Die Mauern der großen Stadt waren nicht mehr zu sehen, und auf den Wiesen und Weiden rings um Ostend hatte sich Dunkelheit breit gemacht, als die drei Reisenden eine Rast einlegten und ihr Lager aufschlugen. Sie hatten die Stadt durch das Osttor am Hafen verlassen.
Ostend war eine geschäftige Hafenstadt, die es auch schon in den Tagen der Völkerkriege während des Zweiten Zeitalters gegeben hatte. Obwohl sie ursprünglich als ein Zentrum für Kunst und Kultur am Schnittpunkt der Handelsrouten geplant und als solches jüngst auch restauriert worden war, hatte sie der Kriege wegen schließlich doch den Charakter einer Festung angenommen. So wurde sie auf drei Seiten von hohen, mächtigen Mauern umgeben, die zum Hafen hinunterführten. Der rege Verkehr, der dort herrschte, war den dreien auf ihrer Flucht gelegen gekommen.
Rhapsody kannte sich in diesem Stadtviertel recht gut aus und war selbst nicht gerade langsam auf den Beinen, hatte aber dem Tempo, das die beiden vorlegten, nur mit Mühe folgen können und sich immer wieder antreiben lassen müssen.
Doch nachdem die drei, schon jenseits der Gefahr, eingeholt zu werden, eine Abkürzung durch zwei verlassene Häuser genommen hatten, hatte sie plötzlich die Orientierung verloren. Der kleinere Mann hielt vor einer Hafenkneipe an, in der es turbulent zuzugehen schien.
»Die kommen uns gerade recht«, sagte er und stahl zwei Pferde.
Der Riese hob Rhapsody auf eins der Pferde und führte es um die nächsten Straßenecke herum, ehe er selbst aufstieg. Auch der andere schwang sich in den Sattel. Schnell ritten sie zur Stadt hinaus, über die Felder im Süden und am Strand entlang.
Rhapsody hörte das Pferd schnaufen, das an dem Riesen und ihr seine Last hatte. Von dem Riesen, der hinter ihr im selben Sattel saß und die Zügel in der Hand hielt, spürte sie nicht mehr als ein leichtes Reiben. Die Schwingungen des galoppierenden Pferdes überdeckten, dass sie zitterte.
Sie ritten den ganzen Nachmittag lang. Rhapsody war vorher noch nie über den Südwall hinaus gekommen und warf jetzt sehnsüchtige Blicke zurück auf die große graue Silhouette aus Lehmhütten, marmornen Tempelruinen, altersschwachen Steinhäusern und hoch aufragenden Türmen, die sich mehr und mehr in der Ferne verloren. Als es dämmerte, war von der hohen, gewundenen Mauer, die zum Hafen führte, nichts mehr zu sehen. Vom Hafen selbst konnte sie nur noch ein paar funkelnde Lichter erkennen.
Obwohl so weit der Stadt entflohen, drückten die beiden Männer weiter aufs Tempo, und auch als es Nacht wurde, gönnten sie sich und den Pferden nur wenig Zeit zum Verschnaufen. Rhapsody wusste nicht zu sagen: Verdankte sie den beiden, wie anfangs geglaubt, ihre Rettung, oder musste sie womöglich fürchten, von ihnen entführt zu werden?
Sie fürchtete schon um die Pferde, die in der Dunkelheit den Boden nicht sehen konnten, als die beiden Männer unvermittelt anhielten. Finstere Nacht umgab sie.
»Absitzen«, tönte eine Stimme wie aus der Luft.
Ehe sie darauf reagieren konnte, zog der kleinere Mann sie aus dem Sattel, nachdem er selbst zu Boden gesprungen war und dem anderen die Zügel zugeworfen hatte.
»Grunthor, lass die Pferde laufen.« Der maskierte Mann verschwand in der Nacht.
Rhapsody hatte ihn sofort aus den Augen verloren und wandte sich dem Riesen zu, der im Dunkeln noch riesiger wirkte. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück und langte nach dem Messer, das im Ärmel steckte.
Grunthor achtete nicht auf sie. Er stieg aus den Sattel, knotete die Zügel des einen, dann die des anderen Pferdes zusammen.
»Ab mit euch!«, sagte er, doch die Tiere waren so erschöpft, dass sie sich nicht mehr von der Stelle rühren mochten. Genau damit schien der Riese gerechnet zu haben. Er nahm seinen Helm vom Kopf und baute sich unmittelbar vor den Pferden auf, breitete die Arme aus und ließ ein donnerndes Grollen vernehmen.
Zuerst waren die Tiere wie gelähmt, dann aber schreckten sie auf und stoben in panischer Angst und wiehernd davon.
Daraufhin setzte Grunthor den Helm wieder auf, wandte sich Rhapsody zu und fing angesichts ihrer entgeisterten Miene lauthals an zu lachen.
»Bist wohl schwer beeindruckt, Schätzchen, was? Komm mit!« Er drehte sich um und ging davon. Rhapsody zögerte, folgte ihm dann aber, weil sie sich dachte, dass es nicht besonders klug wäre, den Riesen zu verärgern. Hinterher hastend, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. »Wohin geht’s? Laufen wir jetzt die ganze Strecke zu Fuß weiter?«
»Ach was. Wir warn heute lang genug unterwegs.«
Ein voller Mond war am Horizont aufgetaucht und stieg aus der Nebelbank, die über dem Meer lag. Mit seinem mattgoldenen Licht kam er aber nicht gegen die undurchdringliche Dunkelheit der Nacht an. Auf ihr Auge konnte sich Rhapsody nicht mehr verlassen; jetzt halfen nur noch Ohr und Tastsinn. Der Riese aber, dem sie folgte, schien sehen zu können, wohin er seine Füße setzte. Zielsicher führte er sie an eine Stelle, wo ein kleines Feuer brannte, in das sie fast hineingetreten wäre, hätte er sie nicht davon abgehalten.
Das Lager war schon bereitet. Ob sie das Feuer nicht gesehen hatte, weil ihr der Riese die Sicht darauf versperrt hatte oder weil es so gut versteckt war, wusste sie nicht zu sagen.
Grunthor rückte an die Windseite des Feuers, nahm den Helm ab und holte tief Luft, ehe er auf dem Boden Platz nahm. Rhapsody stellte sich auf die andere Seite, wo sie zwar seinen Blicken ausgesetzt war, aber immerhin das Feuer schützend vor sich hatte. Dafür nahm sie auch den Rauch in Kauf, der ihr ins Gesicht wehte.
Die Flammen boten ihr ausreichend Licht, um den Riesen in Augenschein zu nehmen. Der war, obwohl er saß, mit ihr, die stand, auf gleicher Höhe und wirkte so massig und breit wie ein Brauereipferd.
Unter seinem schweren Soldatenmantel sah sie einen Teil der Rüstung schimmern, die einen fremdländischen und kostbaren Eindruck auf sie machte. Sie schien aus geschupptem Reptilienleder zu bestehen und wurde von Metallspangen zusammengehalten, die so geschickt verarbeitet waren, dass sie keinerlei Geräusche von sich gaben. Auch von den Waffen hatte sie bislang nichts gehört, kein Klirren, kein Kratzen. Dabei trug er eine enorm schwere Axt und mehrere lange Messer, und hinter der Schulter staken etliche Hefte und Schäfte hervor.
Das Gesicht konnte einem noch mehr Angst machen. Zwischen den Lippen trat immer mindestens ein Zahn zum Vorschein, und welche Farbe seine ledrige Haut hatte, war im Schein des Feuers nur schwer zu bestimmen. Augen, Ohren und Nase waren übermäßig groß, weshalb Rhapsody davon ausging, dass er überdurchschnittlich gut sehen, hören und riechen konnte. Die Finger der großen Pranken glichen der langen Nägel wegen gefährlichen Klauen. Überhaupt schien er einem Albtraum entstiegen, so schauderhaft sah er aus.
Er kramte gerade etwas Essbares und eine Art Topf aus seinem Gepäck und würdigte sie immer noch keines Blickes.
»Lass mich raten; du hast zwar schon von Firbolg gehört, aber es ist dir noch nie einer zu Gesicht bekommen. Hab ich Recht?«, tönte die Stimme des anderen unmittelbar hinter ihr.
Sie hatte ihn nicht kommen hören und fuhr erschrocken zusammen. Den Blick über die flackernden Flammen hinweg auf den Riesen gerichtet, sagte sie: »Du bist ein Firbolg? So siehst du gar nicht aus.«
»Was soll das heißen?«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen«, sagte sie errötend. »Zugegeben, meine Erfahrungen sind begrenzt, und ich dachte immer, Firbolg wären regelrechte Ungeheuer.«
»Und ich, beschränkt wie ich bin, dachte immer, ein Lirin könnte allenfalls als Vorspeise taugen«, antwortete Grunthor unbekümmert und ohne jede Boshaftigkeit.
»Es wäre vielleicht ganz gut, wenn ihr eure falschen Annahmen voneinander korrigieren würdet«, schlug der Maskierte vor.
»Allerdings«, sagte Rhapsody, die, obwohl sie schmunzelte, schauderte bei der Vorstellung, dass der Riese nicht etwa scherzte, sondern seine Entgegnung durchaus ernst gemeint hatte.
Der schlanke Mann warf dem Riesen ein paar tote Kaninchen vor die Füße. »Wer bist du eigentlich?«
»Ich heiße Rhapsody. Ich studiere Musik, bin eine Sängerin.«
»Und warum war die Stadtwache hinter dir her?«
»Da ist so ein Schwachkopf, der will, dass ich zu ihm komme, und er hat die Wache auf mich angesetzt, wie’s scheint.«
»Warum will er, dass du zu ihm kommst?«
»Er will sich wohl mit mir amüsieren.«
»Hat dieser Schwachkopf einen Namen?«
»Er nennt sich Michael, Wind des Todes. Aber hinter vorgehaltener Hand geben wir ihm Namen, die noch weniger schmeichelhaft sind.«
Die beiden Männer sahen einander an. Den Blick erneut auf sie gerichtet, fragte der Verhüllte: »Woher kennst du ihn?«
»Er war leider einer meiner Kunden, als ich vor drei Jahren auf den Strich gegangen bin«, antwortete Rhapsody freimütig. »Wer in diesem Gewerbe arbeitet, hat keine große Wahl. Leider bin ich ihm zu Kopf gestiegen, und er hat mir vorausgesagt, dass er nach mir schicken werde. Aber ich dachte, er schneidet bloß auf, und habe mich nicht weiter darum geschert. Das war mein erster Fehler. Der zweite folgte heute, denn ich habe ihm und seinen schmierigen Handlangern, die mich holen sollten, einen Korb gegeben. Seinen gewöhnlichen Dienern hätte ich ohne weiteres entkommen können, aber offenbar hat er es inzwischen irgendwie geschafft, die Stadtwache für seine Zwecke einzuspannen.«
»Warum musstest du ihm einen Korb geben? Du hättest dich doch auch zum Schein auf ihn einlassen und dann heimlich verschwinden können?«
»Das wäre gelogen gewesen.«
»Na und?«, entgegnete der Verhüllte.
»Ich lüge nie. Ich kann gar nicht lügen.«
Grunthor kicherte. »Du hast, wie’s scheint, ein gnädig kurzes Gedächtnis. Ich kann mich jedenfalls noch gut daran erinnern, dass du der Wache gesagt hast, wir warn miteinander verwandt. Ich stell mir ein Familientreffen mit dir vor ... du würdest dich in unserer Runde ziemlich seltsam ausmachen.«
»Nein«, schaltete sich der andere ein und sah sie mit wachen Augen an. »Jetzt verstehe ich, warum du uns vorher gedrängt hast, dich zu adoptieren.«
Rhapsody nickte. »Genau. Mit falschen Ausflüchten hätte ich sie nicht beeindrucken können.«
»Warum nicht?«
»In dem Beruf, den ich gewählt habe, ist es verboten zu lügen. Wer nicht immer die Wahrheit sagt, kann kein Benenner sein, das heißt kein Sänger in Vollendung. Man muss bei allem, was man sagt, darauf achten, dass die Musik immer im Einklang mit der Welt ringsum steht. Eine Lüge stört diesen Einklang und besudelt das Gesagte. Allerdings es ist nicht immer leicht, wahr und falsch exakt auseinander zu halten, denn Wahrheit verschiebt sich häufig mit dem Blickwinkel, den man einnimmt. Nun, das ist der akademische Grund. Es gibt auch noch einen ganz persönlichen: Meine Eltern haben mir eingeschärft, dass Täuschung auf jeden Fall schlecht ist. Und seit meiner Zeit als Hure weiß ich Wahrheit noch sehr viel höher einzuschätzen. In diesem Gewerbe kommt sie kaum vor, als Hure ist man immer irgendeines Freiers Lüge. Man muss sich selbst auf die Zunge beißen und anderer Leute Phantasien bedienen, auch wenn sie einem selbst zuwider sind. Aber davon bin ich zum Glück jetzt frei, und ich will meinen Abscheu vor Michael nicht länger verhehlen müssen. Womöglich wär’s ein Fehler, aber ich konnte nicht anders.«
»Nun, es ist doch niemand zu Schaden gekommen.«
»O doch. Ich habe mir die Möglichkeit verscherzt, in Ostend zu wohnen. Ich fürchte, eine der Wachen auf der Flucht geblendet zu haben, und jetzt gibt’s kein Zurück mehr für mich.«
Der kleinere der beiden lachte. »Aber es hat doch keine Augenzeugen gegeben.«
»Mag sein, dass dich niemand gesehen hat«, antwortete Rhapsody. »Mich aber haben viele gesehen. Sie haben mich durch die halbe Stadt gehetzt.«
»Dann hast du wirklich ein Problem.« Der Verhüllte lehnte sich zurück und folgte mit seinen Blicken dem Rauch, der sich zu den Sternen emporrankte. »Aber du musst ja auch nicht in die Stadt zurückkehren. Oder hast du dort Familie wohnen oder jemand anders, dem du vertrauen könntest?«
Seine Stimme klang so gleichgültig, dass sich Rhapsody wie bei einem Verhör vorkam, wofür sie allerdings keine plausible Erklärung hatte, zumal die beiden bestimmt längst wussten, dass sie völlig harmlos war. Aber die Müdigkeit, die Anstrengungen der Flucht und die Ungewissheit ihrer Lage forderten allmählich ihren Tribut.
Der riesige Firbolg hatte damit angefangen, die Kaninchen zu enthäuten und auszunehmen. Ob ihr etwas von der Mahlzeit angeboten würde, wusste Rhapsody natürlich nicht, aber ihr gruselte bei der Vorstellung, die beiden könnten das Fleisch womöglich roh verzehren. Gleich zu Anfang ihrer Ausbildung zur Sängerin hatte sie eine Ballade über die Geschichte der Firbolg einstudieren müssen, ein schauerliches Lied, durch das ihr Bild von den Riesen geprägt worden war, und Grunthor hatte ihr bislang wenig Anlass gegeben, dieses Bild zu korrigieren.
Die Art und Weise, wie sich die beiden Männer zueinander verhielten, ließ darauf schließen, dass sie schon seit langem zusammen reisten. Routiniert und wie selbstverständlich teilten sie sich ihre Aufgaben. Der schlanke Mann hatte die Kaninchen gejagt; der Riese zog ihnen das Fell über die Ohren. Der eine hatte Brennholz gesammelt für das Feuer, das der andere hütete. Alle Vorbereitungen für das Essen wurden erledigt, ohne dass auch nur ein einziges Wort fallen musste. Derweil schien sie, Rhapsody, für die beiden gar nicht anwesend zu sein. Nur einmal nickte ihr Grunthor zu und winkte mit einem Spieß voll brutzelnder Fleischstücke, doch sie schüttelte den Kopf.
»Nein, danke.«
Ihr genügte ein kleines Stück von dem Brot, das Pilam ihr gegeben hatte; den Rest steckte sie nicht in den Rucksack, sondern in die Tasche ihres Umhangs. Die Gesellschaft der beiden wurde ihr von Minute zu Minute unbehaglicher, und sie wollte, wenn nötig, von jetzt auf gleich aufspringen und davonlaufen können.
Der schlanke Mann hatte gerade zu essen aufgehört, als Rhapsody einen Blick von seinem Gesicht erhaschte. Sie wollte nicht neugierig erscheinen, war aber auf das, was sie sah, so unvorbereitet, dass sie ihre Verwunderung nicht verhehlen konnte.
Das Gesicht trug erkennbar menschliche Züge, war aber voll von tiefen Narben und Wülsten und mit einem fein verästelten Netz von deutlich sichtbaren Adern überzogen. Rhapsody hatte schon viele Gesichter von Kranken gesehen, Gesichter, die entstellt waren vom Alter, von Kriegsverletzungen und anderen Geißeln, doch dieses Gesicht sah aus, als wäre das gesamte Heer der Reiter des Schicksals mit scharfen, stampfenden Hufen darüber hinweggeritten.
Erschreckend waren nicht zuletzt auch die Augen. Sie schienen aus zwei verschiedenen Köpfen herausgepflückt zu sein und passten weder der Größe noch der Farbe oder Form nach zueinander. Außerdem standen sie ein wenig über Kreuz, sodass es den Anschein hatte, als plierte er über die Schneide einer langen Klinge hinweg. Erst jetzt gewahrte Rhapsody, dass er ihren starren Blick erwiderte.
Schnell hatte sie sich wieder gefangen und fragte wie beiläufig, wenngleich merklich überhastet: »Und was ist euer nächstes Ziel?«
»Runter von der Insel.«
Sie schmunzelte. »Kann es sein, dass auch ihr eine wichtige Persönlichkeit gegen euch aufgebracht habt?«
Eine Wolke schob sich vor den Mond. Rhapsody glaubte, eine innere Stimme zu vernehmen, die ihr zur Wachsamkeit riet.
Immer wieder schaute sie über die Flammen hinweg zu dem schlanken Mann, beobachtete ihn beim Kauen und sah den Feuerschein in seinen Augen aufblitzen. Sie stellte sich vor, dass er an ihren Antworten kaute statt auf Kaninchenfleisch, von dem sie jetzt doch gern etwas abbekommen hätte.
Eine Henkersmahlzeit steht schließlich jedem zu, dachte sie reumütig.
Über das Prasseln des Feuers hinweg und durch das Schweigen der Männer hindurch hörte sie in ihrem tiefsten Innern, an den Wurzeln ihrer Bestimmung als Sängerin, jenen ihr ureigenen Nennton erklingen, der ihr Prüfstein für die Wahrheit war, und der sagte ihr, dass sie in eine Falle geraten und einer Täuschung erlegen war. Dann sah sie die dünnen Hände und das verunstaltete Gesicht durch die Flammen auf sich zukommen, und sie wusste, dass es nun kein Entrinnen mehr gab. Sie zwinkerte mit den Lidern, die nicht nur vor Müdigkeit schwer waren. In der Glut des Feuers schwelte rauchend ein ihr unbekanntes Kraut.
Er war sichtlich verärgert, rührte sie aber nicht an. Vielmehr machte er sich über ihr Gepäck her, das neben ihr am Boden lag, und wühlte darin herum.
»Wer bist du?«, verlangte er zu wissen. Seine Stimme war ein heiseres, trockenes Kratzen, und der Umhang rauchte nach dem Sprung durchs Feuer. Er wartete auf eine Antwort.
»He, Finger weg!« Sie wollte aufspringen, begnügte sich dann aber damit, ihre tranceartige Benommenheit abzuschütteln.
Der Riese erhob sich. »An deiner Stelle war ich jetzt schön brav, Herzchen. Er hat dich was gefragt.«
»Darauf habe ich doch schon geantwortet. Ich bin Rhapsody. Und jetzt nimm deine Hände aus meinen Sachen, sonst geht noch was kaputt.«
»Ich mache nichts kaputt, es sei denn absichtlich. Also, ich frage noch einmal: Wer bist du?«
»War ich mir doch sicher, schon beim ersten Mal richtig geantwortet zu haben. Nun denn, versuch ich’s halt noch einmal. Rhapsody. Habe ich etwa vorher einen anderen Namen genannt?« Ihr schwirrte der Kopf. Sie wusste wirklich nicht mehr, was sie sagte. »Was habt ihr da ins Feuer getan?«
»Da kommen gleich deine Haare rein. Woher wusstest du, wer ich bin?« Er packte sie bei ihrem verletzten Arm und drückte so fest zu, dass sich das Blut in ihrer Hand staute. Ihre Muskeln fingen krampfhaft zu zucken an. Mit jedem Herzschlag ging ein scharfer Schmerz an der gequetschten Stelle einher.
Rhapsody rührte sich nicht. Sie konnte einiges aushalten und hatte gelernt, dass es oft lebensnotwendig war, Schmerzen und Angst zu verheimlichen.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Keine Ahnung, wer du bist. Lass mich los.«
»Du hast mich in der Gasse vor den Wachen bei meinem Namen genannt.«
Die Finger waren ihr schon taub geworden, doch Rhapsody blieb ruhig und beherrscht. Meine Herren, Sie kommen gerade zur rechten Zeit, um Bekanntschaft mit meinem Bruder zu machen. Bruder, darf ich vorstellen: Das sind die Büttel der Stadt. Meine Herren, das ist mein Bruder. Achmed, die Schlange. Obwohl ganz benommen, wurde sie verlegen.
»Ich habe dringend Hilfe gebraucht, und du warst zufällig zur Stelle«, antwortete sie. »Es war der erste Name, der mir in den Sinn kam, aber wenn ich’s mir im Nachhinein so recht überlege ... nun ja, es tut mir Leid. Ich wollte nicht aufschneiden.«
»Er meint was anderes«, sagte Grunthor. »Woher weißt du, dass er der Bruder ist?«
»Wessen Bruder?«
Rhapsody fürchtete, ohnmächtig zu werden. Mit jedem Wort, das sie sagte, schien der Schmerz, den er ihr zufügte, noch zuzunehmen. Plötzlich aber lockerte er den Griff ein wenig und warf dem Partner einen Blick durchs Feuer zu.
Ihr wieder zugewandt, sagte er: »Ich hoffe für dich, dass du nicht auch in Wirklichkeit so dumm bist, wie du tust.«
»Ich verstelle mich nicht. Ich weiß wirklich nicht, was die ganze Fragerei soll. Muss mir dein Name irgendwas bedeuten?«
»Nein.«
»Würdest du mich dann bitte loslassen?«
Grunthor kam und hielt sie gestützt, als der Mann mit dem schauderhaften Gesicht ihren Arm freigab und damit fortfuhr, ihr Gepäck zu durchsuchen.
»Du musst wissen«, sagte Grunthor, »der Trupp, vor dem du Reißaus genommen hast, ist völlig harmlos im Vergleich zu dem, was uns im Nacken sitzt. Die Sache ist ernst, Herzchen. Mein Freund will wissen, woher du weißt, dass er der Bruder ist.«
»Verzeihung, aber wenn das sein Name ist, habe ich nie zuvor von ihm gehört. Ich wollte den Wachen nur weismachen, dass ich eure Schwester bin. Und weil ich nicht lügen wollte, habe ich euch gebeten, mich zu adoptieren. Wir haben uns wohl missverstanden. Wie gesagt, ich halte mich immer an die Wahrheit. Also, glaubt mir oder tötet mich, aber zerbrecht bitte nicht meine Instrumente.«
»Ich schlag hier alles kurz und klein, wenn du mir nicht die ganze Wahrheit sagst. Mag sein, dass du wohlmeinende Eltern hattest. Mag sein, dass du eine Hure gewesen bist und dann ein Gelübde abgelegt hast. Mag sein, dass dir ein alter Knacker nachstellt, weil er seinen Spaß mit dir haben will. Sag mir jetzt, wer du wirklich bist und wieso du mich bei meinem Namen zu nennen wusstest.«
»Verratet mir doch erst einmal, wer ihr seid und was ihr mit mir vorhabt.«
Er musterte sie mit stechendem Blick, zeigte auf den Riesen und sagte: »Das ist Grunthor. Unübersehbar.«
»Du kannst mich aber auch ›Dero untertänigst zu gehorchender Autoritär nennen«, fügte der Koloss mit heiterer Miene hinzu. »So jedenfalls heiß ich bei meinen Truppen.«
Der Scherz zeigte die gewünschte Wirkung. Der verhüllte Mann schmunzelte sichtlich entspannt. »Du hast mich Achmed genannt; belassen wir’s dabei. Dieser Name ist so gut wie jeder andere«, entgegnete er. »Wer ich bin und was wir mit dir vorhaben, wirst du noch früh genug erfahren. Du hast meinen Namen ausgesprochen und ihn dann gegen einen anderen eingetauscht. Das würde mich normalerweise nicht weiter stören, aber unsere Jäger können Tote zum Sprechen bringen und werden nichts unversucht lassen, um mehr über uns zu erfahren. Die toten Idioten haben bestimmt gehört, was du gesagt hast. Wie kommt eine Schlampe wie du eigentlich an so teure Instrumente?«
Rhapsody massierte ihre Schulter und spürte, wie der Schmerz allmählich nachließ. »Ich bin keine Schlampe. Wie schon gesagt, ich studiere Musik und darf mich als Sängerin Lirinscher Folklore bezeichnen, also als Enwr, wie es richtig heißt. Ich will aber noch höher hinaus und mich zu einer Benennerin, einer Canwr, ausbilden lassen. Das ist ein Fach, das nur wenige wählen, bringt aber Fähigkeiten mit sich, die sehr nützlich sind. Vor vier Jahren habe ich mit der Lehre angefangen. Während der ersten drei Jahre war Heiles mein Lehrer, ein renommierter Benenner aus Ostend, der aber seit gut einem Jahr spurlos verschwunden ist. Ich musste meine Studien ganz allein fortsetzen. Just heute Morgen habe ich meine Abschlussarbeit vollendet.«
»Und wozu bist du jetzt in der Lage?«
Rhapsody zuckte mit den Schultern und streckte die Hände dem Feuer entgegen. »Zu allen möglichen Dingen. Sänger kennen sich vor allem in der Folklore aus. Die besteht unter anderem aus alten Sagen oder überlieferten Geschichten. Man kann sich allerdings auch auf bestimmte Fachgebiete spezialisieren, zum Beispiel Kräuterkunde oder Astronomie. Mitunter ist es ein ganzer Zyklus von Liedern, der eine wichtige Geschichte erzählt, die sonst verloren ginge.«
Der Mann, der sich neuerlich Achmed nannte, starrte sie an. »Und mitunter versteht sich deinesgleichen wohl auch auf das Wissen um alte Zauberkräfte.«
Rhapsody schluckte nervös. Dem eigenen Verständnis nach war Folklore eher eine Religion als eine Wissenschaft. Sie beschrieb, auf welche Weise die Mitglieder ihres Volkes und Berufsstandes Wissen und Einfluss aus den Lehren des Lebens bezogen. Weil nach dem Glauben der Lirin das Leben und Gott ein und dasselbe waren, galt die Anwendung der Folklore als eine Form von Gebet, als eine Art Kommunion mit dem Unendlichen. Aber dieses Thema war ihr zu ernst, als dass sie es mit Fremden, geschweige denn mit diesen beiden hätte verhackstücken wollen.
Sie blickte auf und sah in die beängstigend funkelnden Augen, durch die sie sich zu einer Antwort gezwungen wähnte.
»Zugegeben, ja, aber das trifft nur auf besonders erfahrene Sänger und Benenner zu. Und die können auch nur deshalb an den Elementarkräften wie Feuer und Wind teilhaben, weil sie sehr genau darüber Bescheid wissen und sozusagen deren Geschichte kennen. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, dass unsereins immer die Wahrheit sagen muss. Lügen verfälschen die überlieferten Geschichten und machen sie unbrauchbar.«
Der verhüllte Mann steckte die mit Sackleinen umwickelte Harfe in den Sack zurück und zog mit festem Ruck die Kordel zu. »Ich frage dich noch einmal, Sängerin: Wozu bist du imstande?«
Rhapsody zögerte. Der Mann, der anderen als der Bruder bekannt war, hob ihr Gepäck vom Boden auf und balancierte es auf einem Finger über dem Feuer. Offenbar wollte er ihr drohen.
»Zu nichts Besonderem, außer dass ich ziemlich viele Balladen und Lieder singen kann. Und ich kenne Kräuter, die eine betäubende Wirkung haben; aber das wird euch wohl kaum beeindrucken, da ihr in dieser Hinsicht anscheinend selbst bestens bewandert seid. Ich kann unruhige Leute zum Schlafen bringen und den Schlaf derer verlängern, die schon schlafen, was vor allem jungen Eltern nützlich sein kann, die allzu quirlige Kinder haben. Ich kann auch Körper- und Herzschmerzen lindern, kleinere Wunden heilen, Todkranke trösten und ihnen das Sterben erleichtern. Manchmal kann ich auch deren Seelen sehen, wenn sie ins Licht emporsteigen. Ich verstehe mich darauf, mir aus ein paar Stichwörtern, die man mir zuruft, eine unterhaltsame Geschichte zurechtzureimen. Ich weiß, was wahr ist, und kann, indem ich die Wahrheit ausspreche, Dinge verändern.«
Rhapsody ließ sich ihr Gepäck reichen, langte hinein und zog eine verwelkte Blume zum Vorschein. Vorsichtig, die trockenen Blütenblätter schonend, legte sie die Blume auf die geöffnete Handfläche und sprach von ihr, als stünde sie in voller Pracht.
Langsam, aber unwiderstehlich sog die Blume neues Leben ein und blühte auf. Grunthor berührte sie mit einer seiner Krallen, und sie federte so elastisch wie ein frisches Gewächs. Als Rhapsody zu sprechen aufhörte, erstarb die Blume wieder.
»Theoretisch könnte ich ein ganzes Feld solcher Blumen verwelken lassen, wenn ich denn ihren Untergang beschwören würde; aber dazu müsste ich den Namen ihres Todes kennen. So erkläre ich mir auch, was uns heute Nachmittag passiert ist. Ich habe zufällig deinen wahren Namen ausgesprochen – wofür ich mich recht herzlich entschuldige, aber ich hab’s wirklich nicht absichtlich getan. Daraufhin habe ich dich umbenannt, sodass du jetzt tatsächlich Achmed die Schlange bist, ja, auch deinem Wesen nach. Tut mir Leid, wenn ich mir zu viel herausgenommen habe. Mir war nicht bewusst, dass ich zu so etwas nun schon in der Lage bin. Du bist also mein erster Erfolgsfall.«
»Das nennt man dann wohl Ironie«, sagte der Mann, den sie Achmed getauft hatte, und verzog das Gesicht. »Fragt sich, an wie viele Männer du schon dieselben Worte gerichtet hast.«
»An einen nur«, antwortete sie ohne eine Spur von Beleidigung in ihrer Stimme. »Auch wenn’s mir langsam lästig wird, wiederhole ich: Ich lüge nicht, jedenfalls nicht wissentlich.«
»Sei nicht naiv. Es gibt niemanden, der nicht hin und wieder lügen würde. Wir werden sehen, ob uns dein amüsanter Trick hilft oder die Zeit, die uns noch bleibt, verkürzt.«
»Willst du mir nicht wenigstens verraten, vor wem ihr davonlauft? Ich habe euch alles über mich erzählt und bin jetzt hier – wer weiß wo – gestrandet, ohne zu wissen, wer ihr seid, wohin ihr wollt und ob ich womöglich vom Regen in die Traufe geraten bin. Mir wäre wohler, ich wüsste, ob ich bei euch bleiben oder nicht doch lieber zu den Stadtwachen zurückkehren soll.«
»Glaubst du etwa, frei wählen zu können?« Achmed kehrte ihr den Rücken zu und beriet sich leise mit Grunthor. Allmählich lichtete sich der betäubende Nebel aus dem Rauch des Feuers und sie dachte an Flucht. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, zu entkommen und einen Ort zu finden, an dem sie überleben konnte. Als sie sich daranmachte, ihre Sachen zusammenzupacken, kam Grunthor auf sie zu. Sie blickte auf und bemerkte, dass der andere Mann verschwunden war.
»Herzchen, du solltest mit uns kommen.«
»Warum? Wohin?«
»In Ostend würdest du dem Tod in die Arme laufen – oder aber mit unserem speziellen Problem Bekanntschaft machen. Und dann wird es dir nich helfen, zu sagen, dass du mit uns nichts zu schaffen hattest. Man wird dich foltern, bis du auspackst, was du weißt, oder den Geist aufgibst, je nachdem.«
»Ich könnte eine andere Stadt aufsuchen. Versteckmöglichkeiten gibt es mehr als genug. Besten Dank, ich komme ganz gut allein zurecht.«
»Wie du meinst, Herzchen, Hauptsache, du gehst weg von hier.«
»Wo ist der andere hin?«
»Achmed? Ich glaub, er sucht die Umgebung ab, um sicher zu gehn, dass uns Michael nich auf den Fersen ist.«
Rhapsody sperrte vor Schreck die Augen auf. »Michael? Der ist hinter uns her?«
»Schwer zu sagen; möglich ist’s. Als wir die Stadt verlassen ham, hat er vor der Mauer im Nordwesten kampiert. Wo er wahrscheinlich noch ist, es sei denn, er will was von uns. Aber eigentlich ham wir keine Probleme mit ihm.«
Nervös sah sich Rhapsody im Dunkeln um. »Wohin wollt ihr?«
»Du könntest uns bis zum Wald begleiten, wenn’s recht ist.«
»Zum Lirin-Forst? Dem Zauberwald?«
»Ja, so nennt man ihn wohl.«
»Wolltet ihr nicht die Insel verlassen?«
Der Riese rieb sich das massige Kinn. »O ja, so ist es, glaub mir. Aber vorher gehn wir in den Wald.«
»Was habt ihr da zu suchen?«
»Wir sind auf einer Art Pilgerfahrt, Herzchen, und wollen den Großen Baum sehn.«
Rhapsody staunte. »Die Sagia? Ihr geht zur Sagia?«
»Ja, wir wollen dem Großen Baum der Lirin unseren Respekt erweisen.«
Ihr Blick verriet Skepsis. »Ihr wollt ihm doch wohl hoffentlich nichts antun? Das wäre ein schwerer Fehler.«
Grunthor gab sich beleidigt. »Wo denkst du hin?«, sagte er. »Wir wollen vor dem Baum in uns gehn und beten.«
»Ja dann ...«, sagte Rhapsody erleichtert und schulterte ihr Gepäck. »Ich begleite euch. Bis zum Wald.«
»Wie weit schaffst du’s heute noch, was meinst du, Herzchen?«
»So weit wie nötig.«
»Dann bist du besser dran als ich oder mein Freund. Wir wollen uns jetzt ausruhn und unser Nachtquartier aufschlagen. Gönn dir doch auch ein bisschen Schlaf. Wir wecken dich dann rechtzeitig.«
»Sind wir denn hier in Sicherheit? Vor Michael, meine ich natürlich.«
Der Riese zeigte sich amüsiert. »0 ja, vor dem sind wir sicher. Keine Angst.«
»Ich könnte euch bei der Wache ablösen«, bot Rhapsody an. »Ich habe einen Dolch.«
Aus dem dunklen Hintergrund meldete sich Achmeds Stimme. »Gut zu wissen. Dass du uns beschützt, Rhapsody, wird mich sehr viel ruhiger schlafen lassen. Aber verschon doch bitte alle kleineren Tierchen, die uns anzugreifen versuchen, es sei denn, sie lassen sich essen.«
In seiner zwischen den Ausläufern des Hochlandes versteckten stillen, dunklen Obsidian-Grotte schlug der menschliche Wirt des F’dor seine rot geränderten Augen auf.
Die Kette war zerrissen.
Langsam richtete sich Tsoltan auf dem blank polierten Katafalk auf, der ihm als Ruhestatt diente. Er fuhr mit den Händen durch die Dunkelheit und tastete vergeblich nach den losen Enden des metaphysischen Zaumzeugs, mit dem er seine größte Trophäe unter Kontrolle gehalten hatte, wovon aber jetzt nichts mehr übrig geblieben war.
Der Bruder war ihm entwischt.
In dem Maße, da die Wut des Dämonenpriesters anschwoll, wurde die Luft um ihn herum immer dünner und trockener, bis es den Anschein hatte, als drohte sie zu zerbröseln. Tsoltan stand auf und ging mit zügigen Schritten durch lange Flure zur Tiefen Kammer hin.
In seinem Sog sprühten Funken, die Wandbehänge und Altardecken zum Schwelen brachten, so auch die Talare einiger Priester, die das Pech hatten, ihm in die Quere zu kommen. Seine Knechte rangen nach Luft und erzitterten unter dem Eindruck der schwarzen Flammen, die sie als das erkannten, was sie waren, nämlich ein Vorspiel auf das Drama, mit dem der Dämon Rache üben würde.
Wütend stieg er die rot geäderten Marmorstufen zum Hochaltar hinauf, dem Ort der Blutopfer. Der während des Zweiten Zeitalters in den Nordbergen bei Nain abgebaute große Block aus Obsidian war ehedem Grundstein eines Tempels gewesen, der von den vereinten Völkern erbaut worden und dem lebendigen Allgott geweiht gewesen war.
Jetzt thronte dieser Stein auf dem Absatz der mächtigen kegelförmigen Marmortreppe, die hoch in den Turm hinaufragte, wohl bis zur unsichtbaren Spitze. Die Gliederfesseln aus Leder und die metallenen Sammelgefäße zeugten auf groteske Weise vom Wandel der Zeiten. Hier schien der wahre Name des Bruders passend aufbewahrt zu sein. In gewissen Kreisen wurde der Dhrakier, der als Bindeglied zum Volk von Serendair bestimmt war, auch Kind des Blutes genannt.
Aus großen Kohleschalen loderten, als er vorübereilte, fauchend schwarze Flammen auf, die gespenstisch zuckende Schatten auf die fernen Wände warfen.
Vor dem Hochaltar angekommen, zögerte Tsoltan einen Moment lang. Dann streckte er den Arm aus, fuhr mit zitternden Fingern über die in den blanken Steinen eingemeißelten Symbole des Hasses und ertastete die tiefen Rillen am oberen Rand, die spiralförmig auf den Messingbrunnen in der Mitte zuliefen.
Durch diesen metallenen Mund hatte er die gefangene Mörderseele mit dem Blut ihres eigenen Volkes genährt. Und als es fast keine Dhrakier mehr gab, musste das Blut anderer Unschuldiger herhalten, um die einzigartigen Blutsbande, die der Bruder verkörperte, auch in Gefangenschaft am Leben zu erhalten.
Auf diese Weise hatte Tsoltan den Bruder nicht zuletzt auch in seinen großen Plan einspannen können. Ihn gegen seinen Willen und im Widerspruch zu seinen Treueversprechen auf Dauer zum Diener zu haben wäre ihm, Tsoltan, ein echter Triumph gewesen. Vor der Gefangennahme seines wahren Namens war der Bruder dafür bekannt gewesen, dass er sich als Meuchelmörder seine Aufträge selbst aussuchte. Seine Versklavung hatte diesen Ruf zunichte gemacht. So war er zu Tsoltans schärfster Waffe und zum wichtigsten Vollstrecker des Plans geworden, der kurz vor seiner Erfüllung stand. Die Hände des F’dor hielten nun den Rand des Altartisches umklammert. Er murmelte die Eingangsworte in der toten Sprache der Vorzeit, perverse Parolen der Macht, verknüpft mit der Geburt des Feuers, jenem Element, dem er und seinesgleichen entsprungen waren. Der schwarze Steinaltar glühte rot auf, als hätte sich in seinem Inneren ein Feuer entzündet, das den gläsernen Stein zum Schmelzen brachte. Mit einem scharfen Zischlaut zersprang der Altar in zwei Teile. Tsoltan griff in die Kluft und langte in einen kleinen Hohlraum, den Reliquienschrein, in dem der Name des Bruders steckte. Jener Augenblick, in dem er den Namen zum ersten Mal darin eingeschlossen hatte, war dem F’dor noch lebhaft in Erinnerung; er konnte sich keiner Tat entsinnen, die ihn tiefer befriedigt hätte.
Mit der Usurpation des Namens war eine lange, aufwändige Suche erfolgreich zu Ende gegangen. Nach monatelanger Folter, die mit ungemein einfallsreichen Mitteln vollzogen worden war, hatte der größte Benenner von ganz Serendair dazu gebracht werden können, den gesuchten Namen niederzuschreiben, und zwar als Noten auf einer Schriftrolle aus uralter Seide. Tsoltan hatte dem Gefolterten die Schriftrolle höchstpersönlich aus der erstarrten Hand gezogen und sie liebevoll mit einer wirbelnden Sphäre umgeben, die, aus Feuerlicht geboren, als Schutzkraft diente und durch die Erdumdrehung an Ort und Stelle gehalten wurde. Es war ein so zauberhaftes Gebilde, viel zu schön, um es im Altar wegzuschließen – eine Notwendigkeit, die ihn so sehr betrübte, wie ihn die Aneignung glücklich gemacht hatte.
Aber unvergleichlich größer war die Trauer, die er jetzt empfand, da der Schrein keine Strahlenkugel mehr enthielt, keine Schriftrolle, nur noch Fetzen von Seide wie die Überbleibsel einer kleinen Explosion. Hastig sammelte Tsoltan die Reste zusammen und suchte darauf nach Spuren der Noten, doch davon war nichts mehr zu sehen.
Sein Wutgeheul dröhnte durch die Tiefe Kammer und hallte klirrend von den schwarzgläsernen Wänden wider. Tsoltans Diener fürchteten, gerufen zu werden. Wenig später schlug ihre Furcht in schieren Schrecken um. Sie spürten Finsternis über sich hereinbrechen, so kalt und klamm, als legte sich ein Nebelschleier auf ihre Schultern.
Tsoltan rief die Shing zu sich.