13

Als Shea endlich die Augen öffnete, war es Spätnachmittag des nächsten Tages. Er lag bequem in einem herrlichen Bett, auf sauberen Kissen, und trug ein langes, weißes Hemd. Neben ihm lag Flick, noch im Schlaf, mit einem Gesicht, das nicht mehr fahl und eingefallen war, sondern schon wieder frisch und friedlich. Sie befanden sich in einem kleinen weißgestrichenen Raum, an dessen Decke sich dicke Balken entlangzogen.

Durch die Fenster konnte Shea die Bäume des Anar und den schimmernd blauen Himmel sehen. Er wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen oder was geschehen war in der Zeit, in der man ihn hierher gebracht hatte, aber er war gewiß, daß das Wesen im Wolfsktaag-Gebirge ihn beinahe getötet hatte und daß Flick und er ihr Leben den Begleitern ihrer Reise verdankten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tür, die plötzlich aufging. Menion Leah schaute besorgt herein.

»Nun, alter Freund, ich sehe, daß du wieder in die Welt der Lebenden zurückgekehrt bist.« Menion lächelte, als er ans Bett trat. »Du hast uns ganz schön in Angst versetzt, weißt du das?«

»Wir haben es aber geschafft, nicht wahr?« Shea grinste fröhlich.

Menion nickte kurz und wandte sich Flick zu, der sich unter seiner Decke zu regen begann. Flick öffnete langsam die Augen und blickte in das fröhliche Gesicht Menions.

»Ich wußte doch, es war zu schön, um wahr zu sein«, stöhnte er.

»Selbst als Toter kann ich ihm nicht entkommen. Das muß ein Fluch sein.«

»Auch der alte Flick hat sich wieder ganz gut erholt«, sagte Menion lachend. »Hoffentlich weiß er die Mühe zu schätzen, die es gekostet hat, sein Gewicht bis hierher zu schleppen.«

»An dem Tag, wo du ehrliche Arbeit leistest, werde ich das große Staunen kriegen«, murmelte Flick schläfrig. Er sah zu seinem Bruder hinüber und erwiderte dessen Lächeln.

»Wo sind wir eigentlich?« fragte Shea neugierig und setzte sich mühsam auf. Er fühlte sich doch noch sehr schwach.

»Wie lange bin ich ohne Bewußtsein gewesen?«

Menion setzte sich auf die Bettkante und schilderte den ganzen Verlauf ihres Marsches nach der Begegnung mit dem Ungeheuer. Bei dem Bericht von Höndels Opfer für die Gruppe geriet er ein wenig ins Stocken. Mit entsetzten Gesichtern hörten die Brüder vom grausigen Tod des tapferen Zwergs durch die Hand der gereizten Gnome. Menion führte die Erzählung schnell zu Ende und erzählte, wie sie durch den Anar gelaufen waren, bis Allanon sie gefunden hatte.

»Das Land hier heißt Storlock«, schloß er. »Die Bewohner sind Gnome, die sich der Heilung von Kranken und Verletzten widmen. Wirklich erstaunlich, was sie zu leisten vermögen. Sie besitzen eine Salbe, mit der sie jede offene Wunde in zwölf Stunden heilen. Ich habe das bei Dayel selbst gesehen.«

Shea schüttelte ungläubig den Kopf und wollte Fragen stellen, als die Tür wieder aufging und Allanon hereinkam. Zum erstenmal, seit Shea sich erinnern konnte, wirkte der schwarze Wanderer beinahe glücklich und zeigte ein echtes Lächeln der Erleichterung. Er trat auf sie zu und nickte befriedigt.

»Ich freue mich wirklich, daß ihr euch von euren Verwundungen erholt habt. Ich habe mir große Sorgen gemacht, aber die Stors haben sich selbst übertroffen. Fühlt ihr euch stark genug, das Bett zu verlassen und ein bißchen herumzugehen? Wollt ihr etwas essen?«

Shea sah fragend zu Flick hinüber, der ihm zunickte.

»Gut, dann geht mit Menion und prüft eure Kraft«, sagte Allanon. »Es ist wichtig, daß ihr euch bald stark genug fühlt, den Marsch fortzusetzen.«

Ohne ein weiteres Wort ging er wieder hinaus und schloß die Tür hinter sich. Sie sahen ihm nach und wunderten sich darüber, daß er noch immer so förmlich und kalt zu ihnen sein konnte. Menion zuckte die Achseln und versprach, ihre Kleidung zu holen, die inzwischen gereinigt worden war. Er ging und kam bald mit den Sachen zurück. Die Brüder stiegen mühsam aus den Betten und zogen sich an, während Menion mehr über die Stors berichtete. Er gab zu, ihnen zu Anfang mißtraut zu haben, weil sie Gnome waren. Seine Befürchtungen hätten sich aber rasch verflüchtigt, als er gesehen habe, wie sie sich um Shea und Flick bemüht hätten. Die anderen Kameraden hätten lange geschlafen und erholten sich jetzt irgendwo im Ort.

Die drei verließen bald danach das Zimmer und betraten ein anderes Gebäude, das dem Dorf als Speisehaus diente. Sie bekamen reichlich warmes Essen, um ihren Hunger zu stillen.

Trotz ihrer Verletzungen sahen sich die Brüder imstande, mehrere Portionen zu verschlingen. Danach führte Menion sie hinaus, wo sie auf die wieder ganz erholten Durin und Dayel stießen. Die Elfen-Brüder freuten sich, Shea und Flick auf den Beinen zu sehen. Auf Menions Vorschlag hin gingen sie zu fünft zum südlichen Ende des Dorfes, um sich den staunenswerten Blauen Teich anzusehen, von dem die Stors dem Hochländer erzählt hatten. Nach wenigen Minuten erreichten sie den kleinen Teich und setzten sich am Ufer unter eine große Trauerweide, um stumm auf das blaue Wasser hinauszublicken.

Menion berichtete, daß die Stors viele ihrer Salben und Tinkturen mit dem Wasser dieses Teichs als Grundelement herstellten, weil es über eine besondere Heilkraft verfüge. Shea trank einen Schluck von dem Wasser; es schmeckte anders als alles, was er je getrunken hatte, aber sehr angenehm. Die anderen folgten seinem Beispiel und bestätigten seine Aussage. Der Blaue Teich war ein so friedlicher Ort, daß sie sich dort für kurze Zeit entspannten und ihre gefährliche Reise vergaßen; sie dachten an ihre Heimat und an die Leute, die sie zurückgelassen hatten.

»Der Teich erinnert mich an Beleal, meine Heimat im Westland«, sagte Durin und lächelte vor sich hin, während er einen Finger durchs Wasser zog. »Dort findet man denselben Frieden wie hier.«

»Wir werden wieder zu Hause sein, bevor du dich umsiehst«, meinte Dayel und fügte eifrig, beinahe jungenhaft, hinzu: »Und ich werde Lynliss heiraten und mit ihr viele Kinder haben.«

»Vergeßt das lieber«, sagte Menion knapp. »Bleibt ledig und glücklich.«

»Ihr habt sie nicht gesehen, Menion«, sagte Dayel lebhaft.

»Sie ist ein sanftes, gutes Mädchen, so schön, wie dieser Teich klar ist.«

Menion schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf und boxte dem schmächtigen Elf in die Seite, ohne freilich ein verständnisvolles Lächeln unterdrücken zu können. Sie schwiegen lange Minuten und starrten auf das blaue Wasser.

Dann sah Shea die anderen fragend an.

»Glaubt ihr, wir tun das Richtige? Ich meine die ganze Reise und alles. Lohnt sich das wirklich?«

»Merkwürdig, wenn ausgerechnet du das sagst, Shea«, erklärte Durin nachdenklich. »So, wie ich es sehe, hast du das meiste zu verlieren, wenn du mitkommst. Du bist eigentlich der, um den sich alles dreht. Glaubst du denn, daß es lohnend ist?«

Shea überlegte, während die anderen ihn ansahen und warteten.

»Das darf man ihn eigentlich nicht fragen«, meinte Flick.

»Doch«, sagte Shea nüchtern. »Sie setzen alle ihr Leben für mich aufs Spiel, und ich bin der einzige, der Zweifel an dem laut werden läßt, was wir tun. Aber ich kann nicht einmal selbst meine Frage beantworten, weil ich fühle, daß ich immer noch nicht weiß, was eigentlich geschieht. Ich glaube nicht, daß wir schon das ganze Bild vor uns haben.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Menion. »Allanon hat uns nicht alles gesagt. An der Sache ist mehr; das Schwert von Shannara hat mehr zu bedeuten, als wir wissen.«

»Hat irgend jemand das Schwert schon einmal gesehen?« fragte Dayel. Die anderen schüttelten die Köpfe. »Vielleicht gibt es gar kein Schwert.«

»Oh, ich glaube schon, daß es das Schwert gibt«, sagte Durin schnell. »Aber was machen wir damit, sobald wir es haben?

Was kann Shea gegen die Macht des Dämonen-Lords ausrichten, selbst mit dem Schwert von Shannara?«

»Ich glaube, wir müssen uns darauf verlassen, daß Allanon das beantwortet, wenn die Zeit gekommen ist«, sagte eine andere Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich überrascht um und atmeten erleichtert auf, als sie Balinor sahen. Während sie ihn begrüßten, fragte sich Shea, woran es liegen mochte, daß sie alle vor Allanon immer noch Angst empfanden. Balinor lächelte Shea und Flick an und setzte sich.

»Nun, unsere Strapazen auf dem Weg durch den Jade-Paß scheinen sich also doch gelohnt zu haben. Ich freue mich, dass es euch wieder gutgeht.«

»Es tut mir leid um Höndel«, sagte Shea traurig. »Ich weiß, daß er ein guter Freund war.«

»Es war ein genau durchdachtes Risiko, das die Situation verlangte«, erwiderte Balinor mit leiser Stimme. »Er wußte, was er tat und wie die Aussichten standen. Er hat es für uns alle getan.«

»Was geschieht nun?« fragte Flick nach einer langen Pause.

»Wir warten, bis Allanon entscheidet, welchen Weg wir für den Rest unserer Reise nehmen«, antwortete Balinor. »Übrigens ist es mir ernst damit, wenn ich sage, daß man ihm vertrauen kann. Er ist ein großer Mann, ein guter Mann, wenn es auch manchmal anders aussehen mag.«

»Ihr wißt, daß er uns nicht alles gesagt hat«, erklärte Menion.

»Ich bin sicher, daß er uns nur einen Teil der Geschichte erzählt hat,« Balinor nickte. »Aber er ist der einzige, der die Bedrohung für die vier Länder überhaupt erkannt hat. Wir schulden ihm sehr viel, und das mindeste davon ist ein wenig Vertrauen.«

Die anderen nickten langsam, mehr, weil sie Balinor schätzten, als deshalb, weil sie von seinen Versicherungen beruhigt gewesen wären. Das galt vor allem für Menion, der Balinor als einen Mann von großem Mut und Führerkraft einschätzte.

Sie sprachen nicht weiter über das Thema, sondern diskutierten über die Stors, ihre Geschichte als Zweig der Gnomen-Völker und ihre lange, enge Freundschaft mit Allanon.

Die Sonne war am Untergehen, als der riesenhafte Historiker unerwartet am Blauen Teich auftauchte und sagte:

»Wenn ich mit euch fertig bin, wünsche ich, daß Shea und Flick sich noch ein paar Stunden ins Bett legen. Auch den anderen kann es nicht schaden, wenn sie noch ein wenig schlafen. Wir machen uns gegen Mitternacht auf den Weg.«

»Ist das nicht ein bißchen früh, nach allem, was Shea und Flick hinter sich haben?« fragte Menion skeptisch.

»Es läßt sich nicht ändern«, antwortete Allanon grimmig.

»Die Zeit läuft uns davon. Wenn ein Wort von unserem Unternehmen oder auch nur unserer Anwesenheit in dieser Gegend zum Dämonen-Lord dringt, wird er versuchen, das Schwert auf der Stelle fortzuschaffen, und unser ganzes Bemühen wäre zunichte gemacht.«

»Flick und ich schaffen es«, bekräftigte Shea.

»Welchen Weg nehmen wir?« fragte Balinor.

»Wir durchqueren heute Nacht die Rabb-Ebenen, das ist ein Marsch von ungefähr vier Stunden. Wenn wir Glück haben, werden wir nicht im freien Gelände überrascht, auch wenn ich davon überzeugt bin, daß die Totenschädelträger Shea und mich noch immer suchen. Wir können nur hoffen, daß es ihnen nicht gelungen ist, unsere Spur aufzunehmen.

Ich hatte euch das noch nicht gesagt, weil ihr schon Sorgen genug hattet, aber jeder Gebrauch der Elfensteine verrät Brona und seinen Jägern, wo ihr euch befindet. Die mystische Kraft der Steine kann von jedem Wesen der Geisterwelt wahrgenommen werden und zeigt ihm an, daß Zauberkraft wie seine eigene gegen ihn eingesetzt wird.«

»Dann haben wir, als wir die Steine im Nebelsumpf gebrauchten ...«, sagte Flick entsetzt.

»Ihr habt den Schädelträgern verraten, wo ihr gewesen seid«, erwiderte Allanon ernst. »Wenn ihr nicht im Nebel und den Schwarzen Eichen untergetaucht wärt, hätten sie euch vielleicht dort überfallen.«

Shea lief es kalt über den Rücken, als er sich erinnerte, wie nah sie sich dem Tod dort ständig gefühlt hatten, ohne zu ahnen, in welcher Gefahr sie wirklich schwebten.

»Wenn Ihr gewußt habt, daß die Steine die Geisterwesen anlocken würden, warum habt Ihr uns das nicht gesagt?« sagte Shea vorwurfsvoll. »Warum habt Ihr sie uns zu unserem Schutz gegeben, wenn Euch bekannt war, was geschehen würde?«

»Du bist gewarnt gewesen, junger Freund«, erwiderte Allanon unwirsch. »Ohne sie wärt ihr anderen, ebenso gefährlichen Elementen schutzlos ausgeliefert gewesen. Außerdem sind sie selbst Schutz genug gegen die Geflügelten.« Er wehrte weitere Fragen ab und ließ erkennen, daß das Thema abgeschlossen sei, was Shea nur noch zorniger und argwöhnischer machte. Durin bemerkte das und legte die Hand auf die Schulter des jungen Talbewohners, während er warnend den Kopf schüttelte.

»Wenn wir uns wieder mit dem befassen, worauf es ankommt «, fuhr Allanon mit ruhigerer Stimme fort, »möchte ich weiter den Weg für die nächsten Tage erklären — ohne Unterbrechung.

Die Reise über die Rabb-Ebenen wird uns zum Fuß der Drachenzähne führen, wenn es hell wird. Das Gebirge bietet jeden Schutz, den wir vor Verfolgern brauchen.

Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, sie zu überwinden und auf der anderen Seite in die Wälder um Paranor zu gelangen. Alle bekannten Pässe in den Drachenzähnen werden von den Verbündeten des Dämonen-Lords scharf bewacht werden, und jeder Versuch, die Gipfel zu übersteigen, ohne einen der Pässe zu benützen, würde vielen von uns das Leben kosten. Wir nehmen also einen anderen Weg durch das Gebirge, den sie nicht bewachen.«

»Wartet!« rief Balinor betroffen. »Ihr habt doch nicht vor, uns durch das Grab der Könige zu führen?«

»Wir haben keine andere Wahl, wenn wir vermeiden wollen, entdeckt zu werden. Wir können die Halle der Könige bei Sonnenaufgang betreten und bis Sonnenuntergang das Gebirge hinter uns haben und vor Paranor stehen, ohne daß die Wachen an den Pässen etwas bemerken.«

»Aber es heißt, daß noch keiner lebend durch diese Höhlen gelangt ist«, erklärte Durin mit scharfer Stimme. »Keiner von uns hat Angst vor den Lebenden, aber in diesen Höhlen wohnen die Geister der Toten, und nur Tote dürfen ungehindert passieren. Noch keiner lebenden Person ist das je gelungen.«

Balinor nickte bestätigend, während die anderen erschrockene Gesichter machten. Menion und die beiden Brüder hatten von dem Ort, den die anderen so zu fürchten schienen, noch nicht einmal gehört. Allanon grinste bei Durins letzter Bemerkung sogar, daß seine weißen Zähne blitzten.

»Das ist nicht ganz richtig, Durin«, gab er zurück. »Ich bin durch die Halle der Könige gegangen und sage dir deshalb, daß das möglich ist. Richtig, es ist eine Reise nicht ohne Gefahr.

Die Höhlen sind wirklich von den Geistern der Toten bewohnt, und darauf verläßt sich Brona. Aber meine Macht sollte ausreichen, um uns zu schützen.«

Menion Leah wußte nicht, was an den Höhlen sogar einen Mann wie Balinor schrecken konnte, aber was immer es sein mochte, es gab sicherlich gute Gründe für diese Furcht.

Überdies fiel ihm nicht mehr ein, an dem zu zweifeln, was er früher Altweibergeschichten und närrische Legenden genannt hatte, seitdem er den Nebelsumpf und den Wolfsktaag kennengelernt hatte. Was ihn jetzt beschäftigte, war die Frage, welche Kräfte der Mann besaß, der sie durch die Höhlen der Drachenzähne führen wollte, ungeachtet aller Geister.

»Die ganze Reise ist ein Risiko«, fuhr Allanon fort. »Wir wußten alle, welche Gefahren uns drohten, bevor wir aufbrachen. Wollt ihr an dieser Stelle umkehren, oder führen wir die Sache zu Ende?«

»Wir folgen Euch«, erklärte Balinor nach kurzem Zögern.

»Das habt Ihr gewußt. Das Risiko lohnt sich, wenn wir das Schwert in unsere Hände bekommen.«

Allanon lächelte schwach, und seine tiefliegenden Augen glitten über die Gesichter der anderen, erwiderten jeden Blick mit durchdringender Schärfe und blieben schließlich an Shea haften. Der Talbewohner sah ihn unverwandt an, auch wenn sich Angst und Zweifel in ihm regten, während die Augen des schwarzen Wanderers sich in seine innersten Gedanken zu bohren schienen.

»Nun gut.« Allanon nickte. »Geht jetzt und ruht euch aus.« Er drehte sich um und schritt zum Dorf zurück. Balinor hastete ihm nach, offenbar entschlossen, weitere Fragen zu stellen. Die anderen sahen den beiden nach, bis sie verschwunden waren. Shea bemerkte erstmals, daß es fast dunkel geworden war. Augenblicke lang regte sich niemand, dann standen sie langsam auf und kehrten in den friedlichen Ort zurück, um bis Mitternacht zu schlafen.

Shea kam es vor, als sei er eben eingeschlafen, als er eine kräftige Hand an seiner Schulter spürte, die ihn wachrüttelte.

Das Licht einer Fackel flackerte im dunklen Zimmer, und er kniff die Augen zusammen. Durch den Nebel des Halbschlafs sah er das entschlossene Gesicht Menion Leahs, dessen Augen ihm verrieten, daß die Zeit für den Aufbruch gekommen war. Er stand in der kalten Nachtluft schwankend auf und zögerte kurz, bevor er sich anzog. Flick war schon wach und halb angezogen. Sein ruhiges Gesicht verbreitete Zuversicht.

Shea fühlte wieder Kraft, so viel Kraft, daß er den langen Marsch durch die Rabb-Ebenen zu den Drachenzähnen und weiter durchhalten zu können glaubte.

Minuten später gingen die drei Männer durch das schlafende Stör-Dorf, um sich mit den anderen zu treffen. Die dunklen Häuser waren schwarze, geduckte Gebilde im schwachen Licht eines Nachthimmels, der überzogen war von einer dicken, sich träge dahinbewegenden Wolkendecke.

Es war eine gute Nacht, geeignet, um im offenen Gelände zu marschieren, und Shea fühlte sich beruhigt von dem Gedanken, daß Abgesandte des Dämonen-Lords es schwer haben würden, sie zu finden. Alles schien zu ihren Gunsten zu stehen.

Als sie die Westgrenze von Storlock erreichten, stießen sie auf die anderen, nur Allanon fehlte. Durin und Dayel wirkten in der Dunkelheit wie formlose Schatten, während sie schweigend auf und ab gingen und auf die Nachtgeräusche lauschten. Shea kam an ihnen vorbei und wunderte sich wieder über ihre Elfen-Züge, die seltsamen spitzen Ohren und die dünnen, steil aufsteigenden Brauen. Er fragte sich, ob ihn andere Menschen auch so betrachteten wie er die Elfen-Brüder? Waren sie wirklich andere Wesen ? Er dachte wieder über die Geschichte der Elfen nach, die Allanon einmal als bemerkenswert bezeichnet, aber nicht weiter geschildert hatte. Ihre Geschichte war seine eigene; er wußte jetzt, was er immer vermutet hatte. Er wollte noch mehr darüber erfahren, vielleicht nur, um sein eigenes Erbe und die Geschichte des Schwertes von Shannara besser zu verstehen.

Er blickte hinüber zur hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt Balinors, der wie eine Statue im Dunkeln stand. Balinor war im Grunde das Zuverlässigste und Beruhigendste an der ganzen Unternehmung. Selbst Allanon vermochte nicht soviel Zutrauen zu erzeugen wie der Prinz von Callahorn, auch wenn Shea ahnte, daß der Historiker mehr Macht besaß.

Vielleicht wußte Allanon, was Balinor in den anderen bewirkte, und hatte ihn deshalb mitgenommen.

»Gewiß, Shea.« Die leise Stimme ertönte so nah an seinem Ohr, daß der Talbewohner heftig zusammenzuckte. Der schwarze Wanderer glitt an ihm vorbei und winkte die anderen zu sich. »Wir müssen die Nacht nützen. Bleibt zusammen und achtet auf die Vorangehenden. Nicht sprechen.«

Ohne weitere Anweisungen führte der schwarze Riese sie auf einem schmalen Pfad, der von Storlock direkt nach Westen führte, in die Anar-Wälder. Shea reihte sich hinter Menion ein, das Herz klopfte ihm noch im Hals von dem Schrecken, den er erlitten hatte; er dachte bestürzt über die Begegnungen mit dem seltsamen Mann nach und fragte sich, ob nicht doch zutraf, was er immer schon geargwöhnt hatte.

Auf jeden Fall wollte er seine Gedanken für sich behalten, so schwer das auch sein mochte.

Die Gruppe erreichte den Westrand der Anar-Wälder und die Rabb-Ebenen früher, als Shea erwartet hatte. Trotz der Schwärze des Nachthimmels spürten die Talbewohner die Gegenwart der Drachenzähne, die in der Ferne aufragten; wortlos sahen sie einander kurz an und starrten wieder in die Dunkelheit. Allanon führte sie ohne Rast und mit schneller Gangart durch die offene Ebene. Das Rabb-Land war völlig flach und gänzlich frei von natürlichen Hindernissen und sichtbarem Leben. Das einzige Wachstum waren kleine Bäume und vereinzelte Büsche, die aber nackt und skelettartig wirkten. Der Boden war hartgepreßte Erde, an manchen Stellen so trocken, daß sie von Rissen durchzogen war.

Nichts regte sich rund um die Wanderer, als sie stumm dahinschritten, Augen und Ohren angestrengt und wachsam offenhaltend.

An einem Punkt, nachdem sie schon fast drei Stunden durch die Rabb-Ebenen marschiert waren, brachte Dayel sie mit einer warnenden Geste zum Stehen und deutete an, daß er weit hinter ihnen in der Schwärze etwas gehört hatte.

Sie kauerten einige lange Minuten lautlos und regungslos zwischen Buschwerk, aber nichts geschah, Allanon zuckte endlich die Achseln, und sie setzten ihren Weg fort.

Sie erreichten die Drachenzähne kurz vor Tagesanbruch.

Der Nachthimmel war noch immer schwarz und bewölkt, als sie am Fuß des unheimlichen Gebirges anhielten, das ihnen den Weg versperrte. Shea und Flick fühlten sich beide noch kräftig, selbst nach dem langen Marsch, und gaben den anderen zu verstehen, daß sie ohne Pause würden weitergehen können. Allanon schien es eilig zu haben, beinahe so, als gedenke er eine Verabredung einzuhalten. Er führte sie auf einen steinigen Weg direkt in die gefährlich aussehenden Berge.

Der Pfad schien sich hinaufzuwinden in eine Nische im Fels.

Flick blickte unentwegt zu den Gipfeln hinauf und verrenkte sich den Hals, um die schroffen Grate anzustarren. Der Name >Drachenzähne< paßte gut.

Die Berge schlössen sich auf beiden Seiten um sie, als sie sich der Felsnische näherten. Hinter dem engen Paß konnten sie andere Berge sehen, höhere und gewiß unüberwindbar für alles, was nicht fliegen konnte. Shea blieb einmal stehen, griff nach einem Stein auf dem Weg und betrachtete ihn neugierig, während er wieder weiterging. Zu seiner Überraschung war der Stein an den flachen Stellen glatt, beinahe glasig, und von einer tiefen, spiegelnden Schwärze, die ihn an die Kohle erinnerte, welche in manchen Gemeinden des Südlandes als Brennstoff verwendet wurde. Dieses Gestein hier schien jedoch härter zu sein als Kohle. Man konnte meinen, es sei zusammengepreßt und poliert worden. Shea gab Flick den Stein, sein Bruder warf einen Blick darauf, zuckte die Achseln und schleuderte ihn fort.

Der Pfad wand sich zwischen hohen Felsblöcken dahin, so daß die Wanderer vorübergehend von den Bergen ringsherum nichts mehr sahen. Endlich erreichten sie eine freie Stelle, wo sie von den hohen Felswänden wieder genug sehen konnten, um zu wissen, daß sie an der Nischenöffnung waren, offenbar dem höchsten Punkt des Weges nahe, von wo aus es entweder bergab oder eben durch die Berge gehen mußte. Hier unterbrach Balinor die Stille mit einem leisen Pfiff, der die anderen stoppte. Er sprach kurz mit Durin, der zusammen mit Balinor das Ende der Kolonne bildete, dann wandte er sich Allanon und den anderen zu.

»Durin ist sicher, daß er auf dem Weg hier herauf jemanden hinter uns gehört hat«, sagte er gepreßt. »Und jetzt gibt es keinen Zweifel mehr — da ist wirklich jemand.«

Allanon schaute schnell zum Nachthimmel hinauf. Seine dunkle Stirn furchte sich. Er sah Durin an.

»Ich bin sicher, daß uns jemand auf den Fersen ist«, bekräftigte Durin.

»Ich kann nicht hierbleiben, um mich selbst damit zu befassen.

Ich muß vor Tagesanbruch im Tal sein«, sagte Allanon plötzlich. »Was auch immer hinter uns sein mag, es muß aufgehalten werden, bis ich fertig bin — das ist unerläßlich!«

Shea hatte selten eine solche Entschiedenheit in der Stimme Allanons gehört und bemerkte den verblüfften Ausdruck auf den Gesichtern von Flick und Menion, die einander anstarrten.

Was Allanon im Tal auch zu tun haben mochte, es kam für ihn entscheidend darauf an, nicht gestört zu werden, bis er fertig war.

»Ich bleibe zurück«, sagte Balinor und zog sein großes Schwert. »Wartet im Tal auf mich!«

»Nicht allein!« erklärte Menion sofort. »Ich bleibe auch, für alle Fälle!«

Balinor lächelte kurz und nickte. Allanon sah ihn einen Augenblick an, als wolle er widersprechen, nickte dann aber ebenfalls und winkte den anderen, ihm zu folgen. Die Elfen-Brüder hasteten hinter ihm den Weg hinauf, doch Shea und Flick zögerten unsicher, bis Menion sie weiterschob. Shea murrte, unwillig, seinen Freund verlassen zu müssen, begriff aber, daß er wenig würde ausrichten können, wenn er blieb.

Er schaute sich einmal kurz um und sah, wie die zwei Männer sich auf beiden Seiten des schmalen Pfades aufstellten. Ihre Schwerter glänzten im trüben Sternenlicht, ihre schwarzen Mäntel verschmolzen mit der Umgebung, Allanon führte die anderen vier Gefolgsleute durch das Gewirr von Felsblöcken, indem er vorausging und zum Rand des rätselhaften Tales hinaufstieg. Nach wenigen Minuten standen sie oben und blickten staunend hinunter. Das Tal war eine barbarische Wildnis zahlloser Felsbrocken und -blöcke, die überall herumlagen, schwarz und schimmernd wie der Stein, den Shea auf dem Pfad aufgehoben hatte. Nichts sonst war sichtbar, außer einem kleinen See mit grünlich-schwarz schimmerndem Wasser, das sich träge im Kreis bewegte, wie von Getier belebt. Shea starrte gebannt auf das strudelnde Wasser. Es gab keinen Wind, der die Bewegung hätte hervorrufen können. Er warf einen Blick auf den schweigsamen Allanon und sah entsetzt ein seltsames Leuchten von dessen dunklem, unheimlichem Gesicht ausgehen. Der schwarze Wanderer schien sich in seinen Gedanken verloren zu haben, während er auf den See hinabblickte, und Shea spürte eine seltsame Sehnsucht im Blick des Historikers.

»Das ist das Schiefer-Tal, die Schwelle zur Halle der Könige und dem Heim der Geister aller Zeitalter.« Die tiefe Stimme wurde lauter. »Der See ist der Hadeshorn — sein Wasser bedeutet Tod für die Sterblichen. Geht mit mir ins Tal hinab, von dort aus muß ich allein weiter.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg er langsam den Hang hinab, den Blick unverwandt auf den See gerichtet. Die anderen folgten stumm; sie spürten, daß dies ein wichtiger Augenblick für sie alle werden würde, daß hier, mehr als anderswo in allen Ländern, Allanon König war. Ohne erklären zu können, warum, wußte Shea, daß der Historiker, Wanderer, Philosoph und Mystiker, der Mann, der sie durch zahllose Gefahren einen Weg geführt hatte, den nur er ganz verstand, daß der rätselhafte Mann, den sie als Allanon kannten, endlich heimgekehrt war. Augenblicke später, als sie auf dem Talboden standen, wandte er sich ihnen zu.

»Ihr wartet hier auf mich. Ganz gleich, was geschehen mag, ihr folgt mir nicht! Ihr entfernt euch nicht von dieser Stelle, bis ich fertig bin! Wohin ich gehe, ist nur Tod!«

Sie standen wie angewurzelt, als er sich von ihnen entfernte und auf den geheimnisvollen See zuging. Sie sahen seine riesige, schwarze Gestalt mit gleichmäßigen Schritten sich entfernen, während der weite Mantel sich bauschte. Shea warf einen Blick auf seinen Bruder, dessen angespannte Miene verriet, welche Angstgefühle ihn bewegten. Für den Bruchteil einer Sekunde erwog Shea, das Weite zu suchen, erkannte aber sofort, wie unsinnig das gewesen wäre. Instinktiv griff er an seinen Rock und spürte den Beutel mit den Elfensteinen.

Er fühlte sich ein wenig sicherer, obwohl er bezweifelte, dass sie viel würden ausrichten können gegen Dinge, mit denen Allanon nicht fertig wurde. Er sah sorgenvoll zu den anderen hinüber, die der Gestalt nachsahen, dann richtete er den Blick auch wieder auf Allanon und sah, daß er den Rand des Hadeshorn-Sees erreicht hatte, wo er offenbar auf etwas wartete.

Totenstille schien sich über das ganze Tal zu legen. Die vier warteten, den Blick auf die schwarze Gestalt geheftet, die regungslos am Wasser stand.

Langsam hob der Wanderer die Arme zum Himmel, und die fassungslosen Männer sahen, wie der See sich heftig zu regen begann und wogte. Das Tal erbebte, als sei eine Form verborgenen, schlafenden Lebens erweckt worden. Die entsetzten Zuschauer schauten sich ungläubig um und fürchteten, vom Steinmaul eines Alptraumwesens verschlungen zu werden, das sich als Tal getarnt hatte. Allanon stand unbeweglich am Ufer, als das Wasser in der Mitte zu brodeln begann und ein Sprühnebel zum Himmel emporstieg, mit einem scharfen Zischen der Erleichterung über die neuerworbene Befreiung aus den Tiefen. Aus der Nacht drang leises Stöhnen, das Schreien gefangener Seelen, deren Schlaf von dem Mann am Ufer des Hadeshorn gestört wurde. Die Stimmen, nicht mehr menschlich und von der Kälte des Todes umschattet, durchbohrten die Gemüter der vier, die dabeistanden und fröstelnd zusahen, zerrten an ihrem entsetzten Geist und würgten ihn mit gnadenloser Grausamkeit, bis es schien, daß ihnen der letzte Rest von Mut entrissen werden sollte, um sie völliger Hilflosigkeit auszuliefern. Unfähig, sich zu bewegen, zu sprechen, ja, zu denken, erstarrten sie vor Schreck, als die Laute der Geisterwelt zu ihnen heraufdrangen, sie vor Dingen warnend, die jenseits dieses Lebens und ihrer Fassungskraft lagen.

Begleitet von den grausigen Schreien öffnete sich mit einem tiefen Grollen, das aus dem Inneren der Erde drang, der Hadeshorn-See wie ein peitschender Strudel, und aus dem dunklen Wasser erhob sich die Erscheinung eines alten Mannes, gebückt vom Alter. Die Gestalt schwebte zu voller Höhe auf und schien auf dem Wasser selbst zu stehen. Flick wurde leichenblaß. Das Auftauchen dieser Erscheinung bestätigte ihn in seiner Überzeugung, daß ihre letzten Augenblicke gekommen seien. Allanon stand regungslos am Ufer, die Arme wieder gesenkt, den schwarzen Mantel um seine Riesengestalt gehüllt, das Gesicht dem Schatten auf dem See zugewandt. Er und die Gestalt auf dem Wasser schienen miteinander zu sprechen, aber die vier Zuschauer hörten nichts als die unaufhörlichen, unmenschlichen Schreie, die durch die Nacht hallten, während die Gestalt auf dem See gestikulierte. Das Gespräch, wie immer es geführt werden mochte, dauerte nicht länger als einige Minuten und endete, als der Geist sich ihnen zuwandte, die Skelettarme hob und auf etwas deutete. Shea spürte einen eisigen Hauch, der ihn streifte und ihm bis ins Mark drang, und er wußte, daß er für einen kurzen Augenblick vom Tod berührt worden war. Dann wandte sich der Schatten ab, grüßte Allanon mit einer letzten Geste, versank langsam im dunklen Wasser und war verschwunden. Als er unterging, brodelte der See von neuem, und die Schreie und das Stöhnen schwollen noch einmal an, bevor sie verklangen.

Dann war der See glatt und ruhig, und die Männer waren allein.

Als die Sonne über dem Horizont aufging, schien die hohe, schwarze Gestalt am See zu schwanken, einen Augenblick später sank sie zu Boden. Die vier Männer zögerten kurz, dann liefen sie hinzu, erreichten den Gestürzten binnen Sekunden und beugten sich über ihn, ungewiß, was zu tun sei.

Durin bückte sich schließlich, schüttelte Allanon ein wenig und rief seinen Namen. Shea rieb die großen, eiskalten Hände. Ihre Ängste lösten sich aber auf, als Allanon sich nach wenigen Minuten regte und die tiefliegenden Augen aufschlug.

Er starrte sie eine Weile an, dann setzte er sich langsam auf.

»Die Belastung muß zu groß gewesen sein«, murmelte er und rieb sich die Stirn. »Nach dem Ende des Kontakts habe ich das Bewußtsein verloren. Es geht aber gleich wieder.«

»Wer war das Wesen?« fragte Flick, der sich sorgte, daß es wieder auftauchen könne.

Allanon schien über die Frage nachzudenken und starrte ins Leere, während sein verzerrtes Gesicht sich nur langsam entspannte.

»Eine verlorene Seele, vergessen von dieser Welt und ihren Bewohnern«, sagte er düster. »Er hat sich zu einem Dasein halben Lebens verurteilt, das die Ewigkeit überdauern mag.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Shea.

»Das ist im Augenblick nicht wichtig.« Allanon winkte ab.

»Die traurige Gestalt, mit der ich eben gesprochen habe, ist der Schatten Brimens, des Druiden, der einst gegen den Dämonen-Lord gekämpft hat. Ich sprach zu ihm vom Schwert von Shannara, von unserer Reise nach Paranor und der Bestimmung dieser Gruppe. Ich erfuhr wenig von ihm, ein Hinweis darauf, daß unser Schicksal nicht in naher Zukunft entschieden wird, sondern erst später — bei allen, bis auf einen.«

»Was meint Ihr?« fragte Shea zögernd.

Allanon stand müde auf, blickte ins Tal, als wolle er sich vergewissern, daß die Begegnung mit dem Geist Brimens vorüber war, dann wandte er sich den anderen zu.

»Es ist nicht leicht, das auszusprechen, aber ihr seid so weit gekommen, fast ans Ende eurer Reise. Ihr habt euch das Recht verdient, es zu erfahren. Der Schatten Brimens hat zwei Voraussagen über das Schicksal unserer Gruppe gemacht, als ich ihn aus der Zwischenwelt herauf rief, in die er verbannt ist. Er versprach, daß wir binnen zwei Tagen das Schwert von Shannara sehen würden. Er sah aber auch voraus, daß einer von uns die andere Seite der Drachenzähne nicht erreichen würde. Dabei soll er der erste sein, der die Hand auf das heilige Schwert legt.«

»Das begreife ich immer noch nicht«, sagte Shea stockend.

»Wir haben Höndel verloren. Vielleicht hat er ihn gemeint.«

»Nein, du irrst dich, junger Freund.« Allanon seufzte leise.

»Als er die zweite Prophezeiung aussprach, deutete der Schatten auf euch vier am Rand des Tales. Einer von euch wird Paranor nicht erreichen.«

Menion Leah kauerte lautlos zwischen den Felsblöcken an dem Weg, der zum Schiefer-Tal führte, und wartete auf das rätselhafte Wesen, das sie ins Gebirge verfolgt hatte. Auf der anderen Seite, verborgen in den schwarzen Schatten, lauerte der Prinz von Callahorn, das große Schwert in der Hand.

Menion umklammerte seine eigene Waffe und starrte ins Dunkel. Nichts rührte sich. Er konnte etwa fünfzehn Meter weit sehen, bevor eine Biegung des Weges hinter einem riesengroßen Felsblock den Pfad den Blicken entzog. Sie warteten schon eine halbe Stunde, und noch immer rührte sich nichts, trotz Durins Behauptung, ein Verfolger befinde sich hinter ihnen. Menion fragte sich, ob das Wesen, das sie beschattete, vielleicht einer der Abgesandten des Dämonen-Lords war. Ein Schädelträger konnte sich in die Luft erheben und die anderen erreichen. Der Gedanke erschreckte ihn, und er wollte Balinor ein Zeichen geben, als ein plötzliches Geräusch auf dem Weg seine Aufmerksamkeit erregte. Er preßte sich sofort an den Felsblock.

Die Geräusche einer Person, die langsam den Weg heraufstieg, waren deutlich zu hören. Wer es auch sein mochte, sie schien nicht zu ahnen, daß die beiden sich hier versteckt hatten, oder, schlimmer noch, sie gedachte sich nicht darum zu kümmern, denn sie unternahm keinen Versuch, ihr Näherkommen zu verschleiern. Sekunden später tauchte eine schattenhafte Gestalt auf dem Weg unter ihrem Versteck auf. Menion wagte einen kurzen Blick hinaus, und für Sekundenbruchteile erinnerte ihn die gedrungene Form an Höndel. Er packte das Schwert fester und wartete. Der Angriffsplan war einfach. Er gedachte, vor dem Eindringling hinauszuspringen und ihm den Weg zu versperren, während Balinor im selben Augenblick ihm den Rückweg abschneiden sollte.

Menion schnellte sich hinaus aus dem Versteck, das Schwert erhoben, um dem geheimnisvollen Verfolger gegenüberzutreten.

Er schrie ihm zu, er möge stehenbleiben. Die Gestalt vor ihm duckte sich und hob einen kräftigen Arm mit einem schweren, eisernen Streitkolben, der stumpf schimmerte.

Eine Sekunde später, als die Kampfbereiten einander anstarrten, sanken die Arme herab, und der Prinz von Leah rief außer sich vor Verwunderung: »Höndel!«

Balinor kam aus den Schatten und sah Menion vor Freude in die Luft springen, bevor er die kleinere, stämmige Gestalt umarmte. Der Prinz von Callahorn schob das Schwert erleichtert in die Scheide zurück, lächelte und schüttelte verwundert den Kopf über den jubelnden Hochländer und den sich wehrenden, murrenden Zwerg, den sie für tot gehalten hatten. Zum ersten Mal, seitdem sie aus dem Wolfsktaag durch den Jade-Paß entkommen waren, spürte Balinor, daß der Erfolg zum Greifen nahe schien und die Männer nun ganz gewiß in Paranor vor dem Schwert von Shannara stehen würden.

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