42

»Sag jetzt nichts. Ich weiß schon. Es tut mir Leid.« »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Damit, dass man dir die Hand abhackt, wärst du noch gut bedient gewesen. Du hast mit deinem Leben gespielt.«

Jo seufzte. »Ich weiß.«

Rhapsody blieb abrupt stehen. »Warum, Jo? Du hast Geld von mir bekommen. Brauchst du mehr?«

»Nein.« Jo langte in die Tasche, holte die Münzen hervor, die ihr Rhapsody geschenkt hatte, und wollte sie zurückgeben.

Rhapsody starrte auf die offene Hand und sagte: »Erklär’s mir bitte, Jo.«

Betreten blickte das Mädchen zur Seite. »Ich weiß selbst nicht, warum.«

Rhapsody nahm Jos Gesicht in beide Hände und schaute ihr in die Augen. Die blickten trotzig drein, doch erkannte Rhapsody in ihnen auch eine tief steckende Furcht, die ihr zu Herzen ging. Es war der Blick des Straßenkindes, das nun fürchten musste, bei der einzigen Person, die an seinem Schicksal Anteil nahm, in Misskredit geraten zu sein.

»Na, nur gut, dass dir nichts passiert ist. Komm, wir sind mit Achmed zum Mittagessen verabredet.«

Jos Miene heiterte auf. »Das war alles? Du schreist mich nicht an?«, fragte sie verwundert. Rhapsody schmunzelte. »Willst du, dass ich das tue? Ich bin doch nicht deine Mutter. Ich bin deine Schwester und habe, als ich so alt war wie du jetzt, selbst jede Menge Dummheiten gemacht.«

»Ist das wirklich wahr? Was für Dummheiten?«

»Hat Achmed nicht erzählt, was in Bethania passiert ist? Komm.« Sie nahm Jo bei der Hand und führte sie zurück auf den Marktplatz.

Achmed wartete schon ungeduldig vor der Basilika von Bethe Corbair. Wenige Minuten zuvor war die Sonne durch ihren Zenit gegangen, doch die beiden Frauen ließen sich immer noch nicht blicken. In der alten Welt hätte er ihren Herzschlägen nachgespürt, um sich zu vergewissern, dass es ihnen gut ging. Doch diese Möglichkeit blieb ihm hier und jetzt versagt.

Oder? Jo zu finden war ihm tatsächlich nicht gegeben. Rhapsody aber stammte aus der alten Welt; ihren Herzschlag konnte er immer noch hören. Dazu musste er nur einen geschützten Ort aufsuchen und sich konzentrieren.

Achmed sah sich um und entdeckte eine kleine Taverne in der Nähe. Auf dem Gehweg davor standen ein paar Holztische, die vom Schmelzwasser des abgetauten Schnees noch ganz nass waren. Er ging darauf zu, zog eine Bank unter einem der Tische hervor, trocknete die Sitzfläche ein wenig ab und nahm darauf Platz.

Dann schloss er die Augen, versuchte, alle Geräusche der Straße auszublenden, insbesondere auch das Läuten der Glocken, die vom Wind auf immer neue, völlig unvorhersehbare Weise zum Klingen gebracht wurden.

Achmed öffnete die Lippen einen Spaltbreit, sog die kalte Luft ein und stieß sie pfeifend wieder aus. Die Hände hatte er auf die Tischplatte gelegt. Als wollte er prüfen, woher der Wind wehte, hob er den Zeigefinger der rechten Hand an und wiederholte damit in stark verkürzter Form jene Methode, mit deren Hilfe er damals, in der alten Welt, als Meuchelmörder seinen Opfern auf die Spur gekommen war.

Seiner dhrakischen Abstammung verdankte er eine vergrößerte Stirnhöhle und überlange Schilddrüse, mit denen er feinste Schwingungen zu empfangen und zu unterscheiden vermochte. Er erkannte Rhapsodys Pulsschlag auf Anhieb, hatte er doch – wenn man der Zeitrechnung glauben konnte – nunmehr seit Jahrhunderten an ihrer Seite gewacht, geruht und gekämpft.

Ein feinster Lufthauch reichte, um ihm ihren Rhythmus mitzuteilen.

Sie war in der Nähe. Er hatte ihren Herzschlag gefunden und spürte sie näher kommen. Schon wollte er die Suche abschließen, als er plötzlich einen scheußlichen Geschmack auf der Zunge wahrnahm, mehr sauer als gallig und ekliger noch als Erbrochenes. Es schmeckte faulig und nach Verwesung, ganz nach der Würze des Bösen. Ja, Achmed glaubte fast sicher zu sein, die Witterung des F’dor aufgenommen zu haben.

Er riss die Augen auf und sah Rhapsody mit Jo von links herbeieilen, aus dem Südwesten der Stadt. Der Pesthauch hingegen kam aus nördlicher Richtung, wovon er sich noch einmal mit geschlossenen Augen zu überzeugen versuchte.

Die Sonne verschwand gerade hinter dem Turm der Basilika. Im Schatten, der auf den Vorplatz fiel, war eine dunkle Gestalt aufgetaucht, die sich von den Konturen der behauenen Mauer dahinter nur vage abhob. Wieder ließ Achmed die Luft durch Mund und Nase streichen, und wieder nahm er den Geruch des Bösen wahr.

»Entschuldige die Verspätung«, sagte Rhapsody und rückte die Bank auf der anderen Tischseite zurecht. »Jo, setz dich. Bist du schon bedient worden, Achmed?«

Mit seiner Konzentration war es vorbei. Wie benommen blickte er zu ihr auf. Die Sonne trat wieder zum Vorschein und ließ eine Locke aufleuchten, die aus Rhapsodys Kapuze hervorlugte.

Als sich Achmed der fraglichen Gestalt auf dem Vorplatz zuwandte, entdeckte er, wenngleich an anderer Stelle und erst bei genauerem Hinsehen, einen ganz und gar unauffälligen Mann, der den Blick auf sie gerichtet hatte.

Sofort stellten sich ihm sämtliche Nackenhaare auf. Zwar konnte er keine Witterung von diesem Mann aufnehmen, doch sprach alles dafür, dass er und die soeben entdeckte Schattengestalt identisch waren. Der Mann trug einen Umhang und verbarg sein Gesicht. Als dann die Sonne auf ihn fiel, schien es, als dampfte er, als umhüllte ihn ein Nebelschleier. Zu Achmeds Verwunderung und Ärger kam der Mann nun auf sie zu.

Der Wirt trat mit einem Tablett voller Speisen vor die Tür und trug sie den Gästen auf, die an einem der anderen Tische Platz genommen hatten. Achmed roch Hammelfleisch. Er verabscheute Hammelfleisch und verzog das Gesicht.

»Ist was?«, fragte Rhapsody besorgt.

Jo rückte näher. »Da ist er wieder. Er kommt her.«

»Wer?« Rhapsody reckte den Hals und warf einen Blick über die Schulter zurück.

»Der Mann von vorhin.« Jo errötete; ob aus Scham oder vor Aufregung, war kaum zu unterscheiden. Rhapsody erhob sich und setzte eine schroffe Miene auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Achmed dem Mann den Rücken zugekehrt hatte, zu ihr aufblickte und seinen Dolch zog, womit er ihr offenbar kundtun wollte, dass er auf der Hut war. Sie nickte ihm kaum merklich zu, wie es Grunthor getan hätte. Die wortlose Verständigung zwischen ihnen klappte immer besser.

»Was willst du?«, fragte sie den Mann.

»Mit Verlaub«, antwortete er in einer angenehm dunklen Stimme, in der eine interessante, trockene Note mitschwang. »Ich wollte mich noch für mein grobes Verhalten entschuldigen.«

»Das hast du bereits getan. Und jetzt entschuldige uns bitte.«

»Es wäre mir lieb, wenn ich Wiedergutmachung leisten und euch beiden ein Mittagessen spendieren könnte.« Und mit einem Seitenblick auf Achmed fügte er hinzu: »Eurem Freund natürlich auch.«

Achmed sagte nichts. Er behielt Rhapsody im Auge und schien auf ein Stichwort zu warten. Sie dachte nach und richtete den Blick auf Jo, die sichtlich nervös geworden war. Achmed sah, wie Rhapsody die Stirn in Falten legte, als sie ihre neue Schwester musterte und sich dann wieder dem Mann zuwandte, der hinter Achmed stand.

Schließlich senkte sie den Blick auf Achmed und fragte: »Was meinst du?«

»Wenn er unverschämt war, schick ihn weg«, sagte er ruhig. »Es könnte sein, dass er dich wieder belästigt, und dann müsste ich ihn umbringen. Ich habe allerdings keine Lust, noch vor dem Mittagessen deine Ehre verteidigen zu müssen. Darunter hätte nicht zuletzt meine Verdauung zu leiden.«

Der Mann hinter ihm kicherte, was Achmed als gutes Zeichen wertete. Auch Rhapsody schmunzelte.

»Ich finde, wir können’s riskieren«, sagte sie und wandte sich wieder an Jo. »Was meinst du?«

»Ja, sicher«, antwortete Jo spontan.

»Also dann.« Rhapsody zeigte auf den leeren Platz neben Achmed. »Warum setzt du dich nicht?«

»Wie heißt du?«, fragte Jo und rutschte aufgeregt hin und her.

»Ashe«, antwortete der Fremde. Er warf einen Blick auf den Eingang der Taverne, als gerade der Wirt daraus hervortrat. »Und wie ist dein Name?«

Das Mädchen ließ mit der Antwort nicht lange auf sich warten. »Jo. Und das ist Rhapsody, und das ist... au!« Weiter kam sie nicht, weil die Schwester ihr einen Knuff versetzt hatte.

»Es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen, Jo«, sagte der Kapuzenmann und wandte sich an Rhapsody, die ihren Blick immer noch auf das Mädchen gerichtet hielt. »Rhapsody. Was für ein schöner Name. Bist du Musikerin?«

»Ja, sie ist... autsch! Hör auf damit«, maulte Jo und rückte ein Stück zur Seite.

Der Mann hüstelte in die vorgehaltene Hand. Achmed glaubte, ein Lächeln unter der Kapuze ausmachen zu können. »Ist Jo eine Abkürzung? Wofür? Joanna? Joella?«

Das Mädchen wurde rot bis unter die Haarwurzeln. »Josephine«, antwortete sie im Flüsterton. Rhapsody staunte nicht schlecht. Sie selbst hatte der neu adoptierten Schwester nicht entlocken können, was diese nun dem Fremden freimütig anvertraute.

»Auch ein sehr hübscher Name.« Und an Achmed gewandt: »Darf ich fragen, wie Er heißt?«

Es war das erste Mal, dass Achmed nun den Blick auf ihn richtete, doch er sah nicht viel mehr als sie Spitzen eines zerzausten Bartes. »Nenn mich einfach ›Herr‹«.

»Sei doch nicht so unhöflich, Achmed«, empörte sich Jo, die aber rasch zur Besinnung kam, als sie sich seinem strafenden Blick ausgesetzt sah, und erkannte, dass es nun besser war, den Mund zu halten. Zum Glück kam in diesem Augenblick der Wirt an den Tisch und fragte nach den Wünschen seiner Gäste.

Jo bestellte Hammelbraten, Rhapsody Brot und Käse. Achmed und Ashe verlangten gleichzeitig nach Eintopf, was die beiden selbst überraschte. Sie sahen einander an und schienen ihre Wahl noch einmal zu überdenken. Der Wirt war, als er Ashes Stimme hörte, vor Schreck zusammengezuckt, hatte er diesen grauen Gast doch völlig übersehen.

Von Achmeds überdeutlichen Blicken endlich zur Räson gebracht, sagte Jo während der gesamten Mahlzeit kein einziges Wort mehr. Rhapsody gab sich redlich Mühe, die Spannungen am Tisch ein wenig aufzulockern, plauderte und scherzte mit dem Fremden, der am Ende beide Frauen zum Lachen brachte. Achmed hörte aufmerksam zu. Ashes lockere Art zu reden ging ihm zwar auf die Nerven, doch an dem, was er sagte, war kein Anstoß zu nehmen. Viel mehr machte ihm der Geruch von Jos Hammelbraten zu schaffen. Ihm wurde fast schlecht davon, und er konnte es kaum abwarten, endlich vom Tisch aufzustehen.

Als die Teller geleert waren, hatten sich Ashe und die Frauen über das Wetter, die Glocken der Basilika und über Qualität und Auswahl der Waren auf dem Markt unterhalten. Nichts von Belang. Achmed stand auf und stieß die Bank zurück, die er sich mit dem Fremden teilte. Der reagierte erstaunlich schnell und war aufgesprungen, ehe die Bank unter ihm wegrutschte.

»Wohin des Wegs?«, fragte Jo den Fremden, als dieser eine übergroße Geldbörse aus den Falten seines Umhangs zog und Rhapsody Gelegenheit bot, sich ein Bild von dieser Börse zu machen. Rhapsody lachte, während Jo vor Verlegenheit wieder rot anlief.

Ashe warf zwei Silbermünzen auf den Tisch, womit das Essen großzügig beglichen war. »Nach Süden. Und ihr?«

Noch ehe Rhapsody ihr ins Wort fallen konnte, sprudelte es aus Jo heraus: »Wir ziehen nach Canrif und wollen uns da niederlassen.«

Der Fremde war, wie Achmed bemerkte, sichtlich bestürzt. »Warum?«

»Nun, ob wir uns da wirklich niederlassen, ist noch längst nicht entschieden«, korrigierte Rhapsody.

»Wir wollen uns dort erst einmal nur umschauen. Es soll ein interessanter Ort sein.«

»So kann man’s auch ausdrücken«, erwiderte Ashe trocken. »Wollt ihr euch über längere Zeit dort aufhalten?«

»Sie hat doch eben erst gesagt, dass wir das noch nicht wissen«, blaffte Achmed.

»Wieso interessiert dich das?«, beeilte sich Rhapsody zu fragen.

»Ich werde mich in gut zwei Monaten auch wieder einmal in der Gegend um Canrif aufhalten. Wenn ihr dann noch da seid, könnte ich auf einen Sprung bei euch vorbeischauen.«

»Ja, warum nicht«, freute sich Jo, doch die Blicke von Rhapsody und Achmed brachten sie zum Schweigen.

»Vielleicht sind wir dann noch da. Wer weiß?« Rhapsody erhob sich von der Bank. »Wenn ja, bist du uns natürlich willkommen.«

»Es würde mich freuen, euch wieder zu sehen. Alles Gute. Und eine angenehme Reise. Guten Tag.«

Ashe verbeugte sich vor den Frauen, nickte Achmed kurz zu und ging in Richtung Marktplatz davon. Nach ein paar Schritten blieb er noch einmal stehen, drehte sich um und sagte mit Blick auf Rhapsody:

»Ich hoffe, mein ungebührliches Betragen ist verziehen.«

»Das ist es«, erwiderte Rhapsody lächelnd. »Schon vergessen.« Der Fremde verbeugte sich noch einmal und war wenig später verschwunden.

An Jo gewandt, sagte Rhapsody schmunzelnd: »Siehst du, so schnell kann sich das Blatt wenden. War doch gut, dass dir die Börse nicht in die Hände gefallen ist, oder? Sonst hätten wir für unser Mittagessen selbst zahlen müssen.«

Achmed hatte sich wieder auf die Bank gesetzt und forderte die beiden auf, ebenfalls Platz zu nehmen.

»Aber es wäre vielleicht noch genug übrig geblieben, um festen Zwirn zu kaufen, mit dem sich geschwätzige Mäuler zusammennähen lassen.«

»Ach, stell dich nicht so an«, entrüstete sich Rhapsody, denn das Mädchen reagierte sichtlich betroffen auf Achmeds Worte.

»Na schön. Allerdings würde ich doch gern erfahren, wer das war und warum er euch gefolgt ist.«

Die beiden setzten sich. Rhapsody legte die Stirn in Falten und antwortete: »Da bin ich überfragt. Er ist uns auf dem Marktplatz begegnet und hat uns zum Mittagessen eingeladen.«

»Was hat er getan? Was hat es mit diesem ungebührlichen Betragen‹ auf sich?«

Rhapsody sah Jo an, die offenbar mit den Tränen kämpfte. Sie suchte unter der Tischplatte nach der Hand des Mädchens, streichelte sie tröstend und legte sich, die Szene auf dem Marktplatz vor Augen, eine Antwort für Achmed zurecht.

Sie erinnerte sich, was dazu geführt hatte, dass sie dem Mann ans Gemächt gegangen war. Scheint alles in Ordnung zu sein. Die Empfindung kommt wieder zurück, nicht wahr?

Die war nie weg. Nur die Art der Empfindung hat sich verändert. Ich glaube, wir sollten die Behandlung fortsetzen.

Sie hatte gelacht, sich bei ihm entschuldigt und war dann mit Jo gegangen.

So warte!

Ja? Sie hatte ein Kribbeln auf der Haut gespürt, ein Gefühl, das ihr Vater früher, als sie noch ein Kind gewesen war, oft mit den Worten kommentiert hatte, dass eine Gans über ihr Grab gewatschelt sei. Der seltsame Fremde hatte sie zum Essen eingeladen und sie, Rhapsody, beleidigt mit der Unterstellung, eine Kurtisane zu sein.

»Nichts Besonderes. Er hat zu flirten versucht, Achmed, was ihm nicht so recht gelingen wollte. Trotzdem fand ich seine Gesellschaft nicht unangenehm – im Unterschied zu dir. Du scheinst dich ja sehr an ihm gestört zu haben.«

»Verdankst du ihm diese Ohrringe?«

Rhapsody errötete. An den Schmuck hatte sie schon gar nicht mehr gedacht. »Nein, die hat mir ein Juwelier geschenkt, weil ich ihm geholfen habe, als sein Verkaufsstand um ein Haar in den Unfall zweier Ochsengespanne verwickelt worden wäre.«

»Hmmm. Na schön, lassen wir’s dabei bewenden. Es bleiben uns noch ein paar Stunden, bis wir wieder mit Grunthor zusammentreffen. Wir könnten die Zeit nutzen und uns weiterhin in der Stadt umsehen. Vielleicht lernen wir auf diesem Weg auch schon ein bisschen von Canrif kennen, denn es heißt ja, dass ein Großteil von Bethe Corbair zum Schutz vor drohenden Angriffen der Firbolg gebaut worden sei.«

»Ich dachte, die Cymrer hätten Bethe Corbair aufgebaut«, entgegnete Rhapsody und faltete ihre Serviette zusammen. »Wenn Stephen Navarne Recht hat, waren sie die Bauherren der Basilika.«

»Ja, und auch der eigentlichen Stadt. Aber wenn du genauer hinsiehst, wird dir auffallen, dass Bethe Corbair – im Unterschied zu den anderen größeren Ortschaften Rolands, die wir gesehen haben – aus einer Innenstadt mit prächtigen, kunstvollen Bauwerken besteht und einem später dazugekommenen Ring aus einfach gemauerten Häusern, die von Soldaten entworfen worden sind und von Anfang an als bewohnter Schutzwall gedacht waren. Im weiteren Umkreis sind sonst kaum Bauernhöfe oder Siedlungen von Landarbeitern zu finden, und die wenigen Gehöfte, die es gibt, liegen gleich hinter der Stadtmauer. In den Außenbezirken der Stadt werden wir bestimmt ein paar interessante Dinge erfahren können.«

»Das ist sehr gut möglich. Bin gleich wieder da....« Rhapsody stand auf. »Bevor wir gehen, möchte ich noch einen Blick auf den Glockenturm werfen.« Sie tätschelte Jos Schulter und überquerte die Straße in Richtung Basilika.

Jo schaute ihr nach und wandte sich dann an Achmed. »Ich will dir was verraten: Die Ursache für den Unfall war niemand anders als sie«, sagte sie.

Er kniff die Brauen zusammen. »Wovon redest du da?«

»Von den beiden Ochsenkarren, die zusammengekracht sind. Ich war ganz in der Nähe, als es passiert ist. Schon den ganzen Morgen über haben sich alle Leute die Augen nach ihr aus dem Kopf geguckt, trotz der Kapuze. Als sie die dann abnahm, um die Ohrringe anzustecken, haben die beiden Fuhrwerker nicht mehr auf den Weg geachtet, sondern nur noch auf sie. An anderer Stelle haben einige Kerle ihr Blumen auf den Weg gestreut, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie hat die Blumen aufgehoben und ihnen zurückgegeben, weil sie dachte, dass die Idioten sie aus Versehen fallen gelassen hätten. Wirklich seltsam.«

Achmed nickte. Er hatte seit dem gemeinsamen Aufstieg aus der Wurzel viele ähnliche Szenen erlebt.

»Und sie hat keine Ahnung«, sagte Jo.

»Tja, ich glaube, sie wird auch nie dahinter kommen.«

Über den brach liegenden Feldern am Stadtrand von Bethe Corbair ging die Sonne unter, als die drei zur verabredeten Stunde mit Grunthor zusammentrafen. Sie tauschten Ergebnisse und Eindrücke ihrer Erkundigungen aus und nahmen Bestand von ihren Vorräten auf, die sie in der Stadt aufgestockt hatten.

»Ich bin jetzt mehr denn je überzeugt davon, dass es sich lohnen wird, Canrif aufzusuchen«, sagte Achmed während des gemeinsamen Abendessens. »Canrif scheint ein sehr wichtiger Ort zu sein, voller Möglichkeiten, aber offenbar schlecht verwaltet. Was fehlt, ist eine tüchtige Führung, und wenn mich nicht alles täuscht, ist das für uns die Gelegenheit.«

»Was soll das heißen?«, fragte Rhapsody und wischte sich den Mund mit ihrer Serviette ab. Achmed blickte zum dunkler werdenden Himmel empor. »Die Bolg sind fällig; sie brauchen einen König, der was aus ihnen macht, und ich kenne da jemanden, der diesen Job übernehmen würde.«

»Willst du etwa dieser Jemand sein?« Rhapsody machte aus ihrer Skepsis kein Hehl.

Achmed sah ihr in die Augen. »Was hättest du gegen mich einzuwenden?«, entgegnete er in gespielter Entrüstung.

»Ich wusste noch gar nicht, dass königliches Blut in deinen Adern fließt.«

Die beiden Firbolg lachten. »An diesen Quatsch vom Gottesgnadentum der Könige können auch nur die Menschenvölker glauben«, sagte Achmed. »Unter uns Bolg gibt es keine Klassenunterschiede. Es herrschen diejenigen, die dazu in der Lage sind, entweder ihrer Stärke oder ihrer Genialität wegen. Ich habe beides zu bieten.«

Rhapsody schaute ins Lagerfeuer und sagte eine Weile nichts. Seine Worte ergaben durchaus Sinn, waren aber unvereinbar mit dem, was sie in dieser Frage für gut und angemessen halten konnte und was nicht. Allerdings waren auch diese Vorstellungen längst auf den Kopf gestellt. Llauron hatte sie ein Bauernmädchen genannt und trotzdem mit dem Herzog bekannt gemacht.

»Wir werden uns schon gut einfügen«, sagte Achmed, »selbst ihr zwei als Nicht-Bolg, die ihr seid.«

»Der Meinung bin ich auch«, brummte Grunthor, der an einer Schweinehaxe knabberte.

»Wo rein? In die Gesellschaft der Firbolg?«, wollte Jo wissen. Sie verhielt sich wieder ganz so, wie man es von ihr kannte. »Nie und nimmer werde ich mich auf diese Ungeheuer einlassen können.«

»Wart’s ab«, sagte Rhapsody mit Blick auf die beiden Gefährten aus der alten Welt. »Was man sich so über die Bolg erzählt, ist zum großen Teil stark übertrieben. Für mich sind es jedenfalls keine Ungeheuer. Wer weiß, vielleicht werden wir sie am Ende noch gern haben.«

Achmed und Grunthor schmunzelten vor sich hin und aßen weiter.

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