen Augenblick lang mußte er die Panik niederkämpfen, die ihm die Luft abzuschnüren drohte. Er spürte, wie der Schweiß an seinem zusammengekauerten Körper herunterlief, wie seine Atemzüge immer kürzer und verkrampfter wurden. In diesen Sekunden war er sich der winzigsten Einzelheiten bewußt, sein Verstand lief Gefahr, einen Zusammenbruch zu erleiden - aber später konnte er sich an alle diese Dinge nicht mehr erinnern. Sein Gehirn löschte sie barmherzigerweise aus, und alles, was blieb, war ein scharfes Bild, eingeätzt in sein Gedächtnis, die schlafenden Maturen, und das Ziel seiner Suche - Eventine. Flick entdeckte schnell, daß die schmale Gestalt nicht mehr auf dem Stuhl in der Ecke saß, sondern nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Zeltboden lag.

Die dunklen Augen waren offen und wachsam. Flick hatte die richtige Stelle für sein Eindringen gefunden, und nun schlich er katzengleich zum König und durchtrennte mit dem Messer die Fesseln an Hand- und Fußgelenken.

Der Elf war im Nu frei, und die beiden schattenhaften Gestalten huschten zu dem Schlitz in der Zeltwand. Eventine blieb kurz stehen, bückte sich und hob neben einem der schlafenden Trolle etwas auf. Flick wartete nicht, um zu sehen, was Eventine an sich genommen hatte, sondern schlüpfte durch den Schlitz hinaus in die neblige Dunkelheit. Dort kauerte er neben dem Zelt und schaute sich nervös um. Nur der Regen störte die Stille der Nacht. Sekunden später klaffte der Schlitz erneut, und der Elfenkönig schob sich heraus, um neben seinem Retter niederzukauern.

Er hatte einen Allwetterponcho und ein Breitschwert mitgebracht.

Während er in das Kleidungsstück schlüpfte, grinste er Flick an und drückte ihm herzlich die Hand. Flick lächelte und nickte.

Eventine Elessedil war also gerettet, befreit aus den Händen des Feindes. Für Flick Ohmsford war das einer der schönsten Augenblicke seines Lebens. Er hatte das Gefühl, daß das Schlimmste überstanden sei, daß die Flucht aus dem Lager gelingen mußte, sobald sie das Maturen-Zelt hinter sich hatten. Er hatte vorher nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, wie es weitergehen sollte, wenn er Eventine befreit haben würde, aber nun galt es vorauszuschauen. Während aber die beiden noch am Zelt kauerten, ging der Augenblick dafür verloren.

Aus dem Nichts kamen drei schwerbewaffnete Troll-Wachen heran und entdeckten die beiden Gestalten am Maturen-Zelt.

Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrten alle, dann stand Eventine langsam auf und verdeckte den Schlitz in der Zeltwand.

Zu Flicks Verwunderung winkte der Elfenkönig die drei Soldaten heran und sprach fließend in ihrer Sprache auf sie ein. Die Wachen näherten sich zögernd, die langen Piken sorglos gesenkt, als sie die ihnen vertrauten Laute hörten. Eventine trat zur Seite, um den Blick auf den Schlitz freizugeben, und nickte Flick warnend zu, als die Trolle nun vorwärtsstürzten. Flick trat rasch zurück, die Hand am Jagdmesser. Als die Trolle heranstürmten, den Blick auf die zerschnittene Zeltwand gerichtet, schlug der Elfenkönig mit dem Breitschwert zu.

Zwei von den Trollen waren zum Schweigen gebracht, bevor sie Gelegenheit fanden, sich zu verteidigen. Der dritte Troll stieß einen Schrei aus und hieb auf Eventine ein, traf ihn auch an der Schulter, stürzte aber dann leblos zu Boden. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Flick stand leichenblaß an der Zeltwand und starrte die toten Trolle an, während der verwundete Elfenkönig vergeblich versuchte, der Blutung aus der Schulter Herr zu werden.

Schon hörten sie in der Nähe scharfe Stimmen.

»Wohin?« zischte Eventine, das blutige Schwert mit der Rechten umklammernd.

Der kleine Talbewohner lief stumm auf Eventine zu und deutete in die Dunkelheit hinein. Die Stimmen wurden lauter, kamen aus allen Richtungen, und die Fliehenden huschten lautlos davon. Sie stolperten zwischen den nebelumhüllten Zelten über kleine und große Gegenstände, fanden kaum Halt auf dem nassen, glitschigen Boden, waren behindert von der Dunkelheit und dem wallenden Nebel. Die Stimmen blieben auf beiden Seiten hinter ihnen zurück, wurden aber plötzlich wieder laut, als die Leichen der Posten entdeckt wurden. Eventine und Flick hetzten weiter, während die schmetternden Laute eines Troll-Kampfhorns die nächtliche Stille zerrissen, und alle im Lager erwachten.

Flick lief voraus, verzweifelt bemüht, den kürzesten Weg zum Ende des Lagers zu finden. Er rannte blindlings dahin, außer sich vor Entsetzen, nur von dem Gedanken beseelt, die Sicherheit der stillen Dunkelheit außerhalb des Lagers zu gewinnen. Eventine gab sich Mühe, mit ihm Schritt zu halten, während seine Wunde an der Schulter heftig blutete. Er rief Flick zu, vorsichtig zu sein.

Zu spät. Sein Ruf war kaum verklungen, als sie mit einer Gruppe noch schläfriger Nordländer zusammenprallten, die vom grellen Ton des Kampfhorns geweckt worden war. Alle stürzten in einem Gewirr von Armen und Beinen zu Boden.

Flick spürte, wie ihm der Umhang heruntergerissen wurde, als er sich wehrte und wild mit dem Jagdmesser auf alles einstach, was ihm in Reichweite kam. Getroffene heulten vor Schmerzen und Wut auf, die Arme und Beine zogen sich zurück, und Flick war wieder frei, sprang auf, wurde im nächsten Augenblick jedoch von einem neuen Angriff überrascht. Er sah eine herabsausende Schwertklinge schimmern, riß das Messer hoch, um den Hieb abzuwehren. Für Minuten brach das Chaos aus, als der Talbewohner sich durch das Gewühl kämpfte. Wähend er versuchte, sich aus dem Getümmel zu lösen, stürzte er wiederholt zu Boden, sprang aber immer wieder auf und kämpfte weiter, nach Eventine schreiend.

Was er nicht wußte, war, daß er in eine Gruppe unbewaffneter Nordländer geraten war, die völlig überrumpelt wurden, als er sich wie ein wildes Tier mit dem Messer in ihre Mitte stürzte. Minutenlang versuchten sie, ihn festzuhalten und zu entwaffnen, aber Flick wehrte sich mit solcher Verzweiflung, daß sie ihn nicht zu überwältigen vermochten. Eventine kam ihm zu Hilfe, kämpfte sich im Gewühl zu dem jungen Mann durch und jagte die Gegner endlich in die Flucht. Sie verschwanden in der Dunkelheit, und den letzten Feind, einen großen Gnom, der sich an Flick festgeklammert hatte, hieb Eventine nieder. Er packte Flick am Kragen und zog ihn hoch. Flick wehrte sich noch für einen Augenblick, erschlaffte aber, als er sah, wer ihn festhielt.

Ringsum tönten die Hörner durch das Lager, vermischt mit den Schreien der aufschreckenden Soldaten. Flick konnte nicht hören, was Eventine sagte. Sein ganzer Schädel dröhnte von den Hieben, die er abbekommen hatte.

»... schnellsten Weg hinaus finden. Nicht laufen - schnell gehen, ganz ruhig. Wenn wir laufen, fallen wir nur auf. Los jetzt!«

Eventines Stimme verstummte. Seine starke Hand packte Flicks Schulter und drehte ihn herum. Sie starrten einander an, aber Flick konnte den durchdringenden Blick des Elfenkönigs nur wenige Sekunden aushaken. Er schien ihm bis in sein verkrampftes Herz zu dringen. Dann gingen sie Seite an Seite auf das Ende des Lagers zu, die Waffen in Bereitschaft. Flick dachte fieberhaft, aber mit klaren Sinnen nach, entsann sich bestimmter Merkmale im Lager, die ihm anzeigten, daß sie auf dem richtigen Weg waren. Die Angst wurde zeitweilig verdrängt von einer kalten Entschlossenheit, die er nicht zuletzt der auf ihn ausstrahlenden starken Persönlichkeit an seiner Seite zu erdanken hatte. Es mochte Allanon selbst sein, so unerschütterlich war die Selbstsicherheit, die der Elfenkönig verströmte.

Dutzende von Soldaten stürmten vorbei, manche in unmittelbarer Nähe, aber niemand hielt sie auf oder stellte sie zur Rede.

Unbeachtet schritten die beiden Männer durch das Chaos, das die Armee bei dem unerwarteten Alarm erfaßt hatte. Die Schreie gellten weiterhin wild durcheinander, schienen aber schon hinter den Fliehenden zurückzubleiben. Der Regen hatte vorübergehend ganz aufgehört, aber der dichte Nebel lagerte immer noch über dem Boden und hüllte das ganze Grasland von Streleheim bis zum Mermidon ein. Flick warf einen Seitenblick auf seinen stummen Begleiter und sah mit Besorgnis, daß dieser vor Schmerzen gekrümmt ging. Der linke Arm hing schlaff herab, die Schulterwunde blutete noch immer stark. Der tapfere Elf ermüdete rasch und wurde durch den Blutverlust immer schwächer.

Sein Gesicht war aschfahl und wirkte eingefallen. Unbewußt ging Flick langsam und trat näher an seinen Begleiter heran, um ihn zu stützen, sollte er schwanken.

Sie erreichten das Ende des Lagers schnell - so schnell, daß die Nachricht von den Geschehnissen am Maturen-Zelt noch nicht bis hierher gedrungen war. Die Posten wußten nicht, was vorgefallen sein mochte, aber sie waren durch die Hornrufe auf-gescheucht worden und standen in kleinen Gruppen vor den Zelten, die Waffen in Bereitschaft. Offenbar glaubten sie, die Gefahr drohe von außerhalb des Lagers, denn ihre Blicke richteten sich hinaus in die Dunkelheit, so daß Eventine und Flick unbemerkt bis zu ihnen gelangen konnten. Der Elfenkönig zögerte nicht, sondern schritt mit gemessenen Bewegungen zwischen den Posten hindurch, auf Dunkelheit, Nebel und Verwirrung vertrauend, die ihre Entdeckung verhindern sollten.

Die Zeit lief ab. Binnen Minuten würde die ganze Armee auf den Beinen und kampfbereit sein, und sobald man entdeckt hatte, daß er entkommen war, würde man ihm Fährtensucher nachschicken. Er konnte Sicherheit finden, wenn es ihm gelang, die Grenzen von Kern zu erreichen, genau südlich, oder wenn er sich zu den Drachenzähnen und den Wäldern im Osten durchzuschlagen vermochte. Beides würde Stunden erfordern, und seine Kraft ließ nach. Er durfte jetzt nicht zögern, selbst wenn es nahezu sichere Entdeckung bedeutete, ungeschützt hinauszutreten.

Kühn gingen die beiden zwischen zwei Postentrupps hindurch und sahen weder nach links noch nach rechts, als sie das freie offene Grasland erreichten. Es gelang ihnen, nicht aufzufallen, bis sie die Postenkette fast schon hinter sich hatten. Plötzlich wurden sie von mehreren Wachen gleichzeitig entdeckt, die sie anriefen.

Eventine drehte sich kurz zur Seite und winkte mit dem gesunden Arm. Er erwiderte den Anruf in der Trollsprache, ohne den Schritt auch nur zu verlangsamen. Flick folgte ihm, während die Wachen ihnen unsicher nachblickten. Dann stieß einer von den Posten einen Schrei aus und lief ihnen nach. Mit erregten Bewegungen und Rufen forderte er sie auf, umzukehren. Eventine schrie Flick zu, die Beine in die Hand zu nehmen, und die Jagd begann. Die beiden Männer versuchten zu entkommen, als an die zwanzig Wachen die Verfolgung aufnahmen, ihre Piken schwangen und wild durcheinanderbrüllten.

Es war von Anfang an ein ungleiches Rennen. Eventine und Flick waren leichtfüßiger und schlanker, und unter gewöhnlichen Umständen wären sie ihren Verfolgern rasch enteilt. Der Elfen-König war jedoch schwer verwundet, und Flick konnte sich vor Erschöpfung kaum mehr richtig auf den Beinen halten.

Die Verfolger waren frisch und kräftig, ausgeruht und gut ernährt.

Flick wußte, daß ihre einzige Hoffnung darin liegen konnte, sich im Nebel und der Dunkelheit zu verlieren, in der Erwartung, ihre Feinde würden sie dann nicht mehr finden.

Keuchend, mit mühsamen Schritten, trieben sie ihre Körper bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit. Alles verschwamm vor ihren Augen, als sie auf dem glatten Gras in den wabernden Nebel hineinwankten. Sie liefen, bis sie glaubten, nicht mehr laufen zu können, und noch immer war nichts von Bergen, von Wald, von einem Versteck zu sehen.

Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit vor ihnen eine Eisenpike auf, die Eventines Umgang durchbohrte und ihn am Boden festnagelte. Die äußere Postenkette, dachte Flick entsetzt – daran hatte er nicht mehr gedacht! Eine undeutliche Gestalt tauchte aus dem Nebel auf und stürzte sich auf den am Boden liegenden Elfenkönig.

Mit letzter Kraft warf sich Eventine zur Seite, um dem Schwerthieb zu entgehen. Die Klinge bohrte sich neben seinem Kopf in die Erde. Er riß seine eigene Waffe herum und in die Höhe. Die anstürmende Gestalt brach zusammen, durchbohrt von der Schwertklinge.

Flick stand wie angewurzelt und schaute sich wild nach anderen Angreifern um. Sie blieben aus. Der Posten war allein gewesen. Flick lief auf seinen Begleiter zu, riß die Pike heraus und zog den erschöpften Elfenkönig mit seiner letzten Kraft in die Höhe.

Eventine machte ein paar Schritte und sank wieder zu Boden.

Flick ließ sich erschrocken auf die Knie nieder und versuchte ihn auf die Beine zu bringen.

»Nein - nein, es ist aus«, stieß Eventine heiser hervor. »Ich kann nicht weiter...«

Hinter ihnen tönten die Schreie der Nordländer aus der Dunkelheit.

Die Verfolger rückten näher. Wieder versuchte Flick vergeblich, die schlaffe Gestalt hochzuziehen. Diesmal reagierte Eventine gar nicht mehr. Hilflos starrte Flick in die Finsternis, das Jagdmesser umklammernd. Das war das Ende. In letzter Verzweiflung schrie er gellend in die Dunkelheit und den Nebel hinein.

»Allanon! Allanon!«

Der Ruf verhallte in der Nacht. Der Regen prasselte nun wieder auf eine schon durchtränkte Erde, und im Gras bildeten sich immer größere Lachen und kleine Seen. Bis zu Mordendämmerung war es nur noch eine Stunde. Man konnte das bei solchem Wetter schwer schätzen. Flick kauerte stumm neben dem bewußtlosen Elfenkönig und hörte, wie die Soldaten der Nordland-Armee näher und näher kamen. An ihren Stimmen war zu erkennen, daß sie gar nicht mehr weit entfernt waren, auch wenn sie ihn noch nicht gesehen hatten. Und der größte Hohn für Flick schien zu sein, daß er noch immer nicht wußte, was mit Shea geschehen war, obwohl er Eventine befreit hatte. Schreie auf seiner linken Seite ließen ihn herumfahren. Verschwommene Gestalten tauchten aus dem Nebel auf. Man hatte ihn gefunden. Grimmig stand er auf, um sie zu erwarten und zu sterben.

Einen Augenblick später explodierte die dunstige Dunkelheit zwischen ihnen in einem blendenden Feuerblitz, der aus der Erde zu brechen schien. Der ungeheure Druck schleuderte Flick zu Boden, wo er betäubt und geblendet liegenblieb. Ein Regen von Funken und brennendem Gras fiel auf ihn herab, und der Donner einer langen Reihe von Explosionen ließ den Boden erzittern.

Einen Augenblick lang waren die Nordland-Soldaten schattenhafte Gestalten, erfaßt vom gleißenden Licht, im nächsten waren sie zur Gänze verschwunden. Säulen knisternder Flammen fauchten wie Riesenzungen in die Nacht empor, durch Dunkelheit und Nebel hinauf zum Himmel. Flick starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Mahlstrom der Vernichtung und glaubte, das Ende der Welt sei gekommen. Endlose Minuten lang loderte der Feuerwall himmelwärts und versengte die Nachtluft, bis die Hitze Flicks Haut zu verbrennen drohte. Dann zuckte die Wand mit einem letzten Auffauchen von Energie grell auf und verschwand in einem Wirbel von Rauch und Dampf, verschmolz mit Nebel und Regen, bis nur noch die starke Hitze der Nachtluft blieb, die sich aber rasch verflüchtigte.

Flick erhob sich vorsichtig auf ein Knie und starrte in die Leere, dann fuhr er herum, als er hinter sich jemanden eher herankommen fühlte als hörte. Aus dem wallenden Nebel und Dampf tauchte eine riesenhafte schwarze Gestalt auf, gekleidet in fließende Roben, die Arme ausgestreckt, als wolle der Todesengel sich seine Beute holen. Flick riß in dumpfem Entsetzen die Augen auf, dann erkannte er schlagartig die Gestalt, die sich ihm näherte. Es war der schwarze Wanderer. Es war Allanon.

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