Eine Frau! Weshalb sollten die Nordländer eine Frau entführen?
Menion starrte in die klaren, blauen Augen, die ihn unsicher anblinzelten. Es war keine gewöhnliche Frau. Sie war von außerordentlicher Schönheit - dunkel gebräunte Haut über den edel geschnittenen Zügen des runden Gesichts, eine schlanke, graziöse Gestalt, gekleidet in Seide, und ihre Haare...! So etwas hatte er noch nie gesehen. Auch naß und vom herabstürzenden Regen an ihren Kopf geklatscht, schulterlang und tiefer, in dichten Flechten, leuchtete es tiefrötlich im grauen Morgen. Er starrte sie Augenblicke wie in Trance an, dann holten ihn die Schmerzen in den blutenden, zerstochenen Füßen in die Wirklichkeit zurück, ließen ihn wieder an die Gefahr denken, in der sie schwebten.
Er stand schnell auf, und sein Gesicht verzerrte sich, als er seine Füße wieder belastete. Die Müdigkeit durchflutete ihn so stark, daß er sich am liebsten wieder hingelegt hätte. Er schwankte wie ein Betrunkener, auf das große Schwert gestützt.
Das angstvolle Gesicht des Mädchens - ja, entschied er, man mußte sie noch ein Mädchen nennen - starrte ihn aus einem grauen Nebel an. Dann war sie plötzlich auf den Beinen, stützte ihn, redete leise auf ihn ein. Er schüttelte den Kopf und nickte dann hilflos.
»Schon gut. Es geht wieder.« Es klang lallend, als er die Worte hervorstieß. »Zum Fluß - wir müssen Kern erreichen.«
Sie machten sich wieder auf den Weg durch Nebel und Regen, mit schnellen Schritten, manchmal auf dem glitschigen Boden nur mühsam das Gleichgewicht bewahrend. Menion spürte, wie sein Kopf klarer wurde, und seine Kraft kehrte langsam zurück, als sie weitergingen, das Mädchen neben ihm an seinen Arm geklammert, halb gestützt, halb stützend. Seine scharfen Augen suchten die Düsternis ringsum nach den Trollen ab, die gewiß in der Nähe sein mußten. Plötzlich vernahm er ein Geräusch, das rauschende Toben und Stampfen des Mermidon, der das tiefliegende Ufer überflutete und Kern entgegenwogte. Das Mädchen hörte es auch und umklammerte aufmunternd seinen Arm fester.
Augenblicke später standen sie auf der Böschung über dem Nordufer. Der Strom schwoll immer mehr an. Menion hatte keine Ahnung, wo Kern genau lag, aber er wußte, daß sie die Insel ganz verfehlen würden, wenn sie an der falschen Stelle übersetzten.
Das Mädchen schien das Problem zu begreifen; sie packte seinen Arm und ging mit ihm flußabwärts. Menion ließ sich widerstandslos führen und suchte wie sie die Umgebung ab.
Der Regen hatte nachgelassen, der Nebel begann sich zu lichten.
Es würde nicht lange dauern, bis das Gewitter aufhörte und man wieder würde sehen können. Sie mußten möglichst schnell über den Strom.
Menion wußte nicht, wie lange ihn die junge Frau am Fluß entlang führte, aber endlich blieb sie stehen und wies mit hastigen Bewegungen auf ein kleines Skiff, das am Ufer lag. Der Hochländer schnallte eilig das Schwert auf den Rücken, dann legten die beiden ab. Der Fluß war eisig kalt, und Menion spürte, wie die Kalte vom Gischt, der über das Boot hinwegspritzte, bis ins Mark drang. Er ruderte wild gegen die starke Strömung an, die sie mit ungeheurer Kraft flußabwärts riß, so daß das Boot sich mehrmals um die eigene Achse drehte. Es war ein unbarmherziger, grausamer Kampf zwischen Strom und Mensch, der endlos zu sein schien, und in Menions Gehirn begann alles zu verschwimmen.
Was am Ende geschah, wurde ihm nie völlig klar. Er nahm dumpf wahr, daß Hände ihn vom Boot auf ein grasbewachsenes Ufer hoben, wo er zusammenbrach. Er hörte die sanfte Stimme dess Mädchens, dann wurde es schwarz um ihn. Er schwamm in Dunkelheit und wieder hinaus, geplagt von einem Gefühl der Gefahr, das ihn bedrängte und hochtreiben wollte, aber sein Körper konnte nicht reagieren, und schießlich verfiel er in einen tiefen Schlaf.
Als er wach wurde, war es draußen noch hell, und der Regen fiel gleichmäßig von einem grauen Himmel. Er lag in der Wärme und Behaglichkeit eines Bettes, trocken und ausgeruht, die zerschundenen Füße gesäubert und verbunden. Der Regen trommelte friedlich an die Fenster. Menion schaute sich in der schön eingerichteten Kammer um und begriff schnell, daß das nicht das Heim eines Durchschnittsbürgers war, sondern eine königliche Behausung. Die Täfelung trug Abzeichen und Wappen, die den Königen von Callahorn gehörten, wie Menion wußte. Er lag ruhig da und ließ den Blick durch das Zimmer gleiten, während er spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Er sah auf einem Stuhl trockene Kleidung liegen und wollte gerade aufstehen, um sich anzuziehen, als die Tür aufging und eine alte Dienerin mit einem Tablett voll dampfender Speise hereinkam. Sie nickte höflich und lächelte, eilte mit dem Tablett ans Bett, um es dem Hochländer vorzusetzen, stützte seinen Rücken mit Kissen und drängte ihn, zu essen, solange noch alles heiß sei. Sie erinnerte Menion beinahe an seine eigene Mutter, eine gütige, treusorgende Frau, die in seinem zwölften Lebensjahr gestorben war. Die Dienerin wartete, bis er den ersten Bissen zu sich genommen hatte, dann verließ sie das Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.
Menion aß langsam, genoß die wohlschmeckenden Speisen und fühlte sich wieder kräftiger werden. Erst als er halb fertig war, fiel ihm ein, daß er seit über vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte - oder vielleicht noch länger. Er starrte wieder durch das Fenster auf den Regen und konnte nicht einmal sagen, ob es noch derselbe Tag war. Es mochte schon der nächste sein...
Blitzartig fiel ihm ein, weshalb er nach Kern gekommen war - um die Stadt vor der Invasion durch die Nordland-Armee zu warnen. Es mochte schon zu spät sein. Er war bei dem Gedanken erstarrt, die Gabel vor dem Mund, als die Tür ein zweitesmal aufging. Es war die junge Frau, die er gerettet hatte, erholt und frisch, in einem fließenden, langen Gewand von satten Farben, die langen, roten Flechten gekämmt und schimmernd sogar im grauen Licht des regnerischen Tages. Sie war bei weitem die schönste Frau, der Menion je begegnet war. Er bemerkte die erhobene Gabel, ließ sie sinken und lächelte. Sie schloß die Tür hinter sich und trat an sein Bett. Unfaßbar schön, dachte er wieder.
Weshalb war sie enführt worden? Was mochte Balinor über sie wissen - welche Antworten konnte er geben? Sie betrachtete ihn mit ihren klaren, ruhigen Augen.
»Ihr seht sehr gesund aus, Prinz von Leah«, sagte sie lächelnd.
»Der Schlaf und das Essen haben Euch gut getan.«
»Woher wißt Ihr...?«
»Euer Schwert trägt die Abzeichen des Königs von Leah, so viel weiß ich. Wer anderer als sein Sohn würde eine solche Waffe tragen? Aber Euren Namen weiß ich nicht.«
»Menion«, erwiderte der Prinz, ein wenig verwundert über die Kenntnisse des Mädchens.
Die junge Frau streckte eine schmale, gebräunte Hand aus, um die seine zu drücken.
»Ich bin Shirl Ravenlock, und das ist meine Heimat, Menion - die Inselstadt Kern. Ohne Eure Tapferkeit hätte ich sie nie wiedergesehen.
Dafür werde ich Euch ewig dankbar und in Freundschaft verbunden sein. Und nun eßt weiter, während wir uns unterhalten.
« Sie setzte sich zu ihm ans Bett. Wieder hob er die Gabel, aber das löste die Erinnerung in ihm aus, und er ließ sie auf den Teller fallen.
»Ihr müßt Tyrsis Nachricht geben, Balinor verständigen – die Invasion aus dem Norden hat begonnen! Eine Armee lagert nicht weit von Kern, um...«
»Ich weiß, keine Sorge«, erwiderte Shirl schnell und hob die Hand. »Selbst im Schlaf habt Ihr von der Gefahr gesprochen - Ihr habe uns noch gewarnt, bevor Ihr ohnmächtig geworden seid. Tyrsis erhält Nachricht. Palance Buckhannah herrscht in Abwesenheit seines Bruders; der König ist noch immer sehr krank. Kern organisiert seine Verteidigung, aber im Augenblick besteht noch keine dringende Gefahr. Durch die Regenfälle ist der Mermidon so angeschwollen, daß eine größere Streitmacht nicht übersetzen kann. Wir sind sicher, bis Verstärkung kommt.«
»Balinor hätte schon vor Tagen in Tyrsis sein müssen«, sagte Menion erschrocken. »Was ist mit der Grenzlegion? Ist sie kampfbereit?«
Das Mädchen sah ihn verständnislos an. Von diesen Dingen Wußte sie offenbar nichts. Menion stellte das Tablett plötzlich Weg und stieg aus dem Bett, während Shirl sich erstaunt erhob.
»Shirl, Ihr mögt glauben, daß Ihr auf dieser Insel sicher seid, aber ich kann Euch sagen, daß die Zeit für uns alle abläuft!« sagte Menion scharf, als er nach der Kleidung griff. »Ich habe gesehen, wie groß diese Armee ist, und selbst das Hochwasser wird sie nicht lange aufhalten. Im übrigen müßte ein Wunder geschehen, wenn Hilfe kommen sollte.« Er erstarrte plötzlich, die Hand am Zweiten Knopf seines Nachthemdes, als ihm klar wurde, daß er Vor einem Mädchen stand. Er deutete stumm zur Tür, aber sie Schüttelte nur den Kopf und drehte sich um, damit er sich ankleiden konnte.
»Und Eure Entführung?« fragte Menion, hastig in die frischen Sachen schlüpfend. »Habt Ihr eine Ahnung, weshalb Ihr für die Nordländer so wichtig seid - abgesehen von der Tatsache, daß ihr eine sehr schöne Frau seid?« Er lächelte, als er sich vorstellte, daß das Mädchen sicherlich errötete, auch wenn er das nicht sehen konnte.
»Ich weiß nicht genau, was geschehen ist«, sagte sie nach einer Pause. »Ich schlief. Ein Geräusch im Zimmer weckte mich, dann wurde ich gepackt und verlor das Bewußtsein - ich glaube, ich wurde niedergeschlagen oder... Nein, jetzt erinnere ich mich. Es war ein Tuch mit einer übelriechenden Flüssigkeit, das man mir auf das Gesicht preßte. Ich wurde ohnmächtig, und als ich wieder zu mir kam, lag ich am Fluß. Wie eingeschnürt ich war, wißt Ihr.
Ich konnte nichts sehen und nur wenig hören - und dies Wenige nicht verstehen. Habt Ihr etwas gesehen?«
Menion schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln.
»Nein, nicht viel«, sagte er, als ihm einfiel, daß ihn Shirl nicht sehen konnte. »Ein Mann hat Euch im Boot hinübergebracht und vier Trollen übergeben. Ich konnte den Mann nicht genau sehen, würde ihn aber vielleicht wiedererkennen, wenn er mir begegnen sollte. Ich muß Euch noch einmal fragen: Weshalb sollte Euch jemand entführen? Dreht Euch um. Ich bin angekleidet.«
Die junge Frau drehte sich gehorsam um und kam heran, als er die hohen Jagdstiefel anzog.
»Ich bin von königlichem Geblüt, Menion«, sagte sie leise.
Menion hob den Kopf. Er hatte schon vermutet, daß sie keine gewöhnliche Bürgerin Kerns war, nachdem sie das Wappen von Leah an seinem Schwert erkannt hatte. »Meine Vorfahren waren Könige von Kern - und für einige Zeit auch von Callahorn, bevor die Buckhannahs vor etwa hundert Jahren an die Macht kamen.
Ich bin eine... nun, man könnte vielleicht sagen, eine Prinzessin - in absentia.« Sie lachte plötzlich, und Menion lächelte sie an.
»Mein Vater ist Mitglied des Rates, der die inneren Angelegenheiten von Kern regelt. Der König ist der Herrscher von Callahorn, aber dabei handelt es sich, wie man sagt, um eine aufgeklärte Monarchie, und der König mischt sich selten in die Angelegenheiten der Stadt ein. Sein Sohn Palance fühlte sich schon geraume Zeit zu mir hingezogen, und es ist kein Geheimnis, daß er vorhat, mich zu heiraten. Ich... ich kann mir vorstellen, daß ein Feind mich dazu benützen könnte, gegen ihn vorzugehen.«
Menion nickte düster, von einer dumpfen Vorahnung geplagt.
Palance hatte keinen direkten Anspruch auf den Thron von Callahorn, wenn Balinor nicht etwas zustieß. Weshalb vergeudete jemand Zeit damit, den jüngeren Sohn unter Druck zu setzen, wenn man nicht die Gewißheit hatte, daß Balinor nicht zur Stelle sein würde?
»Shirl, wie lange habe ich geschlafen?« fragte er sorgenvoll.
»Fast einen ganzen Tag«, erwiderte sie. »Ihr seid erschöpft gewesen, als man uns gestern morgen aus dem Mermidon zog, und ich dachte, Ihr solltet schlafen. Ihr hattet uns gewarnt...«
»Vierundzwanzig Stunden verloren!« stieß Menion hevor.
»Ohne den Regen wäre die Stadt schon gefallen! Wir müssen sofort handeln, aber was... Shirl, Euer Vater und der Rat! Ich muß mit ihnen sprechen!« Er griff nach ihren Armen, als sie zögerte.
»Stellt jetzt keine Fragen, tut, was ich Euch sage! Wo ist der Ratssaal? Schnell, führt mich hin!«
Ohne auf Antwort zu warten, nahm Menion das Mädchen bei der Hand und zog es durch die Tür hinaus in den langen Korridor.
Sie eilten gemeinsam durch das leere Haus hinaus in einen großen Garten mit Rasenflächen und Bäumen, die Köpfe im Regen gesenkt. Die Gehsteige der Gebäude auf der anderen Straßenseite waren halb überdacht, und es blieb ihnen erspart, erneut völlig durchnäßt zu werden. Unterwegs fragte ihn Shirl, wie er in diesen Teil des Landes gekommen sei, aber Menion antwortete ausweichend. Er glaubte, dem Mädchen vertrauen zu können, aber Allanons Warnung, daß keiner die Geschichte von dem verschwundenen Schwert preisgeben solle, hinderte ihn daran, ihr alles zu erzählen. Statt dessen erwiderte er, er sei gekommen, um Balinor gegen die Invasion aus dem Nordland beizustehen.
Sie erreichten das Ratsgebäude, einen hohen, alten Bau, umgeben von verwitterten Säulen, mit Bogenfenstern und massiven Türen. Die Wachen am Eingang hielten sie nicht auf, und sie hasteten durch die langen, gewundenen Korridore und die steilen Treppen hinauf. Der Raatssaal befand sich im dritten Stock des großen Gebäudes. Als sie endlich vor den Holztüren standen, erklärte Shirl, sie werde ihrem Vater und den anderen Ratsmitgliedern mitteilen, daß er sie zu sprechen wünsche. Zögernd erklärte Menion sich bereit, zu warten. Er blieb ungeduldig im Korridor zurück und lauschte dem gedämpften Stimmengewirr, während die Sekunden verrannen und der Regen an die Fensterscheiben trommelte.
Er verlor sich für einen Augenblick in der Ruhe und Einsamkeit des uralten Gebäudes, dachte an seine Freunde und fragte sich, was aus ihnen geworden sein mochte. Vielleicht würden sie nie mehr zusammentreffen wie in den erregenden Tagen auf dem Weg zur Druidenfestung, aber den Mut, die Opferbereitschaft und Treue der anderen würde er nie vergessen.
Vor allem Shea. Er schüttelte den Kopf, als er an seinen ältesten Freund dachte. Wie seltsam, wie unfaßbar fremdartig alles erschien, dachte Menion. Shea und das Schwert von Shannara - sie stammten aus einer Zeit, die langsam zu Ende ging, und waren doch die Hoffnung der Stunde, der Schlüssel zum Leben.
Die schweren Türen zum Ratssaal öffneten sich, und seine Gedanken wurden unterbrochen, als Shirl ihn ansprach. Sie wirkte klein und zerbrechlich unter den massiven Deckenbalken, und ihre Schönheit blendete ihn beinahe. Kein Wunder, daß Palance Buckhannah diese Frau als Gemahlin begehrte. Menion trat auf sie zu, griff nach ihrer warmen, kleinen Hand, und betrat mit ihr den Saal. Er registrierte die alte Strenge des Saales, als er in das graue Licht schritt, das durch die hohen Fenster drang. Um einen großen Holztisch saßen zwanzig Männer, die einander auf seltsame Weise ähnelten - alle alt, vielleicht weise, und entschlossen.
Nur ihre Augen verrieten die Sorge um ihre Stadt und die Bevölkerung. Sie wußten, was die Nordland-Armee tun würde, wenn der Regen aufhörte und das Wasser des Mermidon sank. Er blieb vor ihnen stehen und horchte einen Augenblick in die Stille hinein, dann begann er zu sprechen.
Er wählte seine Worte mit Bedacht und beschrieb die riesige Streitmacht, die sich unter der Führung des Dämonen-Lords gesammelt hatte, schilderte kurz seinen langen Weg nach Callahorn, erwähnte Balinor und die anderen Freunde. Vom Schwert, von Sheas geheimnisvoller Herkunft und auch von Allanon sprach er nicht. Als er zum Schluß die Räte aufforderte, ihre Stadt zu retten, solange noch Zeit war, die Bevölkerung zu evakuieren, bevor der Fluchtweg abgeschnitten wurde, empfand er eine seltsame Befriedigung. Er hatte weit mehr als sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um diese Menschen zu warnen. Ohne ihn wären sie vielleicht alle zugrunde gegangen. Es war Menion eine große Erleichterung, daß er seine Aufgabe hatte erfüllen können.
Die Ratsmitglieder bestürmten Menion mit zornigen und angstvollen Fragen. Der Prinz beantwortete sie knapp und klar und versuchte ihnen zu erklären, daß die Nordland-Armee wirklich so übermächtig war, wie er es dargestellt hatte, und an einem Angriff nicht zu zweifeln sei. Der Aufruhr legte sich schließlich, und man sprach besonnener über die noch bestehenden Möglichkeiten. Einige Räte glaubten, die Stadt könne verteidigt werden, bis Palance Buckhannah mit der Grenzlegion von Tyrsis her anrücke, aber die meisten waren der Ansicht, daß die Invasionsarmee die Insel leicht erstürmen könne, sobald der Regen aufhörte, was jeden Tag der Fall sein mochte. Menion hörte schweigend zu, als der Rat zu einer Entscheidung zu kommen versuchte. Schließlich wandte sich der grauhaarige Mann mit dem geröteten Gesicht, den Shirl als ihren Vater vorgestellt hatte, an ihn und zog ihn beiseite, während die anderen weiterdiskutierten.
»Habt Ihr Balinor gesehen, junger Mann? Wißt Ihr, wo er zu finden ist?«
»Er hätte schon vor Tagen in Tyrsis sein müssen«, erwiderte Menion besorgt. »Er wollte die Grenzlegion mobilisieren. Begleitet wurde er von zwei Vettern Eventine Elessedils.«
Der Ältere runzelte die Stirn und schüttelte bedrückt den Kopf.
»Prinz von Leah, ich muß Euch sagen, daß die Lage verzweifelter ist, als es den Anschein hat. Ruhl Buckhannah, der König von Callahorn, ist vor einigen Wochen schwer erkrankt, und sein Zustand scheint sich nicht zu bessern. Balinor war damals nicht in der Stadt, so daß der jüngere Bruder die Pflichten des Vaters übernahm. Er war zwar auch vorher schon ein schwankender Mensch, wirkte in letzter Zeit aber völlig unvernünftig. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte, die Grenzlegion auf einen Bruchteil ihrer früheren Größe zu verringern.«
»Wahnsinn!« entfuhr es Menion. »Was, im Namen...«
»Er hielt sie für unnötig«, fuhr der andere schnell fort, »und ersetzte sie durch eine kleine Kompanie seiner eigenen Leute. Es ist nun so, daß er sich immer schon im Schatten seines Bruders stehend betrachtete, und die Grenzlegion war auf Anweisung des Königs Balinor unterstellt. Palance ging wohl davon aus, daß sie dem ältesten Sohn des Königs die Treue halten würde, nicht ihm, und er scheint nicht die Absicht zu haben, Balinor den Thron zu überlassen, sollte der König sterben. Das hat er ganz deutlich gezeigt. Die Befehlshaber der Grenzlegion und einige enge Mitarbeiter Balinors wurden ergriffen und eingesperrt - alles ganz heimlich, um das Volk nicht gegen Palance aufzubringen. Palance hat sich als einzigen Vertrauten und Berater einen Mann namens Stenmin gewählt, einen gefährlichen Mystiker und verschlagenen Gesellen, der seine eigenen Ziele verfolgt und nicht auf das Wohl des Volkes oder auch nur von Palance Buckhannah achtet. Ich sehe nicht, wie wir hoffen könnten, der Invasion zu begegnen, wenn unsere eigene Führung so unterminiert ist. Ich fürchte, daß wir den Prinzen nicht von der Gefahr überzeugen können, bis der Feind vor den offenen Toren steht!«
»Dann ist Balinor in höchster Gefahr«, sagte Menion dumpf.
»Er ist nach Tyrsis gegangen, ohne zu ahnen, daß sein Vater krank ist und sein Bruder die Herrschaft an sich gerissen hat. Wir müssen ihn sofort verständigen!«
Die Ratsmitglieder waren aufgesprungen und schrien hitzig aufeinander ein. Shirls Vater eilte hinzu, aber es dauerte einige Minuten, bis es den bedächtigeren Räten gelang, die anderen zu beschwichtigen, damit die Diskussion in Ruhe fortgesetzt werden konnte. Menion hörte kurze Zeit zu, dann irrte seine Aufmerksamkeit ab, und er blickte hinüber zu den hohen Bogenfenstern.
Es war nicht mehr so dunkel wie zuvor, und auch der Regen hatte weiter nachgelassen. Bis morgen würde er vermutlich ganz aufhören, und die jenseits des angeschwollenen Mermidon lagernde Streitmacht würde versuchen, überzusetzen.
Am Ende würde ihnen das auch gelingen, selbst wenn die in Kern stationierten oder lebenden Soldaten, bei weitem in der Minderzahl, die Insel zu verteidigen versuchten. Ohne eine große, wohl organisierte Armee zum Schutz der Stadt würden die Menschen niedergemetzelt werden, und Kern mußte fallen. Er dachte an Allanon und fragte sich, was der einfallsreiche Druide an seiner Stelle nun tun würde. Die Lage sah nicht gut aus. Tyrsis wurde von einem irrationalen, ehrgeizigen Usurpator beherrscht. Kern war praktisch ohne Führung, die Meinung des Rates geteilt, und man diskutierte immer noch über Maßnahmen, die längst hätten getroffen werden müssen. Menion fühlte, wie seine Beherrschung nachließ. Es war Wahnsinn, weiter über die Alternativen zu streiten.
»Räte! Hört mich an!« schrie er mit solcher Lautstärke, daß seine Stimme von den Mauern widerhallte. Die Männer im Saal verstummten. »Nicht nur Callahorn, sondern das ganze Südland, meine Heimat und die Eure, fällt der Vernichtung anheim, wenn wir jetzt nicht handeln. Morgen nacht wird Kern in Schutt und Asche liegen, die Bewohner werden Sklaven sein. Unsere einzige Chance, zu überleben, besteht in der Flucht nach Tyrsis; unsere einzige Hoffnung, die mächtige Nordland-Armee zu besiegen, ruht auf der Grenzlegion, neu aufgestellt unter Balinor.
Die Elfen-Armeen stehen bereit, mit uns zu kämpfen. Die Zwergenvölker, seit Jahren im Kampf gegen die Gnomen, haben versprochen, uns beizustehen. Aber wir müssen getrennt dem Feind die Stirn bieten, bis wir uns vereinen und der ungeheuren Bedrohung begegnen können.«
»Gut gesprochen, Prinz von Leah«, sagte Shirls Vater, als Menion Atem holte. »Aber nennt uns eine Lösung für unser vordringliches Problem, damit unsere Menschen Tyrsis erreichen können. Der Feind lagerte unmittelbar hinter dem Mermidon, und wir sind praktisch wehrlos. Wir müssen fast vierzigtausend Menschen von dieser Insel evakuieren und sie dann sicher nach Tyrsis führen, Meilen im Süden. Zweifellos hat der Feind schon überall am Ufer Wachen aufgestellt, um zu verhindern, daß der Mermidon überschritten wird, bevor er sich auf Kern stürzt. Wie können wir solche Hindernisse überwinden?«
Menion lächelte flüchtig.
»Wir greifen an«, sagte er schlicht.
Einen Augenblick herrschte Totenstille, und man starrte ihn ungläubig an. Bevor jemand etwas erwidern konnte, hob er die Hand.
»Ein Angriff ist genau das, womit sie nicht rechnen werden - vor allem, wenn er nachts erfolgt. Ein schneller Vorstoß gegen eine Flanke wird sie, wenn er gut vorbereitet ist, verwirren und glauben machen, eine große Streitmacht habe sie angegriffen.
Dunkelheit und Verwirrung werden dazu beitragen, daß unsere wahre Stärke verborgen bleibt. Ein solcher Angriff wird ihre vorgeschobenen Posten rund um die Insel zurückholen. Ein kleiner Trupp kann sehr viel Lärm machen, ein paar Brände legen und sie stundenlang festhalten. Inzwischen kann die Stadt evakuiert werden.«
Einer der Räte schüttelte den Kopf.
»Einige Stunden werden nicht genügen, auch wenn Euer Plan tollkühn genug ist, um die Nordländer zu überraschen, junger Mann. Selbst wenn wir alle vierzigtausend von der Insel ans Südufer übersetzen könnten, müssen sie danach noch nach Tyrsis geführt werden - fast fünfzig Meilen Weg. Die Frauen und Kinder brauchen Tage für diese Entfernung, selbst unter normalen Bedingungen, und sobald der Feind entdeckt, daß Kern verlassen worden ist, wird er der Bevölkerung nach Süden folgen. Wir können nicht hoffen, schneller zu sein. Warum sollten wir es auch nur versuchen?«
»Ihr braucht nicht schneller zu sein«, sagte Menion sofort.
»Ihr bringt die Menschen nicht über Land nach Süden, sondern den Mermidon hinunter! Setzt sie in kleine Boote, auf Flöße, auf alles, was Ihr habt oder bis heute nacht bauen könnt. Der Mermidon reicht weit nach Callahorn hinein, bis zehn Meilen vor Tyrsis. Dort geht Ihr an Land und könnt bis Tagesanbruch die Stadt erreichen, lange bevor die schwerfällige Nordland-Armee Euch folgen kann.«
Der ganze Rat erhob sich wie ein Mann und schrie seine Zustimmung hinaus, erfaßt vom Feuer und der Entschlossenheit des jungen Hochländers. Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, die Bewohner von Kern zu retten, sogar wenn die Insel selbst den feindlichen Horden überlassen werden mußte, dann hatte man die Pflicht, es zu versuchen. Der Rat vertagte sich nach kurzer Besprechung, um die arbeitende Bevölkerung zu organisieren.
Von jetzt bis zum Einbruch der Dunkelheit sollten alle, die dazu fähig waren, beim Bau großer Holzflöße helfen, auf denen jeweils mehrere hundert Menschen Platz hatten. Es gab bereits Hunderte von kleinen Booten rings um die Insel, mit denen die Leute ans andere Ufer gelangt waren. Dazu kam noch eine Reihe größerer Fähren, die man ebenfalls einsetzen konnte. Menion empfahl, der Rat möge die bewaffneten Soldaten der Stadt als Streifen am Ufer einsetzen, damit niemand die Insel verlasse. Alle Einzelheiten der geplanten Massenflucht mußten so lange wie möglich geheimgehalten werden. Die größte Sorge Menions war es, daß jemand sie dem Feind verriet, bevor sie Gelegenheit hatten, zu handeln. Jemand hatte Shirl in ihrem eigenen Haus überfallen, sie aus der dichtbevölkerten Stadt gebracht und den Trollen übergeben - eine Aufgabe, die von keinem zu bewältigen gewesen wäre, der nicht mit der Umgebung vertraut war. Wer diese Person auch sein mochte, sie war frei und unentdeckt geblieben.
Wenn sie die Einzelheiten des Evakurierungsplanes erfuhr, mochte sie versuchen, die Nordland-Armee zu warnen.
Der Rest des Tages verging für Menion sehr schnell. Für den Augenblick waren Shea und seine Begleiter der letzten Wochen vergessen. Zum ersten Mal, seitdem Shea ihn im Hochland aufgesucht hatte, stand der Prinz von Leah vor einem Problem, das er voll und ganz begriff, das Fähigkeiten verlangte, die er einzusetzen wußte. Der Feind war nicht länger der Schädelkönig oder seine Geisterwesen, der Feind war aus Fleisch und Blut - Wesen, die nach denselben Regeln wie andere Menschen lebten und starben und deren Drohung der Hochländer verstand. Vor allem kam es auf die Zeit an, und er stürzte sich entschlossen in die Arbeit, eine ganze Stadt zu retten.
Gemeinsam mit den Räten überwachte er den Bau der riesigen Holzflöße, mit denen die Mehrheit der belagerten Bevölkerung auf dem noch immer angeschwollenen Mermidon nach Tyrsis gebracht werden sollte. Bestiegen werden sollten sie am Südwestufer, unmittelbar unterhalb der Stadt. Es gab eine breite, aber gut geschützte Bucht, von der aus die Flöße und kleineren Boote im Schutz der Dunkelheit ablegen konnten. Dem Einschnitt unmittelbar gegenüber standen am anderen Ufer niedrige Hügel, die bis zum Wasser hinabreichten. Menion glaubte, eine Handvoll Männer könne den Fluß überqueren, wenn der Hauptangriff auf das feindliche Lager in der Nacht begann, und den kleinen Vorposten überwältigen. Danach konnten die Flöße und Boote ablegen und sich von der Strömung flußabwärts tragen lassen, dem Südarm des Mermidon nach Tyrsis folgend.
Wenn der Himmel bewölkt blieb, wenn die vorgeschobenen Posten zurückgezogen wurden, sobald die Attacke begann, wenn die Menschen auf ihren Flößen still blieben, mochte die Evakuierung gelingen.
Aber am späten Nachmittag hörte der Regen ganz auf, und die Wolken rißen auf, so daß man schmale, blaue Streifen Himmel erkennen konnte. Der Sturm zog ab, und es hatte den Anschein, als werde der Nachthimmel wolkenlos sein und das Land unter dem entlarvenden Licht des Mondes und Tausender heller Sterne liegen. Menion saß in einem der kleineren Räume des Ratsgebäudes, als er sah, wie es aufklarte, und seine Aufmerksamkeit wurde von der großen Landkarte auf dem Tisch vorübergehend abgelenkt.
Neben ihm standen zwei Angehörige der aufgelösten Grenzlegion, Janus Senpre, ein Oberstleutnant, und ein grauhaariger alter Soldat namens Fandrez. Der letztere kannte das Land rund um Kern besser als jeder andere und war hinzugezogen worden, um den Angriffstrupp zu beraten. Senpre, sein Vorgesetzter, war für seinen Rang überraschend jung, aber ein tüchtiger, entschlossener Offizier, der ein Dutzend Dienstjahre hinter sich hatte. Er war ein begeisterter Anhänger Balinors und hatte, wie Menion, erschrocken auf die Tatsache reagiert, dass von Tyrsis keine Nachricht über das Eintreffen des Prinzen gekommen war. Früher am Nachmittag hatte er zweihundert erfahrene Soldaten aus der dezimierten Legion ausgesucht, um mit ihnen das feindliche Lager anzugreifen.
Menion hatte seine Hilfe angeboten, die man dankbar annahm.
Der Hochländer war noch immer zerschlagen von seinen Strapazen, weigerte sich aber, bei den zu Evakuierenden zu bleiben.
Flick hätte seine Beharrlichkeit als ein unvernünftiges Gemisch von Halsstarrigkeit und Stolz abgetan, aber Menion Leah wollte nicht vergleichsweise ungefährdet auf der Insel bleiben, während am anderen Ufer ein Gefecht stattfand.
»Diese Stelle - hier bei der Spinn-Barre -, da muß die Landung erfolgen«, knurrte Fandrez und unterbrach Menions Gedankengänge.
Janus Senpre nickte und sah Menion fragend an. Der Hochländer stimmte zu.
»Man wird hier bei der Sandbank überall Posten aufgestellt haben«, sagte Menion. »Wenn wir sie nicht sofort überwältigen, könnten sie uns den Rückweg abschneiden.«
»Ihr müßt sie von dort fern - und den Weg freihalten«, sagte der Offizier.
Menion wollte etwas einwenden, kam aber nicht zu Wort.
»Ich weiß Euren Wunsch zu schätzen, uns zu begleiten, Menion, aber wir müssen viel schneller sein als der Feind, und Eure Füße sind noch nicht in der Verfassung, längere Anstrengungen zu ertragen. Das wißt Ihr so gut wie ich. Also übernehmt Ihr die Uferpatrouille. Haltet uns den Weg zu den Booten offen, damit leistet Ihr uns einen größeren Dienst, als wenn Ihr mit uns kommen würdet.«
Menion nickte langsam, trotz seiner Enttäuschung. Er hatte den Angriff mit anführen wollen. In einem Winkel seines Gehirns hegte er noch immer die Hoffnung, Shea als Gefangenen im feindlichen Lager zu finden. Er dachte an Allanon und Flick.
Vielleicht hatten sie den jungen Talbewohner entdeckt, wie Allanon es versprochen hatte. Er schüttelte traurig den Kopf.
Die Besprechung endete bald danach, und Menion Leah verließ bedrückt und verbittert den Raum. Fast ohne es zu merken, ging er die Steintreppen hinunter und lief durch die Straßen zurück zu Shirls Haus. Wohin sollte das alles führen? dachte er. Die Bedrohung durch den Dämonen-Lord hing über ihnen wie eine schwarze, unheimliche Wolke. Wie konnten sie jemals hoffen, ein Wesen zu besiegen, das keine Seele besaß - ein Wesen, das nach Gesetzen lebte, die der Welt, in der Menion geboren war, zur Gänze fremd waren?
Er stand plötzlich vor dem Ravenlock-Haus. Die schweren Türen waren geschlossen, die Metallbänder wirkten kalt und frostig im grauen Nebel, der sich langsam auszubreiten begann.
Er ging auf dem mit Platten ausgelegten Weg in den kleinen Garten.
Von Laub und Blumen tropfte noch der Regen, der Boden war weich und naß. Er stand versonnen da und gab für Augenblicke der Verzweiflung nach. So allein war er sich noch nie vorgekommen, nicht einmal in der dunklen Leere des Hochlands von Leah, wenn er fern von seinem Heim und allen Freunden auf der Jagd gewesen war. Eine dumpfe Stimme in ihm sagte, er werde nie mehr dorthin zurückkehren, woher er gekommen war, er werde Freunde, Heimat, Familie nie wiedersehen. Auf irgendeine Weise hatte er in den vergangenen Tagen alles verloren. Er schüttelte den Kopf und drängte die aufsteigenden Tränen zurück.
Auf den Steinplatten näherten sich plötzlich Schritte, und eine kleine, zierliche Gestalt trat zu ihm, mit großen Augen, die ihn anblickten und dann über den Garten hinwegschweiften. Sie standen lange Zeit stumm nebeneinander, und es war, als sei die übrige Welt ausgesperrt. Am Himmel drängten neue, riesige Wolken heran und verhüllten das letzte Blau des Himmels. Es wurde dunkel, und der Regen begann erneut auf das belagerte Land herabzurauschen. Menion registrierte mit zerstreuter Erleichterung, daß die Insel Kern eine schwarze, mondlose Nacht erleben würde.
Es war weit nach Mitternacht, der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber der Nachthimmel war noch immer tiefschwarz und drohend, als Menion Leah erschöpft auf ein kleines, primitiv gebautes Floß stolperte, das am Südufer verankert war. Zwei schlanke Arme griffen nach ihm, als er zusammensank, und er blickte verwundert in die Augen Shirl Ravenlocks. Sie hatte auf ihn gewartet, wie versprochen, obwohl er sie angefleht hatte, mit den anderen zu gehen, sobald die Evakuierung begann. Zerschlagen und blutend, ließ er sich in einen noch halbwegs trockenen Mantel hüllen und an ihre Schulter ziehen, während sie in den nächtlichen Schatten kauerten und warteten.
Andere, die mit Menion zurückgekehrt waren, stiegen auf das Floß, gezeichnet von der Anstrengung, aber stolz auf den Mut und die Opferbereitschaft, die sie in dieser Nacht auf den Ebenen nördlich von Kern bewiesen hatten. Niemals hatte der Prinz von Leah solche Tapferkeit im Angesicht einer Übermacht gesehen.
Die wenigen Männer der Legion hatten das feindliche Lager so aufgestört, daß selbst jetzt noch, an die vier Stunden nach dem Beginn des Angriffs, dort völlige Verwirrung herrschte. Die Zahl der Feinde war unfaßbar groß gewesen- Tausende und Abertausende, durcheinander stürmend, auf alles einhauend, was sich bewegte, Tod und Verwundung sogar für die eigenen Reihen säend.
Sie waren getrieben worden von mehr als Angst oder Haß, nämlich von der unmenschlichen Macht des Dämonen-Lords, dessen unermeßliche Wut sie wie irrsinnige Wesen, die kein anderes Ziel kannten als Zerstörung, in den Kampf schleuderte. Und trotzdem hatten die Männer der Legion sie aufgehalten, zurückgeworfen und immer wieder angegriffen. Viele waren gefallen. Menion wußte nicht, was sein eigenes, armseliges Leben geschont hatte, aber es grenzte an ein Wunder, daß er nicht tot war.
Die Ankertaue wurden gelöst, und er spürte, wie das Floß, von der Strömung getrieben, auf den Fluß hinausglitt. Augenblicke später befanden sie sich in der Fahrrinne, lautlos stromabwärts gleitend, der ummauerten Stadt Tyrsis entgegen, wohin die Bewohner von Kern Stunden zuvor geflohen waren. Vierzigtausend Menschen, zusammengedrängt auf Riesenflößen, in kleinen Booten, sogar in Zweimannkähnen, waren unentdeckt aus der belagerten Stadt entkommen, als die feindlichen Posten am Westufer des Mermidon sich hastig ins Hauptlager zurückbegeben hatten, wo ein Großangriff durch die vereinigten Armeen Callahorns im Gange zu sein schien. Das Klatschen des Regens, das Rauschen des Flusses und das Geschrei aus dem fernen Lager hatten die gedämpften Laute der Menschen übertönt, die, zusammengepfercht auf ihren schwankenden Untersätzen, entschlossen den Weg in die Freiheit einschlugen. Die Dunkelheit des bewölkten Himmels hatte sie verborgen, ihr Mut sie aufrechterhalten.
Zumindest vorerst waren sie dem Dämonen-Lord entkommen.
Menion döste eine Weile und spürte nichts als ein leichtes Schwanken des Floßes, das der Strom rasch südwärts trug. Seltsame Träume durchzuckten ihn, dann drangen Stimmen zu ihm durch, zwangen ihn, schnell zu erwachen, und seine Augen wurden versengt von einem ungeheuren roten Schein, der die feuchte Luft ringsum erfüllte. Er kniff die Augen zusammen und stand auf, als der Nordhimmel sich mit rotem Leuchten verfärbte.
»Sie haben die Stadt angezündet, Menion!« sagte Shirls Stimme leise an seinem Ohr. »Sie verbrennen meine Heimat, den Ort, wo ich zu Hause war.«
Menion senkte den Kopf und griff nach Shirls Arm. Die Bewohner hatten flüchten können, aber die alte Stadt Kern erlebte das Ende ihrer Tage und versank mit grandioser Pracht in Asche.