Mit dem Ende des Winters kam für die Bolg wie jedes Jahr eine Zeit der Angst. Sobald Tauwetter einsetzte, wurde eine Lotterie veranstaltet, das heißt, unter allen, auf die verzichtet werden konnte, wurden diejenigen ausgelost, mit denen die künstlichen, hastig aufgebauten Dörfer am Rand der Zahnfelsen bevölkert werden sollten.
Dieser alljährliche Tribut an den Bluthunger der Männer von Roland hatte Achmed mehr als alles andere davon überzeugt, dass die vermeintlich so primitiven Bolg im Grunde durchaus gewitzt waren. Ihr Auswahlverfahren, so grausam es auch sein mochte, wurde schon seit hunderten von Jahren erfolgreich praktiziert. Dass sich die Angreifer immer wieder aufs Neue täuschen ließen und dass der Gewinn einer solchen List die Verluste überwog, zerstreute all seine Zweifel bezüglich der Tüchtigkeit dieses Volkes. Nicht zuletzt gefiel ihm auch, dass bei dieser Auswahl nach Strich und Faden getrickst wurde.
Wie in jedem Jahr versammelten sich am ersten Tag nach Anbruch des Tauwetters alle Bolg in der Schlucht jenseits der Zahnfelsen. Sie waren ungewöhnlich still und verhalten. Bislang waren alle starken und einflussreichen Bolg von der Lotterie ausgenommen. Dass aber nun auf Geheiß des neuen Königs ausnahmslos alle erscheinen mussten, war für die Mächtigen ein Affront und Grund zur Beunruhigung. Die aber legte sich schnell, als Achmed seine Rede mit den Worten begann:
»Die Lotterie ist abgeschafft.« Ab sofort werde niemand mehr den Soldaten von Roland geopfert, sagte er, und die Frühjahrssäuberung eine ganz neue Wendung erfahren. Dann erläuterte er seinen Plan, dem am Ende alle begeistert zustimmten.
Vom Fenster seines Arbeitszimmers aus musterte Tristan Steward die im Hof versammelten Kämpfer, die zum rituellen Frühjahrsputz einberufen worden waren. Gewöhnlich ließ der Hofmarschall nie mehr als drei- bis vierhundert Rekruten oder einfache Soldaten antreten. Weil er, der Hohe Herrscher, indes verfügt hatte, dass alle Soldaten am diesjährigen Feldzug teilnehmen sollten, drängten sich nun auf dem relativ kleinen Hof fast zweitausend Mann.
Stephen Navarne blickte mit Unbehagen auf die Menge herab. Er hatte dem Vetter dessen Vorhaben auszureden versucht, sich aber bloß Schelte eingehandelt, und zwar nicht nur von Tristan, sondern auch von Quentin Baldasarre, dem Regenten von Bethe Corbair. Ihrman Karsric, der Herzog von Yarim, hatte seine Meinung für sich behalten.
Es klopfte an der Tür; der Hofmarschall Rosentharn trat ein.
»Eure Hoheit?«
»Ja?« Tristan zeigte sich überrascht. Normalerweise blieb Rosentharn so kurz vor dem Ausrücken bei seinen Truppen und ließ sich nur dann vor dem Regenten blicken, wenn es etwas Außergewöhnliches zu melden gab, was selten genug der Fall war.
»Ich ersuche Euch untertänigst, ein klares Wort an die Männer zu richten, Hoheit. Nicht wenige hegen Zweifel am Sinn des Einsatzes. Die Moral ist denkbar schlecht, so schlecht, dass ich um den Erfolg der Mission fürchte.«
»Wirklich? Und wie ist das zu erklären?«
Der Hofmarschall hüstelte. »Nun, Hoheit, wie Ihr wisst, werden für die Säuberungen in den Bolg-Gebieten sonst nur Rekruten oder solche Soldaten eingesetzt, die es zu disziplinieren gilt. Jetzt sind aber auch verdiente Kämpfer einberufen worden, die sich natürlich nach dem Grund fragen.«
»Schon einer so frechen Frage wegen sollten sie tatsächlich diszipliniert werden«, meinte der Herzog von Bethe Corbair. »Meine Männer würden es nicht wagen, die Befehle ihres Kommandanten in Frage zustellen.«
»Ach, tu mir doch einen Gefallen, Quentin«, blaffte der Herrscher von Roland, »und behalte deine Ansichten für dich. Wo sind deine Männer? Du hältst es ja nicht mal für erforderlich, dass sie an unserer Aktion teilnehmen. Und das ist nun wirklich allerhand, bedenkt man, dass es um die Grenzsicherung vor allem deiner Länder geht. Ich glaube, ich sollte die Besteuerung deiner Provinz neu überdenken, damit so kostspielige, euch zuliebe durchgeführten Manöver auch in Zukunft finanziert werden können.«
»Aber dein Heer wird doch schon jetzt von unseren Steuern unterhalten«, unterbrach der Herzog von Yarim. »Wenn du uns von Einsatz zu Einsatz immer wieder neu veranlagen willst, werden wir darüber nachdenken müssen, ob es sich überhaupt noch lohnt, mit dir gemeinsame Sache zu machen. Meine Truppen werden mit einer solchen Aufgabe notfalls auch allein fertig.«
»Es fragt sich, ob wir diesen Krieg überhaupt wirklich führen müssen«, gab Stephen Navarne zu bedenken. »Wie schon erwähnt: Die Leute, gegen die du vorgehen willst, haben mit den Bolgführern von einst nichts mehr gemein. Sie sind ausgesprochen gebildet und sehr stark. Darum rate ich noch einmal von der geplanten Invasion ab. Stattdessen sollten wir mit der Gegenseite ein Friedensabkommen aushandeln. Vielleicht können wir neue Handelspartner dazugewinnen.«
Der Hohe Herrscher von Roland blickte seinen Vetter ungläubig an. »Bist du verrückt?«, fragte er in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass er die Antwort schon kannte. »Mit den Bolg Geschäfte machen? Kein Wunder, dass ich dich vor deinen aufständischen Bauern in Schutz nehmen musste. Und jetzt geht mir aus dem Weg!« Er scheuchte seine Mitregenten beiseite und eilte mit dem Hofmarschall nach draußen.
Achmed sah sie kommen – seiner Schätzung nach zweitausend Mann. Grunthor kam zu einem ähnlichen Ergebnis.
»Eine vollständige Brigade und drei oder vier Kohorten«, meldete der Bolg-Kommandant. »Das sollten wir, wie ich meine, als Kompliment verstehn.«
»Dann sollten wir uns auf passende Weise erkenntlich zeigen«, antwortete der König. »Rhapsody, es wäre gut, wenn ihr, du und Jo, euch aus dieser Sache heraushalten würdet.«
»Warum?«, maulte Jo. »Wozu habe ich wochenlang mit Pech und Schwefel zu kämpfen gelernt? Ich bin richtig gut geworden. Wehe, wenn diese stinkigen Übungen umsonst gewesen sein sollten.«
»Wie du willst«, entgegnete Achmed.
»Braves Mädchen«, flüsterte Grunthor anerkennend.
Rhapsody seufzte. »Dieser Tristan Steward ist ein Narr. Nun, ich habe ihn gewarnt, aber dass er nicht besonders helle ist, wurde mir schon bei der ersten kurzen Begegnung klar. Es ist eine Schande, dass so viele Soldaten für seine Dummheit büßen müssen.«
»Diese Schande ist so alt wie der Krieg selbst«, philosophierte Achmed. »Aber sieh’s von der positiven Seite. Wenn wir nur überzeugend genug agieren, wird er, wenn er denn noch einen kleinen Rest an Verstand hat, in Zukunft von solchen Abenteuern absehen.«
Grunthor rieb sich die Hände. »Meine Truppen können’s gar nich mehr abwarten, Überzeugungsarbeit zu leisten.«
»Also dann, auf in den Kampf«, sagte Achmed und gab seinem Pferd die Sporen. Von den anderen gefolgt, ritt er über das Schanzwerk auf die grenznahen Klippen zu.
Das Gefecht dauerte weniger als eine Stunde. Anstatt wie gewohnt die schwachen, alten und kranken Verlierer der alljährlichen Lotterie vorzufinden, trafen Rolands Soldaten auf die von Grunthor persönlich ausgebildeten Elitetruppen der bolgischen Bergwart, die in den leeren Hütten auf der Lauer lagen.
Die Angreifer hatten zwei Pappkameraden geköpft und ein Pferd samt Reiter in einer mit kochendem Pech gefüllten Fallgrube verloren, ehe ihnen dämmerte, dass sie in einen Hinterhalt geraten waren. Aber an Flucht war schon nicht mehr zu denken. Wie von einer Explosion herbeigeschleudert, tauchten plötzlich aus allen Ecken und Felsklüften bewaffnete Bolg auf. Einem gewaltigen Erdrutsch gleich stürmten sie von den Hängen ins Tal und über die entsetzten Soldaten hinweg.
Es begann mit einem Hagel von faust- bis kopfgroßen Steinen, die, von Männern des Ylorc-Heeres geschleudert, auf die zahlenmäßig fünffach überlegene Brigade der Orlander niederprasselten. Als diese daraufhin in Panik gerieten, zogen die in den Hütten des Grenzdorfs versteckten Bolg-Kämpfer die Fallstricke, die unter den Staub des Talbodens gespannt worden waren. Unzählige Pferde strauchelten und stürzten und warfen ihre Reiter ab.
Mittlerweile war die Flutwelle der Verteidiger über jene Teile des fremden Heeres hereingebrochen, die zwar noch auf den Beinen, aber vor Schreck und Entsetzen wie gelähmt dastanden. Einige wenige langten hastig nach ihren Bögen. Die meisten jedoch waren nur mit Schwertern, Knüppeln oder Fackeln bewaffnet, die ihnen sogleich aus den Händen geschlagen wurden.
An den Rändern versuchten manche ihr Heil in der Flucht, gerieten aber nur in ein Inferno aus kochendem Pech, das ihnen in Fässern entgegengeschleudert wurde, abgeschossen von Katapulten, die ihnen, im Ausgang des engen Tals platziert, den Rückzug versperrten. Rhapsody stand dort, die Hände an die Ohren gepresst, um das schrille, manische Lachen von Jo auszublenden, die an der Seite Grunthors mit ihrem bronzenen Dolch die Halteseile der Wurfarme kappte.
Sie blickte zurück auf die Bolg, die Jahrhunderte lang Opfer grausamer Überfälle gewesen waren und sich nun mit ungeahnter Kampfkraft und mörderischer Entschlossenheit an ihren Feinden rächten. Später bemerkte Grunthor, dass er sich an eine wirkungsvoller ausgetragene Schlacht kaum erinnern könne.
Rhapsody starrte auf das Schlachtfeld und spürte, wie sich ihr der Magen umzudrehen drohte. Sie hatte auf eine Teilnahme am Kampf verzichtet und nicht einmal mit ihrer magischen Musik Schützenhilfe geleistet. Jetzt sah sie mit an, wie Achmeds Soldaten systematisch das Tals durchkämmten, den Gefallenen Waffen und Rüstungsteile abnahmen und die Toten nahe der Pechgrube zusammenlegten.
»Widerlich«, sagte sie nur.
»Keine Sorge, Gräfin, wir räumen auch wieder auf«, entgegnete Grunthor, der Jo beim Kragen gepackt hielt, um zu verhindern, dass sie sich an der allgemeinen Leichenfledderei beteiligte.
»Vielleicht wär’s jetzt an der Zeit, dass du, Rhapsody, mit Jo zum Kessel zurückgehst«, schaltete sich Achmed ein, der die Opfer zählte und darauf aufpasste, dass von den Gefallenen keiner als Trophäe verschleppt wurde.
»Was, keine Beute?«, ärgerte sich Jo.
»Geteilt wird später«, antwortete Grunthor.
»Genau. Also komm jetzt«, sagte Rhapsody, die sich von Achmeds viel sagender Miene aufgefordert sah, möglichst schnell nach Hause zurückzukehren. Sie nahm Jo beim Ellbogen und führte sie davon. Als die beiden verschwunden waren, wandte sich Achmed seinen Generälen zu, die im Hintergrund warteten.
»Die Kämpfer können sich jetzt den Bauch voll schlagen«, sagte er.
Eine Woche später erwachte der Hohe Herrscher von Roland, von einem seltsamen Geräusch geweckt, aus tiefsten Träumen.
»Tsk, tsk.« Neben dem Bett stand eine dunkle Gestalt, die Tristans Krone in den Händen hielt und sie zwischen schlanken Fingern langsam im Kreis drehte. Deren Gold und Edelsteine spiegelten das Licht der auf dem Nachttisch brennenden Kerzen, das wie helles Blut aus pulsierender Wunde auf die Wände ringsum zu spritzen schien.
Tristan Steward schreckte auf, doch die albtraumhafte Erscheinung löste sich nicht etwa als Spukgestalt in der Dunkelheit auf. Vielmehr warf sie ihm die Krone entgegen und flüsterte:
»Ein Mucks, und es wäre dein letzter.« Doch Tristan war ohnehin nicht imstande, einen Laut von sich zu geben, selbst wenn er gewollt hätte. Ihm schien immer noch nicht klar zu sein, ob er denn noch träumte oder tatsächlich schon bei Sinnen war.
Aus dem Schatten tauchte nun eine winzige Flamme auf, und der Hohe Herrscher sah, wie sich die bleichen, dünnen Hände in Bewegung setzten, um weitere Lichter anzuzünden.
Als es in der Schlafkammer genügend hell war, warf Achmed die Kapuze in den Nacken zurück und grinste, als er das Entsetzen im Gesicht des Prinzen sah. Er trat einen Schritt näher, setzte sich an den Rand des riesigen Bettes und strich mit der Hand über die seidene Decke.
»Steh auf!«, sagte er leise und zeigte auf die Sitzecke vor dem Fenster.
Tristan Steward gehorchte und erhob sich, am ganzen Körper zitternd. Weder seine bloßen Füße noch die Ledersohlen des schaurigen Gastes ließen auch nur das geringste Geräusch verlauten, als die beiden über den steinernen Fußboden auf die Stühle zugingen, die sich vor dem von Sternen übersäten Nachthimmel im Fensterausschnitt abzeichneten.
Tristan setzte sich und verschränkte die Arme in der Hoffnung, seine zitternden Hände bedecken zu können. Mit zunehmender Klarheit wurde ihm bewusst, dass sich das Unheil, das er zu erwarten hatte, von Sekunde zu Sekunde weiter zuspitzte. Insgeheim war er dankbar für die Dunkelheit, ahnte er doch, dass er den Anblick des fürchterlich entstellten Gesichtes seines Gegenübers bei hellem Tageslicht nicht würde ertragen können. Er rief all seinen Mut zusammen und versuchte, einen möglichst gelassenen Tonfall anzuschlagen.
»Wer bist du? Was willst du?«
»Ich bin das Auge, die Klaue, der Fersensporn und der Beuschel des Berges. Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass dein Heer aufgerieben wurde.«
Dem Prinzen entfuhren gurgelnde Laute der Verwirrung anstelle verständlicher Worte, die ihm einfach nicht über die Lippen kommen wollten.
»Du hast zweitausend Mann ins Feld geschickt. Von denen wirst du nie mehr etwas hören außer dem, was ich dir sage.«
Zuerst schien er nicht richtig verstanden zu haben, aber dann zeigte er blankes Entsetzen. »Wo sind die Überlebenden? Was ist mit ihnen geschehen?«
»Der Berg hat sie verschüttet. Und jetzt hör mir aufmerksam zu. Falls es dir gelingt, noch eine Weile am Leben zu bleiben und unser Treffen geheim zu halten, wirst du in zehn Tagen ein Handels- und Friedensabkommen mit uns abgeschlossen haben. Du wirst uns in Person deine Aufwartung machen, denn die Initiative für dieses Abkommen geht von dir aus. Meine Abgesandte wird dich in genau zehn Tagen an der bestehenden Grenze zwischen meinem Reich und Bethe Corbair erwarten. Bist du nicht pünktlich, rückt die Grenze mit jedem Tag ein Stück zurück. Wenn du aus irgendwelchen Gründen nicht reisen möchtest, brauchst du also nur zu warten. In etwa vierzehn Tagen würde die Grenze gleich hier durch deine Festung verlaufen.« Der Regent saß da mit weit aufgerissenen Augen, sagte aber nichts.
»Dies ist das einzige Angebot, dass ich dir – von König zu König – zu machen bereit bin. Schlag es aus, und du wirst sehen, wozu Ungeheuer imstande sind. Wir haben unsere Lektionen, die uns alljährlich im Frühling erteilt worden sind, gelernt.« Achmed stand auf, um zu gehen.
»Oh, noch etwas«, fügte er hinzu. »Vielleicht tröstet es dich zu wissen, dass meine lirinsche Sängerin deinen gefallenen Männern ein wunderschönes Grablied gesungen hat. Es war sehr ergreifend. Da sie nun schon eine Weile im Land der Bolg lebt, hat es Rhapsody mittlerweile in Sachen Requiem und Klagegesang zur wahren Meisterschaft gebracht.«
Schmunzelnd nahm er zur Kenntnis, dass das Gesicht des Regenten bei der Erwähnung ihres Namens scharlachrot anlief. Er rückte verschwörerisch näher und fügte hinzu: »Keine Sorge, sie ahnt nicht, dass sie es war, die den Anstoß für dieses Massaker unter deinen Leuten gegeben hat. Dass es durch sie dazu kommen musste, war mir natürlich klar. Weshalb hätte ich sie sonst wohl zu dir geschickt?«
Dem Hohen Herrscher kam die Galle hoch. »Das Ganze war also eine abgekartete Sache«, krächzte er.
»Nun, vergiss nicht, du hast einen nicht unwesentlichen Anteil daran gehabt, mein Lieber. Du bist ein Mann freien Willens. Wenn es dir aufrichtig um Frieden gegangen wäre, hättest du meine Abgesandte gewiss mit offenen Armen begrüßt und mein Angebot angenommen.«
Urplötzlich war das Lächeln aus Achmeds Gesicht verschwunden. »Ein Mann, der einer anderen Frau gegenüber nicht ausschließlich ehrenvolle Absichten hegt – insbesondere dann, wenn er verlobt ist –, ist auch als Nachbar nicht besonders vertrauenswürdig. Dass du, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, das Leben von zweitausend Männern aufs Spiel gesetzt hast, wird dir hoffentlich eine Lehre gewesen sein. Lass es nicht noch einmal so weit kommen.« Er wandte sich um und ging zur Tür. »Ich lasse dich allein, damit du nun in Ruhe dein Amt verrichten kannst«, sagte er noch.
»Was für ein Amt?«
Der Firbolg-König warf einen Blick über die Schulter zurück und lächelte. »Du wirst doch sicherlich für deine Männer eine Mahnwache abhalten wollen.« Die Schatten regten sich noch einmal, und dann war Achmed verschwunden.
Am Morgen des zehnten Tages kreuzte eine Reitergruppe aus Roland am Horizont der Steppe auf. Rhapsody und die Wachsoldaten in ihrer Begleitung warteten. Sie hatte Wert darauf gelegt, dass keines der von ihrem Kommando gerittenen Pferde aus den Reihen der geschlagenen Truppen des Gegners stammte. Ein bisschen Taktgefühl steht auch uns gut an, hatte sie zu Achmed gesagt. Jetzt lächelte sie unwillkürlich, als sie den Hohen Herrscher von Roland unter den Reitern erkannte und sich an den unfreundlichen Schlagabtausch mit ihm vor wenigen Wochen erinnerte.
Die fünf Männer in seiner Begleitung trugen einfache Reitkleidung und wollende Umhänge; offenbar wollten sie möglichst unerkannt bleiben. Rhapsody war ähnlich schlicht gekleidet – entgegen Achmeds Vorschlag, der sie gern in prunkvollstem Staat gesehen hätte, was ihr aber ganz und gar unangemessen vorgekommen wäre.
Außer Tristan Steward und zwei bewaffneten Wachen bestand die kleine Gruppe noch aus dessen Vetter Stephen Navarne, der Rhapsody mit freudigem Lächeln entgegenblickte, und einem weiteren Mann, der dem Hohen Herrscher auffallend ähnlich war, allerdings ein paar Jahre jünger zu sein schien. Er trug einen gehörnten Helm und ein schweres goldenes Amulett, das ihn als Geistlichen auswies. Rhapsody glaubte in ihm jenen Seligpreiser wiederzuerkennen, dessen Diözese aus den Nordprovinzen Canderre und Yarim bestand und den sie auf einem der Porträts in der Feuerbasilika gesehen hatte.
Der Herrscher über Roland zügelte seinen walnussbraunen Wallach und stieg aus dem Sattel. Offenbar hatte er es eilig, die für ihn so unangenehme Angelegenheit hinter sich zu bringen. Er hatte alle anderen Möglichkeiten in Gedanken durchgespielt und war zu der frustrierenden Einsicht gelangt, dass an dem verlangten Abkommen kein Weg vorbeiführte. Sein Vorschlag einer Invasion des Feindeslandes war von den anderen Herzögen entschieden zurückgewiesen worden.
Das benachbarte Sorbold, ein friedliebender Rivale und Handelspartner, hatte – nicht zuletzt unter dem Eindruck der vernichtenden Niederlage des orlandischen Heeres – ebenfalls kein Interesse daran, Krieg gegen die Bolg zu führen; im Gegenteil, man hoffte, den neuen Kriegsherrn als Freund zu gewinnen, und erklärte, dass man schon seit langem den Wunsch hege, mit den Bolg Handel zu treiben. Tristan Steward sah die Gesandte der Bolg von ihrem Pferd steigen und herbeikommen. Wie von ihm befürchtet und insgeheim erhofft, war es die Frau, der er vor einigen Wochen die kalte Schulter gezeigt und die er seitdem vergeblich aus seinen Gedanken zu vertreiben versucht hatte. Er war auf ihren Hohn gefasst, wurde aber stattdessen mit freundlichem Lächeln willkommen geheißen.
»Guten Tag, Eure Hoheit«, sagte sie und verbeugte sich. »Euer Erscheinen ehrt uns.« Ihre Stimme war ohne jeden Sarkasmus, und als er in ihre Augen blickte, spürte der Hohe Herrscher von Roland, wie ihm vor Lust und Verlangen die Knie weich wurden. Er musste sich selbst Gewalt antun, um der ihm hier und jetzt abverlangten Aufgabe gerecht zu werden.
»Meine Dame, erlaubt, dass ich Euch meinen Bruder, Seine Gnaden Ian Steward, den Segner von Canderre-Yarim, vorstelle.
Rhapsody verbeugte sich über den ihr Entgegengestreckten Siegelring. »Euer Gnaden.«
»Meinen Cousin, den Herzog Stephen Navarne, kennt Ihr ja bereits, wenn ich richtig informiert bin.«
»So ist es. Wie geht es Euch, mein Herr?«
»Danke, sehr gut. Es freut mich, dich zu sehen.«
Rhapsody lächelte. »Ganz meinerseits.«
Sie nickte ihrer Leibgarde zu, worauf zwei der zwölf Soldaten einen Tisch und Stühle herbeiholten. Die beiden Bolg grinsten angesichts der orlandischen Herren, die von der monströsen Gestalt ihrer Gegenüber sichtlich beeindruckt waren.
Als sich die beiden Kolosse diskret zurückgezogen hatten, räusperte sich Tristan Steward und sagte:
»Nun, wir haben ein paar Dokumente mitgebracht, die Ihr bitte begutachten möget. Da wäre zunächst der Entwurf für ein Handelsabkommen, der von der zuständigen Kammer in Bethania bereits abgesegnet wurde und somit auch die Zustimmung aller einschlägigen Stellen in den Provinzen finden dürfte. Er entspricht in allen Einfuhrbestimmungen und Zolltarifen den Verträgen, die auch für den Handel mit unseren langjährigen Geschäftspartnern im Ausland gelten, ja sogar für den Handel zwischen den Provinzen.«
»Ich fürchte, das wird nicht genügen«, antwortete Rhapsody freundlich. »Wir fordern, dass in den ersten zehn Jahren überhaupt keine Zölle erhoben werden – als Zeichen des guten Willens, denn Roland will doch gewiss die junge Wirtschaft der Firbolg nach Kräften unterstützen, nicht zuletzt um die seit Jahrhunderten willkürlich begangenen Zerstörungen zu reparieren, die Roland unter der Führung von Bethania in Ylorc angerichtet hat.«
Wie auf Kommando klappten drei Kinnladen herunter. Stephens Ausdruck wechselte schnell in ein Schmunzeln über, doch der Regent und der Segner schnitten eine weniger freundliche Miene.
»Ihr scherzt«, sagte der Hohe Herrscher von Roland. »Auf Zölle verzichten? Was für einen Sinn hätte es dann, überhaupt noch Handel zu betreiben?«
»Nennen wir es freien Warenverkehr, Hoheit«, antwortete Rhapsody. »Den fairen Tausch von Gütern, Währungen oder Dienstleistungen. Wie auch immer, König Achmed wird nie und nimmer bereit sein, Abgaben zu zahlen, mit denen Heere unterhalten werden, die seine Untertanen aufs Grausamste unterdrückt haben. Andererseits würde er es als eine Geste Eurer wahren Friedensbereitschaft werten, wenn Ihr auf Zölle verzichtet.«
»Ich bin gern dazu bereit«, sagte Herzog Stephen und ignorierte die strafenden Blicke der beiden orlandischen Brüder. »Das kann ich für Navarne so verfügen, denn es ist ja geltender Brauch, dass die Provinzen ihre Zölle selbst festsetzen, nicht wahr, Tristan?«
»So ist es«, knurrte der Hohe Herrscher von Roland.
»Nun, Navarne schuldet der königlichen Exzellenz von Ylorc seine Dankbarkeit für die selbstlose Rettung der Kinder seiner Provinz. Man darf wohl außerdem davon ausgehen, dass die cymrische Linie von Roland nicht weniger glücklich und dankbar für die Befreiung des Hauses der Erinnerung und der Restauration seines Baumes ist.« Er zwinkerte Rhapsody heimlich zu.
»Ich schlage also vor, Tristan, du entscheidest für Bethania und lässt den anderen freie Hand. Wie die anderen Provinzen entscheiden werden, glaube ich voraussehen zu können: Sie werden gern bereit sein, ihre Einfuhrzölle allein schon gegen die Chance einzutauschen, firbolgsche Waffen zu Gesicht zu bekommen.«
»Da könntest du sogar Recht haben. Also gut, es wird vermutlich nicht schaden«, gab Tristan Steward klein bei.
»Ausgezeichnet, vielen Dank«, sagte Rhapsody und zeigte ein strahlendes Lächeln. Ungeachtet der lüsternen Blicke, mit denen sie taxierte wurde, ergänzte und unterzeichnete sie den Vertrag. »So, und was hätten wir als Nächstes?«
Der Hohe Herrscher entrollte ein weiteres Schriftstück. »Unter der Voraussetzung einer Nichtangriffserklärung auf Seiten von Ylorc und der Erlaubnis, die Gefallenen der jüngsten Schlacht in ihre Heimat überführen zu lassen, erklärt sich Roland als vereinigtes Königreich bereit, sich in Zukunft aller unrechtmäßigen feindlichen Handlungen gegenüber Ylorc zu enthalten.«
Rhapsody schüttelte den Kopf, zeigte sich aber weiterhin freundlich.
»Dem kann ich nicht zustimmen«, sagte sie. »Es gibt keine Toten mehr, die überführt werden könnten. Es ist, als wäre Euer Heer spurlos im Meer versunken, Hoheit. Lasst die Geschichte ihr Andenken bewahren und vergesst die sterblichen Überreste.«
Sie beugte sich vor und ergänzte, verschwörerisch flüsternd:
»Unter uns, die Schlacht hat keine Viertelstunde gedauert. Danach schien es, als wäre nichts passiert. Zurück zu Eurem Entwurf: Das Wort ›unrechtmäßig‹ gefällt mir nicht. Das, was Roland jahrhundertelang als rechtmäßig angesehen hat, ist vor kurzem noch einmal in aller Scheußlichkeit deutlich geworden. Nein, die gegenseitige Nichtangriffserklärung muss uneingeschränkt gelten und von beiden Regenten unterzeichnet werden. König Achmed garantiert seinen Nachbarn friedliche Koexistenz und verlangt im Austausch von der Führung Rolands eine entsprechende Garantie. Jede Verletzung des Vertrages käme einem Wortbruch gleich und würde als Kriegshandlung gewertet werden. Der Aggressor müsste als Strafe dafür ein Zehntel seines Territoriums abtreten. Wie fändet Ihr das?« Angesichts der entsetzten Gesichter ihrer Verhandlungspartner musste sie sich ein Lachen verkneifen.
»Wäre das nicht ein wenig übertrieben?«, fragte der junge Segner von Canderre-Yarim. »Und überhaupt, wer hätte Interesse an einem Zehntel von Ylorc?«
Rhapsody lachte laut auf. »Euer Gnaden, wie köstlich, Euer Einwurf, der gewiss ehrlich gemeint, aber für einen so frommen Mann, wie Ihr es seid, nicht gerade schicklich ist. Eine solche Strafklausel kann doch wohl nicht schrecken, wenn die Absichten Rolands ehrenvoll sind, woran ich keinen Zweifel hege, und der Hohe Herrscher fest zu seinem Wort steht, wovon ich gleichfalls ausgehe. Und was den Wert von Ylorc betrifft: Ich muss wohl nicht daran erinnern, dass es einst der Stammsitz der Cymrer war, der Ort, an dem Eure Vorfahren ihre Macht entfaltet haben?! Es wäre ein Fehler, nur den äußeren Schein zu bewerten, Euer Gnaden. In diesen Bergen leben ebenso viele Kinder des Allgottes wie in Eurer Diözese, vielleicht sogar mehr. Und damit erübrigen sich wohl alle weiteren Fragen nach dem Wert dieses Landes, oder?«
»J-ja«, stotterte der Segner, der, vom Hohem Herrscher mit finsteren Blicken bedacht, die Schultern einzog. »Aber sie hat Recht, Tristan. Das ist ein gerechter Vorschlag.«
Wütend griff der Hohe Herrscher nach der Feder und kratzte seine Unterschrift auf das Pergament. Als er damit fertig war, nahm Rhapsody ihm, um selbst zu unterzeichnen, die Feder aus der Hand und spürte seine Finger zittern. Seine bleichen Wangen liefen rot an.
»Damit kämen wir jetzt zu meinem Teil«, sagte der Seligpreiser und rollte ein letztes Schriftstück auseinander. »Die Bolgländer haben traditionsgemäß immer zur Diözese von Bethe Corbair gehört. Mit diesem Dokument bietet Lanacan Orlando, das Kirchenälteste von Bethe Corbair, den ... äh ... Bewohnern von Ylorc geistlichen Zuspruch und die Mitgliedschaft in seiner Diözese an. Der Segner von Bethe Corbair erklärt sich bereit, auf dem Boden Ylorcs Gemeinden einzurichten und mit Priestern auszustatten, wofür natürlich Steuern abzuführen wären.«
Er schaute nervös in die Runde. Dieser Vorschlag war der heikelste, denn die Länder der Bolg grenzten auch an Sorbold und damit an eine andere Diözese, die dem Patriarchen unterstellt war. Falls sich Ylorc dieser Diözese anschlösse, wären die Machtverhältnisse innerhalb Rolands auf prekäre Weise verschoben.
Rhapsody lächelte wieder. »Vielen Dank, Euer Gnaden. Auf diesen Punkt war ich gar nicht vorbereitet. Wem die Firbolg ihre religiöse Loyalität zu übertragen wünschen, ist eine Frage, dich ich nicht beantworten kann. Sie haben eine eigene Religion und ihre Schamanen. Mag sein, dass sie sich für Eure Kirche interessieren oder für die Religion von Gwynwald. Wie auch immer, darüber kann ich nicht befinden. Es wäre wohl das Richtige, wenn Ihr, oder der Kirchenälteste von Bethe Corbair, einen Gesandten schicktet, der sich über diese Fragen eingehend mit dem König unterhalten würde. Er hat mich beauftragt mitzuteilen, dass er ab Anfang nächsten Monats Eure Botschafter zu empfangen bereit ist.«
Der Seligpreiser nickte schweigend.
»Nun, meine Herren, wenn das alles ist, möchte ich Euch herzlich danken und noch einen guten Morgen wünschen.« Rhapsody erhob sich und gab ihren Wachen zu verstehen, dass sie Tisch und Stühle wieder wegräumen konnten, zumal auch die orlandischen Edelmänner inzwischen aufgestanden waren.
Sie steckte die Abschriften der Dokumente in ihre Tasche und wollte gerade gehen, als Herzog Stephen hinter ihr herrief: »So warte! Wir hätten noch ein paar Geschenke ... Die meinen sind ein Dankeschön des Volkes von Navarne und ein Andenken von deinen Enkelkindern, unter anderem ein kleines Bild von ihnen.«
Rhapsody strahlte übers ganze Gesicht. »Das ist aber lieb! Vielen Dank. Wie geht es Gwydion und Melisande?«
»Gut. Sie lassen schön grüßen und danken herzlich für die Flöte und die Harfe, die du ihnen geschickt hast. Und sie hoffen, dich bald wieder zu sehen.«
»Das hoffe ich auch. Gebt ihnen ein Küsschen von mir und sagt ihnen, dass ich, wie versprochen, jeden Tag an sie denke. Vielleicht werden sie mich eines Tages besuchen kommen.«
»Vielleicht«, antwortete Stephen und wich den ungläubigen Blicken seiner Vettern aus. »Alles Gute dir.«
Er trat einen Schritt zurück, um die Wachsoldaten passieren zu lassen, welche die von den beiden anderen Edelmännern mitgebrachten Truhen zu Rhapsodys Pferden schleppten, drückte ihr einen Kuss auf die Hand, stieg in den Sattel und ritt in Richtung Westen davon. Die anderen folgten ihm dichtauf. Am Rand des Feldes hielt der Hohe Herrscher von Roland noch einmal an, drehte sich um und hob winkend die Hand. Rhapsody lächelte und verbeugte sich respektvoll wie bei ihrer ersten Begegnung. Sein ernstes Gesicht heiterte sich sichtlich auf. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon.
»Für ein Bauerntrampel hab ich mich doch ganz gut geschlagen, Llauron, oder?«, sprach sie mit sich selbst, als sie auf ihre Stute zuging. Einem Soldaten, der an einer der Truhen herumfingerte, schlug sie auf die Hände und sagte: »He, Finger weg! Das sind meine Geschenke.«