29

Einen Augenblick lang erstarrte alles. Selbst der entsetzte Stenmin war an der Mauer zusammengesunken und starrte die statuenhafte Gestalt über der alten Steintreppe leer an. Das zerquälte Gesicht des Prinzen hatte jede Farbe verloren, und der Ausdruck in seinen Augen war ein seltsames Gemisch aus Zorn und Verwirrung. Menion Leah erwiderte den forschenden Blick ungerührt und ließ das Schwert sinken, als sein Hass verrauchte. Er und seine Freunde mochten aber alle des Todes sein, wenn er nicht schnell handelte. Er riss deshalb Stenmin mit einer heftigen Bewegung vom Boden hoch und stieß ihn verächtlich dem Prinzen entgegen.

»Hier ist Euer Verräter, Palance - der wahre Feind Callahorns. Das ist der Mann, der Shirl Ravenlock den Nordländern übergeben hat. Das ist der Mann, der Tyrsis dem Dämonen-Lord ausliefern will ...«

»Mylord, Ihr kommt gerade zur rechten Zeit.« Der Mystiker hatte sich schnell gefasst und fiel Menion ins Wort, bevor dieser noch größeres Unheil anrichten konnte. Er raffte sich schnell auf und stürzte die Stufen hinauf, um sich dem Prinzen zu Füßen zu werfen und zu den anderen hinunterzuzeigen. »Ich habe sie bei der Flucht ertappt - ich wollte Euch eben warnen! Der Hochländer ist ein Freund Balinors - er ist hergekommen, um Euch zu töten!« Die Worte strömten voller Hass aus dem Mund Stenmins, während er nach dem Rock seines Wohltäters fasste und sich langsam hochzog. »Sie hätten mich ermordet - und danach Euch, Mylord. Seht Ihr nicht, was hier vorgeht?«

Menion kämpfte den Drang nieder, die Stufen hinaufzustürmen und dem Mystiker die Lügnerzunge abzuschneiden. Er zwang sich äußerlich zur Ruhe und starrte Palance Buckhannah ins Gesicht.

»Ihr seid von diesem Mann verraten worden, Palance«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. »Er hat Euer Herz und Euren Verstand vergiftet. Er hat Euch des Willens beraubt, für Euch selbst zu denken. Ihr bedeutet ihm nichts, das ganze Land bedeutet ihm nichts. Er hat es an den Feind verkauft, der schon Kern auf dem Gewissen hat.« Stenmin wollte wutentbrannt aufbrüllen, aber Menion ging unbeirrt darüber hinweg. »Ihr habt gesagt, wir würden Freunde sein, und Freunde müssen einander Vertrauen schenken. Lasst Euch jetzt nicht täuschen, sonst ist Euer Reich endgültig verloren.«

Balinor und seine Genossen, die immer noch unten an der Treppe standen, schauten stumm zu und wagten nicht einzugreifen, aus Angst, den seltsamen Zauber zu zerstören, den Menion Leah webte, denn Palance hörte immer noch zu, während sein umwölkter Geist sich mühte, die Mauer der Verwirrung ringsum niederzureißen. Langsam trat er vor, schloss die Tür hinter sich und ging an Stenmin vorbei, als existiere dieser nicht. Sein Berater zögerte unsicher und warf einen verstohlenen Blick auf die Kellertür, als erwäge er einen Fluchtversuch. Noch war er aber nicht bereit, seine Niederlage einzugestehen. Er fuhr herum, packte Palance am Arm und beugte sich zu seinem Ohr.

»Seid Ihr verrückt? Seid Ihr so wahnsinnig, wie manche behaupten, mein König?« zischte er. »Wollt Ihr jetzt alles wegwerfen und es Eurem Bruder überlassen? Soll er König sein oder Ihr? Das ist alles gelogen. Der Prinz von Leah ist ein Freund Allanons.«

Palance wandte sich ihm ein wenig zu, seine Augen weiteten sich.

»Ja, von Allanon!« Stenmin wusste, dass er einen Punkt, auf den der Prinz reagierte, getroffen hatte, und zeigte sich entschlossen, seinen Vorteil zu nützen. »Wer, glaubt Ihr, hat Eure Verlobte aus ihrem Haus in Kern entführt? Dieser Mann, der von Freundschaft spricht, gehörte der Verschwörung an das Ganze war eine List, um in den Palast zu gelangen und Euch zu ermorden!«

Höndel machte einen Schritt auf die Treppe zu, aber Balinor hielt ihn zurück. Menion blieb stehen, wo er war; er wusste, dass eine unbedachte Bewegung für Palance nur die Bestätigung sein konnte, dass Stenmin die Wahrheit sagte. Er richtete einen vernichtenden Blick auf den verschlagenen Mystiker, wandte sich Palance zu und schüttelte den Kopf.

»Er ist ein Verräter. Er ist eine Kreatur des Dämonen-Lords.«

Palance stieg ein paar Stufen hinunter, warf einen kurzen Blick auf Menion und starrte dann unverwandt seinen Bruder an, der ruhig stehen blieb und wartete. Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht von Palance, als er auf halber Treppe anhielt und sagte:

»Was meinst du, Bruder? Bin ich wirklich ... verrückt? Wenn ich es nicht bin, dann ... nun, dann müssen es alle anderen sein, und ich allein bin ... normal. Sag etwas, Balinor. Wir sollten uns nun wirklich unterhalten ... Bevor ... Ich wollte irgend etwas sagen ...« Aber der Satz blieb unvollendet. Palance richtete sich auf und schaute wieder zu Stenmin hinauf, der geduckt wie ein in die Enge getriebenes Tier zum Sprung anzusetzen schien.

»Ihr seid lächerlich, Stenmin. Steht auf!« Der scharfe Befehl tönte durch die Stille, und die zusammengekauerte Gestalt des Mystikers richtete sich auf. »Sagt mir, was ich tun soll!« herrschte Palance ihn an. »Soll ich alle töten lassen - wird mich das schützen?«

Stenmin stand blitzschnell bei ihm, die dunklen Augen kalt vor Wut.

»Ruft Eure Garde, Herr! Lasst diese Mörder auf der Stelle niedermachen!«

Palance schien plötzlich zu schwanken. Seine breiten Schultern sanken herab, sein Blick blieb am Mauerwerk haften, als studiere er es mit großer Gründlichkeit. Menion spürte, dass der Prinz von Callahorn wieder der Wirklichkeit entglitt und zurückfiel in die umwölkte Welt des Wahnsinns. Stenmin erkannte es ebenfalls, und ein grimmiges Lächeln huschte über sein dunkles Gesicht, während die Hand den Spitzbart strich. Plötzlich begann Palance wieder zu sprechen.

»Nein, keine Soldaten ... kein Töten. Ein König muss überlegt handeln ... Balinor ist mein Bruder, auch wenn er an meiner Stelle König sein will. Er und ich müssen uns besprechen ... es darf ihm nichts geschehen ... nichts geschehen.« Seine Stimme wurde leiser, und er lächelte Menion unvermittelt an. »Ihr habt mir Shirl zurückgebracht ... ich glaubte schon, ich hätte sie verloren, wisst Ihr. Warum . . . solltet Ihr das tun . . . wenn Ihr zu meinen Feinden gehört?«

Stenmin schrie vor Wut auf und griff vergeblich nach dem Rock des Prinzen. Palance Buckhannah schien ihn nicht zu bemerken.

»Es ist schwer für mich ... klar zu denken, Balinor«, fuhr Palance leise fort und schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Klarheit mehr ... ich bin nicht einmal zornig auf dich, weil du König sein willst. Ich habe immer ... König sein wollen. Du weißt es. Aber ich brauche ... Freunde ... einen Menschen, mit dem ich reden kann ...« Er blickte Stenmin an. Seine Augen wirkten aber leer und ausdruckslos. Stenmin entdeckte in ihnen etwas, das ihn veranlasste, den Prinzen loszulassen und sich ängstlich an die Wand zu pressen. Nur Menion stand nahe genug, um zu erkennen, was geschehen war. Worin auch immer die Macht, die Stenmin über Palance ausgeübt hatte, bestanden haben mochte, sie war gebrochen. Die schon verwirrten Gedankengänge des Prinzen waren endgültig zerstört, und Stenmin war für ihn von nun an nicht mehr als ein Gesicht in einem Meer von verschwimmenden Wesen, die die Alptraumwelt des wahnsinnigen Prinzen von Callahorn heimsuchten.

»Palance, hört mich an!« sagte Menion, nur für einen Augenblick durch den Wall der Dunkelheit nach dem Menschen greifend. Die breite Gestalt drehte sich ein wenig. »Ruft Shirl herunter! Ruft Shirl, und sie wird Euch helfen!«

Der Prinz zögerte einen Augenblick, als versuche er sich zu erinnern, dann huschte ein Lächeln über sein eingefallenes Gesicht, und tiefe Ruhe schien sich über seinen ganzen Körper auszubreiten. Er erinnerte sich an Shirls sanfte Stimme, ihre stille Art, ihre zerbrechliche Schönheit - Reminiszenzen, die Frieden und Seelenruhe zurückriefen, Augenblicke tiefer Zuneigung, die er sonst bei keinem anderen Menschen gefunden hatte. Wenn er nur für eine kurze Zeit bei ihr sein konnte ...

»Shit!«, sagte er leise und wandte sich mit ausgestreckter Hand der Kellertür zu. Als er an Stenmin vorbeiging, schien der zusammengekauerte Mystiker plötzlich zum Berserker zu werden. Kreischend vor Wut und Enttäuschung stürzte er sich auf den Prinzen und wühlte an seiner Brust. Menion Leah reagierte sofort und lief die Treppe hinauf zu den miteinander ringenden Männern. Aber er war noch einige Stufen entfernt, als Stenmins schmale Hand mit einem langen Dolch aus seinem Gewand hoch zuckte. Die Waffe schwebte einen schrecklichen Augenblick lang über den Männern, während Balinor vor Entsetzen aufschrie. Dann sauste sie hinunter. Palance Buckhannah schnellte zu voller Höhe empor, den Dolch bis zum Heft in der breiten Brust, und sein junges Gesicht wurde weiß wie ein Leichentuch.

»Ich gebe dir deinen Bruder zurück, du Narr!« schrie Stenmin gellend und stieß die schlaffe Gestalt die Treppe hinunter.

Der getroffene Prinz stürzte schwer in Menions ausgestreckte Arme und ließ ihn zurücktaumeln an die Wand, so dass er für Augenblicke das Gleichgewicht verlor und dem verhassten Feind nicht nachsetzen konnte. Stenmin hatte sich bereits zur Flucht gewandt und zerrte verzweifelt an der massiven Kellertür. Balinor hetzte die Stufen hinauf, bemüht, die Flucht des Mystikers zu verhindern. Die Elfen-Brüder folgten ihm und schrieen nach den Wachen. Die scharlachrote Gestalt hatte die Tür schon einen Spalt geöffnet und wollte eben hinausschlüpfen, als Höndel, der immer noch ganz unten stand, einen am Boden liegenden Streitkolben packte, der von einer der Wachen stammte, und ihn dem Flüchtenden nachschleuderte. Er traf die Schulter des Mystikers mit knochenzerschmetternder Wucht, und ein qualvoller Schrei hallte von den feuchten Wänden wider. Selbst das genügte aber nicht, um den Mystiker aufzuhalten, und einen Augenblick später war er verschwunden. Draußen ertönte sein schriller Schrei, die Gefangenen hätten den König ermordet.

Balinor warf einen schnellen Blick auf die stille Gestalt in den starken Armen Menion Leahs, dann rannte er zur offenen Kellertür. Zwei Palastwachen in schwarzen Uniformen tauchten plötzlich mit gezückten Schwertern auf. Sie hätten ebenso gut Puppen sein können, so wenig ließ sich Balinor von ihnen schrecken. Er rannte sie einfach um und hob im Laufen eines der zu Boden gefallenen Schwerter auf. Durin und Dayel waren nur Schritte hinter ihm, Menion kniete allein auf der Treppe, sah ihnen nach und hielt den Körper des selbsternannten Königs von Callahorn in den Armen. Höndel stieg die Stufen hinauf, blieb bei ihm stehen und schüttelte traurig den grauen Kopf. Der Prinz lebte noch, aber sein Atem war flach und rasselnd, und die Lider zuckten krampfhaft. Der Zwerg streckte grimmig die Hand aus und zog langsam die tödliche Klinge aus der Brust des Prinzen heraus, bevor er den Dolch angewidert von sich warf. Höndel half Menion, den Verwundeten hochzuheben, und die Augen des Prinzen öffneten sich plötzlich. Palance murmelte etwas und versank wieder in Bewusstlosigkeit.

»Er verlangt nach Shirl«, flüsterte Menion mit Tränen in den Augen, während er Höndel ansah. »Er liebt sie immer noch. Er liebt sie immer noch.«

Im Korridor, der zum Keller führte, setzten Balinor und die Elfen-Brüder dem fliehenden Stenmin nach. Es herrschte allgemeine Verwirrung, als Angehörige der Garde, der Dienerschaft und Besucher in dem von Panik erfassten Palast durcheinander stürmten. Schreckensschreie hallten von den uralten Wänden wider, beklagten den Tod des Königs und warnten vor Mördern, die entschlossen seien, alles niederzumachen. Am Palasttor war ebenfalls Kampfeslärm, der das Chaos verstärkte, zu vernehmen. Balinor und seine beiden Begleiter zwängten sich durch Menschentrauben, die beim Anblick gezogener Waffen in Hysterie verfielen. Ein paar Soldaten versuchten, sie aufzuhalten, aber Balinor stieß die Bedauernswerten einfach beiseite und verfolgte die rotgekleidete Gestalt, die vor ihnen das Weite suchte. Stenmin war immer noch in Sichtweite, als die drei Verfolger die große Halle erreichten, aber er hatte sich durch das Gedränge gekämpft und vergrößerte nun seinen Vorsprung. Wutentbrannt hetzte ihm Balinor nach, stieß beiseite, was ihm in den Weg kam.

Dann erbebten die Palasttore plötzlich unter dem Ansturm von Dutzenden kämpfender Männer und barsten unmittelbar vor Balinor und seinen beiden Freunden auseinander. Die Verwirrung erreichte ihren Höhepunkt, als ein großer Haufen fechtender Gestalten in die Halle eindrang, nach Balinor brüllte und die Schwerter schwang. Einen Augenblick lang wusste der Prinz nicht so recht, wer sie sein mochten, aber dann sah er das Leoparden-Abzeichen der Grenzlegion. Die wenigen Palastwachen, die noch vorhanden waren, flüchteten oder warfen die Waffen weg und wurden ergriffen. Die Legionäre erkannten Balinor und stürzten auf ihn zu, packten ihn und hoben ihn unter Jubelgeschrei auf die Schultern. Durin und Dayel wurden von ihm getrennt. Die triumphierenden Männer versperrten den Weg zu dem sich rasch entfernenden Stenmin. Balinor brüllte und wehrte sich verzweifelt, um sich frei zu machen, aber die Masse der Männer hinderte ihn daran, sich gegen die Flut zu stemmen, die plötzlich m Bewegung geriet und ihn zurück zum Keller schwemmte.

Die aufgebrachten Elfen durchstießen endlich die Menge und rasten dem Zauberer nach, der in einen anderen Korridor eingebogen war und vorübergehend ihren Blicken entschwand. Die schmalen Elfen waren jedoch schnellfüßig und verringerten den Vorsprung, den Stenmin hatte, rasch. Sie bogen um eine Ecke und bekamen ihn wieder zu Gesicht. Seine Miene war verzerrt vor Entsetzen, sein rechter Arm hing schlaff und gebrauchsunfähig herab. Durin beschimpfte sich stumm dafür, unterwegs nicht einen Bogen ergriffen zu haben. Der Fliehende blieb plötzlich stehen und versuchte vergeblich eine der Türen an der linken Flurseite aufzureißen. Der Riegel hielt trotz der verzweifelten Bemühungen des Mystikers, ihn zu sprengen, stand, so dass dieser herumfuhr und zur nächsten offenen Tür im Korridor raste. Durin und Dayel waren nur noch Meter von ihm entfernt, als es Stenmin gelang, diese Tür zu erreichen. Er verschwand dahinter, und sie fiel krachend zu. Die Elfen langten Augenblicke später an. Da die Tür von innen abgesperrt war, machten sie sich daran, den eisernen Riegel mit den Schwertern aufzubrechen. Es dauerte Minuten, bis ihnen das gelang. Als sie die Tür aufrissen und in den Raum stürzten, war er leer.

Menion Leah stand stumm vor den Toren des Palastes, während Balinor sich halblaut mit den Kommandeuren der Grenzlegion unterhielt. Shirl befand sich neben ihm, einen Arm unter den seinen geschoben, das junge Gesicht von Sorge umschattet. Menion sah auf sie hinunter und lächelte sie beruhigend an, dann presste er sie noch fester an sich. Jenseits der großen Außenmauer von Tyrsis warteten zwei Divisionen der wiederaufgestellten Grenzlegion auf den Befehl, der sie gegen die furchtbare Nordland-Armee in den Kampf schicken würde. Die gewaltige Invasions-Streitmacht hatte das Nordufer des Hochwasser führenden Mermidon erreicht und fasste bereits die Überquerung ms Auge. Wenn die Legion das Südufer auch nur einige Tage lang zu halten vermochte, würde den Elfen-Heeren vielleicht Zeit bleiben, sich zu sammeln und Tyrsis zu Hilfe zu kommen. Zeit, dachte Menion bitter - alles, was sie brauchten, war ein wenig Zeit. Bis jetzt war sie ihnen nicht gegönnt gewesen. Die Grenzlegion war, nachdem die Stadt gesichert worden war und Balinor den Befehl wieder übernommen hatte, so schnell wie möglich zusammengerufen worden, aber die vorrückenden Nordländer hatten den Mermidon, wie gesagt, bereits erreicht und trafen ihre Vorbereitungen für das Übersetzen.

Balinor war nun König von Callahorn. Anlass zum Feiern konnte das vorläufig nicht sein. Sein Bruder lag im Koma, stark geschwächt, dem Tode nah. Die besten Ärzte von Tyrsis hatten ihn gründlich untersucht, um der Ursache seiner Geistesverwirrung auf die Spur zu kommen, und waren schließlich zu der Ansicht gelangt, dass ihm über eine lange Zeit hinweg eine starke Droge eingeflößt worden sei, die seinen Widerstand brechen und ihn praktisch zu einer gehirnlosen Puppe machen sollte. Die Dosis war zuletzt so erhöht worden, dass Geist und Körper sie nicht mehr hatten ertragen können. Zuletzt war der Wahnsinn bei ihm Wirklichkeit geworden.

Balinor hatte sich die Schlussfolgerungen der Ärzte wortlos angehört. Eine Stunde vorher war sein Vater in einem entlegenen Raum im Nordturm des Palastes entdeckt worden. Der alte König war schon seit einigen Tagen tot, und die ärztliche Untersuchung hatte ergeben, dass er systematisch vergiftet worden war. Stenmm hatte als einziger Zugang zu dem Raum gehabt, wenn man von dem schon geistesverwirrten Prinzen Palance absah. So hatte der Tod Ruhl Buckhannahs mit Leichtigkeit geheimgehalten werden können. Wäre es dem Mystiker auch noch gelungen, Balinor zu töten, hätte es ihm nicht schwer fallen können, Palance zum öffnen der Stadttore zu überreden und den Heeren des Dämonen-Lords die Vernichtung von Tyrsis zu ermöglichen. Das war ihm schon einmal beinahe gelungen, und die Gelegenheit konnte sich wieder ergeben, nachdem Stenmin den Elfen-Brüdern hatte entkommen können und sich irgendwo in der Stadt verborgen hielt.

Die Zukunft des Südlands lag in einem sehr konkreten Sinne in den Händen Balinors. Die Bewohner von Tyrsis erwarteten von den Buckhannahs eine zuverlässige Regierung und starke Führung. Die Grenzlegion leistete als Streitmacht ihr Bestes, wenn Balinor sie befehligte. Nun war der riesenhafte Prinz der letzte seiner Familie und der Mann, zu dem alle aufblickten, damit er sie führe. Wenn ihm etwas zustieß, verlor die Legion ihren besten Kommandeur und das Herz ihrer Kampfkraft, die Stadt den letzten Buckhannah. Die wenigen, die wahrhaft begriffen, wie ernst die Lage war, sahen ein, dass Tyrsis gegen die vorrückende Nordland-Armee gehalten werden musste, sollte das Südland nicht verloren gehen und ein Keil zwischen die Heere der Elfen und der Zwerge getrieben werden. Allanon hatte unterstrichen, dass in diesem Falle der Dämonen-Lord der Sieger sein würde. Tyrsis war der Schlüssel zum Erfolg oder Scheitern und Balinor der Schlüssel zu Tyrsis.

Janus Senpre hatte noch am Vormittag das Seinige getan, um die Stadt zu sichern. Nachdem Menion sich am Tor von ihm verabschiedet hatte, war er zu Fandwick und Ginnison, den Legionskommandeuren, gegangen. Insgeheim hatten sie herausragende Leute der aufgelösten Legion zusammengeholt und blitzschnell zugeschlagen, um die Tore und die Kasernen zu besetzen. Sie waren gegen den Palast vorgerückt, fast ohne Widerstand, bis schließlich die ganze Stadt rings um den Palast der Buckhannahs wieder in den Händen der Loyalisten gewesen war. Vor dem Palastgelände auf ein Zeichen Menions wartend, hatten die drei Befehlshaber und ihre Anhänger im Innern Schreie von Mord und Totschlag gehört; sie hatten das Schlimmste befürchtet und die Tore aufgebrochen, waren hineingestürzt - leider gerade rechtzeitig, um Balinor an der Verfolgung des fliehenden Stenmin zu hindern. Bei dem Getümmel hatte es kaum Tote gegeben, und die Anhänger von Palance waren entweder gefangengesetzt oder wieder in die Reihen der Legion aufgenommen worden. Zwei der fünf Divisionen waren bereits wiederaufgestellt, und die anderen drei sollten bis Sonnenuntergang stehen. Späher hatten Balinor über den Zug der Nordland-Armee zum Mermidon unterrichtet und ihn zu der Schlussfolgerung gebracht, dass er augenblicklich handeln musste, um die Überquerung zu verhindern.

Höndel und die Elfen-Brüder gingen vor dem Palast ruhelos auf und ab. In ihren Gesichtern spiegelten sich gemischte Gefühle wider. Der Zwerg wirkte so entschlossen wie eh und je, wenn er zum Hochländer und seiner schönen Begleiterin hinübersah. Durin schien älter geworden zu sein; sein schmales Elfengesicht war umwölkt von dem Wissen über das Bevorstehende, während Dayel, obwohl nicht sorglos, hin und wieder ein Lächeln zustande brachte. Menion richtete den Blick wieder auf Balinor und die Legionskommandeure. Ginnisson war ein gedrungener Mann mit brandroten Haaren und muskulösen Armen, Fandwick ein Grauschädel mit weißem Schnurrbart und finsterer Miene; Acton mittelgroß und stämmig, nach allen Berichten ein unübertroffener Reitersmann; Messaline hochgewachsen und breitschultrig, beinahe arrogant wirkend, während er Balinor lauschte; und zuletzt Janus Senpre, zufolge seiner tapferen Haltung in Kern und seiner entscheidenden Rolle bei der Wiedereroberung von Tyrsis zum Kommandeur ernannt. Menion betrachtete die Männer prüfend, als versuche er, den Wert jedes einzelnen einzuschätzen. Balinor drehte sich plötzlich um und kam auf ihn zu, während er Höndel und die Elfen herbeiwinkte.

»Ich mache mich sofort auf den Weg zum Mermidon«, sagte er ruhig, als sie sich um ihn scharten. Menion wollte etwas sagen, aber Balinor hob abwehrend die Hand. »Nein, Menion, ich weiß, was Ihr sagen wollt. Die Antwort ist nein. Ihr bleibt alle hier in der Stadt. Ich würde einem jeden von Euch mein Leben anvertrauen, da aber mein Leben gegenüber dem Wohle von Tyrsis an Bedeutung weit abfällt, bitte ich Euch statt dessen, die Stadt zu schützen. Wenn mir etwas zustoßen sollte, wisst Ihr am besten, wie der Kampf weitergeführt werden muss. Janus bleibt bei Euch als Befehlshaber der Verteidigungsstreitkräfte. Ich habe ihn angewiesen, Euch bei allen Fragen zu Rate zu ziehen.«

»Eventine wird gewiss kommen«, sagte Dayel hastig.

Balinor lächelte und nickte zustimmend.

»Allanon hat uns nie im Stich gelassen. Er wird auch diesmal sein Wort halten.«

»Begebt Euch nicht unnötig in Gefahr«, sagte Höndel mit Nachdruck. »Die Stadt und ihre Menschen brauchen Euch lebend.«

»Lebt wohl, alter Freund.« Balinor drückte dem Zwerg fest die Hand. »Ich verlasse mich vor allem auf Euch. Ihr habt doppelt soviel Erfahrung wie ich und versteht unendlich mehr von Strategie. Passt gut auf Euch auf.« Er wandte sich schnell ab, winkte seinen Offizieren und bestieg den Wagen, der sie zum Stadttor bringen sollte. Janus Senpre nickte Menion beruhigend zu, als die Kutsche sich in Bewegung setzte, begleitet von einer berittenen Eskorte. Die vier Kameraden und Shirl Ravenlock sahen dem Zug nach, bis er verschwunden war und man keinen Laut mehr hören konnte. Höndel murmelte zerstreut etwas von einer nochmaligen Durchsuchung des Palastes, um den verschwundenen Stenmin ausfindig zu machen, und betrat das Gebäude, ohne eine Antwort abzuwarten. Durin und Dayel folgten ihm. Sie konnten ein Gefühl der Bedrückung nicht abschütteln. Es war das erste Mal seit der langen Reise, die sie von Culhaven aus angetreten hatten, dass sie sich für längere Zeit von Balinor trennen mussten, und es war ein beunruhigendes Erlebnis, ihn allein zum Mermidon ziehen zu lassen.

Menion wusste genau, wie ihnen zumute war. Sein eigener ruheloser Geist drängte ihn, dem Prinzen zu folgen und ihm in dem entscheidenden Kampf gegen die Horden des Dämonen-Lords zur Seite zu stehen, aber er war der völligen Erschöpfung nahe - seit fast zwei Tagen hatte er nicht mehr geschlafen. Die Anstrengung der Schlacht um die Insel Kern, die lange Flucht den Mermidon hinunter und die rasche Abfolge der Ereignisse, die zur Befreiung Balinors und der anderen geführt hatte - dies alles war sogar für ihn zuviel gewesen. Schwankend wie ein Betrunkener führte er Shirl in den Garten neben dem Palast und ließ sich schwerfällig auf einer Steinbank nieder. Sie setzte sich still zu ihm und betrachtete sein Gesicht, als er die Augen schloss und versuchte, sich ein wenig zu entspannen.

»Ich weiß, was du denken musst, Menion«, sagte sie leise. »Du möchtest bei ihm sein.« Er lächelte und nickte. »Du musst schlafen, weißt du.«

Wieder nickte er, und plötzlich suchte ihn wieder der Gedanke an Shea heim. Wo war Shea? Wohin war der Talbewohner auf seiner erfolglosen Suche nach dem Schwert von Shannara geraten? Menion richtete sich hastig auf und wandte sich an Shirl. Er war erschöpft, aber er wollte reden - er musste reden, denn es konnte sein, dass sich nie mehr eine Gelegenheit dazu ergeben würde. Mit leiser, ernster Stimme erzählte er ihr von sich und Shea, schilderte in kurzen Zügen die Freundschaft, die sie miteinander verband. Er sprach von den Zeiten, die sie im Hochland von Leah verlebt hatten, und kam auf die Hintergründe der Reise nach Paranor und der Suche nach dem Schwert zu sprechen.

Manchmal geriet er in die Irre, wenn er vergeblich versuchte, in die Tiefe vorzustoßen und zu erläutern, was sie vereint und manchmal auch getrennt hatte. Shirl begriff mit der Zeit, dass es eigentlich gar nicht Shea war, den Menion zu beschreiben versuchte - sondern er selbst. Schließlich legte sie die Finger auf seine Lippen.

»Er war der einzige Mensch, den du wirklich gut kanntest, nicht wahr?« sagte sie leise. »Er war wie ein Bruder für dich, und du fühlst dich verantwortlich für das, was mit ihm geschehen ist?«

Menion senkte bedrückt den Kopf.

»Ich hätte nicht anders handeln können, als ich es tat. Ihn in Leah festhalten zu wollen, hätte das Unausweichliche nur hinausgeschoben. Aber es hilft nicht, das alles zu wissen. Ich komme mir trotzdem - schuldig vor ...«

»Wenn er für dich so tief empfindet wie du für ihn, weiß er im Innersten, dass du so handeln musstest, gleichgültig, wo er jetzt sein mag«, erwiderte sie. »Niemand kann etwas aussetzen an dem Mut, den du in diesen Tagen bewiesen hast - und ich liebe dich, Menion.«

Menion sah sie entgeistert an. Sie lachte über seine Verwirrung und schlang die Arme um ihn. Menion presste sie einen Augenblick an sich, dann griff er nach ihren Schultern und schob sie ein wenig von sich, um ihr Gesicht zu studieren. Sie begegnete ruhig seinem Blick.

»Ich wollte es aussprechen. Ich wollte, dass du es hörst, Menion. Wenn wir sterben müssen ...« Sie verstummte plötzlich, und Menion sah Tränen über ihre Wangen laufen. Er wischte sie sanft weg, lächelte und zog sie mit sich hoch, als er aufstand.

»Ich habe einen weiten Weg hinter mir«, murmelte er. »Ich hätte oft das Leben verlieren können, aber immer wieder bin ich davongekommen. Ich habe das Böse gesehen, das in der Welt ist, die wir kennen, und in den Welten, von denen uns Sterbliche nur Ahnungen beschleichen. Es gibt nichts, was uns beiden schaden könnte. Die Liebe verleiht uns eine Kraft, die sogar dem Tod Widerstand leistet. Aber man braucht ein wenig Glauben. Glaube an uns, Shirl!«

Sie lächelte unwillkürlich.

»Ich glaube an dich, Menion. Und du sollst an dich selbst glauben.«

Der erschöpfte Hochländer lächelte sie an und drückte ihre Hände. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und er liebte sie mehr als sein Leben. Er beugte sich vor und küsste sie.

»Alles wird sich finden«, versicherte er ihr. »Alles wird gut werden.«

Sie blieben noch einige Minuten in dem einsamen Garten, unterhielten sich halblaut und folgten zerstreut den kleinen Wegen, die sich zwischen den duftenden Sommerblumen dahinschlängelten. Menion musste sich Mühe geben, wach zu bleiben, und Shirl drang darauf, dass er sich schlafen legte, solange er noch Gelegenheit dazu hatte. Er lächelte vor sich hin und zog sich in sein Schlafzimmer zurück, wo er angekleidet auf das große, weiche Bett fiel und sofort einschlief. Die Nachmittagsstunden verrannen, die Sonne sank am westlichen Himmel und verschwand endlich in lodernder Pracht am Horizont. Als es dunkel geworden war, erwachte Menion erfrischt, aber auf sonderbare Weise beunruhigt. Ereilte zu Shirl, und gemeinsam gingen sie durch die fast verlassenen Korridore des Palastes, auf der Suche nach Höndel und den beiden Elfen. Ihre Schritte hallten durch die langen Gänge, als sie an statuenhaften Wachen und dunklen Zimmern vorbeieilten und nur einmal kurz stehen blieben, um einen Blick auf die regungslose Gestalt von Palance Buckhannah zu werfen, an dessen Bett die Ärzte mit ausdruckslosen Mienen wachten. Sein Zustand war unverändert, sein verwundeter Körper und der gemarterte Geist lagen im Kampf gegen die übermächtige Kraft des Todes, der sich langsam und unerbittlich näherte. Als Menion und Shirl sich vom Bett entfernten, hatte das Mädchen Tränen in den Augen.

Überzeugt, dass seine Freunde zum Stadttor gegangen waren, um die Rückkehr des Prinzen von Callahorn abzuwarten, ließ Menion zwei Pferde satteln und ritt mit Shirl die Hauptstraße hinunter. Es war eine kühle, wolkenlose Nacht, erhellt vom silbernen Schimmer des Mondes und der Sterne, und die Türme der Stadt zeichneten sich gegen den Himmel deutlich ab. Als die Pferde die Brücke von Sendic erreichten, spürte Menion die willkommene Kühle einer nächtlichen Brise an seinem erhitzten Gesicht. Es war ungewöhnlich still in der Stadt; die Straßen lagen verlassen da, in den Häusern brannte zwar Licht, aber man hörte kein Lachen, keine geselligen Gespräche. Ein Mantel des Schweigens hatte sich über die belagerte Stadt gelegt, eine grimmige, wispernde Einsamkeit, die des Todes zu harren schien, den der Kampf bringen mochte. Die Reiter trabten durch die unheimliche Stille und versuchten ein wenig Trost in der Schönheit des Sternenhimmels zu finden. Die hochragende Außenmauer erhob sich schwärzlich in der Ferne. Auf den Brüstungen brannten Hunderte von Fackeln, um den Soldaten von Tyrsis den Heimweg zu erhellen. Sie sind lange fort, dachte Menion. Aber vielleicht hatten sie mehr erreichen können, als zu hoffen gewesen war. Vielleicht hatten sie den Mermidon gegen die Horden aus dem Nordland gehalten ...

Augenblicke später stiegen die Reiter am riesigen Tor ab. In den Kasernen der Legion herrschte geschäftiges Treiben; die Garnison bereitete sich fieberhaft auf die anstehende Schlacht vor. An jeder Ecke drängten sich Soldaten, und Menion und Shirl gelangten nur unter Mühen zur Brustwehr der gigantischen Mauer, wo Janus Senpre sie herzlich begrüßte. Der jugendliche Kommandeur war ohne Ruhepause auf dem Posten gewesen, seitdem Balinor die Stadt verlassen hatte, und das schmale Gesicht zeigte Spuren der Erschöpfung und Besorgnis. Kurze Zeit später tauchten Durin und Höndel aus der Dunkelheit auf, bald danach erschien auch Dayel. Die kleine Gruppe stand schweigend an der Brustwehr und starrte hinaus in die Dunkelheit nach Norden. Aus weiter Ferne hörten sie die gedämpften Rufe und Schreie kämpfender Männer, herübergetragen vom Nachtwind.

Janus erwähnte, er habe ein halbes Dutzend Kundschafter ausgeschickt, um zu erfahren, was sich am Fluss abspiele, aber es sei bis jetzt keiner zurückgekommen - ein unheilvolles Zeichen. Er hatte mehrmals beschlossen, sich selbst auf den Weg zu machen, aber Höndel hatte ihn unwirsch immer wieder daran erinnert, dass er die Verteidigung von Tyrsis zu beaufsichtige^ habe, so dass er gezwungen gewesen war, seinen Entschluss immer wieder fallen zu lassen. Durin hatte sich im stillen vorgenommen, sich auf die Suche nach Balinor zu begeben, wenn dieser bis Mitternacht nicht zurückgekommen sein sollte. Ein Elf konnte sich nahezu überall unentdeckt bewegen. Vorerst wartete Durin aber wie die anderen mit wachsender Sorge. Shirl sprach kurz vom unveränderten Zustand Palance Buckhannahs, erhielt aber nur einsilbige Antworten und gab es schließlich auf, die Männer in ein Gespräch ziehen zu wollen. Die kleine Gruppe wartete eine Stunde, wartete zwei Stunden. Die Laute aus der Ferne waren deutlicher und wirrer geworden, und es hatte den Anschein, als rücke das Kampfgetümmel näher an die Stadt heran.

Dann tauchte plötzlich vor der Klippe eine riesige Formation von Reitern und Fußsoldaten auf, um in Kolonnen zu der breiten Steinrampe zu ziehen, die in die Stadt führte. Die Annäherung war fast unbemerkt vor sich gegangen, und das plötzliche Auftauchen, scheinbar aus dem Nichts, rief bei den Beobachtern auf der Mauer Bestürzung hervor. Janus Senpre sprang erschrocken auf den Mechanismus zu, der die Eisenriegel des mächtigen Tores betätigte, für Augenblicke davon überzeugt, dass es dem Feind gelungen war, Balinors Streitmacht zu umgehen und in ihren Rücken zu gelangen. Höndel beschwichtigte ihn jedoch. Er begriff, was sich abspielte, bevor die anderen einen Überblick gewannen. Der Zwerg beugte sich über die Brustwehr und rief in seiner Sprache etwas hinunter, bekam auch schnell Antwort. Höndel nickte den anderen zu und deutete auf den hochgewachsenen Reiter an der Spitze des langen Zuges. Im sanften Mondlicht richtete sich das staubbedeckte Gesicht Balinors nach oben, und seine grimmige Miene bestätigte ihre Befürchtungen. Die Grenzlegion hatte den Mermidon nicht zu halten vermocht, und die Armee des Dämonen-Lords rückte gegen Tyrsis vor.

Es war fast Mitternacht, als die fünf noch verbliebenen Angehörigen des kleinen Trupps aus Culhaven sich in einem kleinen, versteckten Speisezimmer im Palast der Buckhannahs zu einer kurzen Mahlzeit versammelten. Der lange Kampf an Nachmittag und Abend um den Mermidon gegen die Nordland-Armee war verloren, wenngleich unter verheerenden Verlusten für den Feind. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als sollte es den kampferfahrenen Soldaten der Grenzlegion gelingen, das Übersetzen des Gegners auf das Südufer des reißenden Stroms zu verhindern, aber der Feind zählte Tausende, und wo Hunderte scheiterten, setzten Tausende sich endlich durch. Actons Reiter waren blitzartig entlang der Kampflinie vorgestoßen, um jeden Versuch des Gegners, die Fußsoldaten einzuschließen, zu vereiteln. Vorstöße in das Herz der nordländischen Reihen hatten Hunderte von Trollen und Gnomen das Leben gekostet. Es war das grausigste Gemetzel gewesen, das Balinor je erlebt hatte, und der Mermidon hatte sich vom Blut der Toten und Verwundeten rot gefärbt. Trotzdem hatten die feindlichen Truppen immer wieder angegriffen, als setzten sie sich aus gehirnlosen Kreaturen zusammen, ohne Gefühl, ohne Verstand, ohne menschliche Furcht. Die Macht des Dämonen-Lords hatte den kollektiven Geist der Riesenarmee so versklavt, dass selbst der Tod keine Bedeutung mehr besaß. Schließlich hatte ein riesiger Haufe barbarischer Berg-Trolle die Verteidigungslinie der Legion am äußersten rechten Ende durchbrochen; viele waren zwar niedergemacht worden, aber der Kampf hatte die Soldaten von Tyrsis gezwungen, die linke Flanke zu verkürzen. So war es der Nordland-Armee zuletzt doch gelungen, das andere Ufer zu gewinnen.

Inzwischen ging die Sonne bereits unter, und Balinor begriff, dass selbst die besten Soldaten der Welt das Südufer nicht würden halten können, sobald die Dunkelheit hereingebrochen war. Die Legion hatte bei den Kämpfen am Nachmittag nur geringe Verluste erlitten, und so befahl er den beiden Divisionen, sich auf eine Anhöhe mehrere hundert Meter südlich des Mermidon zurückzuziehen und sich neu zu formieren. Er hielt die Kavallerie an den Flanken ständig im Einsatz und ließ sie kurze Vorstöße gegen den Feind unternehmen, damit dieser nicht zur Ruhe kam und zu keinem organisierten Sturmangriff finden konnte. Dann wartete er auf die Dunkelheit. Die Horden der Nordland-Armee setzten nun in voller Stärke über, als die Dämmerung herabsank, und die Männer der Grenzlegion verfolgten mit einem Gemisch aus Furcht und Staunen, wie aus den Hunderten, die über den Fluss kamen, Tausende wurden und noch immer kein Ende abzusehen war. Es war ein schreckliches Schauspiel, das sich den Soldaten von Callahorn bot - eine Armee von derart unfassbarer Größe, dass sie das Land auf beiden Seiten des Mermidon bedeckte, so weit das Auge reichte.

Aber ihre Größe behinderte sie auch in der Manövrierfähigkeit, und die Kommandostruktur wirkte schwerfällig und schlecht organisiert. Man unternahm keinen konzentrierten Vorstoß, um die Legionäre von der kleinen Anhöhe zu vertreiben. Statt dessen wogte die Masse der Armee nach dem Übersetzen am Südufer des Flusses durcheinander, so, als warteten die Soldaten darauf, mitgeteilt zu bekommen, wie es weitergehen sollte. Mehrere Abteilungen schwerbewaffneter Trolle wagten gegen die Legion schnelle Vorstöße, die aber abgeschlagen werden konnten. Als endlich die Dunkelheit hereinbrach, formierte die feindliche Armee sich plötzlich zu langen Kolonnen, und Balinor wusste, dass der erste Großangriff der Legion zum Verhängnis werden musste.

Mit der Geschicklichkeit und dem Wagemut, die ihn zur bewegenden Kraft der legendären Grenzlegion und zum besten Kommandeur im Südland gemacht hatten, setzte der Prinz von Callahorn zu einem überaus schwierigen taktischen Manöver an. Ohne den Angriff des Gegners abzuwarten, teilte er seine Armee plötzlich in zwei Hälften und griff rechts und links von den Nordland-Kolonnen an. Mit blitzschnellen Vorstößen, die Dunkelheit nutzend in einem Gelände, das alle Legionäre gut kannten, zwangen die Soldaten von Tyrsis den Feind, seine Flanken zu einem Halbkreis zusammenzuziehen. Der Kreis wurde immer enger, und die Legionäre zogen sich nach jedem Vorstoß rasch wieder zurück. Balinor und Fandwick hielten die linke Flanke, Acton und Messaline befehligten die rechte.

Der erboste Feind begann wild zurückzuschlagen, war aber behindert durch das ihm unbekannte Terrain, während die elastisch weichenden Legionäre gerade immer außer Reichweite blieben. Langsam zog Balinor seine Flanken zurück und verkürzte die Linien, die nach dem Gegner suchenden Nordland-Soldaten mitziehend. Als die Fußsoldaten sich gänzlich vom Feind gelöst hatten, geschützt durch Dunkelheit und die Ausfälle der eigenen Reiterei, unternahm die letztere einen abschließenden Vorstoß und entzog sich den zuschnappenden Zangen der feindlichen Armee im letzten Augenblick. Die rechte und linke Flanke des Nordland-Heeres trafen plötzlich aufeinander, und jede vermutete in der anderen den verhassten Feind, der seit Stunden nicht zu fassen gewesen war. Ohne Zögern ging man allgemein zum Angriff über.

Wie viele Trolle und Gnomen von eigenen Leuten niedergemacht wurden, sollte man nie erfahren, aber die Kämpfe tobten immer noch, als Balinor und die zwei Divisionen der Grenzlegion Tyrsis sichererreichten. Die Hufe der Pferde waren umwickelt worden, damit der Rückzug nicht auffiel; die Soldaten hatten sich alle Mühe gegeben, lautlos zu sein. Mit Ausnahme eines berittenen Trupps, der zu weit nach Westen geraten, abgeschnitten und dezimiert worden war, hatte die Legion intakt entkommen können. Die der gewaltigen Nordland-Armee zugefügten Verluste hatten allerdings deren Vorrücken nicht aufhalten können, und der Mermidon, die erste Verteidigungslinie von Tyrsis, war verloren.

Nun dehnte sich das riesige Heerlager des Feindes auf dem Grasland unterhalb der Stadt, und die Feuer brannten, so weit das Auge in der Dunkelheit reichte. Im Morgengrauen würde der Angriff auf Tyrsis beginnen. Die vereinigte Macht von Tausenden Trollen und Gnomen würde sich nach dem Willen des Dämonen-Lords gegen den hochragenden Wall aus Stein und Eisen werfen. Irgendwo würde eine Bresche geschlagen werden.

Höndel, der Balinor am kleinen Esstisch nachdenklich gegenübersaß, erinnerte sich wieder des bedrohlichen Gefühls, das er verspürt hatte, als er mit Janus Senpre die Befestigungen der großen Stadt besichtigt hatte. Unzweifelhaft war die Außenmauer ein mächtiges Bollwerk, aber irgend etwas schien nicht in Ordnung zu sein. Er hatte nicht genau bestimmen können, was diese Unruhe in ihm hervorrief, aber selbst hier, im behaglichen Speisezimmer, in Gesellschaft seiner Freunde, konnte er den nagenden Verdacht nicht abschütteln, dass bei den Vorbereitungen auf die lange Belagerung, die ihnen bevorstand, etwas Entscheidendes übersehen worden war.

Er führte sich noch einmal die Abwehrlinien um die weitläufige Stadt vor Augen. Am Rand der Klippe hatten die Bewohner von Tyrsis ein niedriges Bollwerk errichtet, um den Feind daran zu hindern, sich auf dem Plateau festzusetzen. Wenn man die Nordländer nicht im Grasland unterhalb der Klippe festhalten konnte, wollte die Legion sich in die eigentliche Stadt zurückziehen und darauf vertrauen, dass die gigantische Außenmauer den Ansturm des Feindes stoppen würde. Der rückwärtige Zugang zur Stadt war abgeschnitten durch die fast senkrecht aufragenden Felswände, die sich gleich hinter dem Palast hundert Meter und höher in die Luft erhoben. Balinor hatte ihm versichert, dass die Felswände nicht zu ersteigen seien; sie waren nahezu spiegelglatt, ganz ohne Risse und Vorsprünge, die Halt hätten bieten können.

Der Abwehrwall um Tyrsis musste undurchdringlich sein, und trotzdem war Höndel nicht zufrieden.

Seine Gedanken kehrten kurz zu seiner Heimat zurück - nach Culhaven und zu seiner Familie, die er seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Er war nicht oft zu Hause gewesen, da er fast sein ganzes Leben den schier unaufhörlichen Grenzkriegen im Anar gewidmet hatte. Er vermisste die Wälder und das Grün der Frühlings- und Sommermonate und fragte sich plötzlich, wie er soviel Zeit hatte vergehen lassen können, ohne seine Heimat zu besuchen. Vielleicht würde er sie nie wiedersehen. Der Gedanke zuckte durch sein Gehirn und verlor sich; er hatte keine Zeit für derlei Überlegungen.

Durin und Dayel unterhielten sich mit Balinor, und ihre Gedanken galten dem Westland. Wie Höndel entsann sich Dayel seiner Heimat. Er fürchtete sich vor dem Kampf, der bevorstand, aber er ging gegen seine Angst an, ermutigt von der Gegenwart der anderen, entschlossen, nicht weniger als sie zu leisten, wenn es darum ging, den Feind aufzuhalten, der erschienen war, um sie zu vernichten. Er dachte an Lynliss und sah ihr sanftes Gesicht vor sich. Er würde für ihre Sicherheit ebenso kämpfen wie für die seinige. Durin betrachtete seinen Bruder und sah ihn ein wenig lächeln; er wusste, ohne ihn fragen zu müssen, dass sein Bruder an das Mädchen dachte, das er heiraten würde. Nichts war Durin wichtiger als das Wohlergehen Dayels; er hatte von Anfang an darauf geachtet, immer in der Nähe seines Bruders zu sein, um ihn beschützen zu können. Während der langen Reise nach Paranor waren sie mehrmals in Gefahr geraten, ihr Leben zu verlieren. Der morgige Tag würde noch größere Gefahren bringen, und erneut war Durin willens, über seinen Bruder zu wachen.

Er dachte kurz an Eventine und die kampfstarken Elfen-Armeen, und er fragte sich, ob diese Tyrsis rechtzeitig erreichen würden. Ohne ihre Hilfe würden die Horden des Dämonen-Lords früher oder später die Verteidigungslinien der Stadt durchbrechen. Er griff nach seinem Weinglas und trank in großen Zügen. Seine scharfen Augen glitten über die Gesichter der anderen und blieben kurz an der bedrückten Miene Menion Leahs haften.

Der schlanke Hochländer hatte mit Heißhunger gegessen, da er fast vierundzwanzig Stunden nichts hatte zu sich nehmen können. Er war lange vor seinen Tischgenossen fertig gewesen und hatte sein Weinglas nachgefüllt, bevor er Balinor Fragen über die Kämpfe des Nachmittags stellte. Nun fiel ihm, während der Wein ihm eine leichte Schläfrigkeit bescheren wollte, plötzlich ein, dass der Schlüssel zu allem, was seit Culhaven geschehen war, zu allem, was in den kommenden Tagen bevorstand, Allanon war. Er brachte es nicht mehr über sich, an Shea und das Schwert zu denken, ja, nicht einmal mit Shirl befasste er sich. Er sah vor seinem inneren Auge nur die schwarze, unheimliche Gestalt des rätselhaften Druiden. Allanon besaß die Antworten zu allen Fragen. Er allein kannte das Geheimnis des Talismans, den die Menschen als Schwert von Shannara bezeichneten. Er allein kannte die Absicht hinter dem seltsamen Auftauchen der geisterhaften Erscheinung im Tal von Shale - des Druiden Brimen, eines Mannes, der seit fünfhundert Jahren tot war. Er allein hatte in jedem Augenblick, bei jedem Schritt auf der gefährlichen Reise nach Paranor gewusst, womit zu rechnen war und wie man sich verhalten musste. Aber der Mann selbst war ein Rätsel geblieben.

Nun war er nicht mehr bei ihnen, und nur Flick konnte, wenn er noch lebte, ihn fragen, was mit ihnen geschehen würde. Sie hingen alle von Allanon ab, um zu überleben - aber was würde der riesenhafte Druide tun? Was blieb ihm, wenn das Schwert von Shannara verloren war? Was blieb, wenn der junge Erbe Jerle Shannaras vermisst und wahrscheinlich tot war? Menion biss sich zornig auf die Unterlippe, als der verhasste Gedanke in ihm auftauchte. Shea musste am Leben sein!

Menion verfluchte alles, was sie in diese elende Situation gebracht hatte. Sie hatten zugelassen, dass man sie in die Enge trieb. Nun stand ihnen nur noch ein Weg offen. In der morgigen Schlacht würden viele Menschen sterben und nahezu keiner wissen, warum. Es war ein unausweichlicher Zug des Krieges, dass Männer einfach ihr Leben gaben - schon seit Jahrhunderten war das so. Aber dieser Krieg überstieg jede menschliche Fassungskraft. Er war eine Auseinandersetzung zwischen einem substanzlosen Geisterwesen und sterblichen Menschen. Wie sollte das Böse, das sich im Dämonen-Lord verkörperte, vernichtet werden, wenn man es nicht einmal zu begreifen vermochte? Nur Allanon schien die Natur des Wesens zu begreifen, aber wo war der Druide nun, da sie ihn am dringendsten brauchten?

Die Kerzen auf dem Tisch brannten nieder, und die Dunkelheit rückte näher. An den mit Holz getäfelten und mit Gobelins behängten Wänden flackerten Fackeln, und die Stimmen der Tischgenossen wurden leiser, gedämpfter, als sei die Nacht ein Kind, das nicht geweckt werden durfte. Tyrsis schlief, und draußen in der Ebene schlummerte die Nordland-Armee. Im Frieden und in der Einsamkeit der mondhellen Nacht schien es, als seien alle Lebensformen zur Ruhe gekommen, und der Krieg stelle mit seiner Botschaft von Schmerz und Tod nur eine undeutliche, fast vergessene Erinnerung an längst vergangene Jahre dar. Aber die fünf Männer, die halblaut über schönere Zeiten und Freundschaften sprachen, konnten nicht einmal für Augenblicke die Erkenntnis unterdrücken, dass die Schrecknisse des Krieges nicht weiter entfernt waren als der Sonnenaufgang, unausweichlich wie die Dunkelheit des Dämonen-Lords, die langsam und unerbittlich aus dem Norden Zugriff, um ihnen den Tod zu bringen.

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