30

»Das tut mir sehr Leid«, sagte Rhapsody. »Ist auch er einer dieser unerklärlichen Feindseligkeiten zum Opfer gefallen?«

Stephen fächelte vorsichtig mit der Hand den Staub von den Gegenständen auf dem Tisch, die ihm offenbar lieb und teuer waren. »Man kann sagen, dass Gwydion das erste Opfer überhaupt war«, antwortete er und rückte den Siegelring auf dem Tischtuch zurecht.

»Seit zwanzig Jahren tot?«, fragte Achmed. »So lange gibt es nun schon diese Überfälle?«

Stephen lächelte und lehnte sich an die Wand neben dem Schrein. »Ich muss euch wohl nicht sagen, dass es immer schon Diebes- und Mörderbanden gegeben hat, die über unschuldige Reisende hergefallen sind oder Dörfer geplündert haben«, sagte er. »Aber der Mord an Gwydion steht unter anderen Vorzeichen. Er war ein ungemein starker, kampferprobter Mann und gut gerüstet. Doch die Wunden, die ihm geschlagen wurden, sind nicht zu beschreiben. Wer oder was ihn getötet hat, muss von unvorstellbarer Kraft und Grausamkeit gewesen sein.«

»Wär’s ein Tier?«, fragte Grunthor.

Der Herzog zuckte mit den Achseln und seufzte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Möglich, ja; es sah alles danach aus. Ich war derjenige, der ihn fand, und mir war auf dem ersten Blick klar, dass er im Sterben lag. Die Brust war ihm aufgerissen, das Herz entblößt. Er verblutete.« Rhapsody legte ihm eine Hand auf den Arm, was er mit einem flüchtigen Lächeln quittierte. Doch dann verdüsterte sich seine Miene wieder.

»Ich wagte es nicht, ihn zu bewegen, aus Angst, ihm könnten die Organe aus der Brust fallen. Also deckte ich ihn mit meinem Mantel zu und suchte eilends seinen Vater auf. Der machte sich sofort auf den Weg zu seinem Sohn und schickte mich los mit dem Auftrag, Khaddyr, den großen filidischen Heiler, zu holen. Als ich mit dem Priester zurückkehrte, war Gwydion schon zwei Tage tot. Er muss gleich, nachdem ich ihn verlassen hatte, gestorben sein. Ich sollte wohl dankbar dafür sein, dass ich mich zumindest noch von ihm verabschieden konnte. Im Fall von Lydia war mir das nicht vergönnt.« Er senkte den Blick und presste die Lippen aufeinander. »Entschuldigt. Man sollte meinen, dass ich inzwischen darüber hinweggekommen wäre.«

Rhapsody strich tröstend über seinen Arm. »Für Trauer gibt es keine Frist; sie nimmt sich so viel Zeit, wie sie braucht.«

Der Herzog legte seine Hand auf die ihre und seufzte wieder. »Ja, so ist es wohl. Wie auch immer, ich glaube, der Schock über Gwydions Tod hat es mir Jahre später etwas leichter gemacht, den Verlust von Lydia zu akzeptieren. Gwydion und ich waren Freunde seit unserer Kindheit. Wir lernten uns in Manosse kennen, wo er zu Hause war – seine Mutter stammte von dort. Später kehrte er mit mir hierher zurück, denn ich musste mich nach dem Tod meines Vaters um das Herzogtum kümmern. Brüder hätten sich nicht näher stehen können, als wir es taten. Er wäre der Patenonkel meines Sohnes geworden, der nun nach ihm benannt ist. Sein Tod war eine Warnung für das, was kommen sollte, aber nicht mehr aufzuhalten war.«

»Doch jetzt scheinen es die Marodeure vor allem auf Kinder abgesehen zu haben. Das sagtet Ihr doch, nicht wahr?«, erinnerte ihn Achmed.

»Ja, zumindest hier bei uns in Navarne und im Land der Lirin, wenn ich richtig informiert bin. Meine Kundschafter berichten, dass es diese Überfälle auf ganz breiter Front gibt, nicht zuletzt auch in den Bolgländern, in Sorbold, den neutralen Staaten bis hin zu Hintervold im Norden. Ob sie überall nach gleichem Muster ablaufen, kann ich nicht sagen.«

Er trat vor eine der Lampen und drehte den Docht herunter. »Nun, ihr habt alles gesehen. Gehen wir zurück ins Haus.«

Während die Männer die Lichter löschten, blieb Rhapsody noch eine Weile vor dem Schrein stehen und strich mit den Fingerspitzen über das Altartuch. Vorsichtig nahm sie den Siegelring zur Hand und führte ihn an ihre Wange.

Das kühle Metall auf der Haut zu spüren tat ihr gut – warum, konnte sie sich selbst nicht erklären. Sie tastete über die flach geschmiedete Oberfläche und musterte das Wappen, auf dem ein Drache abgebildet war, der sich um einen Baumstamm wand, ein Symbol, das man sonst nur selten zu Gesicht bekam, in diesem Museum aber durchaus häufig wieder zu finden war.

Erinnerungen sind die ersten Geschichten, die man selbst zu erzählen weiß. Sie sind die Kunde deines eigenen Lebens.

Rhapsody glaubte die Worte im Geiste zu hören. Seltsam, dachte sie. Die Dinge, die es hier zu sehen gab, gehörten nun wahrhaftig nicht zu ihren Erinnerungen. Den Ring hatte sie nie zuvor gesehen, den Namen Gwydion von Manosse nie gehört. Womöglich war Stephens Erinnerung an seinen Freund dermaßen lebendig, dass die eigenen Gedanken davon berührt wurden.

Sie summte einen weichen Ton vor sich hin, der dazu angetan war, die Schwingungen fremder Gegenstände und deren Besitzer zu unterscheiden. Für einen kurzen Augenblick tauchte in ihrer Vorstellung das schemenhafte Bild eines Mannes auf, der in unvorstellbaren Schmerzen verging, ein Bild, das ihr auch schon unterwegs auf der Wurzel erschienen war. Sie ließ den Ring fallen. Stephen und die beiden Firbolg gingen bereits die Treppe hinunter. Grunthor drehte sich nach ihr um.

»Kommst du, Gräfin?«

Rhapsody nickte und eilte dem Riesen entgegen, der mit der Fackel in der Hand auf sie wartete. Im Flammenschein glühten die Augen des Drachenstandbilds bedrohlich und unheilvoll. Rhapsody warf noch einmal einen Blick zurück auf den Schrein, der jetzt im Dunkeln lag.

»Ich wünschte, ich hätte dir helfen können«, flüsterte sie.

Im Turm des Schlosses gingen die Lichter aus, eins nach dem anderen. Mit ihnen verschwand der rosige Schimmer der Ziegel, über die sich nun nächtlicher Schatten legte.

Achmed schaute zum Fenster hinaus, bis nur mehr der schwache Abglanz der Fackeln zu sehen war. Die für das Löschen der Lichter zuständigen Dienstboten hatten ihre Arbeit getan, und jetzt war alles dunkel und still. Über dem Hof zog Nebel auf.

Er ging zur Tür, lauschte kurz und öffnete sie dann ganz vorsichtig, dass nur ja kein Laut zu hören wäre. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sich niemand im Flur aufhielt, kehrte er in den Raum zurück und setzte sich auf den Stuhl neben Grunthors Bett.

»Als ich noch Millionen von Herzschlägen unter der Haut gespürt habe, war das alles sehr viel einfacher«, sagte er und schenkte sich von Stephens bestem Weinbrand ein. »Jetzt habe ich immer nur das ungute Gefühl, dass mir da jemand auflauert.«

Grunthor öffnete die Stiefelschnallen und wickelte die Lappen von den Füßen, die ihm als Innenschuh dienten. Er blickte auf und meinte mit ernster Miene: »Es ist hier, stimmt’s?«

Achmed trank einen Schluck und beugte sich nach vorn. »Ich weiß nicht«, antwortete er mit ungewohnt weicher Stimme. »Mir schwant da etwas. Es ist in diesem Teil der Welt, aber ich weiß nicht, ob es wirklich ist, wofür wir es halten.«

Polternd fiel ein schwerer Stiefel auf den polierten Fußboden. »Ich nehme an, du hast das Amulett gesehn?«

Achmed nickte. »Ja, und es hat eine verblüffende Ähnlichkeit. Aber Llauron sagte doch, dass Tsoltan von MacQuieth umgebracht worden sei. Jedem anderen wäre zuzutrauen gewesen, dass er die Sache verpfuscht, den Menschen tötet und den Dämon laufen lässt. Nicht aber MacQuieth. Das hoffe ich zumindest.«

»Und was nun?«

Der Dhrakier rückte so nahe an Grunthors Ohr, dass kein Dritter hätte mithören können, selbst wenn er mit ihnen im Zimmer gewesen wäre.

»Es ändert sich nichts. Wir gehen nach Canrif. Da hatten die Cymrer ihr Machtzentrum eingerichtet. Und jetzt sind da die Bolg. Wenn es denn Antworten gibt, werden wir sie dort finden, darauf wette ich. Wie auch immer, der Weg führt über Bethania. Da steht die Basilika, die dem Feuer geweiht ist. Vielleicht lässt sich dort mehr erfahren.«

Grunthor nickte. »Und die Gräfin?« Achmed wich seinem Blick aus. Der Sergeant richtete den Oberkörper auf und packte den Dhrakier bei der Schulter. »Ich schlage vor, wir lassen sie hier zurück. Es hat keinen Sinn, sie in diese Sache mit Reinzuziehen.«

»Bei uns ist sie aber sicherer. Vertrau mir.«

Der Sergeant gab dem Freund einen Knuff und ließ dann von ihm ab. »Wer sagt das? Meinst du nich, dass sie mit jemandem wie dem Edlen besser dran war? Er scheint sich in sie verguckt zu ham und macht ihr den Hof. Sie mag seine Kinder. Ich würd sagen, wir lassen sie hier.«

Achmeds Augen schienen Funken zu verschießen wie seine Cwellan ihre tödlichen Scheiben.

»Und was, wenn er derjenige ist? Nicht auszudenken, was er ihr antun würde. Willst du das verantworten? Glaub mir, wenn dem so wäre, würde sie sich unter die Knute des Luftverschwenders zurücksehnen. Und du könntest ihr einen Gefallen erweisen, indem du deine Drohungen wahr machtest und sie lebendig zum Frühstück verspeisen würdest. Das wäre ein gnädigeres Ende für sie.«

Grunthor ließ sich aufs Kopfkissen zurückfallen.

Achmed seufzte und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Mit Bestimmtheit weiß ich nur, dass du’s nicht bist und dass ich es nicht bin. Alles andere ist ungewiss. Rhapsody wird’s wahrscheinlich auch nicht sein, aber ausschließen lässt sich das nicht. Es könnte durchaus sein, dass sie damals in Ostend als Lockvogel auf uns angesetzt wurde.«

»Das ist doch verrückt.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Womöglich weiß sie ja selbst nichts davon. Sie war lange Zeit bei Llauron. Was wissen wir denn schon?« Seufzend setzte Achmed den geleerten Schwenker ab.

»Pass auf, so machen wir’s: Wir nehmen sie mit nach Bethania. Dort werden wir uns die Basilika ansehen. Vielleicht finden wir Hinweise, die uns verraten, ob dieser verfluchte Seher Recht hatte oder nicht. Danach werde ich ihr reinen Wein einschenken. Und wenn sie dann zu Stephen zurückkehren will, soll sie’s tun. Ist das kein fairer Vorschlag?«

Grunthor streckte die Beine aus und zog die Bettdecke über den Bauch. »Was du so fair nennst...«

Am darauf folgenden Morgen frühstückte Rhapsody mit ihren neuen Enkelkindern und ging dann mit ihnen und ihrem Vater im Wald spazieren, während die beiden Firbolg ihre Sachen und den Reiseproviant zusammenpackten. Sie sang den Kindern Lieder vor, manche auf Lirin und auch solche, die sie von Llauron gelernt hatte, mit Versen, die in Orlandisch, der hiesigen Verkehrssprache, verfasst waren.

Sie ließ sich auch ganz neue Lieder einfallen, Lieder, die Meslisande und Gwydion auf musikalische Weise beschrieben, und allem Anschein nach erkannten sich die beiden tatsächlich darin wieder. Melisande hatte sie bei der Hand genommen und wich nicht mehr von ihrer Seite; Gwydion lief immer vornweg und versuchte, mit seinen Kenntnissen über den Wald und seiner Geschicklichkeit als Bogenschütze aufzutrumpfen. Der Herzog selbst sagte wenig, er beschränkte sich aufs Zuhören und schmunzelte vor sich hin.

In der kurzen Zeit des Miteinanders hatte Rhapsody schon viel über den jeweils eigenen Charakter ihren neuen Enkel erfahren. Der Ausdruck der Einsamkeit in Melisandes Augen war verschwunden; stattdessen zeigte sich nun in ihrer Miene die gleiche Lebenslust, die auch ihren Vater kennzeichnete. Sie sang mit Rhapsody, auch wenn sie die Lieder selbst nicht kannte, tanzte und stapfte, vor Vergnügen kreischend, durch die Pfützen auf dem Weg. Es war, als hätte sie nur auf die Erlaubnis gewartet, wieder fröhlich sein zu dürfen.

Gwydion wirkte zurückhaltender, obwohl er sich ansonsten weit zuversichtlicher gab als seine Schwester. In unbeobachteten Momenten legte sich ein melancholischer Schleier über sein Gesicht und die Augen zeugten von traurigen Gedanken, was Rhapsody nicht verborgen blieb.

Als die vier schließlich in den Schlosshof zurückgekehrt waren, verabschiedete sie sich von den Kindern, denn es war Zeit, dass sie mit ihrem Unterricht begannen. Rhapsody hockte sich auf die Fersen, fuhr mit den Fingern durch Melisandes goldene Locken und sagte: »Ich werde jeden Tag an dich denken. Du wirst mich hoffentlich auch nicht vergessen.«

»Bestimmt nicht«, antwortete das Mädchen und setzte eine geradezu empörte Miene auf. »Kommst du denn auch wieder zurück?«

»Ja«, sagte Rhapsody und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Das hoffe ich doch sehr.« Das Kind verlangte nach einer Zusicherung, doch sie wollte es nicht belügen, zumal nicht auszuschließen war, dass ihr womöglich das gleiche Schicksal wie seiner Mutter widerfahren würde. »Ich weiß leider nicht, wann wir uns wieder sehen. Aber das verspreche ich dir: Sobald ich die Möglichkeit dazu finde, werde ich dir schreiben.«

»Es bleibt dabei, ihr wollt in den Osten reisen?«, fragte Stephen, den Blick aufs Pflaster gesenkt. Sie schirmte mit der Hand das Licht der tief stehenden Wintersonne ab. »Ich glaube, ja. Die Entscheidung darüber liegt nicht bei mir.«

»Nun, wenn ihr euch etwas südlicher halten würdet, wäre in wenigen Tagen das Haus der Erinnerung erreicht, eine alte cymrische Festung, die auf die Tage der Ersten Flotte zurückdatiert. Sie ist mit Abstand das älteste cymrische Baudenkmal und hat eine sehr umfangreiche Bibliothek zu bieten. Als Halb-Lirin würde dich bestimmt auch der Baum dort interessieren. Es ist ein Ableger der mächtigen Sagia, der von der Ersten Flotte mitgebracht und im Hof der Festung gepflanzt wurde. Es ist eine wirklich beeindruckende historische Anlage. Umso mehr schäme ich mich, zugeben zu müssen, dass ich in letzter Zeit nur wenig für ihre Erhaltung getan habe. Der Bau der Verteidigungsanlagen hat Vorrang, denn der Schutz vor den drohenden Gefahren der Zukunft ist leider wichtiger als das Bewahren der Vergangenheit.«

»So ist es.« Sie gab Melisande noch einen Kuss und wandte sich dann dem Jungen zu. »Auf Wiedersehen, Gwydion. Du wirst mir fehlen. Wenn ich irgendwo schöne Pfeile oder Schnitzwerkzeuge sehe, werde ich sie dir zukommen lassen.«

»Danke«, sagte der Junge. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bin ich bestimmt größer als du.«

»Daran zweifle ich nicht«, lachte sie.

»Im nächsten Jahr werde ich dreizehn. Dann bist du hoffentlich wieder bei uns«, sagte Gwydion. Rhapsody stand auf und breitete die Arme auseinander. Der Junge drückte sich an sie, trat aber schon bald wieder einen Schritt zurück und nahm seine Schwester bei der Hand.

»Komm, Mellie«, sagte er. Das kleine Mädchen winkte ein letztes Mal und eilte dann mit dem Bruder ins Haus.

Stephen schaute den Kindern hinterher. Als er sie in Sicherheit unter der Obhut von Rosella wähnen konnte, wandte er sich wieder Rhapsody zu.

»Du bist jederzeit bei uns willkommen. Die Kinder wären glücklich, wenn du demnächst etwas länger bleiben könntest.« Die Knie wurden ihm weich, als er Rhapsody lächeln sah.

»Ihr seid sehr freundlich. Ich wünschte, das ließe sich so einrichten. Tatsächlich würde ich lieber hier bleiben als weggehen.«

»Dann bleib doch«, sagte er spontan und so überhastet, dass er darüber in Verlegenheit geriet und erneut den Blick zu Boden senkte. »Verzeih.«

Rhapsody legte ihm die Hand auf den Arm, was seinen Herzschlag auf alarmierende Weise beschleunigte und ihm die Röte ins Gesicht trieb. »Was wäre an einer solchen Einladung zu verzeihen?« Sie seufzte, und es war, als seufzte der Wind mit ihr. »Ich will ehrlich sein, Eure Hoheit: Es wird mir wohl in nächster Zeit, ob hier oder woanders, überhaupt schwer fallen, mich zurechtzufinden. Aber vielleicht habe ich mich ja wieder gefunden, wenn ich dann irgendwann zurückkomme.«

»Hoffen wir’s. Und vergiss nicht: Du hast hier immer ein Zuhause. Schließlich gehörst du zur Familie, Omama«, sagte er und lachte.

Der Herzog nahm ihre Hand, führte sie an seine Lippen und hakte sie dann unter, als er mit ihr auf die beiden Firbolg zuging, die auf sie warteten.

»Du musst wiederkommen«, flüsterte er, »und sei es nur, um mir nachträglich zu erzählen, wie du an diese beiden da geraten bist.«

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