Shea sank wortlos neben seinem Bruder zusammen, und sie kauerten beide in der Dunkelheit. Sie konnten das Wesen hören, das Scharren wurde mit jeder Sekunde lauter, und sie waren gewiß, daß sie Balinors Warnung zu spät beachtet hatten.
Sie warteten, wagten nicht zu sprechen, kaum zu atmen, während sie lauschten. Shea wäre am liebsten davongelaufen, hin- und hergerissen von dem Wissen, daß das Ding dort draußen ihn töten würde, wenn es ihn fand, und von der Befürchtung, erkannt und eingefangen zu werden, wenn er sich bewegte. Flick kauerte neben ihm, zitternd im kalten Nachtwind, der die Vorhänge bauschte.
Plötzlich hörten sie einen Hund heftig bellen, immer wieder, bevor er in einer Mischung aus Angst und Haß heiser zu knurren begann. Vorsichtig schoben die Brüder die Köpfe über das Fensterbrett und starrten hinaus. Das Wesen mit dem Schädelzeichen stand geduckt drei, vier Meter vor einem großen Wolfshund, der den Eindringling mit geblecktem Gebiß anknurrte. Die beiden Erscheinungen standen einander in den nächtlichen Schatten gegenüber, das Wesen atmete gleichmäßig rasselnd und langsam, und der Hund knurrte und schnappte, halb geduckt vorwärtsrückend. Dann sprang der große Wolfshund mit zornigem Fauchen das Wesen an und versuchte den schwarzen Kopf zu fassen, aber er wurde in der Luft plötzlich von einem klauenartigen Glied erfaßt, das unter dem sich wölbenden Mantel hervorschnellte, die Kehle des Tieres erwischte und es leblos auf den Boden schleuderte. Das geschah in einem einzigen Augenblick, und die Brüder waren so entgeistert, daß sie beinahe vergaßen, sich wieder zu ducken, um nicht gesehen zu werden. Sekunden später hörten sie wieder das seltsame Scharren, als das Wesen sich an der Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes entlangschleppte — aber das Geräusch wurde leiser und schien sich vom Gasthof zu entfernen.
Lange Minuten vergingen, während die Brüder atemlos im dunklen Zimmer warteten und froren. Die Nacht ringsum wurde still, und sie lauschten angestrengt. Schließlich raffte Shea genug Mut zusammen, um wieder über den Rand der Brüstung in die Dunkelheit zu blicken. Flick wollte in seiner Angst zum nächsten Ausgang springen, aber ein paar geflüsterte Worte Sheas versicherten ihm, daß die Kreatur verschwunden war. Er glitt vom Fenster zu seinem Bett zurück, erstarrte aber, als er sah, daß Shea sich im Dunkeln hastig anzog.
Er wollte etwas sagen, doch Shea legte den Finger an die Lippen. Flick kleidete sich auf der Stelle ebenfalls an. Als sie beide fertig waren, neigte sich Shea zu seinem Bruder und flüsterte ihm ins Ohr: »Solange wir hierbleiben, sind alle hier in Gefahr. Wir müssen heute noch fort — auf der Stelle! Bist du wirklich entschlossen, mitzugehen?«
Flick nickte mit Nachdruck.
»Wir gehen in die Küche und packen etwas zu essen ein«, setzte Shea hinzu. »Nur so viel, daß wir ein paar Tage damit auskommen. Ich hinterlasse Vater einen Brief.«
Wortlos griff Shea nach seinem Bündel und verschwand lautlos im dunklen Flur, der zur Küche führte. Flick folgte ihm hastig. Im Korridor konnte man nichts sehen, und sie brauchten einige Minuten, um sich an den Wänden entlang zur breiten Küchentür vorzutasten. In der Küche zündete Shea eine Kerze an und deutete auf die Vorratsschränke, während er auf einem kleinen Blatt Papier eine Nachricht für seinen Vater kritzelte und es unter einen Krug schob. Flick war in wenigen Minuten fertig und kam zu seinem Bruder zurück, der die kleine Kerze löschte und zur Hintertür ging, wo er noch einmal stehenblieb und sich umdrehte.
»Sprich kein Wort, sobald wir draußen sind! Bleib immer hinter mir!«
Flick nickte, aber nun durfte nicht mehr gezögert werden.
Shea öffnete die Holztür und blickte angestrengt hinaus in den mondbeschienenen Hinterhof, der von Baumgruppen umgeben war. Er winkte Flick, und sie traten vorsichtig hinaus in die kühle Nachtluft. Sie schlössen leise die Tür hinter sich. Im Freien war es heller, und ein schneller Blick zeigte, daß niemand zu sehen war. Bis zur Morgendämmerung mochten es nur noch Stunden sein. Die Brüder lauschten, und als auch nichts zu hören war, ging Shea voraus durch den Hof.
Sie verschwanden in den Schatten einer Hecke. Flick warf einen letzten, wehmütigen Blick auf das Heim, das er vielleicht nie wiedersehen würde.
Shea suchte sich lautlos den Weg zwischen den Häusern des Dorfes. Er wußte, daß der Schädelzeichenträger nicht genau wußte, wer und wo er war, sonst hätte er ihn im Gasthof gefaßt. Aber man konnte davon ausgehen, daß das Wesen ihn im Tal vermutete und deshalb in den schlafenden Ort eingedrungen war, um nach dem verschwundenen Nachkommen des Hauses Shannara zu suchen. Shea mußte sogar davon ausgehen, daß es mehrere von diesen Wesen gab und sie wahrscheinlich das ganze Tal überwachten. Flick und er würden die Vorteile von Heimlichkeit und Verstohlenheit nützen müssen, um das Tal und die nähere Umgebung im Lauf des folgenden Tages hinter sich zu lassen. Das verlangte schnelles Tempo mit wenigen Stunden Schlaf, aber noch größer war das Problem, wohin sie sich wenden sollten. Sie hatten Nahrung nur für einige Tage dabei, und eine Reise zum Anar würde Wochen dauern. Das Land außerhalb des Tales war den Brüdern nicht vertraut, wenn man von ein paar sehr belebten Straßen und mehreren Orten absah. Gerade dort würden aber die Träger der Schädelzeichen sicher aufpassen.
Shea überlegte gründlich. Westlich des Tales war, abgesehen von einigen Dörfern, freie Landschaft, und wenn sie sich dorthin wandten, entfernten sie sich vom Anar. Gingen sie nach Süden, würden sie schließlich die vergleichsweise annehmbare Sicherheit der größeren Südlandstädte Pia und Zolomach erreichen, wo sie Freunde und Verwandte hatten.
Aber das war der nächstliegende Weg für sie, den Schädelzeichenträgern zu entkommen, und bot sich deshalb auch diesen an, besonders scharf überwacht zu werden. Überdies war die Landschaft jenseits der Duln-Wälder offen und allzu übersichtlich.
Sie bot wenig Deckung. Der Weg zu den Städten war weit. Nördlich des Tales gab es eine große Fläche mit dem Rappahalladran-Fluß, dem riesigen Regenbogen-See und unbesiedeltem Land, das schließlich zum Reich Callahorn führte. Die Wesen mußten auf ihrem Weg vom Norden dort durchgekommen sein. Sie kannten die Gegend gewiß besser als die Brüder und würden sie im Auge behalten, wenn sie vermuteten, daß Balinor von Tyrsis aus nach Shady Vale gekommen war.
Der Anar lag nordöstlich vom Tal, über endlose Meilen der rauhesten, gefährlichsten Landschaft im ganzen weiten Südland.
Dieser direkte Weg war der gefährlichste, aber auch der, auf dem die feindlichen Späher ihn am wenigsten erwarten würden. Er wand sich durch düstere Wälder, tückisches Tiefland und verborgene Sümpfe, die jedes Jahr das Leben unvorsichtiger Reisender forderten. Aber östlich der Duln-Wälder lag noch etwas, wovon nicht einmal die Späher etwas wissen konnten — die Sicherheit des Hochlands von Leah. Dort konnten die Brüder um die Hilfe Menion Leahs, Sheas engem Freund, bitten; er war trotz Flicks Meinung die einzige Person, die in der Lage sein mochte, sie durch die gefährlichen Gegenden zum Anar zu führen. Shea schien das die einzige vernünftige Alternative zu sein.
Die Brüder erreichten den südöstlichen Rand des Ortes und blieben lautlos an einem alten Schuppen stehen, mit den Rücken an der rauhen Bretterwand. Shea sicherte wachsam nach vorn. Er hatte keine Ahnung, wo das rasselnde Wesen inzwischen sein mochte. Im dunstigen Mondlicht der verblassenden Nacht war alles noch verschwommen. Irgendwo links von ihnen bellten ein paar Hunde wild, und in den Fenstern naher Häuser wurden Scheiben hell, als schläfrige Bewohner neugierig in die Dunkelheit blickten. Der Morgen würde schon in einer Stunde anbrechen, und Shea wußte, dass sie Entdeckung riskieren und zum Rand des Tales und dem schützenden Duln-Wald laufen mußten. Waren sie noch im Tal, wenn es hell würde, würde das Wesen sie die Hügelhänge hinaufsteigen sehen und ihnen nachsetzen.
Shea schlug Flick auf den Rücken und nickte, dann begann er loszutraben, hinein in die dichten Wäldchen und Gebüsche des Talbodens. Die Nacht ringsum war still, bis auf die dumpfen Geräusche ihrer Füße im hohen Gras, das taunaß war. Belaubte Zweige schnellten ihnen entgegen, während sie liefen, und klatschten ihnen feucht ins Gesicht. Sie hasteten auf die sanften, strauchbewachsenen Osthänge des Tales zu, sprangen um die dicken Eichen und Hickorys herum, hüpften über Früchte und Äste, die unter den weitgespreizten Baumkronen, am Boden lagen. Sie erreichten den Hang und hetzten über die freien Wiesen, so schnell ihre Beine sie trugen, ohne umzuschauen oder auch nur zur Seite ins Dunkel zu blicken, nur nach vorn auf den Boden, der unter ihnen dahinflog und im Tal verschwand. Sie rutschten auf dem feuchten Gras häufig aus, gelangten aber bald zum Talrand, wo sie die hohen Talwände im Osten vor sich hatten, die mit formlosen Steinblöcken und spärlichem Gebüsch besetzt waren und eine große Barriere vor der Welt dahinter bildeten.
Shea war körperlich in ausgezeichneter Verfassung und flog über dem unebenen Boden dahin, behende zwischen Strauchwerk und kleinen Felsblöcken, die ihm den Weg versperren wollten, Haken schlagend. Flick folgte ihm unermüdlich, und seine kräftigen Beinmuskeln hatten mächtig zu arbeiten, damit er, der der Schwerere war, mit der leichtfüßigen Gestalt vor ihm Schritt halten konnte. Nur ein einziges Mal riskierte Flick einen kurzen Blick nach hinten, und seine Augen nahmen ein verschwommenes Bild ineinander verschlungener Baumwipfel wahr, die sich nun über dem jetzt verborgenen Ort erhoben und als scharf umrissene Silhouetten vor dem verblassenden Licht der nächtlichen Sterne und dem umwölkten Mond standen. Er sah Shea vor sich herlaufen, der offenbar bestrebt war, den kleinen Wald in einer Meile Entfernung zu erreichen. Flicks Beine begannen zu ermüden, aber seine Furcht vor dem Wesen, das irgendwo hinter ihnen sein mußte, ließ keine Verschnaufpause zu. Er fragte sich, was ihnen bevorstünde, nachdem sie nun Flüchtlinge aus der einzigen Heimat, die sie gekannt hatten, waren, verfolgt von einem unfaßbar bösartigen Feind, der ihr Leben auslöschen würde wie die Flamme zweier kleiner Kerzen, wenn er sie erwischen würde. Zum erstenmal seit Allanons Weggang wünschte sich Flick inbrünstig, der rätselhafte Wanderer möge wieder auftauchen.
Die Minuten verrannen schnell, und der kleine Wald rückte näher, während die Brüder keuchend weiterliefen. Kein Laut drang an ihre Ohren, nichts bewegte sich in der Landschaft vor ihnen. Es war, als seien sie die einzigen Lebewesen in einer riesigen Arena, über der die wachsamen Sterne funkelten.
Der Himmel wurde heller, als die Nacht sich zögernd verabschiedete, und die gigantische Illumination am Firmament fing an zu verblassen in der Morgendämmerung. Die Brüder liefen weiter, unbeirrt von allem, unter dem Gesetz der Notwendigkeit, schneller zu werden- um nicht vom alles entblößenden Licht des Sonnenaufgangs eingeholt zu werden, der nur noch Minuten auf sich warten ließ.
Als die beiden endlich den Wald erreichten, sanken sie keuchend auf den mit Zweigen übersäten Boden unter hohen Hickorybäumen nieder, heftiges Pochen in Ohren und Brust.
Sie lagen einige Minuten regungslos da und atmeten schwer in die Stille hinein. Dann raffte Shea sich mühsam auf und schaute ins Tal hinunter. Weder auf dem Talboden noch in der Luft regte sich etwas; die Brüder schienen es geschafft zu haben, hierher zu gelangen, ohne entdeckt zu werden. Aber das Tal hatten sie noch nicht hinter sich. Shea zerrte Flick hoch, zog ihn mit durch die Bäume, den steilen Hang hinauf.
Flick ließ es stumm mit sich geschehen, nur noch bestrebt, seine nachlassende Willenskraft darauf zu konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Der Osthang war schroff und gefährlich, seine Oberfläche ein Gewirr von Felsblöcken, umgestürzten Bäumen und stachligen Büschen, das den Aufstieg unendlich mühsam werden ließ. Shea überwand die Hindernisse, so schnell er konnte, während Flick seinen Fußstapfen folgte. Die Sterne am Himmel verschwanden ganz. Vor Shea und Flick, über dem Talrand, sandte die Sonne ihr erstes schwaches Leuchten in orangeroten und gelben Streifen in den Himmel, an dem die verschwommenen Konturen des fernen Horizonts sich abzeichneten. Shea begann nun auch zu erlahmen, und sein Atem ging in kurzen Stößen, während er voranstolperte.
Flick zwang sich dazu weiterzukriechen, mit zerkratzten und abgeschürften Händen und Unterarmen, die ihre Verletzungen scharf randigen Sträuchern und Felsblöcken verdankten.
Der Aufstieg schien endlos zu sein. Sie bewegten sich im Schneckentempo über das rauhe Gelände, und allein die Angst, entdeckt zu werden, trieb sie weiter.
Als sie drei Viertel des steilen Weges hinter sich hatten, stieß Flick einen Warnschrei aus und stürzte keuchend auf den Boden. Shea fuhr angstvoll herum und sah augenblicklich das riesige schwarze Objekt, das sich langsam aus dem nun schon fernen Tal erhob — wie ein gigantischer Vogel in die Morgendüsternis aufsteigend, in weiten Spiralen. Shea warf sich zu Boden, bedeutete seinem Bruder, in Deckung zu kriechen, und betete darum, daß das Wesen sie nicht gesehen haben möge. Regungslos lagen sie am Berghang, während der unheimliche Träger des Totenschädels höherstieg, Kreise ziehend, näher kommend. Das Wesen stieß plötzlich einen gräßlichen Schrei aus und nahm den Brüdern die letzte schwache Hoffnung auf ein Entkommen. Sie waren erfaßt von demselben unerklärlichen Entsetzen, das Flick gelähmt hatte, als er mit Allanon zusammen im Buschwerk unter dem riesigen schwarzen Schatten gekauert war. Nur gab es diesmal kein Versteck. Ihre Furcht schwoll rasch zur beginnenden Hysterie an, als das Wesen direkt auf sie zuschwebte, und in diesem kurzen Augenblick waren sie gewiß, sterben zu müssen.
Im nächsten Moment aber beschrieb der schwarze Jäger einen weiten Bogen und glitt nach Norden davon, bis er ihren Blicken entschwunden war.
Die Brüder lagen da wie erstarrt, endlose Minuten in den steinigen Boden mit seinem dürftigen Bewuchs gekrallt. Sie befürchteten, das Wesen könne umkehren und sie töten, sobald sie sich bewegten. Aber als die grausige Furcht verebbte, standen sie schwankend auf und stiegen stumm und erschöpft weiter den Berg hinauf. Der Weg zum Grat war nur noch kurz, dann eilten sie über eine offene Wiese zum Duln-Wald, der Schutz bot. Binnen Minuten waren sie zwischen den Bäumen untergetaucht, und die aufgehende Morgensonne sah das Land bis hinunter zum Talboden still und leer.
Die jungen Männer verlangsamten den Schritt, und Flick, der immer noch nicht wußte, wohin sie gingen, rief Shea zu:
»Warum diesen Weg?« Seine Stimme klang nach dem langen Schweigen seltsam in seinen Ohren. »Wohin gehen wir eigentlich?«
»Zum Anar — wie Allanon es uns gesagt hat. Die beste Aussicht haben wir in der Richtung, wo uns die Schädel träger am wenigsten erwarten. Wir gehen also nach Osten zu den „Schwarzen Eichen“ und von dort nach Norden, immer in der Hoffnung, daß wir unterwegs Hilfe finden.«
»Warte!« sagte Flick scharf. »Du meinst, wir gehen nach Osten durch Leah und hoffen, daß Menion uns helfen kann.
Hast du den Verstand ganz verloren? Warum ergeben wir uns nicht einfach diesem Wesen? Dann ginge es wenigstens schneller!«
Shea hob die Hände und wandte sich seinem Bruder zu.
»Wir haben keine andere Wahl. Menion Leah ist der einzige, an den wir uns wenden können. Er kennt das Land außerhalb von Leah. Vielleicht weiß er einen Weg durch die Schwarzen Eichen.«
»O gewiß«, sagte Flick düster. »Hast du vergessen, daß wir uns beim letztenmal dort verirrt haben? Ich traue ihm nicht weiter, als ich ihn werfen kann, und wahrscheinlich kann ich ihn nicht einmal hochheben.«
»Wir haben keine andere Wahl«, wiederholte Shea. »Du hättest nicht mitzukommen brauchen, weißt du.« Er wandte sich ab. »Entschuldige, Flick, aber wir müssen das nach meiner Weise machen.« Er ging weiter, und Flick folgte ihm kopfschüttelnd. Flick wußte, daß er voreingenommen war, was Menion Leah anging. Er mißbilligte ihn und alles, wofür er stand — schon seit ihrer ersten Begegnung vor fünf Jahren.
Der einzige Sohn einer Familie, die seit Jahrhunderten das kleine Hochland-Königreich beherrschte, hatte Menion sein ganzes Leben lang einen tollen Streich nach dem anderen geliefert. Er hatte nie arbeiten müssen und war entweder beim Jagen oder beim Raufen zu finden gewesen. Seine Einstellung war beunruhigend. Nichts an seiner Familie, seiner Heimat oder seinem Land schien ihm viel zu bedeuten. Der Hochländer ging durchs Leben wie eine Wolke durch den leeren Himmel, ohne etwas zu berühren, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es war diese unbekümmerte Haltung dem Leben gegenüber, die ihnen vor einem Jahr in den Schwarzen Eichen beinahe den Tod gebracht hätte. Shea fühlte sich aber trotzdem von ihm angezogen, und auf seine leichtfertige Art schien der Hochlandbewohner die Zuneigung ehrlich zu erwidern.
Flick war jedoch nie davon zu überzeugen gewesen, daß man sich auf diese Freundschaft verlassen konnte, und nun gedachte Shea ihr Leben einem Manne anzuvertrauen, der von jedem Verantwortungsgefühl frei zu sein schien.
Es war später Nachmittag, als die beiden endlich die Ufer des breiten Rappahalladran erreichten. Shea ging am Fluß voraus, etwa eine Meile weit, bis sie eine Stelle erreichten, wo das gegenüberliegende Ufer heranrückte und das Flußbett merklich enger wurde. Hier blieben sie stehen und blickten hinüber zum Wald. Die Sonne würde in einer guten Stunde untergehen, und Shea wollte die Nacht nicht auf dem diesseitigen Ufer zubringen. Er fühlte sich erst sicher, wenn das Wasser zwischen ihm und etwaigen Verfolgern lag. Sie machten sich daran, ein kleines Floß zu bauen und nahmen ihre Handäxte und Jagdmesser zu Hilfe. Es sollte nur dazu dienen, ihre Bündel und die Kleidung zu tragen. Ein Floß von solcher Größe zu bauen, daß es sie selbst getragen hätte, hätte zuviel Zeit erfordert. Sie würden schwimmen müssen. Nach einer Stunde waren sie fertig, zogen sich aus, befestigten ihre Sachen auf dem Floß und stiegen in das kalte Wasser des Rappahalladran.
Das einzige Problem bestand darin, einen geeigneten Landeplatz am hohen Ufer gegenüber zu finden. Die Strömung riß sie fast eine halbe Meile mit, aber als sie endlich drüben angelangt waren, sahen sie sich vor einer schmalen Öffnung, wo sie leicht anlegen konnten. Sie stiegen aus dem kalten Wasser, fröstelnd in der Abendluft, zerrten das Floß heraus, trockneten sich ab und zogen sich wieder an. Die Sonne war schon hinter den hohen Bäumen verschwunden.
Ein rotes Leuchten erfüllte den Himmel.
Die Brüder einigten sich darauf, einige Stunden zu schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen und die Reise nachts fortsetzen zu können. Sie rollten sich unter einer großen Ulme in ihre Decken und schliefen schnell ein. Erst gegen Mitternacht weckte Shea Flick mit leichtem Rütteln. Sie packten schnell ihre Sachen und machten sich daran, den Weg fortzusetzen. Einmal glaubte Shea am anderen Ufer etwas umherschleichen zu hören und warnte Flick erschrocken. Sie lauschten lange Minuten schweigend, konnten aber in der Schwärze der riesigen Bäume nichts erkennen und kamen zu dem Schluß, daß Shea sich getäuscht haben mußte.
Sie marschierten die ganze Nacht, bemüht, sich östlich zu halten, auch wenn sie nicht viel sehen konnten. Der Blick auf die Sterne war von einem wirren Geflecht dicker Äste und starker Belaubung verdeckt. Als sie endlich anhielten, hatten sie den Duln-Wald noch immer nicht hinter sich und wussten nicht, wie weit sie noch laufen mußten, bis sie die Grenzen von Leah erreichten. Shea war erleichtert darüber, wenigstens die Sonne unmittelbar vor ihnen aufgehen zu sehen; sie waren also nicht von der Richtung abgekommen. Zwischen hohen Ulmen fanden sie eine kleine Lichtung, auf drei Seiten von dichtem Gebüsch begrenzt. Sie warfen ihre Traglasten ab und fielen nach wenigen Sekunden in einen tiefen Schlaf, von ihren Anstrengungen völlig erschöpft. Es war später Nachmittag, als sie wieder erwachten und ihre Vorbereitungen für den Nachtmarsch trafen. Sie wagten kein Feuer anzuzünden und begnügten sich damit, getrocknetes Rindfleisch und rohes Gemüse zu kauen, ein wenig Obst zu essen und Wasser zu trinken. Flick kam wieder auf ihr Ziel zu sprechen.
»Shea«, sagte er vorsichtig, »ich will nicht störrisch sein, aber bist du sicher, daß das die beste Lösung ist? Ich meine, selbst wenn Menion uns helfen will, könnten wir uns sehr leicht in den Sümpfen und Bergen verirren, die hinter den Schwarzen Eichen liegen.«
Shea nickte langsam und zuckte schließlich die Achseln.
»Entweder so, oder weiter nach Norden gehen, wo es weniger Deckung gibt und selbst Menion das Gelände nicht mehr kennt. Glaubst du, das wäre besser?«
»Wahrscheinlich nicht«, gab Flick zu. »Aber ich denke immer an das, was uns Allanon gesagt hat — daß wir keinen einweihen sollen, keinem trauen dürfen. Das hat er immer wieder betont.«
»Fang damit nicht wieder an.« brauste Shea auf. »Allanon ist nicht hier, und die Entscheidung liegt bei mir. Ich sehe nicht, wie wir die Anar-Wälder erreichen können, wenn Menion uns nicht beisteht. Außerdem ist er immer ein guter Freund gewesen; dazu kommt, daß er einer der besten Schwertkämpfer ist, die ich kenne. Wir brauchen seine Erfahrung, falls es zu einem Entscheidungskampf kommen sollte.«
»Dazu kommt es bestimmt, wenn er dabei ist«, sagte Flick spitz. »Außerdem — was für eine Chance haben wir gegen ein Wesen wie dieses? Es würde uns zerreißen!«
»Sei nicht so pessimistisch«, meinte Shea. »Noch sind wir am Leben. Vergiß nicht — die Elfensteine schützen uns.«
Flick war von diesem Argument nicht überzeugt, hielt es aber für angebracht, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen.
Er mußte zugeben, daß Menion Leah im Kampf ein wertvoller Bundesgenosse war, aber Shea schien den Prinzen trotzdem nicht objektiv genug zu sehen. Leah war eine der wenigen noch bestehenden Monarchien im Südland, und Shea trat entschieden für eine dezentralisierte Regierungsform ein, sprach sich gegen absolute Macht aus. Trotzdem hatte er Freundschaft mit dem Thronerben Leahs geschlossen, was Flick für inkonsequent hielt.
Sie beendeten schweigend die Mahlzeit, während sich die ersten Abendschatten zu erheben begannen. Die Sonne war längst verschwunden, und ihre sanften goldenen Strahlen waren dunkelrot geworden. Die Brüder packten hastig ihre Habseligkeiten ein und begannen im verblassenden Tageslicht den Marsch nach Osten. Der Wald war ungewöhnlich still, selbst für den frühen Abend, und die Brüder schritten in vorsichtigem Schweigen durch den dunklen Wald, während der Mond als ferner Lampion auftauchte und nur in Abständen zwischen den Baumwipfeln erschien. Ab und zu blieben sie in der Dunkelheit stehen und lauschten in die tiefe Stille hinein; dann, als sie nichts hörten, setzten sie ihren Weg wieder rasch fort und suchten nach einer Öffnung im Wald, die auf das Hochland hinausführte. Flick verabscheute die lastende Stille und pfiff einmal leise vor sich hin, aber eine warnende Handbewegung Sheas brachte ihn wieder zum Schweigen.
In den frühen Morgenstunden erreichten die Brüder endlich den Rand des Duln-Waldes und traten hinaus in das buschbewachsene Grasland, das sich meilenweit bis zum Hochland Leahs erstreckte. Die Sonne würde noch auf sich warten lassen, also marschierten sie weiter nach Osten. Die beiden verspürten große Erleichterung darüber, den Duln-Wald hinter sich zu haben. In der Deckung des Waldes mochten sie verborgener gewesen sein, aber im freien Grasland war andererseits auch von ihnen jede Gefahr eher zu erkennen.
Sie sprachen sogar leise miteinander. Vor dem Sonnenaufgang erreichten sie ein kleines, gebüschüberwuchertes Tal, wo sie aßen und sich ausruhten. Sie konnten im Osten schon das Hochland von Leah sehen, noch eine Tagesreise entfernt. Shea schätzte, daß sie ihr Ziel erreichen konnten, bevor die Sonne das zweitemal aufging, wenn sie zügig weiterwanderten. Danach würde alles von Menion Leah abhängen.
Mit diesem Gedanken schlief er ein, Flick tat das gleiche.
Nach Minuten waren sie aber beide wieder wach. Es lag ; nicht an einem Geräusch, das sie aufgeschreckt hätte, sondern an der Totenstille, die sich drohend über das Grasland legte.
Augenblicklich spürten sie die Gegenwart eines anderen Wesens.
Das Gefühl erfaßte sie gleichzeitig, und sie fuhren hoch, ohne ein Wort zu sagen, die gezogenen Dolche in den Händen.
Nichts regte sich. Shea winkte seinem Bruder und kroch den buschbewachsenen Hang hinauf, um einen Überblick zu gewinnen. Sie lagen bewegungslos im Gesträuch und starrten in die Düsternis des frühen Morgens. Daß irgendwo etwas lauerte, stand für sie außer Frage. Sie kannten das Gefühl — vom Fenster ihrer Schlafstube her. Nun warteten sie, wagten kaum zu atmen und fragten sich, ob das Wesen sie endlich entdeckt haben mochte.
Dann erhob sich mit einem plötzlichen Fauchen von Wind und Laub die schwarze Erscheinung des Totenschädelträgers aus den Büschen weitab links von ihnen. Die undeutliche Masse schien aufzusteigen und schwer über der Erde zu hängen, als vermöge sie sich nicht zu bewegen. Die Brüder preßten sich an den Boden und warteten darauf, daß das Wesen sich bewegen möge. Wie es sie so weit hatte verfolgen können, war ihnen ein Rätsel. Vielleicht war es auch nur blinder Zufall, der sie hier alle wieder zusammengeführt hatte, aber es blieb dabei, daß die Talbewohner Gejagte waren und um ihr Leben fürchten mußten. Das Wesen hing noch eine Zeit regungslos am Himmel, dann griffen die großen Schwingen langsam aus, und es näherte sich ihrem Versteck. Flick ächzte halblaut und versuchte sich in den Boden zu graben, das Gesicht aschfahl, die Hand um Sheas schlanken Arm geklammert.
Aber bevor das Wesen sie erreichte, sank es in eine kleine Baumgruppe hinab, noch mehrere hundert Meter entfernt, und blieb für einige Zeit unsichtbar. Die Brüder starrten verzweifelt in die Düsternis.
»Jetzt«, zischte Shea. »Das Ding kann uns nicht sehen. Lauf zu der Gebüschreihe dort!«
Flick ließ sich das nicht zweimal sagen. Sobald das Ungeheuer das Wäldchen abgesucht hatte, würde es auf ihr Versteck zukommen. Er hetzte durch das nasse Gras und schaute immer wieder um, aus Furcht, das Wesen könne plötzlich aus dem Hain auftauchen und ihn entdecken. Hinter ihm lief Shea tief gebückt durch die Wiese. Sie erreichten das Gebüsch — und dann fiel Shea ein, daß sie ihre Sachen vergessen hatten — die Bündel, die jetzt am Boden des kleinen Tales lagen. Das Wesen konnte sie nicht übersehen, und dann würde die Jagd vorbei sein, da kein Zweifel mehr darüber best; and, in welche Richtung sich die Gejagten gewandt hatten. Sheas Mut sank.
Wie konnten sie nur so kurzsichtig gewesen sein? Er packte verzweifelt Flicks Schulter, aber sein Bruder hatte schon begriffen und sank resigniert auf den Boden. Shea wußte, daß er zurückgehen mußte, selbst auf die Gefahr hin, gesehen zu werden. Aber als er sich in Bewegung setzen wollte, tauchte die schwarze Erscheinung wieder auf und hing regungslos am heller werdenden Himmel. Die Chance war vertan.
Wieder rettete sie das Licht. Als der Totenschädelträger lautlos über die Landschaft schwebte, stieg die goldene Sonnenscheibe über die Hügelbäume im Osten herauf und sandte die ersten Vorboten des nahenden Tages über Himmel und Land. Die Sonnenstrahlen streiften das Nachtwesen, und als es sah, daß seine Zeit um war, stieg es plötzlich in den Himmel hinauf und zog weite Kreise über der Landschaft. Es stieß seinen Schrei aus, so daß für einen Augenblick alles zu erstarren schien, dann flog es schnell nach Norden davon. Augenblicke später war es verschwunden, und zwei dankbare, fassungslose Talbewohner umarmten einander glücklich.