Mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung zog Shea die uralte Klinge aus der verbeulten Scheide. Das Metall schimmerte im trüben Fackellicht bläulich-schwarz, die Eisenklinge makellos, als sei das legendäre Schwert im Kampf nie gebraucht worden. Das Schwert war unerwartet leicht, eine schmale, ausbalancierte Klinge von überragender Kunstfertigkeit, der Knauf verziert mit der erhobenen Hand, in der eine Fackel loderte. Shea hielt die Waffe fest umklammert, warf entschlossene Blicke auf Panamon Creel und Keltset, suchte nach Bestätigung, fürchtete sich plötzlich vor dem, was geschehen würde. Seine grimmig blickenden Begleiter regten sich nicht, ihre Gesichter wirkten leer und ausdruckslos. Er packte das Schwert nun mit beiden Händen und schwang die Klinge herum, bis sie zum Himmel zeigte. Seine Handflächen schwitzten, und er spürte, wie ein kalter Schauer über seinen Körper rann. Auf einer Seite regte sich etwas, und Orlranes Lippen entrang sich ein schwaches Stöhnen. Sekunden vergingen. Shea war sich der Knaufverzierung bewusst, die sich in die Innenflächen seiner zitternden Hände drückte. Noch immer geschah nichts.
Im grauen Zwielicht der leeren Kammer auf dem Gipfel des Totenschädelberges waren die dunklen Wasser des Steinbeckens ruhig und glatt. Die Macht des Dämonen-Lords ruhte ...
Schlagartig erwärmte sich das Schwert von Shannara in Sheas Händen, und eine sonderbare, pulsierende Hitzewelle übertrug sich vom dunklen Stahl auf die Handflächen des erstaunten Talbewohners, um sich gleich darauf wieder aufzuheben. Verblüfft trat er einen Schritt zurück und senkte die Klinge ein wenig. Einen Augenblick später folgte der Wärme ein Prickeln, das auch von der Waffe in seinen Körper überging. Obwohl es nicht mit Schmerzen verbunden war, zuckte Shea erschrocken zusammen, und er spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Instinktiv wollte er das Schwert loslassen. Zu seiner Verwunderung war er dazu nicht mehr imstande. Irgend etwas tief in seinem Innersten untersagte es ihm, und seine Hände schlössen sich fest um den alten Knauf.
Das Prickeln lief durch seinen ganzen Körper, und er wurde sich einer Reaktion bewusst, die in einem Energiestrom bestand, wurzelnd in seiner Lebenskraft; er übertrug sich aus ihm auf das kalte Metall des Schwertes, bis die Waffe zu einem Teil seines Selbst geworden war. Die Vergoldung über dem Knauf löste sich unter den Händen des Talbewohners, und der Knauf wurde zu poliertem Silber, durchschossen von rötlichen Lichtstreifen, die im grellschimmernden Metall wie Lebewesen loderten und tanzten. Shea spürte die ersten Regungen einer Kraft, die im Erwachen begriffen war, etwas, das einen Teil von ihm bildete und doch allem fremd war, was er in sich ahnte. Es zerrte an ihm, verstohlen und doch entschlossen, zog ihn tiefer in sich selbst hinein.
Panamon Creel und Keltset, einige Schritte von Shea entfernt, verfolgten mit wachsender Besorgnis, dass der kleine Talbewohner in Trance zu geraten schien. Seine Lider sanken herab, sein Atem verlangsamte sich, seine Gestalt wurde im trüben Fackelschein zu einer Statue. Er hielt das Schwert von Shannara mit beiden Händen vor sich hoch. Die Klinge ragte auf, wies zum Himmel, der Glanz des Silberknaufs wurde beinahe unerträglich grell. Einen Augenblick lang überlegte Panamon Creel, ob er den Talbewohner packen und wachrütteln sollte, aber irgend etwas hielt den Dieb davon ab. Aus den Schatten kroch Orl Fane auf dem glatten, feuchten Boden heran, seinem kostbaren Schwert entgegen. Panamon zögerte einen Augenblick, dann stieß er ihn mit der Stiefelspitze zurück.
Shea fühlte, wie er nach innen gesogen wurde, gleich einem Korken auf einem Wasserstrudel. Ringsumher begann alles zu verblassen. Wände, Decke und Boden der Zelle verblassten, dann die zusammengekauerte, winselnde Gestalt Orl Fanes; schließlich verschwanden sogar die Umrisse von Panamon und Keltset. Die seltsame, fremdartige Strömung schien ihn ganz zu erfassen, und er entdeckte, dass er sich ihr nicht zu widersetzen vermochte. Langsam wurde er in die tiefsten Schichten seines Wesens gezogen, bis alles Schwärze war.
... Ein Zittern lief über die stillen Beckengewässer in den Höhlentiefen an der Spitze des Totenkopfberges, und die angstvollen, kriechenden Wesen, die dem Meister dienten, huschten aus ihren Wand verstecken. Der Dämonen-Lord regte sich, aufgestört aus seinem Schlaf ...
In dem Wirbel aus Emotion und innerstem Ich, das die zentrale Region seines Wesens darstellte, trat der Träger des Schwertes von Shannara sich selbst gegenüber. Einen Augenblick lang herrschte ein Chaos unbestimmter Eindrücke, dann schien die Strömung sich umzukehren und ihn in einer ganz anderen Richtung fortzutragen. Bilder und Eindrücke tauchten vor ihm auf. Plötzlich vor seine Augen gehoben, lag die Welt, die sein Geburtsort, seine Lebensquelle war, von der Vergangenheit bis zur Gegenwart nackt und offen vor ihm, aller Illusionen entkleidet, und er sah die Wirklichkeit des Seins in ihrer ganzen Strenge. Keine sanften Träume färbten ihre Lebensschau, keine Wunschphantasien verhüllten die Unbarmherzigkeit ihrer selbstgewählten Entscheidungen, keine selbsterfundenen Visionen von Hoffnung milderten die Schärfe ihres Urteils. Inmitten ihrer ungeheuren Weite sah er sich als den armseligen, unbedeutenden Funken kurz aufleuchtenden Lebens, der er war.
Sheas Geist schien zu explodieren, und was er sah, lahmte ihn. Er rang verzweifelt um jene Erkenntnis von sich selbst, die ihn stets aufrechterhalten hatte, rang darum, sich an die Vernunft zu klammern, kämpfte, um sich vor dem furchterregenden Blick auf seine innere Nacktheit und die Schwäche des Wesens zu schützen, als das sich zu erkennen er gezwungen war.
Dann schien die Heftigkeit der Strömung ein wenig nachzulassen. Shea öffnete mühsam die Augen, um der inneren Vision für Sekunden zu entgehen. Vor ihm ragte das Schwert empor, gleißend in einem blendendweißen Licht, das von der Klinge zum Knauf herabflutete. Dahinter konnte er Panamon und Keltset sehen, regungslos, den Blick starr auf ihn gerichtet. Dann bewegten sich die Augen des Riesen-Trolls ein wenig und hafteten an dem Schwert. Darin lag ein seltsames Begreifen und Drängen, und als Shea auch wieder auf das Schwert von Shannara blickte, schien das Licht fiebrig zu pulsieren. Der Bewegung haftete etwas Ungeduldiges an, als wolle das Licht von der Klinge in seinen Körper dringen und sähe sich aufgehalten.
Der Talbewohner wehrte sich noch einen Augenblick länger gegen das Eindringen, dann schlössen sich seine Augen wieder, und die innere Vision kehrte zurück. Der erste Schock der Offenbarung war abgeklungen, und er strengte sich an, zu begreifen, was geschah. Er konzentrierte sich auf die Abbilder von Shea Ohmsford, tauchte ein in die Gedanken, Gefühle, Urteile und Motivationen, aus denen sein Charakter bestand, der gleichzeitig fremd und vertraut war.
Die Bilder nahmen eine erschreckende Schärfe an, und plötzlich sah er eine andere Seite seines Selbs t, eine Seite, die er nie hatte erkennen können - oder einfach nicht hatte akzeptieren wollen. Sie offenbarte sich in einer endlosen Reihe von Geschehnissen, allesamt Karikaturen der Erinnerungen, an die er so stark geglaubt hatte. Hier wurde Rechenschaft abgelegt über alles, was er anderen zugefügt, über jede kleinliche Eifersucht, die er je empfunden hatte, über seine tiefverwurzelten Vorurteile, seine bewussten Halbwahrheiten, sein Selbstmitleid, seine Ängste - alles, was in ihm dunkel und verborgen war. Hier war der Shea Ohmsford, der aus dem Tal geflüchtet war, nicht, um Familie und Freunde zu beschützen und zu retten, sondern aus Angst um sein eigenes Leben, auf der Suche nach irgendeiner Ausrede für seine Panik der Shea Ohmsford, der aus Eigensucht zugelassen hatte, dass Flick vom Alptraum mit betroffen wurde, damit die Qual sich vermindere. Hier war der Shea, der den Moralkodex von Panamon Creel verächtlich und hochmütig verdammt, gleichzeitig aber zugelassen hatte, dass der Dieb sein Leben riskierte, um Sheas Leben zu retten. Und hier ...
Die Bilder setzten sich endlos fort. Shea Ohmsford zuckte entsetzt vordem zurück, was er sah. Er konnte es nicht akzeptieren. Er konnte es niemals akzeptieren.
Aber sein Geist nährte sich aus einer inneren Quelle von Kraft und Verständnis, öffnete sich den Bildern, weitete sich, um sie zu umfassen, überredete - oder zwang ihn, die Wirklichkeit dessen anzuerkennen, was ihm gezeigt worden war. Er konnte diese andere Seite seines Charakters nicht wirklich leugnen; wie die dezimierte Abbildung der Person, für die er sich immer gehalten, war auch dies nur ein Teil des wahren Shea Ohmsford aber es war ein Teil von ihm, so schwer es ihm auch fallen mochte, das zuzugeben.
Aber er musste es zugeben. Es war die Wahrheit.
... Erfüllt von weißglühender Wut, erwachte der Dämonen-Lord vollends ...
Wahrheit? Shea öffnete wieder die Augen, um das Schwert von Shannara anzustarren, das von der Klinge bis zum Knauf gleißend leuchtete. Eine warme, pulsierende Empfindung breitete sich rasch in ihm aus; sie brachte keine neue Vision des Selbst, sondern nur eine tiefe, innere Bewusstwerdung.
Schlagartig begriff er, dass er das Geheimnis des Schwertes kannte. Das Schwert von Shannara besaß die Macht, die Wahrheit zu offenbaren - den Mann, der es ergriff, zu zwingen, die Wahrheit über sich selbst zu erkennen, vielleicht sogar, die Wahrheit über andere zu offenbaren, die mit dem Schwert in Berührung kommen mochten. Einen Augenblick lang brachte er es nicht über sich, an all diese Dinge zu glauben. Er zögerte bei seiner Analyse, versuchte verzweifelt, dieser unerwarteten Offenbarung nachzugehen - mehr zu finden, denn da musste einfach noch mehr sein. Aber es gab nichts anderes zu entdecken. Das war alles, was den gepriesenen Zauber des Schwertes ausmachte. Darüber hinaus stellte das Schwert nicht mehr dar, als es dem äußeren Anschein nach zu sein schien eine kunstvoll gefertigte Waffe aus einer anderen Zeit.
Die Erkenntnis, was das bedeutete, zuckte durch Sheas Geist und ließ ihn betäubt zurück. Kein Wunder, dass Allanon das Geheimnis des Schwertes nie preisgegeben hatte. Was für eine Waffe sollte das sein, gegen die unfassbare Macht des Dämonen-Lords? Welche Abwehr konnte sie gegen ein Wesen bieten, das mit wenig mehr als einem flüchtigen Gedanken ihm das Leben abzupressen vermochte? Mit eisiger Gewissheit erkannte Shea, dass er betrogen worden war. Die legendäre Macht des Schwertes war eine Lüge. Er spürte, wie die Panik in ihm aufstieg, und schloss die Augen, überrieselt von kalten Schauern. Die Schwärze um ihn begann heftig zu brodeln, bis er schwindlig wurde und das Bewusstsein zu verlieren drohte.
... Der Dämonen-Lord beobachtete und lauschte in der tristen, grauen Leere seines Felsrefugiums. Langsam legte sich seine Wut, und die nebelige Dunkelheit unter der Kapuze nickte befriedigt. Der Talbewohner, den er vernichtet geglaubt hatte, war noch am Leben. Trotz aller Widrigkeiten hatte er das Schwert gefunden. Aber der Mann war armselig schwach; das notwendige Wissen, um den Talisman zu begreifen, fehlte ihm. Er war von Angst schon überwältigt und würde verwundbar sein. Schnell und lautlos glitt der Meister aus dem Gewölbe ...
Die hochgewachsene Gestalt Allanons zögerte auf dem Kamm eines nackten, windumtosten Hügels. Die schwarzen Augen unter den buschigen Brauen waren unsichtbar, als sie den dräuenden, isolierten Bergzug betrachteten, der sich am grauen Nordhorizont erhob. Die hohlwangigen, genarbten und verwitterten Gesichter der Gipfel schienen ihn anzustarren, die Seele des Landes widerspiegelnd, das sie vor so langer Zeit hervorgebracht hatte. Tiefe Stille hing erwartungsvoll über der riesigen Wildnis des Nordlandes. Selbst die Hochgebirgswinde waren erstorben. Der Druide wickelte sich fester in seine schwarzen Gewänder und atmete tief ein. Ein Irrtum war nicht möglich; seine weitreichende Wahrnehmung belog ihn nicht. Das, was zu erreichen er sich so bemüht hatte, war geschehen. In den fernen Winkeln der Messerkante, noch weit von der Stelle, wo Allanon stand, hatte Shea Ohmsford das Schwert von Shannara gezückt.
Und doch war alles falsch! Obwohl der Talbewohner imstande sein mochte, standzuhalten, die Wahrheit über sich selbst hinzunehmen und das Geheimnis des Schwertes zu erkennen, war er noch immer nicht bereit, den Talisman auf die richtige Weise gegen den Dämonen-Lord einzusetzen. Es würde ihm nicht die Zeit bleiben, die notwendige Zuversicht zu gewinnen, solange er allein und ohne Hilfe war, des Wissens entblößt, das nur Allanon ihm vermitteln konnte. Er würde erfüllt sein von Selbstzweifeln, zerrissen von Angst, eine leichte Beute für Brona. Schon konnte der Druide das Erwachen des Feindes spüren. Der Schwarze Lord begann mit dem Abstieg von seinem Felsrefugium, voll Zu versicht, dass der Träger des Schwertes blind war für die ganze Macht des Talismans. Seine Attacke würde blitzschnell und rücksichtslos erfolgen, und Shea würde vernichtet sein, bevor er lernen konnte, zu überleben.
Nur kurze Minuten blieben noch bis zur Konfrontation, und Allanon wusste, dass er niemals mehr rechtzeitig zur Stelle sein konnte. Er hatte schließlich eingesehen, dass Shea und das Schwert von Shannara nach Norden geraten sein mussten. Die anderen in Callahorn zurücklassend, war er dem Talbewohner nachgeeilt, um ihm zur Seite zu stehen. Aber es war zu schnell gegangen. Nun gab es nur noch eine einzige Chance für ihn, Shea von Nutzen zu sein - eine ganz geringe -, und er war immer noch zu weit entfernt. Der Druide raffte seine Gewänder zusammen und eilte den Hang hinunter, mit den Füßen kleine Staubwolken aufwirbelnd, das Gesicht angespannt vor Entschlossenheit.
Panamon Creel wollte vortreten, als Shea auf ein Knie sank, aber Keltsets mächtiger Arm hielt ihn zurück. Der Troll hatte sich nach dem Höhleneingang umgedreht und lauschte. Panamon konnte nichts hören, aber plötzlich stiegen Angst und Entsetzen in ihm hoch. Er erstarrte. Keltsets Augen bewegten sich, als folgten sie einer Erscheinung im Korridor, der zur Zelle führte, und Panamons Furcht wurde größer.
Dann legte sich über alles ein Schatten. Das Fackellicht trübte sich. An der Zellentür stand eine hohe Erscheinung in schwarzen Gewändern. Panamon Creel wusste instinktiv, dass das der Dämonen-Lord war. Wo ein Gesicht hätte sein sollen, unter der weit nach vorn gezogenen Kapuze, sah man nichts als Dunkelheit und einen dichten grünen Nebel, der sich träge um zwei Funken rötlichen Feuers bewegte. Die Funken wandten sich zuerst Panamon und Keltset zu, verwandelten sie augenblicklich in regungslose Statuen, sandten alle Ängste und Schrecken, die sie je gekannt, durch ihre gelähmten Gestalten. Der Dieb mühte sich, dem kleinen Talbewohner eine Warnung zuzuschreien, aber er entdeckte, dass er nicht sprechen konnte, und sah hilflos zu, als die gesichtslose Kapuze sich Shea zuwandte.
Der Talbewohner spürte, wie er in der schattenhaften Feuchtigkeit der kleinen Zelle ins Bewusstsein zurückkehrte. Alles erschien ihm seltsam fern, auch wenn irgendwo in einem Winkel seines betäubten Gehirns undeutlich ein Warnsignal schrillte. Aber er reagierte träge, und eine Zeitlang gab es nichts als den muffigen Geruch verbrauchter Luft und das schwache Flackern einer einzelnen Fackel. Durch einen Nebel sah er die regungslosen Gestalten Panamons und Keltsets kaum eineinhalb Meter vor sich stehen, die Züge von Angst verzerrt. Orl Fane kauerte in der Ecke, zusammengekrümmt zu einer kleinen, gelben Kugel, die wimmerte und lallte. Die Klinge des Schwertes von Shannara aber schimmerte hell.
Dann drang ihm das Geheimnis des Schwertes schlagartig wieder ins Bewusstsein - und mit ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Lage. Er wollte den Kopf heben, aber sein Hals schien so erstarrt zu sein wie seine Augen. Angst und Verzweiflung überfluteten ihn wie Eiswasser, und er begann darin zu ertrinken. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper, seine Hände zitterten. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Flucht! Fort von hier, bevor das furchtbare Wesen, dessen verbotenes Reich er zu betreten gewagt hatte, ihn hier entdeckte und ihn vernichtete! Das Ziel, für das er alles auf sich genommen hatte, spielte keine Rolle mehr; alles, was sich in ihm noch regte, war der überwältigende Drang, die Flucht zu ergreifen.
Er richtete sich schwankend auf. Jede Faser seines Wesens kreischte ihm zu, herumzuwirbeln und zur Tür zu stürzen, das Schwert fortzuwerfen und zu fliehen. Aber er konnte es nicht tun. Irgend etwas in ihm weigerte sich, das Schwert loszulassen. Verzweifelt rang er darum, seine Angst zu bezwingen, und seine Hände schlössen sich fester um den Schwertknauf, umklammerten das Metall, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war alles, was ihm noch blieb, alles, was zwischen ihm und kopfloser Panik stand. Er klammerte sich voll Verzweiflung daran, angehalten dazu von einem Talisman, dessen Nutzlosigkeit ihm sicher schien.
Sterbliches Wesen, ich hin hier!
Die Worte warfen ein schauriges Echo in der tiefen Stille. Sheas Augen mühten sich, zur Tür zu blicken. Zuerst fand er nur Schatten, dann verdichteten sich die Schatten langsam und wurden zu der in schwarze Gewänder gehüllten Gestalt des Dämonen-Lords. Sie schwebte drohend an der Zellentür, ein undurchdringliches, schwarzes, formloses Gewand. Im Inneren der Kapuze wirbelte grüner Nebel, und die Flammenfunken, die seine Augen waren, loderten und wuchsen.
Sterbliches Wesen, ich hin hier. Beuge dich vor mir!
Shea wurde kalkweiß vor Furcht. Etwas Riesiges, Schwarzes traf seinen Geist, und er schwankte bedrohlich am schmalen Rand totaler Panik. Ein bodenloser Schlund schien sich vor ihm aufzutun. Es bedurfte nur noch eines kleinen Anstoßes ... Er zwang sich zur Konzentration auf das Schwert und seinen eigenen, verzweifelten Trieb, am Leben zu bleiben. Ein blutroter Nebel legte sich über sein Gemüt und brachte die Stimmen zahlloser verdammter Seelen mit, die ohne Hoffnung um Gnade schrieen. Kriechende, verkrümmte Kreaturen klammerten sich an seine Arme und Beine, zerrten an ihm, zogen ihn hinab in den Abgrund. Sein Mut verließ ihn. Er war so klein, so verletzlich. Wie konnte er einem so furchtbaren Wesen wie dem Dämonen-Lord widerstehen?
Auf der anderen Seite der Zelle verfolgte Panamon Creel, wie die schwarzgekleidete Gestalt Shea näherrückte. Der Dämonen-Lord schien ein Ding ohne Substanz zu sein, eine gesichtslose Kapuze, ein leeres Gewand. Shea konnte offenkundig mit ihm nicht fertig werden, ob mit oder ohne Schwert. Panamon sah Keltset warnend an, widerstand der aufsteigenden Panik in ihm und riss den Arm mit der Pike hoch. Die schwarze Gestalt wandte sich ihm fast beiläufig zu, nun nicht mehr leer, sondern erfüllt von ungeheurer Macht. Ein Arm bewegte sich, und der Dieb wurde von einem eisernen Griff am Hals gepackt und an die Wand geschleudert. Er bäumte sich noch einmal auf, um sich zu befreien, war aber festgekettet, und Keltset mit ihm. Hilflos sahen sie, wie der Dämonen-Lord sich Shea erneut zuwandte.
Für Shea war der Kampf nahezu vorbei. Er hielt das Schwert noch immer in Händen, aber vor dem Angriff des Schwarzen Lords brach sein letzter Widerstand zusammen. Er konnte nicht mehr klar denken. Er war machtlos gegen die Empfindungen, die ihn erledigten. Aus der Dunkelheit der Kapuze erreichte ihn ein schrecklicher Befehl.
Leg das Schwert weg, sterbliches Wesen!
Verzweifelt wehrte sich Shea gegen den Drang, zu gehorchen. Alles wurde nebelhaft, und er rang nach Atem. Tief in seinem Inneren schien eine vertraute Stimme seinen Namen zu rufen. Er versuchte zu antworten und kreischte innerlich um Hilfe. Dann durchfetzte ihn wieder die Stimme des Dämonen-Lords.
Leg das Schwert weg!
Die Klinge senkte sich. Shea fühlte, wie sein Gehirn der Betäubung erlag und die Dunkelheit näherrückte. Das Schwert nützte ihm nichts. Warum es nicht weglegen und das Ganze hinter sich bringen? Er war nichts, diesem schrecklichen Wesen gegenüber. Er war nur ein schwacher, unbedeutender Sterblicher.
Das Schwert sank tiefer. Orl Fane schrie plötzlich vor Entsetzen auf und krümmte sich schluchzend auf dem Boden der dunklen Zelle. Panamon war aschfahl geworden. Keltsets riesenhafte Gestalt schien sich in die Zellenwand verkriechen zu wollen. Das Schwert von Shannara sank herab, bis die Spitze nur noch Zentimeter über dem Boden schwebte.
Die Stimme in Sheas Gehirn meldete sich wieder. Aus dem Nichts erreichten ihn die Worte, so leise geflüstert, dass er sie kaum wahrnehmen konnte.
»Shea! Sei mutig! Vertrau dem Schwert!«
Allanon.
Die Stimme des Druiden minderte Ängste und Zweifel, die den Talbewohner beherrschten. Aber sie war so fern - so fern und weit ...
»Glaub an das Schwert, Shea! Alles andere ist schwächer ...« Allanons Worte gingen in einem Wutschrei des Dämonen-Lords unter, als das Wesen die Stimme des verhassten Druiden aus Sheas Gehirn verbannte. Aber Brona hatte zu spät reagiert. Allanon hatte eine Rettungsleine geworfen, und Shea klammerte sich daran, zog sich daran vom Rand des Abgrunds zurück. Ängste und Zweifel wichen. Das Schwert hob sich ein wenig.
Der Dämonen-Lord schien einen Schritt zurückzutreten, und die gesichtslose Kapuze drehte sich ein wenig in Orl Fanes Richtung. Der wimmernde Gnom richtete sich mit den ruckartigen Bewegungen einer Holzpuppe auf. Nicht länger Herr seiner selbst, stürzte die Marionette des Schwarzen Lords nach vorn, und die knochigen gelben Hände griffen verzweifelt nach dem Schwert. Orl Fanes Finger schlössen sich um die Klinge und zerrten ohne Erfolg daran. Dann kreischte Orl Fane plötzlich wie in Todesqual auf und riss die Hände zurück. Sein Gesicht verzerrte sich, er sank zu Boden, und seine Hände pressten sich auf die Augen, als wollten sie ein Schreckensbild fernhalten.
Wieder gestikulierte der Dämonen-Lord. Die zitternde Gestalt raffte sich erneut auf, und der Gnom griff ein zweites Mal an, vor Qual winselnd. Wieder packte er die leuchtende Klinge. Wieder kreischte er auf und sank auf die Knie, ließ den Talisman los, während Tränen aus seinen Augen stürzten.
Shea starrte auf die zusammengesunkene Gestalt. Er begriff, was geschehen war. Orl Fane hatte die Wahrheit über sich gesehen, so wie zuvor Shea selbst bei der ersten Berührung des Schwertes. Aber für den Gnomen war die Wahrheit unerträglich. Das Ganze erschien mehr als merkwürdig. Warum hatte Brona nicht selbst versucht, Shea das Schwert zu entwinden? Dem Anschein nach wäre das einfach genug gewesen; statt dessen hatte der Dämonen-Lord zuerst durch Sinnestäuschung versucht, Shea zur Hergabe des Schwertes zu zwingen; dann hatte er den schon wahnsinnigen Orl Fane als Werkzeug eingesetzt. Herr über soviel Macht, schien Brona trotzdem nicht imstande zu sein, das Schwert zu ergreifen. Shea suchte nach der Antwort, die nahe zu sein schien - dann zeigte sich ein erster Lichtschimmer.
Orl Fane war wieder auf den Beinen, den Befehlen des Dämonen-Lords widerstandslos ausgeliefert. Er ging in wilder Verzweiflung noch einmal auf den Talbewohner los, die Hände zu Krallen gekrümmt. Shea versuchte ihm auszuweichen, aber Orl Fane war jeder Vernunft beraubt, seiner Seele nicht mehr mächtig. Mit einem Schrei der Angst und Selbstaufgabe warf er sich gegen das Schwert. Einen Augenblick lang verkrampfte sich die kleine Gestalt, als der Gnom mit dem einen Gegenstand, der ihm noch etwas bedeutete, zu verschmelzen schien. Für einen Augenblick - es war sein letzter. Dann starb er.
Betäubt wich Shea zurück und zog die Waffe aus dem leblosen Körper. Augenblicklich erneuerte der Dämonen-Lord seine Attacke und stürzte sich auf den Geist Sheas, um jeden Widerstand zu ersticken. Brutal und direkt gebrauchte er keine verstohlenen Zweifel mehr, keine Andeutung von Ungewissheit, keine List der Selbsttäuschung. Da war nur Angst, überwältigend und verheerend, geschleudert mit der Wucht eines Schmiedehammerhiebes. Visionen bemächtigten sich des Gehirns Sheas. Die unfassbare Macht des Dämonen-Lords vergegenwärtigte sich, dargestellt auf tausend entsetzliche Arten, allesamt auf Sheas Vernichtung gerichtet. Shea fühlte sich degradiert zum winzigsten, bedeutungslosesten Lebewesen, das auf der Erde kroch; in der nächsten Sekunde, so schien es, würde der Dämonen-Lord den hilflosen Menschen zu Staub zertreten.
Aber Sheas Mut hielt stand. Er war dem Wahnsinn beinahe schon einmal anheim gefallen, und diesmal musste er Widerstand leisten, musste an sich und Allanon glauben. Seine beiden Hände umklammerten das Schwert, als er sich zwang, einen kleinen Schritt gegen den erstickenden Dunst vorzutreten, gegen die Mauer von Angst, die ihn einzuschließen drohte. Er versuchte sich einzureden, das sei nur Einbildung, die Furcht und die wachsende Panik, die er spürte, seien nicht aus ihm selbst gewachsen. Die Mauer gab ein wenig nach, und er stemmte sich stärker dagegen. Er erinnerte sich an den Tod Orl Fanes und errichtete auf diesem Gedanken ein Bild all derer, die noch sterben mussten, wenn er jetzt scheiterte. Und er konzentrierte sich auf das, was er für die Schwäche des Dämonen-Lords hielt, deutlich geworden in dem sonderbaren Zögern, selbst nach dem Schwert zu greifen. Shea zwang sich zu dem Glauben, dass das wahre Geheimnis der Macht des Talismans ein einfaches Gesetz war, das selbst ein so furchtbares Wesen wie Brona beeinflusste.
Der Nebel lichtete sich plötzlich, die Wand aus Angst zerfiel. Shea stand wieder vor dem Dämonen-Lord. Die roten Funken zuckten nun wild im trüben, grünen Nebel unter der Kapuze. Die Arme Bronas fuhren hoch, wie um eine drohende Gefahr abzuwehren, und die schwarze Gestalt wich vor Shea zurück. Panamon Creel und Keltset lösten sich plötzlich von der anderen Zellenwand und stürzten mit gezückten Waffen heran. Shea spürte, wieder letzte Widerstand des Dämonen-Lords zusammenbrach. Dann sauste das Schwert von Shannara herunter.
Ein unheimlicher Entsetzensschrei gellte aus den sich aufbäumenden Gewändern, ein langer Skelettarm fuhr in die Luft. Shea presste die leuchtende Klinge auf die sich windende Gestalt und trieb sie zurück an die Wand. Es würde kein Entkommen geben, schwor er sich. Das ungeheure Böse dieses Wesens musste ein Ende finden. Die dunklen Gewänder vor Shea bebten, die gekrümmten Finger krallten ins Leere. Der Dämonen-Lord begann zu zerfallen, und er schrie seinen Hass auf den, der ihn vernichtete, hinaus. Über seinem Schrei kreischte das Echo von tausend anderen Stimmen nach einer Rache, die ihnen zu lange vorenthalten worden war.
Shea spürte, wie das Entsetzen des Wesens durch das Schwert in sein Inneres flutete, aber mit ihm kam Kraft von diesen anderen Stimmen. Die Berührung des Schwertes trug eine Wahrheit mit sich, die durch allen Zwang des Dämonen-Lords nicht geleugnet werden konnte. Es war eine Wahrheit, die er nicht zugeben, nicht akzeptieren, nicht ertragen konnte - eine Wahrheit, gegen die es keine Abwehr gab. Für den Dämonen-Lord war die Wahrheit Tod.
Bronas körperliche Existenz war nur eine Illusion. Schon vor langer Zeit hatten die Mittel, mit denen es ihm gelungen war, sein sterbliches Leben zu verlängern, versagt, und sein Körper war gestorben. Seine besessene Überzeugung, dass er nicht vergehen konnte, hielt jedoch einen Teil von ihm am Leben, und er erhielt sich fort durch eben jene Zauberei, die ihn zum Wahnsinn getrieben hatte. Seinen eigenen Tod bestreitend, hielt er seinen leblosen Körper zusammen, um die Unsterblichkeit zu erlangen, die ihm versagt worden war. Ein Wesen, das als Teil von zwei Welten existierte, mit scheinbar unbezwingbarer Macht. Aber nun zwang das Schwert ihn, sich als das zu erkennen, was er in Wirklichkeit war- eine verrottete, leblose Hülle, aufrechterhalten nur durch einen irrigen Glauben an seine eigene Wirklichkeit, nichts als Schein, eine Vorspiegelung, allein von Willenskraft geschaffen, so flüchtig wie das körperliche Wesen, das zu sein er vorgab. Es war eine Lüge, die in den Ängsten und Zweifeln sterblicher Menschen existiert hatte und gediehen war, eine Lüge, die er geschaffen hatte, um die Wahrheit zu verhüllen. Aber nun war die Lüge entblößt.
Shea Ohmsford hatte die Gebrechlichkeiten und Schwächen akzeptieren können, die Teil seiner menschlichen Natur waren, wie bei allen Menschen. Der Dämonen-Lord dagegen konnte niemals hinnehmen, was das Schwert offenbarte, weil es die Wahrheit war, dass das Wesen, für das er sich hielt, schon vor fast tausend Jahren aufgehört hatte zu existieren. Alles, was von Brona geblieben war, entpuppte sich als Lüge, und nun wurde auch sie ihm von der Macht des Schwertes genommen.
Er schrie ein letztes Mal auf, ein Wimmern des Protestes, das klagend durch die Zelle hallte und sich mit dem anschwellenden Triumphschrei des vielstimmigen Rachechors vermischte. Dann erstarb jeder Laut. Der ausgestreckte Arm begann zu verdorren und zu Staub zu zerfallen. Asche rieselte von der erbebenden Gestalt, als der Leib unter den Gewändern sich auflöste. Die roten Lichter im verblassenden grünen Nebel leuchteten noch einmal auf und erloschen. Das Gewand sank in sich zusammen und fiel leer auf den Boden, die Kapuze obenauf.
Einen Augenblick später begann Shea zu schwanken. Zu viele Empfindungen hatten an seinen Nerven gezerrt, zu viel Anspannung über zu lange Zeit hinweg forderte ihren Preis. Der Boden unter seinen Füßen schien zu kippen, und er stürzte in die Dunkelheit hinein.
In Tyrsis erreichte der lange, schreckliche Kampf zwischen erdgebundenen Sterblichen und Geisterwesen mit schockierender Plötzlichkeit seinen Höhepunkt. Tief im felsverkrusteten Inneren begann die Erde zu grollen, und die Druckwellen breiteten sich in gleichmäßigen, bedrohlichen Stößen aus. Auf den niedrigen Hügeln östlich von Tyrsis mühten sich die Elfen-Reiter verzweifelt, ihre scheuenden Pferde zu beruhigen, und Flick Ohmsford starrte verwirrt ins Leere, als das Land ringsum sich aufzubäumen begann. Auf der Innenmauer wehrte die riesige, unbezwingbare Gestalt Balinors einen Ansturm nach dem anderen ab, als die Nordland-Armee vergeblich versuchte, die Verteidigungslinie zu durchbrechen, und mehrere Minuten lang blieben die Erdstöße im allgemeinen Getümmel unbemerkt. Auf der Brücke von Sendic hielten die vo rrückenden Trolle an und schauten sich unsicher um, als das Grollen immer lauter wurde. Menion Leah zuckte zusammen, als lange Risse im Boden auftauchten, und die Verteidiger der Brücke machten sich bereit zur Flucht. Die starken Vibrationen nahmen zu und steigerten sich mit erschreckender Gewalt zu einer gigantischen Folge krachender Stöße, die Erde und Gestein in Bewegung brachten. Der Wind stürzte sich mit ungeheurer Wut auf das Land und zerstreute die Elfen-Armee, die Tyrsis entgegenstürmte. Von Culhaven im Anar bis zu den fernsten Winkeln des riesigen Westlandes heulte der Sturmwind. Riesige Bäume wurden umgerissen, ganze Felsformationen donnerten herab und zerfielen zu kleinerem Gestein, als die ungeheure Kraft von Wind und Erdbeben die vier Länder erfasste. Der Himmel war von undurchdringlichem Schwarz - sonnenlos und leer, so, als sei der Himmel mit einem einzigen breiten Pinselstrich ausgelöscht worden. Riesige, gezackte Blitzstrahlen von finsterem Rot zuckten durch die Dunkelheit und umspannten den Himmel von Horizont zu Horizont in einem unfassbaren Geflecht elektrischer Energie. Es war das Ende der Welt. Es war das Ende allen Lebens. Der Untergang, der seit Anbeginn des gesprochenen Wortes prophezeit war, stand bevor.
Aber einen Augenblick später war es vorbei; schlagartig herrschte allumfassende Stille. Sie lastete über allem, bis aus der undurchdringlichen Schwärze klagende Schreie drangen, die bald zu gellendem, qualvollem Gebrüll auswuchsen. In Tyrsis war der Kampf zum Erliegen gekommen. Die Männer aus Nord und Süd verfolgten entsetzt, wie die Schädelträger gleich gestaltlosen Gespenstern zum Himmel aufschwebten, geschüttelt von unaussprechlicher Todesqual, sich verrenkend und kreischend. Sie hingen für Augenblicke über den Menschen, die vor Angst wie gelähmt waren. Dann zerfielen die geflügelten Wesen, ihre schwarzen Körper lösten sich in Asche auf. Sekunden später war nichts geblieben als die ungeheure, leere Schwärze, die sich mit gewaltiger Geschwindigkeit zu bewegen begann, in Richtung Norden davon fegend, sich zusammenziehend. Blauer Himmel tauchte auf, zuerst im Süden, dann im Osten und Westen, die Sonne überstrahlte das Land mit blendender Helligkeit. Staunend sahen die Sterblichen, wie die Schwärze sich zu einer einzelnen dunklen Wolke im Norden zusammenzog, regungslos über dem Horizont schwebte und dann in der Erde versank, um für immer zu verschwinden.
Die Zeit verrann, und Shea schwebte besinnungslos in einer riesigen, schwarzen Leere.
»Ich glaube nicht, dass er es überlebt hat.«
Eine Stimme drang von irgendwo weit her in sein Inneres. Seine Hände und sein Gesicht spürten plötzlich kaltes, glattes Gestein an der warmen Haut.
»Wartet, seine Augen zucken. Ich glaube, er kommt zu sich.«
Panamon Creel. Shea öffnete die Augen und sah sich auf dem Boden der kleinen Zelle liegen. An der Mauer flackerte eine Fackel und verbreitete trübes Licht. Er war wieder er selbst. Eine Hand umklammerte noch das Schwert von Shannara, doch die Kraft des Talismans hatte ihn verlassen, das seltsame Band, das sie für kurze Zeit zusammengehalten hatte, war zerrissen. Er schob sich mühsam auf Hände und Knie, aber ein tiefes, drohendes Grollen erschütterte den Boden, und er stürzte wieder hin. Kräftige Hände griffen nach ihm und verhinderten, dass er sich verletzte.
»Langsam, langsam, nur ruhig«, sagte Panamon Creel an seinem Ohr. »Lass dich ansehen. Komm, schau mich an.« Er drehte den kleinen Talbewohner herum, und ihre Blicke begegneten sich. In den Augen des Diebes flackerte ganz kurz ein wenig Angst auf, dann lächelte er. »Er ist in Ordnung, Keltset. Und jetzt weg von hier.« Er zog Shea hoch und ging mit ihm zur Tür. Keltset war schon auf dem Weg. Shea machte ein paar unsichere Schritte und blieb stehen. Irgend etwas hielt ihn zurück.
»Ich bin in Ordnung«, murmelte er.
Dann fiel ihm plötzlich alles ein - die Macht des Schwertes, durch seinen Körper flutend, seine inneren Visionen von der Wahrheit über sich selbst, der furchtbare Kampf gegen den Dämonen-Lord, der Tod Orl Fanes ... Er schrie auf.
Panamon Creel griff instinktiv nach ihm und drückte ihn an sich.
»Es ist gut, Shea, alles ist vorbei. Du hast es geschafft - du hast gesiegt. Der Dämonen-Lord ist vernichtet. Aber der ganze Berg scheint auseinanderfallen zu wollen. Wir müssen von hier weg, bevor über uns alles zusammenkracht.«
Das Grollen war immer stärker geworden, und von der Höhlendecke fielen Gesteinsbrocken herunter. Risse tauchten im Boden auf, alles schien zu schwanken. Shea sah Panamon an und nickte.
»Dir geschieht nichts«, sagte Panamon. »Ich bringe dich hinaus. Keine Sorge.«
Schnell liefen die drei Männer hinaus in den Korridor. Der Felstunnel wand sich durch das Innere der Messerkante, die unebenen Wände waren von Rissen durchzogen. Immer größere Spalten taten sich auf, als das Grollen zunahm und die Wände zu zerfallen begannen. Der Berg bäumte sich auf. Die Erde drohte aufzuklaffen und den Berg zu verschlingen, geschüttelt von den donnernden Stößen, die aus dem Erdinnern heraufdrangen. Shea und seine beiden Begleiter eilten durch zahllose kleine Gänge und Kammern, ohne einen Ausgang zu finden. Mehrmals wurde der eine oder andere von herabstürzendem Geröll niedergerissen, aber sie vermochten sich immer wieder zu befreien. Große Felsblöcke stürzten krachend vor ihnen herab und versperrten den Weg, aber Keltset wälzte sie mit seiner ungeheuren Kraft beiseite. Shea verlor jedes Gefühl dafür, was mit ihnen geschah. Eine sonderbare Schwäche überfiel ihn, drückte ihn nieder und nahm ihm die letzte Energie. Als er glaubte, nicht mehr weiterzukommen, stützte ihn Panamon und half ihm über die Hindernisse hinweg.
Sie hatten ein besonders schmales Stück des Tunnels erreicht, der scharf nach rechts abknickte, als ein besonders heftiges, krampfhaftes Beben den sterbenden Berg schüttelte. Die ganze Tunneldecke klaffte auseinander und sackte herab. Panamon schrie verzweifelt auf und riss Shea vor sich nieder, bemüht, ihn mit seinem eigenen Körper zu decken. Keltset war augenblicklich zur Stelle und stemmte sich mit den riesigen Schultern gegen die Tonnenlast. Staub stieg in erstickenden Wolken auf. Panamon Creel zog den Talbewohner hoch und schob ihn an der sich gegen die Felsdecke stemmenden Gestalt des Riesen-Trolls vorbei. Shea hob den Kopf, als er über das Geröll kletterte, und die sanften Augen Keltsets erwiderten seinen Blick. Die Decke sank noch ein Stück herab, und Keltsets Gigantengestalt stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Shea zögerte, aber Panamon packte ihn an der Schulter und zerrte ihn mit sich, hinaus durch die Biegung in einen breiteren Gang. Sie sanken auf einem Hügel von Felsbrocken und Staub zusammen und rangen nach Luft. Sie konnten Keltset sehen, der immer noch die zerbröckelnde Felsdecke mit seinen Schultern trug. Panarnon wollte aufstehen und in den Korridor zurücklaufen, aber ein mächtiges Knirschen ging durch das Berginnere, die Felsmassen malmten und kreischten, und der ganze Tunnel hinter ihnen stürzte donnernd ein. Tonnen von Gestein krachten herunter, der Weg hinter Panamon und Shea war verschüttet. Shea brüllte auf und warf sich gegen die Felsbarriere, aber Panamon riss ihn zurück.
»Er ist tot. Wir können ihm nicht mehr helfen.«
Shea starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Los - weg hier!« schrie der Dieb zornig. »Willst du, dass er umsonst gestorben ist? Los, sage ich!«
Er stieß Shea vor sich her durch den noch offenen Teil des Tunnels. Das dumpfe Grollen setzte sich fort, der ganze Berg vi brierte, und eine Reihe heftiger, rasch hintereinander folgender Erdstöße schleuderte die beiden Männer beinahe zu Boden. Sie wankten weiter. Shea lief wie ein Blinder, die Augen von Staub und Tränen verklebt. Es wurde immer schwerer, etwas zu sehen, und er blinzelte und kniff die Augen zusammen. Panamons keuchende Atemzüge rasselten an seinem Ohr, und er spürte im Rücken den eisernen Haken des Armstumpfes, der ihn vorwärtstrieb. Felssplitter fielen von Wänden und Decken und regneten auf seinen ungeschützten Körper herab, verletzten ihn und zerfetzten die Kleidung. Mit beiden Händen umklammerte er das leuchtende Schwert, das ihm jetzt nicht mehr von Nutzen war, außer als Beweis dafür, dass das, was sich zugetragen hatte, nicht die Ausgeburt einer Fieberphantasie war.
Schlagartig hatte der Tunnel im grauen Licht des Nordland-Himmels ein Ende, und sie hatten den Berg hinter sich. Vor ihnen lagen die Leichen der Trolle und Muten. Ohne anzuhalten, hetzten die beiden Männer zur Mündung des gewundenen Passes, der die Messerkante durchschnitt. Die steinharte Erde bebte und schwankte mit ungeheurer Heftigkeit, lange Risse zogen sich herüber vom Fuß des Schädelberges und reichten weiter zum Ring natürlicher Hindernisse um das verbotene Land. Ein plötzliches Krachen und Knirschen, lauter als alles andere vorher, ließ die beiden Fliehenden herumfahren. Sprachlos sahen sie, wie das hagere Gesicht des Totenschädels zusammensackte und auseinanderbrach. Alles schien gleichzeitig zu bersten, und das Zeichen des Dämonen-Lords verschwand, als Tausende Tonnen Gesteins zusammenstürzten; der Totenschädel-Berg hörte auf zu existieren. Eine riesige Wolke gelben Staubes stieg himmelwärts, ein ungeheurer, dröhnender Laut entrang sich dem Inneren der Erde und hallte durch die riesige Leere des Nordlandes. Tobende Winde fegten über die Reste des sterbenden Berges, und das Grollen in der Erde steigerte sich erneut. Entsetzt sah Shea, wie die ganze Messerkante unter der Wucht dieser neuen Regung zu erbeben begann.
Panamon rannte bereits wie ein Gehetzter zum Pass, den betäubten Shea mit sich ziehend, aber diesmal brauchte der Talbewohner keinen Stachel; er flog dahin, wie von Furien gehetzt. Aus einem letzten Reservoir von Mut und Entschlossenheit holte er sich die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, und Panamon Creel entdeckte plötzlich verblüfft, dass er alle Mühe hatte, mit Shea Schritt zu halten. Als sie den Pass erreichten, begannen Teile der hochragenden Messerkante auseinander zubrechen und herabzustürzen, unter Knirschen und Donnern, das die Trommelfelle schier zu zerreißen drohte, während die Erde unablässig weiterbebte. Riesige Felsblöcke stürzten mit vernichtender Wucht in die Schluchten, und eine unübersehbare Gerölllawine rutschte von den Gipfeln herab, mit jeder Sekunde an Masse und Geschwindigkeit zunehmend. Mitten durch diesen Weltuntergang hetzten und sprangen die beiden Südländer - der zerlumpte Shea, halb ein Elf, halb ein Mensch, der sein altes Schwert trug, und der einarmige Dieb. Die Wut des Sturmwindes erfasste auch sie und trieb sie noch schneller durch den Hagel aus Steinen und Staub. An Biegungen und Winkeln huschten sie vorbei, und sie wussten, dass sie sich dem anderen Ende der Schlucht näherten, wo das offene Vorgebirge begann. Shea nahm plötzlich wahr, dass sein Sehvermögen wieder nachließ, und er taumelte unsicher dahin, während er sich wütend die Augen rieb.
Plötzlich schien die ganze Westseite der Schlucht auseinander zubersten und auf die beiden Männer herabzustürzen, um sie unter Fels- und Erdmassen zu begraben. Etwas Scharfes traf Sheas Hinterkopf, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor den Augen. Er lag halb begraben unter Geröll, bemüht, wenigstens einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen. Dann schaufelte Panamon ihn frei, hob ihn auf und hielt ihn aufrecht. Durch einen grauen Nebel sah Shea Blut auf dem Gesicht seines Begleiters. Er richtete sich auf und stützte sich auf das Schwert von Shannara.
Panamons Hand wies auf den Pass hinter ihnen. Sheas Blick glitt an ihm vorbei. Entsetzt sah er ein missgestaltetes, schwankendes Wesen aus dem Staubsturm auf sie zutaumeln. Ein Muten! Das formlose Gesicht, gebildet wie aus einem künstlichen Stoff, wandte sich ihnen zu, und das Ungeheuer tappte vorwärts. Panamon sah Shea an und lächelte grimmig.
»Er ist uns von drüben gefolgt. Ich dachte, wir könnten ihn hier abschütteln, aber er gibt nicht auf.« Er stand langs am auf und zog sein Breitschwert heraus.
»Lauf weiter, Shea. Ich komme bald nach.«
Shea glotzte ihn an und schüttelte stumm den Kopf. Er glaubte, sich verhört zu haben.
»Wir können ihn abschütteln«, stieß er hervor. »Wir sind ohnehin schon fast über den Pass. Dort können wir uns beide auf ihn stürzen.«
Panamon schüttelte den Kopf und lächelte traurig.
»Diesmal nicht, fürchte ich. Ich habe mich am Bein verletzt. Ich kann nicht mehr laufen.« Er schüttelte den Kopf, als Shea etwas sagen wollte. »Ich will nichts hören, Shea. Lauf - und bleib nicht stehen!«
Shea liefen die Tränen übers Gesicht.
»Das kann ich nicht!«
Das ganze Gebirge erbebte in den Grundfesten und warf Panamon und Shea zu Boden. Felsklötze stürzten von den zerbröckelnden Wänden herab. Der Muten stapfte hirnlos auf sie zu, unbeeindruckt von den Erdstößen. Panamon raffte sich mühsam auf und zog Shea hinter sich her.
»Der ganze Pass bricht zusammen«, sagte er. »Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Ich kann für mich selbst sorgen - wie früher, bevor ich dich oder Keltset traf. Ich will, dass du läufst - bring den Pass hinter dich!« Er legte die Hand auf die schmale Schulter des Talbewohners und schob ihn weg. Shea trat ein paar Schritte zurück und zögerte, hob das Schwert von Shannara beinahe drohend. Panamon Creels Gesicht zeigte Überraschung, dann grinste er und funkelte Shea an.
»Wir treffen uns wieder, Shea Ohmsford. Warte, bis ich komme.« Er winkte mit dem Haken und wandte sich dem Muten zu. Shea starrte ihm nach. Seine Augen mussten ihn täuschen - es sah so aus, als hinke der scharlachrote Dieb gar nicht. Dann grollten die Erdstöße wieder durch das ganze Gebirge, und Shea hetzte zu den Vorbergen. Durch lockeres Geröll und Erde taumelnd und springend, hinwegsetzend über alle Hindernisse, die von den Höhen der Messerkante herabstürzten, lief er weiter - allein.