Es dauerte eine Weile, bis die Worte des Alten in ihr Bewusstsein vorgedrungen waren und sich dort festsetzten. Flüchtlinge, die ihre Heimat, die Insel Serendair, verlassen mussten, um nicht mit ihr unterzugehen.
Ein Gefühl tiefer Ruhe senkte sich über sie, wie immer, wenn sich Augenblicke größter Gefahr oder Panik ankündigten. Sie gab sich alle Mühe, keine Miene zu verziehen, obwohl das Blut in ihren Schläfen rauschte, der Magen sich verkrampfte und ihre Knie weich wurden.
Sie griff zur Karte und nahm sie mit zu dem Sessel, in dem sie zuvor Platz genommen hatte, setzte sich wieder, legte das Schwert in seiner Scheide über die Schenkel und wärmte das plötzlich aschfahl gewordene Gesicht am Kaminfeuer.
»Ich würde gern mehr über die Cymrer erfahren. Aber bitte erklärt mir vorher doch noch, was es mit diesen beiden Ländern auf sich hat«, sagte sie in einem Tonfall, der ihr selbst allzu angestrengt vorkam.
Llauron nahm ihr gegenüber Platz. »Selbstverständlich.«
Mit wachem Blick konzentrierte sie sich auf das gelb markierte Gebiet im Süden der Provinz Avonderre. Es war, wie es den Anschein hatte, Teil desselben ungemein großen Waldes und trug den Namen Realmalir. »Was ist das für ein Land?«
Der alte Fürbitter schmunzelte in sich hinein. »Das ist der große Wald von Tyrian, die Heimat der Lirin. Tyrian ist ein alt-cymrisches Wort und bedeutet ›lirinsches Königreiche Es war das Ursprungsland dieses Volkes, und es wohnte dort schon, als die Cymrer an der Küste landeten. Und sie wohnen immer noch dort.«
»Aber das Gebiet gehört nicht zu Roland?«
»Nein. Während des cymrischen Zeitalters waren die Lirin Verbündete der Cymrer, doch mit dem Großen Krieg änderte sich dies.«
»Der Große Krieg?«
Llauron schöpfte tief Luft. »Ich sehe, es ist nicht übertrieben, wenn du sagst, von weither zu kommen. Über welches andere Land möchtest du noch Bescheid wissen?«
Rhapsody zeigte mit matter Hand auf die weiß belassenen Landstriche im Norden von Gwynwald und Roland. »Was ist das?«
»Das ist der Hintervold. Er umfasst alle Gebiete nördlich und östlich des alten Cymrerreiches. Ich habe da ein paar Karten, auf denen Näheres zu sehen ist. Wenn du willst, kannst du einen Blick darauf werfen.«
Ihr wurde zunehmend übel. »Ein anderes Mal vielleicht, vielen Dank. Erzählt mir bitte mehr über die Cymrer.«
Llauron schaute zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. »Nun, das will ich gern tun, aber es ist eine ziemlich lange Geschichte, und ich kenne nur einen kleinen Ausschnitt daraus. Vor sehr langer Zeit machte Gwylliam, der Letzte der Seren-Könige, die Entdeckung, dass das Inselreich, deren rechtmäßiger Herrscher er war, dazu verurteilt war, in Flammen aufzugehen. Aus den alten Handschriften, die ich studiert habe, geht nicht eindeutig hervor, was Gwylliam zu dieser Entdeckung führte. Aber unter den Königen von Serendair gab es viele, die mit Hellsicht gesegnet waren und über großes Wissen verfügten.« Rhapsody fühlte sich wie betäubt. Sie hatte von Gwylliam nie gehört.
»Jahrhunderte zuvor hatte die Insel großen Schaden genommen, als ein Stern vom Himmel ins Meer gestürzt war«, fuhr Llauron fort. »Es kam zu einer gewaltigen Flut, die die Insel zerteilte und zu weiten Teilen überschwemmte. Dass so etwas irgendwann einmal wieder passieren würde, war den Inselbewohnern eine ständige Sorge.«
Rhapsody tat sich schwer damit, durchzuatmen. Sie kannte die Geschichte vom Schlafenden Kind, die Llauron angestimmt hatte.
Ihre Mutter hatte ihr diese lirinsche Legende von den beiden Sternenschwestern Melita und Oelendra erzählt, wie Melita vom Himmel nahe der Küste ins Meer gestürzt war und in den Wellen verschwand, aber immer noch voller unverbrauchter Feuerkraft steckte. Auf den Inseln im Norden von Serendair mit ihren einst schneebedeckten Bergen setzte sich tropisch heißes Klima durch. Das Meer ringsum tobte und wütete und war für die Schifffahrt viel zu gefährlich geworden.
Der Stern auf dem Meeresgrund wurde das Schlafende Kind genannt. Die Lirin glaubten, dass es eines Tages erwachen und wieder aufsteigen würde. Von der Schwester Oelendra hieß es, dass sie aus lauter Verzweiflung gestorben sei, wohl aber über ihren Tod hinaus am Himmel erstrahlte. Rhapsody hatte diese Geschichten immer als Ammenmärchen abgetan.
Wie durch eine Nebelwand drang Llaurons Stimme wieder zu ihr durch. »Gwylliam war, seiner Bestimmung und Ausbildung nach, Architekt, Ingenieur und Schmied. Er weigerte sich, das Schicksal seines Königreiches zu akzeptieren, und beschloss, Mittel und Wege zu finden, um zu schützen, wofür seine königlichen Vorfahren so lange gekämpft hatten. Er schmiedete große Pläne zur Evakuierung der Insel, obwohl manche seiner Untertanen, vor allem ältere Geschlechter wie die der Liringlas, trotz des drohenden Unheils lieber zurückbleiben wollten. Andere zogen es vor, sich an die nahe gelegenen Küsten zu retten, die auf den altbewährten Schifffahrtstraßen zu erreichen waren. Gwylliam aber mochte sich mit keiner dieser Alternativen zufrieden geben. Vielmehr wollte er einen Ort finden, an dem die Seren ihre Kultur in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit weiterhin würden pflegen können, eine Zuflucht für sein Volk, auf dass es dort eine neue Zukunft für sich aufbaute. Zu diesem Zweck beauftragte er einen Seefahrer aus altem serenischem Adel namens Merithyn, auf Entdeckungsfahrt zu gehen. Allein und in einem kleinen Boot stach er in See, um für die Seren einen geeigneten Ort zu finden, an dem sie sich in Sicherheit bringen konnten. Übrigens, lass mich dir den Unterschied zwischen den Seren des Altertums und denen der Neuzeit erklären. Jeder Bürger des seinerzeit modernen Serendair war, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft, ein Seren. Diese Bezeichnung ist dann nach der Emigration durch den Namen Cymrer ersetzt worden. Die alten Seren waren eine ganz besondere Rasse, groß gewachsen und von goldfarbener Haut. Sie wohnten schon auf der Insel, lange bevor sich die Menschen dort niederließen, und in der Zeit, von der ich spreche, waren sie schon nahezu ausgestorben.« Rhapsody, selbst eine Seren, nickte stumm.
»Merithyn erreichte schließlich unsere Küste hier, ein Land, das damals ein undurchdringlicher Urwald war und von einem weiblichen Drachen namens Elynsynos beherrscht wurde. Aber die Geschichte ist viel zu lang, um an einem Abend erzählt zu werden. Wenn du noch eine Weile bei uns bleibst, werde ich mich glücklich schätzen, dir mehr davon zu berichten. Nur so viel noch: Elynsynos fand Gefallen an Merithyn und hatte ein Herz für sein Volk. Und so lud sie es ein, sich in ihrem Reich niederzulassen – das sind die Länder, die du auf dieser Karte grün eingefärbt siehst. Merithyn kehrte mit der frohen Botschaft zurück und führte die Seren hierher. Insgesamt machten sich 876 Schiffe auf die Reise; sie segelten in drei großen Verbänden, die im zeitlichen Abstand zueinander in See stachen und zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten ankamen. Es gab auch etliche, die nie ihr Ziel erreichten. Diejenigen aber, die die Strapazen auf hoher See überlebt hatten, trafen schließlich in der neuen Heimat wieder zusammen, formierten sich zu einer großen Nation und läuteten das Zeitalter der Aufklärung ein. Aber damit ist es nun schon lange vorbei.«
Rhapsody versuchte, Fassung zu bewahren. »Ich habe noch nicht verstanden, warum sie Cymrer genannt werden. Ihr sagtet doch, sie seien aus Serendair.«
Der Fürbitter stand auf, reckte sich und trat vor eine Vitrine, in der ein seltsamer Gegenstand hinter Glas ausgestellt war, der wie ein Stück Fels aussah. Rhapsody folgte ihm und musste an sich halten, um nicht in Hysterie auszubrechen. Er zeigte auf den Stein, in den Schriftzeichen eingemeißelt waren. Sie starrte durch das Glas auf die Worte.
Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land
»Kannst du das lesen, mein liebes Kind?«
Rhapsody nickte. Die Schrift war eine Kombination aus dem, was Llauron als Alt-Cymrisch bezeichnet hatte, also der Sprache, mit der sie groß geworden war, und dem Dialekt der Seeleute und Händler, so wie er in allen Häfen der Welt gesprochen wurde.
»Kommen wir in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben.«
Llauron lächelte anerkennend. »Sehr gut. Dies sind die Worte, die Gwylliam dem Entdecker Merithyn mit auf den Weg gab zur Begrüßung derjenigen, die er in dem zu entdeckenden Land vorfinden würde. Gwylliam übersetzte diesen Satz in die Verkehrssprache der Seefahrer und hoffte, sich so überall verständlich machen zu können. Es waren dann auch die ersten Worte, die Merithyn an Elynsynos richtete und in den Fels ihres Lagers ritzte – mit ihrer Erlaubnis, versteht sich –, als Hinweis für alle, die nach ihm kommen würden. Als die Cymrer an verschiedenen Stellen an Land gingen, ließen sie auf dem Weg, den sie einschlugen, Markierungen zurück und erreichten damit, dass sie sich am Ende wieder trafen und zusammenschließen konnten. Diese historischen Wege werden Cyme-Pfade genannt und waren der Ursprung für den Namen Cymrer. Die Ureinwohner des Landes wie auch die Lirin des Großen Waldes von Tyrian lasen die besagten Worte auf den Markierungstafeln oder hörten sie zur Begrüßung aus dem Mund der Flüchtlinge, die sie daraufhin mit den Namen Cymrer belegten, denn es waren für sie diejenigen, die sich selbst als die Kommenden bezeichneten, was ja ein wenig ähnlich klingt. Cymrer hießen dann auch deren Nachkommen, egal, welcher Rasse oder Klasse sie angehörten, denn sie entstammten alle dem Volk der Versunkenen Insel.«
»Verstehe«, sagte Rhapsody höflich, obwohl sie das Gefühl hatte, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. »Wie lange ist das her?«
»Nun, der große Exodus begann vor rund 1400 Jahren.«
Rhapsody schnappte unwillkürlich nach Luft. »Was?«
Llauron lächelte. »Ja, man mag es kaum für möglich halten, aber hier hat tatsächlich vor 1400 Jahren eine Zivilisation gelebt, der wir bedeutende Einrichtungen und Erfindungen verdanken. Sie waren in mancher Hinsicht weiter entwickelt und auf einem höheren Stand als wir heutzutage. Doch dann kam der Krieg, der dem Cymrischen Zeitalter ein Ende setzte und uns um Jahrhunderte zurückwarf. Ist mit dir alles in Ordnung, liebes Kind? Du siehst so blass aus.«
»Ich... ich bin sehr müde«, antwortete Rhapsody im Flüsterton.
»Natürlich, wie gedankenlos von mir.« Llauron ging zur Tür und rief: »Gwen? Ist das Gästezimmer fertig?«
Die Dienerin ließ nicht lange auf sich warten. »Ja, Euer Gnaden. Das Bett ist gemacht, die Decke aufgeschlagen.«
»Gut, gut«, sagte der Fürbitter, und an Rhapsody gewandt: »Gwen zeigt dir den Weg. Hab eine gute Nacht, und angenehme Ruhe. Du kannst getrost ausschlafen. Das wird dir nach der langen Reise gut tun.«
Rhapsody nickte und verbeugte sich vor Llauron. »Gute Nacht. Und vielen Dank.«
»Keine Ursache. Schlaf gut.« Seine Augen funkelten heiter im Feuerschein, als sie den Raum verließ. Sie folgte Gwen über die Treppe nach oben und musste sich dabei, erschöpft wie sie war, am Geländer hochziehen.
Ihr Zimmer lag am Ende eines langen, gewundenen Flures. Gwen hatte nicht nur die Bettdecke aufgeschlagen, sondern auch ein paar aufgewärmte Ziegelsteine ans Fußende gelegt.
Der Raum war sauber und schlicht, eingerichtet nur mit dem Bett, einer Truhe, einem Stuhl, einem Spiegel, Kleiderhaken und einem Schwertständer. Ein kleines verglastes Fenster wies in eine Richtung, die sie bislang noch nicht eingesehen hatte, und auch jetzt erkannte sie nichts, denn es war dunkel. Die Wolldecken auf dem Bett zeigten Eingewebte Hexenzeichen zum Schutz gegen Albträume. Es wäre wahrhaftig ein Wunder, dachte Rhapsody bedrückt, wenn sie davon tatsächlich verschont bliebe.
Sie machte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Bettkante. So müde war sie, dass es ihr kaum noch gelang, den Wust von Gedanken, die ihr durch den Kopf rauschten, vernünftig zu ordnen.... die ihre Heimat, die Insel Serendair, verlassen mussten, um nicht mit ihr unterzugehen.
Llauron hatte gesagt, dass Gwylliam den Untergang der Insel vorausgesehen hätte, aber vielleicht war es dazu am Ende ja doch nicht gekommen. Schließlich hatte es zu allen Zeiten selbst ernannte Propheten gegeben – zum Beispiel die Hellseher auf dem Diebesmarkt zu Ostend –, deren Weissagungen nie und nimmer zutrafen. Dann dachte Rhapsody zurück an ihren Albtraum auf der Wurzel, an den ins Meer stürzenden Stern und die brennende Wasserwalze, die sich über die Insel ergoss, und sie wusste, dass es dazu sehr wohl gekommen war. Sie hatte schon die richtige Ahnung gehabt. Serendair war untergegangen.
Von denen, die sie kannte und liebte, würde keiner mehr am Leben sein, selbst wenn sie damals der Katastrophe entronnen waren und zu den Auswanderern gezählt hatten. Ihr schnürte sich das Herz zusammen bei dem Gedanken an ihre Eltern und Brüder. Ihr Vater war gewiss schon viele Jahrhunderte tot, so auch die Mutter, obwohl sie als Lirin ein sehr langes Leben hatte erwarten können. Doch inzwischen war selbst diese Spanne um fast das Dreifache überschritten. Und natürlich lebten auch die Brüder längst nicht mehr. Rhapsody war zutiefst erschüttert.
Sie kroch ins Bett, rollte sich zusammen wie ein Kind im Mutterleib und versuchte sich an das Leben zu erinnern, das sie vor dem Albtraum auf der Wurzel geführt hatte. Die Schuld an ihrem Unglück Achmed anzulasten wäre allzu einfach gewesen. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben.
Dickköpfig und gedankenlos, war sie als junges Mädchen von zu Hause weggelaufen, wofür sie schon bald einen hohen Preis hatte zahlen müssen. Ein erbärmliches Leben auf der Straße war die Strafe dafür gewesen. Doch was ihr am schlimmsten zugesetzt hatte, war das Wissen um den Kummer und die Verzweiflung, die die Eltern ihretwegen ertragen mussten. Ein wenig Erleichterung von dieser Schuld hatte ihr einzig die Hoffnung darauf verschafft, eines Tages zurückkehren und um Verzeihung bitten zu können. Doch auch diese Hoffnung war nun zerstört.
Im Geiste sah sie die Gesichter ihrer Brüder, eins nach dem anderen, schmunzelnd, lachend. Sie wähnte sich vom Vater umarmt, von der Mutter gestreichelt. Doch damit war es ein für allemal vorbei. Sie würde niemanden von ihnen jemals wieder sehen, nie mehr von der Mutter in den Schlaf gesungen werden, sich nie mehr wirklich in Sicherheit wiegen können.
Rhapsody wusste vor Kummer nicht mehr ein noch aus. An die Vergangenheit zu denken war unerträglich, unerträglicher noch erschien ihr die Aussicht auf die Zukunft. Erschöpft und überdreht, wie sie war, schlief sie schließlich ein.
Die Träume, von denen sie heimgesucht wurde, waren noch schrecklicher als sonst, Visionen riesiger Wellenberge, die über das Land hereinstürzten und alles unter sich begruben; von einem Volk hoher, goldener Gestalten, das einem berstenden Stern zum Opfer fiel; von der Sagia, wie sie langsam, mit den Lirin in ihren Armen, in den Wellen unterging.
Im letzten Traum sah sie sich in einem von schwarzem Feuer verwüsteten Dorf, durch dessen Straßen Soldaten ritten, die alles niedermetzelten, was ihnen in die Quere kam. Aus der Ferne, vom Rand des Horizonts, grinsten ihr blutunterlaufene Augen entgegen. Und dann, als ein mordlüsterner Soldat mit schwingendem Schwert auf sie zugeprescht kam, wurde sie von den Krallen eines großen kupfernen Drachen ergriffen und in die Lüfte emporgezogen.
Keuchend schreckte Rhapsody auf. Sie langte mit der Hand nach Grunthor, der sie in solchen Momenten immer beruhigt hatte, doch das grinsende grüne Gesicht war nirgends zu sehen. Die Luft im Zimmer und das Bett hatten sich abgekühlt. Als ihr indes wieder bewusst wurde, was unabänderlich und wirklich war, wallte schieres Entsetzen fiebrig heiß in ihr auf.
Vor dem kleinen Fenster dämmerte der Morgen mit grauem Licht. Ein neuer Tag brach an, doch es würde für Rhapsody keiner wie jeder andere sein. Die ganze Welt hatte sich für sie verändert, gewissermaßen über Nacht, obwohl die eigentlichen Ursachen schon viele Jahrhunderte zurücklagen. Diese unumkehrbaren Veränderungen hatten sich vollzogen, während sie durch das Innere der Erde gekrochen war, und das über so lange, lange Zeit. Wieso hatte die Zeit sie, Rhapsody, aus ihrem Lauf ausgeschlossen? Sie warf einen Blick in den Spiegel und stellte fest, dass ihr Gesicht kaum älter aussah als zu Beginn der Reise.
Sie trat vor das Fenster und blickte nach draußen. Bald würde die Sonne aufgehen, und dann war von ihr geboten, die Morgenandacht zu singen. Es würde ihr ein Trost sein, daran zu denken, dass sie diesen Gesang von der Mutter gelernt hatte, unter dem Himmel der Entgegengesetzten Hemisphäre. Das Wissen um den Untergang der Insel machte ihr Angst, doch da war keiner jedenfalls unter den Lebenden keiner –, an den sie sich in ihrer Angst hätte wenden können.
Auch wenn sie Achmed und Grunthor fände, die inzwischen bestimmt schon weit weg waren, würde sie sich ihnen in ihrer Trauer kaum verständlich machen können. Achmed wäre wahrscheinlich sogar glücklich, weil er nun nicht mehr gejagt wurde. Sie machte das Bett und warf dann den Umhang über, den Khaddyr ihr gegeben hatte.
Leise, um den Fürbitter und die Dienerschaft nicht zu wecken, ging sie über die Treppe nach unten, öffnete vorsichtig die schwere Tür und nickte den Wachen zu, die davor postiert waren und sie mit skeptischer Miene beäugten. Doch sie ließen sie ungehindert passieren. Rhapsody trat in den schneebedeckten Garten hinaus und wanderte auf den Baum zu.
Als sie den Rand der Lichtung erreichte, war die Sonne gerade im Begriff aufzugehen. Rhapsody trat zwischen einem majestätischen Ahornbaum und einer Ulme in den Kreis der schützenden Bäume und konnte nun zum ersten Mal einen ungehinderten Blick auf den Stamm des Großen Weißen Baumes werfen, dessen Borke unter den ersten Sonnenstrahlen, die durch die morgendlichen Nebelschleier drangen, hell leuchtete. Gleichzeitig nahm das Lied des Baums eine neue Klangfarbe an, und es war ein Jubilieren zu hören, das wie die Begrüßung des neuen Tages anmutete.
Rhapsody schloss die Augen und spürte die Klänge in sich widerhallen. Vor so viel Pracht und Macht kam sie sich ganz klein und unbedeutend vor.
Dem Lebenslied des Baums wohnte eine ihr vertraute Klangfarbe inne, die in ihrer Seele gleich mehrere Saiten zum Schwingen brachte. Die Sagia hatte sie mit ihrer Melodie auf ganz ähnlicher Weise angerührt, und ihr wurde das schwere Herz ein bisschen leichter.
Leise sang sie ihre Aubade, und als sie ihre Andacht beendet hatte, pfiff sie die verabredete Tonfolge, das Signal, auf welches Achmed wartete. Dann verließ sie den Ring der schützenden Bäume und eilte zum Haus zurück, nicht auf demselben Weg, den sie gekommen war, sondern an einer riesigen, buschigen Stechpalme und einem Engilder vorbei, jenem schlanken, silbrigen Baum, den sie aus ihrer alten Heimat kannte. Sie näherte sich dem Haus nun aus einer Richtung, die ihr den Blick auf einen kunstvoll angelegten Garten gewährte, der sich hinter dem Haus fortzusetzen schien.
In der Ferne hörte sie die Filiden ihren Tag beginnen und sich an die Arbeit machen. Auf der Wiese war immer noch niemand zu sehen, und so ging sie um das Haus herum und fand sich in einer prächtigen, ausgedehnten Parklandschaft wieder.
Llaurons Grund und Boden erstreckte sich bis zum Waldrand, der über eine Meile entfernt war. Der Park zwischen Haus und Wald bestand aus edlen Bäumen, liebevoll angelegten Teichen und Blumenbeeten. Hier und da standen Marmorbänke, die im Sommer von belaubten Zweigen überschattet waren. Jetzt hielt der Garten seinen Winterschlaf, die Beete waren mit Mulch abgedeckt und von Schnee bedeckt.
Nahe dem Haus stand eine junge Esche, ein hoch aufragender, kräftiger Baum. Darunter hockte Llauron in einem kleinen, geschützten Kräutergärtchen, pflegte die Beete und sang dazu in einem weichen Bariton, der ihr Schauer über den Rücken rieseln ließ. Es war weniger der Wohlklang dieser Stimme, der sie so sehr bewegte, als vielmehr die Schwingung, die von ihr ausging.
Er wendete die Techniken eines Sängers an, ließ aber doch ein paar kleine Probleme mit Intonation und Phrasierung erkennen, was deutlich machte, dass er als solcher nicht ausgebildet war. Das Lied, das er sang, war schlicht und in einer Sprache, die Rhapsody nicht kannte, doch hörte sie heraus, dass es dazu angetan war, den Pflanzen über die Winterzeit zu helfen. Sie war drauf und dran, dem Fürbitter stimmlich zu Hilfe zu kommen, um der Wirkung des Lieds Nachdruck zu verleihen, hielt sich aber in Erinnerung an Achmeds mahnende Worte zurück.
Falls wir doch auf irgendwelche Leute treffen, sollten wir uns möglichst bedeckt halten und untereinander abstimmen, was wir denen an Informationen anvertrauen können. So gehen wir auf Nummer Sicher.
Als sie auf ihn zuging, hörte der Alte zu singen auf, schaute ihr entgegen und verzog das faltige Gesicht zu einem breiten Lächeln.
»Guten Morgen, mein liebes Kind. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.«
Rhapsody hatte ihre schrecklichen Albträume natürlich nicht vergessen. »Vielen Dank für das schöne Zimmer, in dem ich übernachten durfte«, antwortete sie.
»Nicht der Rede wert. Ich hoffe, du wirst noch eine Weile bei uns bleiben.« Er schickte sich an, vom Boden aufzustehen.
Rhapsody setzte sich auf die Bank, die unter der Esche stand. Der Stein war kalt und ließ sie frösteln.
»Was für ein Lied habt Ihr da gesungen?«
»Das ist ein Heillied für Pflanzen, eines, das die Filiden von Serendair mitgebracht haben. Damit hoffe ich, den Kräutern hier in meinem Gärtchen über die kalte Jahreszeit helfen zu können. Die ganz empfindlichen Pflanzen habe ich natürlich ins Haus geholt, aber der Platz dort ist begrenzt. Also singe ich hier draußen – nicht zuletzt auch unserem Mahb zuliebe.« Er tätschelte den Stamm der Esche.
»Mahb?« Der Name klang wie das serennische Wort für Sohn.
»Ja, er passt auf den Garten auf und hält alle bösen Geister fern, die ihm übel wollen. Nicht wahr, mein Kleiner?« Llauron warf einen Blick ins Geäst des jungen Baumes, beugte sich dann vor und sagte in verschwörerischem Tonfall: »Im Vertrauen, ich glaube, er hält nicht viel von Khaddyr.« Der Alte zwinkerte ihr zu. »Wie dem auch sei, vielleicht darf ich dich nun bitten, mich mit deiner wunderschönen Stimme zu begleiten, um den Pflanzen Gutes zu tun.«
Rhapsody blickte verwundert auf. »Wie bitte?«
»Nicht so bescheiden, mein liebes Kind. Ich weiß, dass du eine Sängerin mit großen Fähigkeiten bist, wenn nicht sogar eine Benennerin, stimmt’s?« Ein kalter Wind strich ihr über den Rücken, der plötzlich schweißnass geworden war. Sie zitterte. »Schon wenn du sprichst und deine Stimme erklingen lässt, wird der Tag ein bisschen heller. Das ist wirklich so, mein liebes Kind. Wie wird es erst sein, wenn du singst? Lass mich nicht länger darauf warten. Komm, beehre meine Pflanzen mit einem Lied.«
Rhapsody wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Der Alte schien ihr schon auf die Schliche gekommen zu sein. Ihre Kunst zu verleugnen wäre gelogen, seine Bitte auszuschlagen eine Unhöflichkeit. Sie seufzte stumm.
»Wenn Ihr es denn wünscht«, sagte sie schließlich. »Aber ich kenne das Lied nicht, das Ihr gesungen habt. Ich schlage vor, Ihr fangt an und ich stimme mit ein, wenn ich glaube mitsingen zu können.«
»So machen wir’s.« Llauron fing wieder an zu singen. Schon nach wenigen Takten hatte sie die Liedform so weit begriffen, dass sie vorsichtig mit einstimmen und da aushelfen konnte, wo er fehlte. Llauron bemerkte, was er falsch machte, und versuchte sich zu korrigieren. Sooft er die Melodie richtig führte, fügte Rhapsody ihr eine Begleitstimme hinzu, und als sie einen Blick auf die Pflanzen warf, schien es ihr, als wären sie tatsächlich schon ein wenig kräftiger und gesünder geworden. Llauron nickte freudig. »Ausgezeichnet! Hatte ich doch wieder einmal Recht, nicht wahr? Du bist eine Benennerin.«
Rhapsody starrte vor sich hin, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen. Die waren hellblau und überaus scharf, und sie wusste, dass er sie durchschauen würde, wenn sie sich nicht sehr genau in Acht nähme. »Ja, ich habe diesen Ausbildungsstand erreicht.«
»Dachte ich’s mir. Nun, vielen Dank. Für den Garten ist jetzt gut gesorgt, zumindest bis zum Ende der Tauperiode. Komm, lass uns ins Haus gehen. Dir ist kalt, und hier gibt es nichts mehr zu tun.« Er stand auf und zeigte dabei eine Beweglichkeit, die so gar nicht zu seinem Alter passte. Die Tür, durch die sie gingen, führte in eine große Küche, die mit ihrer riesigen Feuerstelle und den geziegelten Öfen ausgereicht hätte, für die Mahlzeiten einer halben Kompanie zu sorgen. Über dem Feuer dampfte ein bauchiger Kessel. Llauron wärmte sich die Hände daran auf, schwenkte den Kessel dann vom Feuer und hob ihn mit einem festen, sauberen Lappen vom Haken.
»Zu einer Tasse Tee wirst du doch bestimmt nicht nein sagen, oder?« Er füllte eine Porzellankanne, die auf dem Tisch in der Mitte der Küche stand. »Fühlst du dich immer noch erschöpft von der Reise?«
»Ein bisschen.«
Der Fürbitter schmunzelte. »Nun, dann wollen wir dir etwas in den Tee mischen, das dich wieder zu Kräften bringt. Hast du schon einmal Sprödlitzen probiert?«
Rhapsody schüttelte den Kopf. »Noch nie davon gehört.«
Llauron trat vor einen großen Schrank und holte viele verschiedene kleine Säckchen daraus hervor.
»Das verwundert mich nicht. Das wächst nämlich nur hier bei uns. Und wie ist es mit Frühlingssaffran?«
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass der Alte mit seinen Fragen womöglich herauszufinden versuchte, woher sie stammte. »Ich bin mit allem einverstanden, was Ihr mir anzubieten habt«, beeilte sie sich zu sagen.
»Nun, ich schlage vor, wir mischen getrocknete Orangenblüten, süßen Farn und Himbeerblätter.«
»Gibt es denn im Winter Himbeerblätter bei Euch?«
»Ja, im Glasgarten. Möchtest du ihn sehen?«
»0 ja. Das duftet wirklich köstlich.« Sie nahm die dampfende Tasse, die Llauron vor sie hingeschoben hatte, und folgte ihm durch die Küchentür in einen Anbau.
Drei Wände dieses Raums bestanden aus Glas. In der Mitte stand ein seltsamer Ofen, der mit rot glühenden Steinen gefüllt war. Darüber hing, mit einer Kette an der Decke befestigt, ein metallener Kegel, von dem langsam Wasser auf die heißen Steine tropfte, das sofort zischend verdampfte. Die Luft im Raum war entsprechend warm und feucht, was den Pflanzen, die hier üppig wuchsen, offensichtlich gut bekam.
Rhapsody schlenderte zwischen den auf Regalen übereinander angeordneten Beeten entlang und schwelgte in der fast sommerlichen Stimmung, die hier herrschte. Mit Blick auf den Wasserdampf produzierenden Ofen sagte sie: »Was für ein unglaubliches Gerät!«
»Nicht wahr? Eine wirklich nützliche Erfindung. Ich wünschte, behaupten zu können, dass sie auf meinem Mist gewachsen ist. Aber tatsächlich hat sie mein Vater entwickelt, gebaut und meiner Mutter zum Geschenk gemacht. Sie liebte Orchideen und andere empfindliche Pflanzen, die viel Wärme brauchen.«
»Ihr habt hier viele erstaunliche Gewächse.«
»Wie gesagt, du bist herzlich eingeladen, bei uns zu bleiben und dir das Wissen der Filiden anzueignen, wenn du willst. Ich bin sicher, dass dir an unserer Art der Naturverehrung vieles gefallen wird, zumal du der Natur allem Anschein nach selbst sehr zugetan bist. Ich würde mich freuen, dich unterrichten zu dürfen. Es wäre mir eine willkommene Abwechslung von meiner Arbeit.«
»Euer Gnaden, ich möchte Euch auf keinen Fall von Euren Pflichten abhalten.«
Der Fürbitter schmunzelte. »Unsinn, mein Kind. Das Schöne an meiner Position ist, dass ich über meine Arbeitszeit frei verfügen kann. Übrigens kannst du mich getrost bei meinem Namen Llauron nennen. Dabei käme ich mir weniger alt vor. Also, wirst du eine Weile bei uns bleiben? Oder musst du unbedingt weiterziehen?«
Rhapsody blickte auf in die wachen blauen Augen, aus denen er sie aufmerksam beobachtete. Ihr wurde ganz unbehaglich zumute. Es schien fast so, als könnte Llauron in ihr Innerstes schauen. Nicht einmal den Studenten der Musikakademie war es möglich gewesen, einen Benenner allein an der Stimme zu erkennen. Dass dieser freundliche alte Mann Dinge über sie zu wissen schien, die er eigentlich gar nicht wissen konnte, verunsicherte sie, und sie fühlte sich wieder so verletzlich wie früh am Morgen unter dem Baum.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Es zwingt mich nichts zur Weiterreise, vorläufig jedenfalls nicht.«