Eine Landkarte oder ein ortskundiger Führer hätten nicht zuverlässiger sein können als Grunthors »Gefühl«. Er kannte sich in der Gegend bestens aus, und es schien, als hätte die Erde ihm, als er geschlafen hatte, ihre Geheimnisse ins Ohr geflüstert. Grunthor ließ die Gefährten an seinem Wissen teilhaben: Die Landschaft, in der sie sich aufhielten, bestand aus einer Reihe von Kalksteinhügeln, die unter dem großen Druck der Landmassen im Süden aufgeworfen worden waren.
So weit das Auge reichte, erstreckte sich dichter Wald. Felder oder größere Rodungen gab es keine. Die Anwohner begnügten sich offenbar mit kleinen Gärten, in denen angebaut wurde, was man zum Leben brauchte. Das Vieh weidete in den Wäldern. Im Osten lag ein kleiner Marktflecken, ein Dorf ohne nennenswerte Verteidigungsanlagen. Auch die ringsum verstreut liegenden Höfe schienen ohne Schutz auszukommen. Und dann war da noch der Baum.
»Der Baum?«, fragte Rhapsody nach, sichtlich erregt. »Der Wurzelzwilling?«
Der Sergeant zuckte mit den Achseln. »Scheint so. Er ist ganz in der Nähe, ein Stück weiter südlich. Er gleicht dem großen Lirin-Baum, durch den wir gekommen sind, hat aber seine Wurzeln überall. Der alte Wald hier scheint ein Teil davon zu sein.«
Rhapsody zog ihr Schwert und führte es über das Bündel gesammelten Reisigs in der Hoffnung, dass es schnell trocken werden würde. »Das hat meine Mutter auch immer von der Sagia behauptet. Sie nannte sie die Eiche der tiefen Wurzeln. Ich hatte damals noch keine Ahnung, wie zutreffend dieser Name ist. Die Lirin glauben, dass die Sagia mit allen lebenden Wesen in Verbindung steht. Wenn dieser Baum ihr Zwilling ist, wird es sich mit ihm ebenso verhalten.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, entgegnete Grunthor. »Aber eins ist sicher: Dieser Baum steht mit dem ganzen Wald in Verbindung. Mir war, als würd ich auf ’ner weiten Ebene stehn und diesen Baum noch so eben im Augenwinkel erkennen können, ohne zu wissen, dass es ihn überhaupt gibt, verstehst du?«
»Nicht direkt«, gab Rhapsody zu und steckte das Reisig mit dem Schwert in Brand. Es flammte auf wie Zunder.
»Ich verstehe«, erwiderte Achmed. »Wenn du die Welt in ihren Schwingungen siehst, reicht der Blick unendlich weit, aber manche Dinge ragen heraus wie Leuchtfeuer, Dinge von großer Energie.«
Grunthor richtete sich auf und fragte erstaunt: »Du meinst, ich seh die Welt schwingen?«
»Nein. Deiner Beschreibung nach bist du eher auf ganz elementare Art und Weise mit ihr verbunden. Es scheint mir fast, dass du eins bist mit der Erde – als wüsstest du, was sie weiß.«
»Ja, so ungefähr kommt’s mir auch vor.«
Achmed warf eine Hand voll Kletten ins Feuer. »Bei den UrSeren, dem ersten Volk auf der Insel, war das ähnlich. Von ihnen war jeder Einzelne mit einem der fünf Elemente verbunden: mit Erde, Luft, Wasser, Feuer oder Äther, also dem Element, aus dem ihrer Vorstellung nach die Sterne gemacht sind.«
»Die Kunde«, sagte Rhapsody. »Die alten Kräfte, Geschichten der Elemente.«
Achmed nickte. »Als wir der Wurzel gefolgt sind, ist möglicherweise jeder von uns mit einem der Elemente in Verbindung getreten. Das würde auch erklären, warum es mir mit einem Male möglich war, einen eingeschlagenen Weg bis an sein Ende hin zu überblicken. Dazu bin ich immer noch in der Lage. Diese Fähigkeit war offenbar nicht bloß auf das Wurzelreich beschränkt.«
»Es könnte aber auch sein, dass die Nähe zu einer so großen Kraft natürliche Anlagen erst zum Tragen gebracht hat, die bereits vorhanden waren«, sagte Rhapsody und stapelte weitere Holzstücke neben dem Feuer auf, damit sie trocknen konnten.
»Anscheinend haben beide dieser neu entdeckten Fähigkeiten ihren Ursprung in der Erde, und der entspringen letztlich ja auch die Firbolg, nicht wahr?«
»Ja.«
»So wird es wohl sein. Denn mir fehlt dieser Bezug.«
Achmed schmunzelte. »Mir kommt’s aber so vor, dass du von uns dreien diejenige bist, die am stärksten beeinflusst worden ist.« Er streckte die Beine vor dem prasselnden Feuer aus, um sie zu wärmen.
»Inwiefern?«
»Muss ich dich daran erinnern, dass du es dir zur Angewohnheit gemacht hast, zur Abwehr deiner Albträume auf Grunthors Brust zu schlafen? Es sind Träume von der Vergangenheit und Zukunft, hab ich Recht?«
»Nicht alle sind es, aber ja, du hast Recht. Ich habe diese Träume schon immer gehabt.« Sie zog die Knie an die Brust und legte das Kinn auf die darüber verschränkten Arme.
»Sie waren auf der Wurzel offenbar intensiver als unter freiem Himmel«, meinte Grunthor.
»Kann sein, aber das lag vielleicht an der unheimlichen Umgebung und, mit Verlaub, an meiner Gesellschaft.«
»Diese Gabe oder auch ›Kunde‹, wie man sagen könnte, wird Hellsicht genannt und ist die Fähigkeit, in die Zukunft oder Vergangenheit zu blicken und von Orten oder Gegenständen bestimmte Bilder beziehungsweise Eindrücke in sich aufzunehmen. Wenn ich mich nicht irre, war das zwei- oder dreimal bei dir der Fall.«
»Ja, in gewisser Hinsicht sind auch Benenner dazu in der Lage. Wir können uns – zumindest manchmal – auf eine spezielle Note einstimmen, die Schwingungen aufgreift. Das ist eine besondere Fähigkeit.«
Achmed grinste. »Das mag ja sein, aber es erklärt nicht das Feuer.«
Rhapsody blickte auf. »Was soll damit sein?«
»Siehst du das Feuer nicht?«
»Natürlich«, entgegnete sie irritiert. »Ich habe es doch selbst gemacht, du Narr.«
Achmed stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Komm mal mit.«
Zögernd griff sie nach der ausgestreckten Hand und ließ sich aufhelfen. Er führte sie ein Dutzend Schritte weit vom Feuer weg und zeigte auf einen großen flachen Stein, der in einem spitzen Winkel aus dem Schnee ragte.
»Leg das Schwert ab und lass es hier«, sagte er.
Rhapsody tat wie ihr geheißen und legte die schlanke steinerne Scheide mitsamt dem Schwert auf dem Feldstein ab. Dann wandte sie sich dem Dhrakier zu und zog die Stirn kraus.
»Und jetzt sieh dir das Feuer an.«
»Ich sehe es«, sagte sie. Das Holz brannte gut. Ab und an brachte Feuchtigkeit die Glut zum Platzen, sodass helle Funken aufstieben.
»So, und nun geh langsam darauf zu.«
Sie war inzwischen eher neugierig als ungehalten, kehrte zum Lagerfeuer zurück und sah, wie es an Intensität zunahm und die Flammen sich wie zum Gruß reckten. Schließlich loderten sie so hoch empor, dass sie zurückschreckte und nach hinten auswich, was zur Folge hatte, dass die Flammen wieder kleiner wurden.
»Himmel«, flüsterte sie, und ihr Herz fing an zu rasen. »Wie ist das möglich?«
»Die Ursache bist du«, sagte Grunthor.
Als sie seiner Behauptung wegen in Panik geriet, schössen die Flammen fauchend empor und leckten an dem aus Zweigen gedeckten Dach über ihnen. Das soeben ins Feuer geworfene Reisig war schon zu Asche verbrannt.
Der Riese lachte laut auf. »Wenn du dich nicht schnell wieder beruhigst, geht unser hübsches kleines Nest in Flammen auf – und womöglich noch der ganze Wald.«
Rhapsody warf ihm einen Blick zu und schaute dann zurück aufs Feuer. »Ruhig«, gebot sie ihm, doch anstatt kleiner zu werden, loderte es, ihre Erregung spiegelnd, noch ungestümer auf. Sie holte tief Luft und konzentrierte sich wie auf ihre Musik. Die Flammen reagierten sofort und schrumpften zu einem harmlosen Lagerfeuer.
Rhapsody machte die Augen zu und ließ ruhigen Gedanken freien Raum. Als sie wenig später die Augen wieder aufschlug, bestand das Feuer nur mehr aus einem kleinen Flackern, das nicht heller war als Kerzenlicht. Kaum hatte sie die meditierenden Gedanken eingestellt, lebte das Feuer wieder zur ursprünglichen Größe auf. Sie legte etwas Holz nach und wandte sich Achmed zu.
»Ob wohl das Schwert dafür verantwortlich ist?«, fragte sie.
»Nein, aber vielleicht hat’s was damit zu tun, dass das Schwert zu leuchten anfing, als du es in die Hand genommen hast.«
»Aber es hat doch schon vorher geleuchtet, und zwar so hell, dass Grunthor fast blind darüber geworden wäre.«
Grunthor tätschelte ihren Rücken. »Vielleicht hat’s dich gerufen, Herzchen. Es hat sein eigenes Element in dir entdeckt.«
Rhapsody fing zu zittern an, denn sie ahnte, dass seine Worte durchaus zutreffen mochten. »Und ihr glaubt, dass mich das Schwert mit dem Element Feuer verbunden hat?«
»Möglich wär’s«, antwortete Achmed. »Ich weiß nicht genug über das Schwert. Mir ist auch ein Rätsel, wie es auf diese Seite der Welt gelangen konnte oder was es so hell zum Leuchten bringt. Als ich zum ersten Mal davon erfuhr, hieß es, dass Sternenlicht in ihm leuchtete. Von hellen Flammen war da nicht die Rede. Ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Verbindung zum Feuer in dem Augenblick zustande kam, als du uns singend durch das Inferno im Erdkern geführt hast. Da haben wir uns, glaube ich, alle auf die eine oder andere Weise verwandelt, zumindest körperlich.«
»Vielleicht hat uns das Feuer auf diesen Wandel nur vorbereitet«, versuchte Rhapsody zu erklären.
»Vielleicht rührt alles daher, dass wir von der Wurzel gegessen haben; ich habe mich immer wieder gefragt, ob es richtig ist, dass wir uns etwas so Mächtiges einverleiben. Es könnte uns verändert und uns für die Elemente empfänglicher gemacht haben. Vielleicht hast du diese – wie sollen wir die Gabe nennen, Pfadkunde? – erworben, als du auf der Wurzel nach dem richtigen Weg gesucht hast. Und Grunthor ist mit dem Element Erde in Verbindung getreten, als er sich durch den Felsen gehauen hat. Und ich habe dieses Schwert in die Hand genommen und dadurch meinen Bund mit dem Feuer geschlossen.«
»Nein«, sagte Achmed. »Du hast dich in dem Augenblick verändert, als du durchs Feuer zu uns zurückgekommen bist. Das war dir deutlich anzusehen.«
»Er hat Recht, Herzchen«, bestätigte Grunthor. »Seit unserer ersten Begegnung hast du dich äußerlich enorm verändert.«
Rhapsody schwirrte der Kopf. Sie blickte auf zu dem von Grunthor gebauten Dach aus Zweigen, sog den scharfen Geruch des Feuers in sich ein und sagte: »Es müßte sich eigentlich von selbst verstehen, dass wir alle nicht gerade schöner geworden sind nach unserem, wie es scheint, jahrelangen Marsch durch Dreck, ohne auch nur einmal die Möglichkeit zum Baden gehabt zu haben. Glaubt mir, mit euch beiden kann man im Augenblick auch nicht viel Staat machen.«
»Aber das ist es ja gerade«, sagte Achmed ungeduldig. »Du siehst besser aus als je zuvor. Du strahlst etwas aus, das einen gefangen nimmt.« Er wandte sich dem Bolg-Sergeanten zu. »Hast du noch den Signalspiegel bei dir?«
Grunthor richtete sich auf und kramte in seinem Gepäck. »Na klar. Aber nich, dass du auf falsche Gedanken kommst. Zum Signalisieren taugt das Ding nich. Ich hab’s nur dabei, um mir die Haare zu machen.«
Rhapsody lachte. Achmed ließ sich das kleine blanke Metallstück von Grunthor geben und reichte es an sie weiter.
»Hier«, sagte er. »Sieh selbst.«
Der Spiegel war an den Rändern so scharf, dass man ihn auch als Rasierklinge hätte benutzen können. Entsprechend vorsichtig nahm Rhapsody ihn zur Hand.
In dem schütteren Licht, das durch die Zeige fiel, sah sie ihr schmutziges Gesicht. Die Haare starrten vor Dreck und schienen dunkler geworden zu sein. Der Wind und die Kälte hatten ihre Lippen schrundig gemacht. Sie reichte den Spiegel mit abfälliger Geste zurück.
»Sehr komisch.«
Achmed wollte den Spiegel nicht annehmen. »Im Ernst, Rhapsody. Schau noch einmal hin.«
Sie stieß einen Seufzer aus und gab seinem Wunsch nach. Was sie im Halbdunkel auf der verzerrenden Spiegelfläche erkannte, war ihrer Einschätzung nach nicht gerade dazu angetan, lobend hervorgehoben zu werden. Die Wangen hatten eine rosige Tönung, aber das war auch schon alles. Achselzuckend gab Rhapsody den Spiegel an Grunthor zurück.
Plötzlich schien ihr ein Licht aufzugehen. Sie schmunzelte und sagte: »Jetzt weiß ich es. Kein Wunder, dass ihr mich für attraktiver haltet. Ich sehe schon fast aus wie eine Firbolg.«
Achmed und Grunthor sahen einander an und tauschten einen stummen Gedanken. Sie hat einfach keinen Sinn dafür. Der Riese zuckte mit den Achseln.
Mit den Fingernägeln kratzte sie an der Dreckkruste ihrer Stirn. »Ich glaube, ich werde etwas Schnee schmelzen und mir morgen das Gesicht waschen.«
»Gute Nacht«, sagte Achmed und sah ihr mit schiefem Schmunzeln dabei zu, wie sie sich am Rand des Grabens zur Ruhe legte. Sie würde schon noch dahinter kommen, dachte er. Früher oder später. Am nächsten Morgen kauerten die drei, gut versteckt, zwischen dicht stehenden Bäumen und beobachteten die Anwohner einer nahen Siedlung. Es war verhältnismäßig warm; an einigen Stellen, die von der Sonne beschienen wurden, fing der Schnee zu schmelzen an. Viele Bauersleute waren zusammengelaufen. Sie tauschten Säcke voller Getreide, aber auch Informationen und Neuigkeiten. Rhapsody dachte an Ostend zurück. Auch da hatten sich, wenn das Wetter günstig war, die Bauern der Umgebung zusammengefunden, um Handel zu treiben. Die Leute hier schienen Ähnliches im Sinn zu haben.
Es überraschte die drei, dass sie viele der aufgeschnappten Wörter auf Anhieb verstanden, so zum Beispiel Baum, Korn oder Hochzeit. Rhapsody fand zudem die Rhythmen der Sprache sehr eingängig und lauschte mit wachsender Begeisterung. Es war schon um die Mittagsstunde, als sie von Achmed und Grunthor in ein entfernteres Versteck geführt wurde, aus Sorge, man könnte auf sie aufmerksam werden.
»Ich bin mir sicher: Deren Sprache ist mit unserer verwandt«, sagte sie, als sie außer Hörweite waren. »Die Hauptrhythmen und Kadenzen sind fast identisch, so auch die Wortmuster.«
»Nun ja, Serenne ist eine typische Seefahrersprache. Es kann eigentlich nicht verwundern, dass man hier ähnlich spricht. Vielleicht sind die hiesigen Bauern auch Nachfahren von Kolonisten, die wiederum von denselben Wurzeln abstammten wie diejenigen, die während des Zweiten Zeitalters Serendair besiedelten.«
Rhapsody nickte. »Wir auch immer, wir können von Glück reden, denn zumindest werden uns größere Verständigungsschwierigkeiten erspart bleiben.«
Ob sie in dieser Einschätzung richtig lag, sollte sich schließlich nach fünf Tagen herausstellen. Grunthor und Achmed waren unterwegs. Sie erkundeten die Umgebung und sorgten für Verpflegung, wobei sie sich nicht zuletzt auch über das hermachten, was anderen gehörte. Rhapsody war in einem Versteck am Rand der Ortschaft zurückgeblieben, wo sie den Gesprächen der Anwohner und Händler lauschen konnte. Neben den üblichen Klatschgeschichten und Abwicklungen des Handels hörte sie an diesem Morgen auch ein gesungenes Lied.
Es war nicht das erste Lied, das ihr an diesem Ort zu Ohren kam. Hier wurde sogar recht viel gesungen, etwa beim Viehtreiben oder zur Begleitung einer ansonsten stumpfsinnigen Arbeit. An diesem Morgen aber war der Sänger ein Kind, ein kleiner Junge, der einen Stock in der Hand hielt und hinter sich herzog, sodass er eine Spur in der Schneedecke zurückließ. Bei dem Lied handelte es sich um eine einfache volkstümliche Weise, die Rhapsody zu ihrer großen Überraschung spontan wiedererkannte als ein Lied, das auch sie und zahllose andere Kinder früher in Serendair gesungen hatten.
Während sie aufmerksam zuhörte, spürte sie, wie ihre Magengegend kalt und kälter wurde. Das Lied erzählte von einem Milchkrautsamen, dem Wolken entwachsen waren. Genau davon hatte Rhapsody als Kind ebenfalls gesungen. Trotz des fremdartigen Dialekts, den der Junge sprach, konnte sie die Worte verstehen, und ihr war, als hätte sie den Schlüssel gefunden, der ihr half, die Geheimnisse seiner Sprache zu lüften.
Rhapsody schlich im Schatten der Bäume hinter dem Jungen her, bis dieser auf der Straße einer Frau begegnete. Von dem Gespräch, das die beiden führten, konnte sie nun jedes Wort verstehen. Ihre Handteller wurden feucht vor Aufregung. Sie lauschte so lange, wie es die angespannten Nerven zuließen. Dann lief sie ins Lager zurück, um den Gefährten von ihrer Entdeckung zu berichten. Am darauf folgenden Tag wurde sie von den Gefährten auf ihren Lauschposten begleitet, wo sie den beiden Sprachunterricht erteilte. Rhapsody übersetzte, was sie hörten, bis Achmed schließlich mit einem Kopfnicken zum Rückzug aufforderte.
»Was hast du vor, Rhapsody?«, fragte Achmed, als sie das Lager erreicht hatten. »Ich sehe doch, dass du was im Schilde führst.«
»Es wird langsam Zeit, dass ich mich unter die Leute mische und mit ihnen zu reden versuche. Wie sollen wir uns sonst orientieren? Wir können schließlich nicht auf ewig in den Wäldern herumlungern. Und wenn ich nicht irgendwann einen Hafen finde, werde ich nie nach Hause zurückkehren können.«
»Einen Fehler zu machen könnte unseren Tod bedeuten.«
Der Winterwind blies ihr eine Strähne ins Gesicht. Sie nickte und sagte: »Ich weiß. Deshalb schlage ich vor, ihr haltet euch versteckt, bis ich zurückkehre und Bericht erstatte.«
»Und wie sollen wir dich da rausholen, wenn was schief geht?«, fragte Grunthor. Dass ihm der Vorschlag nicht passte, war ihm deutlich anzumerken.
»Dann habe ich eben Pech gehabt, und ihr werdet euch um euch selbst kümmern müssen. Wir haben halt unterschiedliche Ziele. Ihr habt vor, hier zu bleiben. Ich nicht. Ich will nach Hause zurück und werde dafür auch Risiken auf mich nehmen, was ich von euch natürlich nicht erwarten kann. Wie dem auch sei, ihr werdet euch schon zu helfen wissen. Und wenn es keine Probleme geben sollte, werde ich euch nach einer bestimmten Frist aufsuchen und mitteilen, was ich in Erfahrung gebracht habe. Für den Fall aber, dass etwas passiert, will ich, dass ihr das Lager hier räumt und euch aus dem Staub macht. Ihr könnt dann ja irgendwann einmal auf mein Wohl anstoßen, wenn es euch beliebt.«
»Ach nein«, murrte Grunthor, »viel zu riskant. Beherrschst du die Sprache etwa schon, Gräfin?«
»Noch nicht«, gab Rhapsody zu. »Aber irgendwie werde ich schon zurechtkommen und mich durchmogeln.«
»Nicht, dass du aus Versehen Bolgisch mit ihnen sprichst«, warnte Achmed. »Schließlich willst du was von ihnen erfahren und nicht ihnen etwas über uns beibringen.«
»Stimmt.« Sie lächelte Grunthor, der immer noch den Kopf schüttelte, aufmunternd zu und sagte: »Es könnte eine Weile dauern, bis ich in Erfahrung gebracht habe, was zu erfahren ist.«
Achmed nickte. »Sobald wir dich in Sicherheit wissen, werden wir uns auch ein bisschen umschauen und die Umgebung erkunden.«
»Wie werden wir wieder zusammentreffen?«, fragte Rhapsody.
»Wir verabreden Zeit und Treffpunkt. Wenn du da nicht aufkreuzt, werden wir nach dir suchen.«
»Und wo soll das sein? Hier?«
»Nein. Ich will nicht, dass irgendjemand unsere Spur bis zur Wurzel zurückverfolgen könnte. Es soll niemand wissen, woher wir kommen. Einverstanden?«
Rhapsody stand auf und ging auf Grunthor zu. Sie setzte sich auf sein Knie, schlang die Arme um seinen starken Hals und sagte: »Einverstanden. Wir einigen uns auf einen Treffpunkt nahe der nächsten Ortschaft. Wenn wir uns dann auch noch über den Zeitpunkt verständigt haben, könnt ihr euch absetzen. Aber geht nicht, ehe ich mich sicher fühle. Wenn es so weit ist, gebe ich euch ein Zeichen. Ich will mir einbilden können, dass ihr mir für den Fall der Fälle doch noch zu Hilfe kommen könnt.«
Grunthor seufzte. »Na schön, wie du meinst. Und was wird das für ein Zeichen sein?«
Rhapsody pfiff eine getrillerte Tonfolge vor sich hin, die die beiden Bolg zum Schmunzeln brachte. Es war eine Melodie, die sie immer dann anstimmte, wenn sich ihre Laune nach einem Stimmungstief aufhellte. »Dann ist alles klar. Wenn ihr aber Folgendes hört...«, wieder pfiff sie eine Tonfolge, die aber unmiss-verständlich traurig klang und sich als Lerchengesang tarnte, » ... soll das heißen: Kommt und helft, wenn’s euch möglich ist.
»Verstanden.«
Bis spät in die Nacht schmiedeten sie Pläne. Sie nahmen sich vor, gleich nach dem Aufwachen den Weg in die nächste Ortschaft einzuschlagen, die, wie die beiden Bolg erkundet hatten, größer und zentraler gelegen war als das Dorf, an dessen Rand sie sich versteckt hielten.
Auf der Straße hinterließen sie eine Markierung, die auch bei ungünstigstem Wetter nicht zu übersehen sein würde und auf den verabredeten Treffpunkt hinwies, wo sie sich in zwei Monaten bei Vollmond wieder einfinden wollten. Jetzt galt es für sie abzuwarten, bis Rhapsody Kontakt zu Einheimischen aufgenommen haben würde.
»Du weißt, wie gefährlich es ist, auf was du dich da einlässt«, sagte Achmed, als sie sich voneinander verabschiedeten.
Rhapsody musterte die beiden mit ernstem Blick. »Ich bin einmal zwei Wochen lang diesem Luftverschwender namens Michael ausgeliefert gewesen und habe überlebt. Dagegen ist das, was ich jetzt vorhabe, ein Kinderspiel.«
Achmed und Grunthor nickten zustimmend. Sie wussten, wovon sie sprach, und es war kein Wort übertrieben.