Die Stunden verrannen lautlos in der Gruftschwärze der kleinen Zelle. Selbst nachdem die Augen der Gefangenen sich an die undurchdringliche Dunkelheit gewöhnt hatten, blieb eine Isolierung, die auf die Sinne drückte und ihre Fähigkeit zerstörte, den Ablauf der Zeit zu bestimmen. Jenseits der leeren Dunkelheit des Raumes und ihrer eigenen Atemzüge konnten die drei Gefangenen nichts hören als das gelegentliche Scharren eines kleinen Nagetieres und das stetige Tropfen eisig kalten Wassers auf Stein.
Schließlich begannen ihre eigenen Ohren ihnen etwas vorzulügen, und sie hörten Geräusche, wo nur Stille war. Ihre Bewegungen selbst waren bedeutungslos, weil sie im leeren Raum stattzufinden schienen. Eine endlose Zeitspanne dehnte sich und verging, und noch immer erschien niemand.
Irgendwo im Licht und in der Luft über ihnen, inmitten der Menschen, entschied Palance Buckhannah über ihr Schicksal und damit indirekt über das Geschick des Südlandes. Die Zeit lief ab für Callahorn; mit jeder Stunde rückte der Dämonen-Lord näher.
Aber hier, in der lautlosen Schwärze des kleinen Verlieses, in einer vom Pulsschlag der menschlichen Welt abgeschnittenen Umgebung, bedeutete die Zeit nichts, und der morgige Tag würde so sein wie der heutige. Irgendwann würde man sie entdecken, aber würden sie ins freundliche Licht der Sonne steigen oder von einer Dunkelheit in die andere treten? Würden sie nur der entsetzlichen Düsternis des Schädelkönigs begegnen, dessen Macht nicht nur nach Callahorn, sondern in die fernsten Winkel aller Provinzen des Südlandes reichte?
Balinor und die Elfen-Brüder hatten sich bald nach dem Verschwinden ihrer Wärter befreit. Die Stricke, mit denen sie gefesselt gewesen waren, hatte man nur locker gebunden, weil es keine Flucht aus den Verliesen gab, und sie hatten sich beeilt, die Knoten zu lösen. In der Dunkelheit kauernd, Stricke und Augenbinden beiseite werfend, besprachen sie, was mit ihnen geschehen werde. Der feuchte, faulige Gestank des uralten Kellers verursachte Übelkeit, und die Luft war kalt und zermürbend, trotz ihrer dicken Kleidung. Der Boden war aus Erde, die Mauern aus Stein und Eisen, der Raum nackt und leer.
Balinor kannte den Keller unter dem Palast, nicht aber den Raum, in den sie eingekerkert worden waren. Die Kellerräume wurden in erster Linie für Lagerzwecke benützt, und es gab eine Reihe von Kammern, in denen man Weinfässer gestapelt hatte, aber dieser Raum gehörte nicht dazu. Er begriff betroffen, daß man sie in das alte Verlies, das Jahrhunderte zuvor unter dem Keller gebaut worden war, eingeschlossen hatte. Wahrscheinlich waren auch Balinors Freunde hier irgendwo eingesperrt, als sie in den Palast gegangen waren, um sich gegen die Auflösung der Grenzlegion auszusprechen. Das Gefängnis war gut verborgen, und Balinor bezweifelte, daß man sie finden würde.
Die Diskussion wurde schnell abgeschlossen. Es gab wenig zu sagen. Balinor hatte Hauptmann Sheelon seine Anweisungen gegeben.
Wenn sie nicht zurückkehrten, sollte er Ginnisson und Fandwick aufsuchen, zwei von Balinors zuverlässigsten Befehlshabern, und sie veranlassen, die Grenzlegion wieder aufzustellen, um mit ihr den Angriff des Dämonen-Lords und seiner Invasionsarmee abzuschlagen. Außerdem sollte Sheelon Botschaften an die Elfen- und Zwergen-Nationen senden, sie warnen und um ihre schnelle Unterstützung bitten. Eventine würde nicht zulassen, daß seine Vettern lange Zeit Gefangene in Callahorn blieben, und auch Allanon würde schnell erscheinen, sobald er von ihrem Mißgeschick erfuhr. Aber die Zeit war kostbar, und da Palance entschlossen war, den Thron von Callahorn zu besteigen, schwebten sie in höchster Lebensgefahr. Balinor bedauerte im stillen, Durins Rat nicht gefolgt zu sein, eine Konfrontation mit seinem Bruder zu meiden, bis er sich des Ausgangs sicher gewesen wäre.
Er hatte nie geglaubt, daß es so schlimm kommen könnte.
Palance war wie ein Besessener gewesen, sein Haß so verzehrend, daß er sich nicht einmal angehört hatte, was Balinor ihm sagen wollte. Aber sein irrationales Verhalten gab wenig Rätsel auf. Es war mehr als eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Brüdern, die zu dieser Wahnsinnstat geführt hatte. Es war mehr als die Krankheit seines Vaters, an der Palance seinem Bruder die Schuld zu geben schien. Es hing zusammen mit Shirl Ravenlock, der verlockenden Schönheit, in die Palance sich vor Monaten verliebt und die zu heiraten er geschworen hatte, obwohl sie eher zu zögern schien. Dem jungen Mädchen aus Kern war etwas zugestoßen, und Balinor war die Schuld zugeschrieben worden.
Palance würde alles tun, um sie zurückzugewinnen, wenn sie wirklich vermißt wurde.
Balinor erläuterte den Elfen-Brüdern die Lage. Er war überzeugt davon, daß Palance bald erscheinen und Auskunft über die junge Frau heischen würde. Aber er werde ihnen nicht glauben, wenn sie antworteten, sie wüßten nichts...
Mehr als vierundzwanzig Stunden vergingen, und noch immer tauchte niemand auf. Es gab nichts zu essen. Auch als ihre Augen sich mit der Zeit an das Dunkel gewöhnt hatten, gab es nichts zu sehen als ihre eigenen schauenhaften Gestalten und die Mauern.
Sie wechselten sich beim Schlafen ab, um ihre Kräfte für das Bevorstehende zu schonen, aber die unheimliche Stille verhinderte tiefen, festen Schlaf, und sie fanden sich mit unruhigem, leichtem Schlummer ab, der sie körperlich und seelisch wenig erfrischte.
Anfangs hatten sie versucht, an den Angeln der massiven Tür eine schwache Stelle zu finden, aber ohne Erfolg. Ohne Werkzeug vermochten sie auch den steinharten Boden nicht aufzugraben.
Die Steinmauern waren alt, aber noch immer fest und massiv, ohne bröckelnde Steine. Sie gaben ihre Fluchtversuche schließlich auf und lehnten sich stumm an die Wände.
Schließlich, nach schier endlosen Stunden des Wartens in der kalten Stille, hörten sie in der Ferne klirrendes Metall, als irgendwo über ihnen eine alte Tür geöffnet wurde. Stimmen ertönten dumpf und leise, dann näherten sich Schritte. Sie standen schnell auf und drängten sich an die Zellentür, als Schritte und Stimmen näherrückten. Balinor erkannte die Stimme seines Bruders über den anderen, seltsam zögernd und brüchig. Dann wurden die schweren Riegel zurückgezogen, deren Kreischen den Gefangenen in den Ohren gellte, und sie traten von der dicken Tür zurück, als sie geöffnet wurde. Grelles Licht von Fackeln fiel in den dunklen Raum, und die Gefangenen bedeckten die geschwächten Augen. Während sie sich langsam an die Helligkeit gewöhnten, traten mehrere Gestalten ein und blieben stehen.
Der jüngere Sohn des kranken Königs von Callahorn stand vor drei anderen Gestalten, das breite Gesicht ruhig, die Unterlippe vorgeschoben. Allein seine Augen verrieten den Haß, der in ihm loderte, und sie glitten unruhig, beinahe verzweifelt von einem Gefangenen zum anderen, während er hinter dem Rücken die Fäuste ballte und wieder öffnete. Hinter ihm stand ein Mann, den sogar die Elfen-Brüder erkannten, obwohl sie ihn vorher noch nie gesehen hatten. Es war Stenmin, ein hagerer, leicht gebückter Mann mit scharfen Zügen, gekleidet in rötliche Gewänder. Seine Augen wirkten seltsam verschattet und spiegelten etwas unsagbar Böses wider. Seine Hände glitten nervös über seinen Körper und strichen immer wieder, beinahe mechanisch, über den kleinen, schwarzen Spitzbart. Hinter den beiden standen zwei bewaffnete Wachen, schwarz gekleidet, mit dem Abzeichen des Falken. Vor der Tür hatten zwei weitere Wachen Aufstellung genommen, alle mit spitzen, eisernen Piken. Einen Augenblick lang blieb es still; niemand bewegte sich auch nur, während die Männer einander anstarrten. Dann zeigte Palance mit einer ruckartigen Bewegung zur Tür.
»Ich spreche allein mit meinem Bruder. Führt die beiden anderen hinaus!«
Die Wachen gehorchten und trieben die widerstrebenden Brüder nach draußen. Der hochgewachsene Prinz wartete, bis sie gegangen waren, dann blickte er fragend auf die rotgekleidete Gestalt neben sich.
»Ich dachte, Ihr braucht mich vielleicht...?« Das hagere, berechnende Gesicht blieb Balinor zugewandt.
»Verlaßt uns, Stenmin! Ich spreche allein mit meinem Bruder.« Seine Stimme klang zornig. Der andere nickte sofort und ging hastig hinaus. Die schwere Tür schloß sich krachend, und die Brüder standen einander in der Stille gegenüber, in der nur das Zischen der Fackel zu hören war. Balinor bewegte sich nicht, sondern wartete ruhig, den Blick auf das Gesicht seines Bruders gerichtet, in dem er Spuren der alten Liebe und Freundschaft zu finden versuchte. Aber sie fehlten oder waren zumindest in einem fernen Winkel des Herzens verborgen, und an ihre Stelle war ein seltsamer, ruheloser Zorn getreten, der eben so sehr einer Unzufriedenheit mit der Situation wie der Abneigung gegen den gefangenen Bruder zu entspringen schien. Dann verschwand der Zorn plötzlich und wurde verdrängt von einer ruhigen Distanz, die Balinor unecht und irrational fand, so, als spiele Palance eine Rolle, ohne sich des wahren Charakters bewußt zu sein.
»Weshalb bist du zurückgekommen, Balinor?« sagte er langsam und traurig. »Weshalb hast du es getan?«
Balinor antwortete nicht. Es gelang ihm nicht, den plötzlichen Stimmungsumschwung zu verstehen. Vorher schien sein Bruder entschlossen gewesen zu sein, ihn in Stücke reißen zu lassen, um den Aufenthalt der schönen Shirl Ravenlock zu erfahren, und nun ging ej darauf gar nicht ein.
»Macht nichts, macht nichts...«, sagte Palance, bevor Balinor sich von seiner Verwunderung erholen konnte. »Du hättest fortbleiben sollen, nach... nach all... deinen Verrätereien. Ich hoffte es, weißt du, weil wir uns als Kinder so gut verstanden haben und du schließlich mein einziger Bruder bist. Ich werde König von Callahorn sein... ich hätte eigentlich der Thronfolger sein müssen...
« Er verstummte und schien ins Leere zu starren. Er ist wahnsinnig geworden, dachte Balinor verzweifelt. Man kommt nicht mehr an ihn heran.
»Palance, hör mir zu - hör mir einmal genau zu. Ich habe dir oder deiner Shirl nichts getan. Ich bin in Paranor gewesen und bin nur zurückgekommen, um unser Volk zu warnen. Der Schädelkönig hat eine so riesige Armee aufgestellt, daß sie unbehindert durch das ganze Südland vorstoßen wird, wenn wir sie nicht hier aufhalten. Um all dieser Menschen willen, bitte, hör mich an...«
»Ich will von diesem albernen Geschwätz über eine Invasion nichts mehr hören!« sagte sein Bruder schrill. »Meine Späher haben die Grenzen des Landes überprüft und nirgends etwas von einer feindlichen Armee gesehen. Außerdem würde niemand es wagen, Callahorn anzugreifen - mich anzugreifen... Unser Volk ist hier in Sicherheit. Was geht mich der Rest des Südlandes" an? Was schulde ich ihm ? Man hat uns immer alleine kämpfen lassen, alleine das Grenzland verteidigen lassen. Ich schulde den Leuten nichts!« Er trat einen Schritt auf Balinor zu, und- der Haß flammte in seinen Augen wieder auf, als sein junges Gesicht sich verzerrte. »Du hast dich gegen mich gestellt, Bruder, als du wußtest, daß ich König werden sollte. Du hast versucht, mich zu vergiften, wie du meinen Vater vergiftet hast - du wolltest, daß ich so krank und hilflos sei wie er... daß ich alleine und vergessen sterbe wie er. Du hast geglaubt, einen Verbündeten gefunden zu haben, der dir den Thron verschafft, als du mit diesem Verräter Allanon fortgegangen bist. Wie ich diesen Mann hasse - nein, nicht Mann, ein böses Wesen! Er muß vernichtet werden! Aber du wirst in dieser Zelle bleiben, allein und vergessen, Balinor, bis du stirbst - das Schicksal, das du mir zugedacht hast, wirst du erleiden!«
Er wandte sich plötzlich ab und lachte kurz auf, als er zur geschlossenen Tür ging. Balinor glaubte, er werde sie öffnen, aber Palance blieb stehen und drehte sich um. Seine Augen wirkten wieder traurig.
»Du hättest dich von diesem Land fernhalten und ungefährdet leben können«, murmelte er beinahe verwirrt. »Stenmin sagte aber, du würdest zurückkommen, selbst als ich ihn vom Gegenteil überzeugen wollte. Er hatte wieder einmal recht. Er hat immer recht. Warum bist du gekommen?«
Balinor überlegte schnell. Er mußte seinen Bruder dazu bewegen, preiszugeben, was mit seinem Vater und seinen Freunden geschehen war.
»Ich... ich habe entdeckt, daß ich mich geirrt hatte - daß ich unrecht gehabt habe«, sagte er stockend. »Ich bin heimgekehrt, um mit unserem Vater und mit dir zu sprechen, Palance.«
»Vater«, sagte der Prinz tonlos und trat einen Schritt näher.
»Ihm ist nicht mehr zu helfen, er liegt wie ein Toter im Südflügel.
Stenmin kümmert sich um ihn, wie ich auch, aber man kann nichts tun. Er scheint nicht mehr leben zu wollen.«
»Aber was fehlt ihm?« rief Balinor ungeduldig und ging drohend auf Palance zu.
»Bleib mir vom Leib, Balinor!« Palance wich hastig zurück, zog einen Dolch und duckte sich. Balinor zögerte. Es wäre leicht gewesen, Palance den Dolch zu entreißen und den Prinzen zu überwältigen, als Geisel für seine Freilassung. Aber irgendetwas hielt ihn zurück, eine innere Stimme, die ihn vor einem solchen Schritt warnte. Er blieb stehen, hob die Arme und wich an die Rückwand zurück.
»Du darfst nicht vergessen, daß du mein Gefangener bist«, sagte Palance und nickte zufrieden. »Du hast den König vergiftet und versucht, mich zu vergiften. Ich könnte dich töten lassen.
Stenmin hat mir geraten, dich sofort hinrichten zu lassen, aber ich bin nicht so feige wie er. Ich habe die Grenzlegion auch kommandiert, bevor... Aber sie ist jetzt aufgelöst, die Leute sind zu ihren Familien zurückgekehrt. Meine Regierungszeit soll eine des Friedens sein. Das verstehst du nicht, Balinor, nicht wahr?«
Sein Bruder schüttelte den Kopf, verzweifelt bemüht, die Aufmerksamkeit des anderen noch einige Minuten festzuhalten. Offenbar hatte Palance den Verstand verloren. Ob das an einem Geburtsfehler lag oder an der Belastung durch die Geschehnisse, seitdem er, Balinor, Tyrsis verlassen hatte, war nicht ersichtlich. Jedenfalls war Palance nicht mehr der Bruder, mit dem Balinor aufgewachsen war und den er geliebt hatte wie keinen anderen.
Es war ein Fremder, der in der körperlichen Hülle seines Bruders lebte - ein Fremder, besessen von dem Drang, König von Callahorn zu sein. Dahinter steckte Stenmin, das stand für Balinor fest. Der Mystiker hatte den Geist seines Bruders beeinflußt, ihn seinen eigenen Zwecken gefügig gemacht, ihn mit Versprechungen seiner Bestimmung als König bedrängt. Palance hatte schon immer der Herrscher von Callahorn sein wollen. Schon als Balinor die Stadt verlassen hatte, war ihm klargewesen, daß Palance sich eines Tages als König sah. Stenmin hatte ihn beraten und unterstützt, sein Gemüt gegen Palances Bruder vergiftet. Aber Palance war ein geistig und körperlich gesunder Mann gewesen, mit starkem Willen, unabhängig, nicht leicht zu zerbrechen. Nun hatte er sich völlig verändert. Höndel hatte Palance falsch gesehen, aber Balinor offenkundig auch. Keiner hatte so etwas vorausgesehen, und nun war es zu spät.
»Shirl - was ist mit Shirl?« sagte Balinor.
Wieder verschwand der Zorn aus den Augen seines Bruders, und Palance lächelte schwach.
»Sie ist so schön - so wunderschön.« Er seufzte und ließ den Dolch auf den Boden fallen, um mit Gesten seine Worte zu unterstreichen.
»Du hast sie mir weggenommen, Balinor, du hast versucht, sie mir vorzuenthalten. Aber jetzt ist sie in Sicherheit.
Sie wurde von einem Südländer gerettet, einem Prinzen, wie ich es bin. Nein, ich bin jetzt König von Tyrsis, und er ist nur ein Prinz. In einem ganz kleinen Reich; ich habe noch nie davon gehört.
Er und ich werden gute Freunde sein, Balinor, so, wie wir es einst gewesen sind. Aber Stenmin... sagt, ich darf keinem trauen. Ich mußte sogar Messaline und Acton einsperren. Sie kamen zu mir, als die Grenzlegion heimgeschickt wurde, und wollten mich überreden... nun, ich sollte meine Friedenspläne aufgeben. Sie begriffen nicht... warum...« Er verstummte plötzlich, als sein Blick auf den Dolch fiel. Er hob ihn schnell auf, schob ihn in den Gürtel und lächelte seinen Bruder schief an, genau wie ein kluges Kind, das sich einer Rüge hat entziehen können.
In Balinor gab es keinen Zweifel mehr, daß sein Bruder keine vernünftigen Entscheidungen mehr treffen konnte. Er wußte nun auch, warum ihn eine innere Stimme davor gewarnt hatte, sich auf Palance zu stürzen und ihn als Geisel zu nehmen.
Wenn er das versucht und die Flucht ergriffen hätte, mit seinem Bruder als Gefangenem, wäre der bösartige Stenmin in die Lage versetzt worden, auf einen Schlag sein Ziel zu erreichen und beide Brüder zu töten. Er hätte dann behaupten können, Palance sei bei einem Fluchtversuch seines Bruders ums Leben gekommen.
Wer wäre dann noch fähig gewesen, den Bösewicht daran zu hindern, daß er sich an die Spitze der Regierung setzte? Er hätte ganz allein über das Schicksal des Südlandes bestimmen können.
»Palance, hör mir zu, ich flehe dich an«, sagte Balinor. »Wir haben uns früher so gut verstanden. Wir waren mehr als Brüder, wir waren Freunde und Gesellen. Wir haben einander vertraut, einander geliebt, und wir konnten uns über alles aussprechen.
Das kannst du nicht alles vergessen haben. Hör mich an! Selbst ein König muß versuchen, sein Volk zu verstehen, auch wenn die Menschen nicht mit allem einverstanden sind, was er tut. Das gibst du doch zu, nicht wahr?«
Palance nickte, die Augen leer und starr, während er versuchte, den Nebel zu vertreiben, der sein Gemüt einhüllte. Ein Schimmer von Verständnis schien aufzuflackern, und Balinor war entschlossen, dorthin vorzustoßen, wo die Erinnerung an früher verborgen war.
»Stenmin benützt dich als Werkzeug - er ist ein böser Mensch.« Sein Bruder zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück. »Du mußt das begreifen, Palance. Ich bin weder dein Feind noch der Feind dieses Landes. Ich habe unseren Vater nicht vergiftet. Ich habe Shirl nichts getan. Ich möchte nur helfen...« Sein Appell wurde schlagartig unterbrochen, als sich die Zellentür knarrend öffnete und das heimtückische Gesicht Stenmins auftauchte. Er verbeugte sich ironisch und trat ein, den Blick unverwandt auf Balinor gerichtet.
»Ich dachte, ich hätte Euch rufen hören, mein König«, sagte er mit einem Lächeln. »Ihr seid so lange allein mit diesem Mann gewesen, daß ich fürchtete, es könnte etwas geschehen sein...«
Palance starrte ihn einen Augenblick verständnislos an, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich zum Gehen. Balinor überlegte noch einmal, ob er etwas unternehmen, sich auf den Mystiker stürzen und ihm das Genick brechen sollte, bevor die Wachen einzugreifen vermochten. Er zögerte jedoch, weil er nicht wußte, ob das ihm und seinem Bruder helfen würde, und die Gelegenheit entschwand. Die Wachen kamen wieder herein und brachten die Elfen-Brüder zurück, die sich zweifelnd umsahen, bevor sie zu ihrem Kameraden traten. Balinor fiel plötzlich ein, daß Palance von einem Prinzen aus einem kleinen Südland-Reich gesprochen hatte - von einem Prinzen, der Shirl gerettet haben sollte. Menion Leah! Aber wie war er nach Callahorn gekommen ... ?
Die Wachen wandten sich zum Gehen, und mit ihnen der stumme Palance, geleitet von einem rotumkleideten Arm des Mystikers. Plötzlich drehte sich die hagere Gestalt noch einmal um. Stenmin legte den Kopf auf die Seite, betrachtete die Gefangenen und lächelte schwach.
»Falls mein König vergessen haben sollte, es zu erwähnen, Balinor «, sagte er schleppend, »die Wachen ander Außenmauer haben Euch mit einem gewissen Hauptmann Sheelon sprechen sehen, einem ehemaligen Angehörigen der Grenzlegion. Er stand im Begriff, sich wegen Eurer heiklen Lage an andere zu wenden, als er ergriffen und festgesetzt wurde. Ich glaube nicht, daß er noch viel Gelegenheit haben wird, uns Schwierigkeiten zu bereiten. Die Angelegenheit ist abgeschlossen, und mit der Zeit wird man auch Euch vergessen.«
Balinors Mut sank. Wenn Sheelon gefaßt und eingesperrt worden war, bevor er Ginnisson und Fandwick hatte erreichen können, würde es niemanden geben, der die Grenzlegion wieder zusammenrufen konnte, niemanden, der sich zu Balinors Gunsten an das Volk zu wenden vermochte. Balinors Genossen würden beim Eintreffen nicht ahnen können, daß er in den Kerker geworfen worden war, und was würden sie zu tun vermögen, auch wenn sie Verdacht schöpften? Nur ganz wenige Leute wußten von diesen unterirdischen Zellen, und der Zugang war gut verborgen. Die drei niedergeschlagenen Gefangenen beobachteten dumpf, wie die Wachen Brot und Wasser in die Zelle brachten, eine Fackel zurückließen und wieder hinausgingen.
Stenmin hielt dieses letzte Licht mit grimmigem Lächeln hoch, während er darauf wartete, daß der gebückt dastehende Palance den Raum verließ. Aber Palance zögerte unentschlossen, offenbar unfähig, den Blick vom stolzen, resignierten Gesicht seines Bruders abzuwenden; der flackernde Lichtschein warf rote Streifen auf die Züge Balinors und auf die tiefe Narbe an seiner Wange. Die Brüder standen einander lange Zeit stumm gegenüber, dann kam Palance mit schleppenden Schritten auf Balinor zu. Er schüttelte Stenmins Hand ab, die ihn zurückhalten wollte.
Er blieb nah vor seinem Bruder stehen und starrte in seine Augen, hob unsicher die Hand und legte sie schließlich auf Balinors Schulter.
»Ich will... wissen«, flüsterte er. »Ich will begreifen... Du mußt mir helfen...«
Balinor nickte stumm und legte seine Hand auf die von Palance. Einen Augenblick lang blieben sie verbunden, als seien die Bande von Freundschaft und Liebe zwischen ihnen nicht zerschnitten.
Dann wandte Palance sich ab und verließ mit schnellen Schritten die Zelle, gefolgt von dem beunruhigten Stenmin.
Die schwere Tür schloß sich, die Riegel wurden vorgeschoben, und die drei Freunde waren wieder in der undurchdringlichen Dunkelheit eingeschlossen. Die Schritte im Korridor verklangen. Wieder begann das Warten, aber diesmal schien jede Hoffnung auf einen guten Ausgang unwiederbringlich dahin zu sein.
Eine Gestalt löste sich aus der Schwärze der nachtumschatteten Bäume im verlassenen Park unter dem hohen Bogen und hetzte lautlos auf den Palast der Buckhannahs zu. Mit schnellen, sicheren Sprüngen erreichte sie den Garten, setzte über niedrige Hecken und Sträucher hinweg, wand sich zwischen den majestätischen Ulmen hindurch und suchte die Mauer nach der nächtlichen Wache ab. In der Nähe des schmiedeeisernen Tores, wo die Brücke endete, schritten einige Wachtposten auf und ab.
Ihre Falkenabzeichen waren im Fackellicht erkennbar. Die dunkle Gestalt stieg die Böschung zu den mit Moos und Efeu überzogenen Mauern hinauf und verschwand in den Schatten.
Lange Augenblicke blieb sie völlig unsichtbar, als sie vom Haupttor und dem schwachen Fackelschein davonschlich. Dann tauchte der Eindringling wieder auf, ein undeutlicher Fleck vor der vom Mond schwach erhellten Westmauer. Starke Arme klammerten sich an den dicken Ranken fest und zogen die stämmige Gestalt zur Mauerkrone hinauf. Der Kopf wurde vorsichtig gehoben, die scharfen Augen blickten hinab in den leeren Palastgarten, um sich zu vergewissern, daß keine Wachen in der Nähe waren. Der Eindringling sprang hinüber und landete lautlos auf dem Boden.
Halb geduckt hetzte die geheimnisvolle Gestalt zum schützenden Schatten einer großen Weide. Der Eindringling blieb schweratmend stehen, als er Stimmen näherkommen hörte. Er lauschte einige Augenblicke aufmerksam, entschied aber, daß es sich nur um das beiläufige Geplauder einiger Palastwachen handelte, die ihre Runde machten. Er wartete zuversichtlich, so an den Stamm gepreßt, daß er aus mehr als einem Meter Entfernung schon völlig unsichtbar war. Die Wachen tauchten Sekunden später auf und unterhielten sich unbesorgt miteinander, schritten durch den stillen Garten und verschwanden. Der Unbekannte rastete noch einige Minuten und betrachtete den dunklen Umriß des Palastes. Ein paar beleuchtete Fenster unterbrachen die neblige Dunkelheit des massiven Bauwerks und warfen breite Lichtstreifen in das verlassene Gelände. Ganz schwach und undeutlich waren aus dem Inneren Stimmen zu vernehmen.
Der Eindringling lief blitzschnell zu den Schatten des Gebäudes und blieb unter einem kleinen, dunklen Fenster in einer Nische stehen. Seine starken Hände machten sich fieberhaft an dem alten Riegel zu schaffen und lockerten die Befestigung. Der Riegel brach endlich mit einem trockenen Krachen, und das Fenster schwang lautlos auf. Ohne zu warten, ob die Wachen das Geräusch gehört hatten, schlüpfte der Eindringling hinein. Als das Fenster sich hinter ihm schloß, erfaßte das Mondlicht für einen Augenblick das breite, entschlossene Gesicht Höndels.
Stenmin hatte sich in einer Beziehung verrechnet, als er dafür gesorgt hatte, daß Balinor und Eventines Vettern eingesperrt wurden. Sein ursprünglicher Plan war einfach genug gewesen.
Hauptmann Sheelon war festgenommen worden, unmittelbar nachdem er mit Balinor gesprochen hatte, um zu verhindern, daß er die Anweisungen des Prinzen ausführte. Mit Balinor, den Elfen-Brüdern und den engen Freunden des Prinzen, Acton und Messaline, im Gefängnis, schien gesichert zu sein, daß es in der Stadt keine Probleme mehr geben würde. Man hatte bereits ausgestreut, daß Balinor zu einem kurzen Besuch eingetroffen und schon wieder fortgegangen sei, um sich erneut mit Allanon zu treffen, mit jenem Mann, der, wie Stenmin bezeugt hatte, ein Gegner und eine Bedrohung des Landes Callahorn war. Sollten andere Freunde Balinors auftauchen und Zweifel an den Behauptungen äußern, würden sie wohl zuerst in den Palast gehen, um mit Palance zu sprechen, und es würde ein leichtes sein, auch sie unbemerkt verschwinden zu lassen. Zweifellos wäre das bei fast allen möglich gewesen, nur eben nicht bei Höndel. Der schweigsame Zwerg kannte Stenmins tückische Art gut genug und argwöhnte, daß es dem hageren Mystiker gelungen war, den verstörten Palance völlig in die Hand zu bekommen. Höndel dachte nicht daran, sich offen zu zeigen, bevor er herausgefunden hatte, was mit seinen vermißten Begleitern geschehen war.
Was ihn nach Tyrsis geführt hatte, war eine sonderbare Entwicklung.
Nachdem er sich im Wald nördlich der Festung von Balinor und den Elfen verabschiedet hatte, war er entschlossen gewesen, sofort nach Varfleet zu gehen und von dort aus den Rückweg nach Culhaven anzutreten. In seinem eigenen Land angelangt, wollte er bei der Mobilisierung der Zwergenarmeen helfen, um die südlichen Gebiete des Anar gegen die Invasion des Dämonen-Lords zu verteidigen. Er war die ganze Nacht durch die Wälder nördlich von Varfleet gewandert und hatte am Morgen die Stadt erreicht, um auf der Stelle alte Freunde aufzusuchen und sich nach einem kurzen Gespräch schlafen zu legen. Bis er wach wurde, war es Nachmittag, und nachdem er sich gewaschen und gegessen hatte, wollte er den Weg nach Hause antreten. Er war noch nicht an den Stadttoren, als ein erschöpfter Trupp von Zwergen durch die Straßen wankte und verlangte, sofort vor den Rat geführt zu werden. Höndel begleitete sie und fragte einen der Zwerge aus. Zu seinem Schrecken erfuhr er, daß eine mächtige Armee von Trollen und Gnomen vom Gebirge her direkt auf Varfleet zumarschierte und in den nächsten Tagen zuschlagen werde. Die Zwerge gehörten zu einer Patrouille, der es gelungen war, die Armee zu entdecken, und die versucht hatte, die Südländer zu warnen. Bedauerlicherweise waren sie entdeckt worden, und bei einem Gefecht hatten die meisten von ihnen den Tod gefunden.
Nur der kleine Trupp hatte die ahnungslose Stadt zu erreichen vermocht.
Höndel wußte, daß eine noch größere Streitmacht gegen Tyrsis unterwegs sein mußte, wenn eine andere Armee sich Varfleet näherte. Er war überzeugt davon, daß der Geister-Lord die Städte Callahorns mit einem Streich niederwerfen wollte, um sich den Zugang zum ganzen Südland zu öffnen. Höndels erste Pflicht war es, sein eigenes Volk zu warnen, aber der Weg nach Culhaven erforderte zwei Tage, der Rückweg natürlich ebenso viele.
Er kam schnell dahinter, daß Balinor sich in der Meinung getäuscht hatte, sein Vater sei noch der König. Wenn Balinor von seinem eifersüchtigen Bruder getötet oder eingesperrt worden war, den der bösartige Stenmin immer mehr anstachelte, bevor Balinor den Thron übernehmen und die Grenzlegion unter sein Kommando stellen konnte, war Callahorn zum Untergang verurteilt.
Jemand mußte zu dem Prinzen gelangen, bevor es zu spät war, und niemand anderer als Höndel stand zur Verfügung. Allanon suchte das Nordland noch immer nach dem vermißten Shea ab, begleitet von Flick und Menion Leah. Er traf seine Entscheidung schnell und befahl einem der erschöpften Zwerge, noch in dieser Nacht nach Culhaven zurückzueilen. Was immer auch sonst geschehen mochte, die Ältesten der Zwergennation würden erfahren, daß die Invasion des Südlandes begonnen hatte und die Zwergenarmeen Varfleet zu Hilfe kommen mußte. Die Städte Callahorns durften nicht fallen, oder Allanons schlimmste Befürchtungen würden sich bewahrheiten. Wenn das Südland erobert wurde, lag ein Keil zwischen den Zwergen- und den Elfenarmeen, und der Dämonen-Lord konnte sich seines Sieges über alle Länder sicher sein. Der Zwerg versprach Höndel hoch und heilig, sich umgehend auf den Weg zu machen und auch seine Kameraden mitzunehmen.
Höndel brauchte viele Stunden, um nach Tyrsis zurückzugelangen.
Der Weg war gefährlich, da es in den Wäldern von Gnomenjägern wimmelte, deren Aufgabe es war, jede Verständigung zwischen den Städten Callahorns zu unterbinden. Mehr als einmal hatte Höndel sich verbergen müssen, bis eine große Patrouille vorbeigezogen war, und immer wieder sah er sich gezwungen, weite Umwege zu machen. Das Netz der Vorposten war viel enger als in den Drachenzähnen, für den erfahrenen Granzlandkämpfer ein Beweis dafür, daß der Angriff kurz bevorstand.
Wenn die Nordländer Varfleet in den nächsten Tagen angreifen wollten, würde auch Tyrsis mit einer Attacke zu rechnen haben. Die kleinere Inselstadt Kern mochte bereits gefallen sein. Es wurde Tag, bis es dem Zwerg gelang, die letzte Postenkette zu durchbrechen und die Ebenen oberhalb von Tyrsis zu erreichen.
Erbetrat die erwachende Stadt Tyrsis, unauffällig in der Mitte einer Schar von Händlern und Reisenden. Stundenlang wanderte er durch die fast verlassenen Kasernen der Grenzlegion, sprach mit Soldaten und suchte Hinweise auf seine Freunde. Endlich konnte er in Erfahrung bringen, daß sie vor zwei Tagen abends erschienen und direkt zum Palast gegangen seien. Man habe sie nicht wieder auftauchen sehen, aber man nehme allgemein an, Balinor habe nur kurz seinen Vater besucht und sei dann wieder fortgegangen. Höndel wußte, was das bedeutete, und postierte sich für den Rest des Tages in der Nähe des Palastbereiches. Er bemerkte, daß der Palast gut bewacht wurde, von Soldaten mit dem Abzeichen eines Falken, das er nicht kannte. Sie standen an den Haupttoren und in der ganzen Stadt, und andere Einheiten schien es offenbar nicht zu geben. Selbst wenn er Balinor am Leben fand und ihn zu befreien vermochte, würde es nicht einfach sein, die Herrschaft über die Stadt wiederzuerlangen und die Grenzlegion zusammenzurufen. Der Zwerg hörte nichts von einer Invasion aus dem Norden, und es hatte ganz den Anschein, daß die Bevölkerung völlig ahnungslos war. Höndel konnte nicht begreifen, daß Palance Buckhannah sich weigerte, die Stadt gegen eine so ungeheuerliche Bedrohung wie jene durch den Dämonen-Lord zu verteidigen. Wenn Tyrsis fiel, würde der jüngere Sohn Ruhl Buckhannahs keinen Thron mehr besitzen. Höndel betrachtete das Gelände im Volkspark unter der Brücke von Scendicgenau, und als es dunkel wurde, setzte er seinen Plan in die Tat um.
Er blieb nun in dem dunklen Raum kurz stehen, um das Fenster fest zu schließen. Er befand sich in einem kleinen Arbeitszimmer.
An den Wänden standen gefüllte Bücherregale. Es war die Privatbibliothek der Buckhannah-Familie, ein Luxus in diesen Zeiten, da kaum noch Bücher geschrieben wurden und nur wenige lesen konnten. Die Großen Kriege hatten jede Art von Literatur nahezu beseitigt. Eine Privatbibliothek zu besitzen, mit Hunderten von Bänden, und sie lesen zu können, war ein Vorzug, den nur wenige genossen.
Aber Höndel befaßte sich nicht mit dem Raum, als er auf katzenleisen Sohlen zur Tür schlich, unter der er einen Lichtschein erkannte. Vorsichtig starrte der Zwerg hinaus. Niemand zeigte sich, aber er sah plötzlich ein, daß er sich über den nächsten Schritt noch keine genauen Gedanken gemacht hatte. Balinor und die Elfen mochten überall im Palast sein. Nachdem er sich schnell die Alternativen überlegt hatte, kam er zu dem Schluß, daß sie, wenn sie noch am Leben waren, in den Kellern unter dem Palast eingeschlossen sein mußten. Dort gedachte er zuerst zu suchen. Er lauschte noch einen Augenblick, atmete tief ein und trat dann in den beleuchteten Korridor hinaus.
Höndel kannte sich im Palast aus, da er Balinor öfter als nur einmal besucht hatte. Er wußte nicht mehr genau die Lage aller Räume, kannte aber die Hallen und Treppen und wußte auch von den Kellern, in denen Wein und Nahrungsmittel gelagert wurden.
Am Ende des Korridors wandte er sich nach links, überzeugt davon, daß die Kellertreppe gleich dahinter liegen mußte.
Er erreichte die massive Tür, mit der die Kälte der unteren Gänge ferngehalten wurde, als er hinter sich Stimmen hörte. Hastig zerrte er an der Tür, aber zu seinem Schrecken wollte sie nicht aufgehen. Er riß mit aller Macht daran, doch sie gab nicht nach.
Die Stimmen wurden lauter und lauter, und er suchte verzweifelt nach einem Versteck. Sein Blick fiel plötzlich auf einen Sicherungshaken in Bodennähe, den er übersehen hatte. Während die Stimmen und Schritte immer näherkamen, öffnete der Zwerg den Riegel, drückte die schwere Türe auf und sprang hindurch. Die Tür fiel zu, gerade als drei Wachen um die Ecke kamen, unterwegs, um ihre Kameraden am Südtor abzulösen.
Höndel wartete nicht ab, um herauszufinden, ob er bemerkt worden war, sondern stürmte die Steinstufen hinunter in die Dunkelheit des Kellers. Unten blieb er stehen und tastete nach dem eisernen Fackelhaltergestell. Nach einigen Minuten fand er es, riß eine Fackel heraus und zündete sie mit Hilfe von Feuerstein und Eisen an.
Dann suchte er mit großer Sorgfalt den ganzen Keller ab, Raum für Raum, von einer Ecke zur anderen. Die Zeit verrann schnell, und er fand nichts. Endlich hatte er alles erfolglos abgesucht, und es begann so auszusehen, als würden seine Freunde nicht in diesem Teil des Palastes festgehalten. Widerstrebend machte Höndel sich klar, daß sie vielleicht in einem der oberen Räume eingeschlossen sein mochten. Er fand es sonderbar, daß Palance oder sein heimtückischer Berater bereit sein sollte, das Risiko einzugehen, ihre Gefangenen könnten von Besuchern bemerkt werden. Allerdings bestand ja auch wirklich die Möglichkeit, daß Balinor Tyrsis wieder verlassen hatte, um Allanon zu suchen. Den Gedanken verwarf der Zwerg jedoch sofort wieder.
Balinor war nicht der Mann, bei einem Problem solcher Art Hilfe bei anderen zu suchen - er würde sich seinem Bruder stellen, statt davonzulaufen. Verzweifelt versuchte Höndel sich die Frage zu beantworten, wo der Prinz und die Elfen-Brüder versteckt sein mochten, wo in diesem uralten Gemäuer Gefangene sicher untergebracht werden konnten. Der logische Ort war unter dem Palast, in den dunklen, fensterlosen Tiefen, wo er gerade...
Plötzlich fiel Höndel ein, daß es jahrhundertealte Verliese gab, die sogar noch unter diesem Keller lagen. Balinor hatte sie einmal beiläufig erwähnt und erklärt, sie seien aufgegeben und abgeschlossen worden. Erregt schaute der Zwerg sich um und versuchte sich zu erinnern, wo der Zugang sein mochte. Er war nun überzeugt davon, daß man seine Freunde dorthin gebracht hatte - es war der einzige Ort, wo man einen Gegner einkerkern konnte, wenn man dafür sorgen wollte, daß er nicht mehr gefunden wurde. Fast niemand wußte von der Existenz dieser Verliese, außer der königlichen Familie und ihren engsten Beratern.
Höndel sah sich die Mauern und den Boden des Kellers genau an. Wenn der Zugang geöffnet worden war, mußte er auch zu finden sein. Trotzdem konnte er ihn nirgends sehen. Die Mauern schienen fest und massiv zu sein. Wieder erwies sich seine Suche als fruchtlos. Bedrückt sank er an eines der Weinfässer, während sein Blick verzweifelt über die Wände und den Boden glitt. Die Zeit für Höndel lief ab. Wenn er nicht zu entkommen vermochte, bevor es hell wurde, würde er vermutlich bei seinen Freunden landen, aber als Gefangener. Er wußte, daß er etwas übersah, etwas so Naheliegendes, daß es sich dem Blick immer wieder entzog.
Er fluchte halblaut vor sich hin, stand auf und ging langsam herum, strengte sein Gedächtnis an, versuchte sich zu erinnern.
Es hatte mit den Mauern zu tun... irgend etwas mit den Mau…
Dann fiel es ihm ein. Der Zugang befand sich nicht in den Wänden, sondern im Boden. Der Zwerg atmete auf und stürzte auf das Weinfaß zu, an dem er vorher gelehnt hatte. Er griff mit seinen starken Armen zu, spannte die Muskeln an und vermochte mehrere Fässer wegzuschieben, so daß die Steinplatte, die den Zugang versperrte, sichtbar wurde. Der schwitzende Zwerg packte einen dort eingelassenen Eisenring und zog daran. Langsam bewegte sich der Steinblock nach oben und kippte. Höndel starrte in das schwarze Loch und leuchtete mit der Fackel hinein.
Eine uralte Steintreppe führte nach unten, feucht und mit grünlichen Flechten überzogen. Der kleine Mann hielt die Fackel hoch und stieg hinab in den vergessenen Kerker.
Beinahe augenblicklich spürte er die beißende Kälte, die durch seine warme Kleidung drang. Er stieg schneller hinunter. Derartige Grüfte erschreckten ihn mehr als alles andere, und er begann sich zu fragen, ob es klug von ihm gewesen war, sich hinunterzuwagen.
Aber wenn Balinor hier wirklich gefangengehalten wurde, lohnte sich das Risiko. Höndel gedachte seine Freunde nicht im Stich zu lassen. Er kam unten an und sah einen Korridor vor sich. Als er langsam weiterging und in die Düsternis starrte, konnte er Eisentüren erkennen, die in regelmäßigen Abständen in die dicken Mauern eingelassen waren, fensterlos, mit massiven Beschlägen. Dies war ein Kerker, der jeden Menschen ängstigen mußte - eine fensterlose, lichtlose Reihe von Verliesen, deren Insassen man dem Vergessen anheimgeben konnte.
Unzählige Jahre hindurch hatten die Zwerge nach den vernichtenden Großen Kriegen so gelebt, um zu überleben; halb blind waren sie in eine fast vergessene Welt des Lichts zurückgekehrt.
Diese furchtbare Erinnerung hatte sich Generationen von Zwergen tief eingeprägt und instinktive Angst vor unbeleuchteten, engen Räumen erzeugt. Höndel spürte sie jetzt, bedrückend und verhaßt, wie die klamme Kälte der Tiefen, in die dieses Grab geschaufelt worden war.
Er zwang sich, die Angst zu unterdrücken, und betrachtete die Türen genau. Die Riegel waren teilweise verrostet, das Metall mit Staub und Spinnweben bedeckt. Während er daran vorbeiging, konnte er sehen, daß sie alle seit unzähligen Jahren nicht mehr geöffnet worden waren. Er vermochte die Türen schließlich nicht mehr zu zählen, der dunkle Korridor schien sich endlos vor ihm zu erstrecken. Er hätte am liebsten gerufen, aber der Widerhall hätte nach oben dringen können. Er schaute sich sorgenvoll um und entdeckte, daß die Öffnung und die Treppe nicht mehr zu sehen waren. Die Dunkelheit schien ihn einzuschließen.
Höndel biß die Zähne zusammen und ging weiter, jede einzelne Tür genau untersuchend. Dann hörte er plötzlich, zu seiner Verblüffung, menschliches Stimmengemurmel.
Er lauschte aufmerksam, befürchtend, von seinen Sinnen getäuscht worden zu sein. Da waren die Laute aber wieder, ganz schwach, kaum vernehmbar, jedoch vorhanden. Der Zwerg versuchte ihnen zu folgen, aber sie verstummten plötzlich. Verzweifelt schaute er sich um und starrte die Türen an. Eine davon war zu verrostet, aber eine andere zeigte frische Kratzspuren.
Staub und Spinnweben waren weggewischt worden. Die Riegel ließen ölspuren erkennen. Der Zwerg riß sie heraus und öffnete die schwere Tür, dann hob er die Fackel, deren Licht auf drei erstaunte, halb geblendete Gestalten fiel, die sich erhoben hatten, um der neuen Bedrohung zu begegnen.
Sie stürzten aufeinander zu und umarmten sich herzlich. Balinors Gesicht wirkte ruhig und gefaßt, und nur die blauen Augen verrieten die unendliche Erleichterung, die der Prinz empfand.
Wieder einmal hatte der kluge Zwerg ihnen das Leben gerettet.
Aber sie haten keine Zeit, sich lange ihren Gefühlen zu überlassen, und Höndel winkte sie hastig durch den dunklen Korridor zurück zur Treppe. Wenn sie bei Tagesanbruch noch unter dem Palast herumliefen, würden sie mit Gewißheit entdeckt und wieder gefangengenommen werden. Sie mußten so rasch wie möglich in die Stadt entkommen. Mit schnellen Schritten huschten sie durch den Korridor.
Dann scharrte plötzlich Stein auf Stein, und es krachte, als sei eine Gruft zugefallen. Entsetzt lief Höndel voraus, erreichte die feuchten Steinstufen und blieb wie angewurzelt stehen. Der schwere Steinblock über ihnen hatte sich geschlossen, der Weg ins Freie war versperrt. Der Zwerg stand hilflos vor seinen drei Freunden und schüttelte ungläubig den Kopf. Sein Versuch, sie zu retten, war gescheitert; er hatte nur erreicht, auch ein Gefangener zu werden. Die Fackel in seiner Hand war fast heruntergebrannt.
Bald würden sie in undurchdringlicher Dunkelheit stehen, und das Warten würde von neuem beginnen.