55

»Lass mir doch bitte auch was übrig! Gleich ist nichts mehr da.«

»Willst du das Zeugs etwa einkellern? Und was beschwerst du dich? Ich teile doch.«

»Ja, eins für mich, sechs für dich ...«

»Ein Kümmerling wie du braucht schließlich nicht mehr.«

»Sieh dich vor«, sagte Rhapsody und scheiterte bei dem Versuch, eine ernste Miene aufzusetzen.

»Komm, gehen wir über zehn Runden mit Keule und Kette, dann werden wir sehen, wer von uns beiden der Kümmerling ist.«

Jo verzog das Gesicht. »Keule und Kette?«, fragte sie in aufgesetzt verächtlichem Ton, wischte mit dem Handrücken den Schokoladenschmier vom Mund und griff ein weiteres Mal in die mit Konfekt gefüllte Schachtel. »Albernes Spielzeug. Da halte ich mich lieber an meinen Dolch.«

Rhapsody schmunzelte und langte gezielt nach dem letzten Stück Schokolade. Doch Jo schnappte ihr die Leckerei unter den Fingern weg und steckte sie blitzschnell in den Mund.

»Zugegeben, ein Dolch ist die elegantere Waffe«, sagte Rhapsody und begnügte sich mit einem Stück Dörrobst. »Aber wenn du Abstand halten musst, nützt er dir wenig. Was hältst du von diesem Bonbon?«

»Hmmm, seeeehr llllecker«, antwortete Jo mit vollem Mund. Sie nahm die geleerte Zwischenlage aus der Schachtel und begutachtete das Sortiment der nächsten Lage. Dann wühlte sie darin herum, und was ihr nicht auf Anhieb zusagte, landete im Bett oder auf dem Boden. »Aber ich habe immer noch den ekligen Geschmack dieses Gegengifts im Mund. Mal ehrlich, wer Käme denn auf die Idee, Gift in ein Geschenk zu tun, mit dem er einem König gefallen möchte?«

Rhapsody lachte und zog die Stirn kraus. »Wir sprechen hier nicht von irgendeinem König, sondern von Achmed. Tatsächlich wundert es mich, dass die Pralinen nicht voller Säure sind.«

»Ist das auch der Grund, warum du diese hübschen Granatohrringe nicht tragen willst, die dir der Seligpreiser von Avonderre-Navarne geschenkt hat?«

»Nein, die sind mir einfach viel zu protzig. Zugegeben, in Sachen Schmuck bin ich ziemlich wählerisch. Ich trage nicht viel, aber es muss geschmackvoll sein.«

Jo stopfte sich noch eine Süßigkeit in den Mund. »Bis auf diesen einen Tag in Bethe Corbair habe ich dich noch nie etwas anderes tragen sehen als dieses Ding da«, nuschelte Jo und zeigte auf das goldene Medaillon, das Rhapsody an einer dünnen Kette um den Hals hing. Rhapsody nahm es in die Hand und betrachtete es eine Weile, sagte aber nichts.

»Auf jeden Fall hat dieser Fürst MacAlwaen einen guten Geschmack, was Dinge angeht, die lecker schmecken«, sagte Jo und packte eine der karamellisierten Nüsse aus.

»Er ist ein Baron. Seine Länder liegen südlich von Sepulvarta«, sagte Rhapsody und streckte sich auf dem Fußboden aus. »Pass auf und beiß dir nicht die Zähne daran aus. Ich glaube, seine Geschenke sind pure Höflichkeit. Er hat von Ylorc ohnehin nicht viel zu erwarten, weder im Guten noch im Schlechten.«

»Als ließe sich Achmed mit Süßigkeiten kaufen.«

»Nun, er hat uns noch etwas anderes übergeben lassen, und zwar ein ziemlich schlau ausgewähltes Geschenk, womit er uns dezent zu verstehen gibt, dass er der neuen Führung der Firbolg durchaus einiges zutraut.«

»Dezent? Was zum Kuckuck soll das denn nun wieder heißen?«

»Unter der Hand, unauffällig. Ist da noch Nougat?«

»Jetzt nicht mehr«, kicherte Jo. Sie warf das letzte Stück in die Luft und fing es mit dem weit aufgesperrten Mund auf. » ... ist unauffällig unter der Hand verschwunden.«

»Metze!« Rhapsody schmunzelte. Es freute sie, Jo lachen zu sehen. »Ich glaube, das für dich bestimmte Geschenk werde ich selbst behalten.«

Jo merkte auf. »Geschenk? Was für ein Geschenk?«

»Nun, ich dachte, dass du bei all den Geschenken, die für Achmed eintreffen, auch eine Kleinigkeit verdient hättest. Aber nachdem du diese Schachtel hier so rücksichtslos geplündert hast ...«

Ehe sie den Satz zu Ende gebracht hatte, hatte ihr Jo schon eine wahllos herausgegriffene Süßigkeiten in den Mund gestopft. Eine getrocknete Pflaume. Beide mussten prusten vor Lachen.

»Na schön, ich geb mich geschlagen«, sagte Rhapsody. Sie stand auf und schüttelte die Krümel von ihrem langen Nachthemd. Dann trat sie vor den hohen Schrank, der auf einem Karren von Bethania herbeitransportiert worden war, und zerrte eine große Holzkiste daraus hervor. Die schleifte sie über den Boden bis ans Bett und präsentierte sie der Freundin mit einem eleganten Hofknicks. Jo riss den Deckel so schwungvoll auf, dass die als Verpackungsmaterial aufgefüllten Holzspäne durch die Kammer flogen.

Obenauf fand sie eine Vielzahl in steifes Papier eingeschlagener, kleiner flacher Scheiben mit einem metallenen Dorn in der Mitte. Rätselnd blickte sie zu Rhapsody auf und sagte dann mit süßlicher Stimme: »O wie schön, genau das, was ich mir schon immer gewünscht habe – Fallen für Kakerlaken.«

Rhapsody lachte. »Da ist noch mehr drin.« Sie schaute Jo dabei zu, wie sie mit den Armen tiefer in die Truhe eintauchte und eine Hand voll Wachskerzen unterschiedlicher Größen und Farben zum Vorschein brachte. »Da du keine Feuerstelle in deiner Kammer hast, dachte ich mir, dass dir damit geholfen sein könnte.«

»Da müssen an die tausend Stück drin sein«, staunte Jo und sah sich eine dieser Kerzen von nahem an.

»Ich habe nie mehr als einen Stummel besessen, und der war nur für den Notfall gedacht. Hab ich einem toten Soldaten aus der Tasche gezogen.« Vorsichtig legte sie die Kerze zurück. »Danke, Rhapsody«, sagte sie mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht.

»Keine Ursache«, antwortete Rhapsody, gerührt von Jos Miene. Sie hatte den Eindruck, sich selbst in jüngeren Jahren gegenüberzustehen. »Horte sie nicht, gebrauche sie. Wir können jederzeit mehr davon haben. Ich will, dass es um dich herum heller wird, als es bislang war.«

»Weshalb du mich wohl auch in einen Berg geführt hast, wo ich unter Firbolg lebe.« Jo schmunzelte.

»Stecken wir doch gleich welche an.« Sie schwang sich aus dem Bett, und gemeinsam bugsierten sie die Kiste durch den Flur in Jos Kammer.

Als Jo die Tür öffnete, stieß Rhapsody einen spitzen Schrei aus. »Lieber Himmel, was ist denn hier passiert?«, fragte sie erschrocken. »Da ist anscheinend jemand in dein Zimmer eingebrochen und hat deine Sachen durchwühlt. Ich werde sofort Alarm schlagen...«

»Was redest du da?«, fragte Jo irritiert. »Es ist doch alles in Ordnung – genau so wär’s, als ich das Zimmer verlassen habe.«

»Du machst Witze«, entgegnete Rhapsody mit Blick auf das heillose Durcheinander. »Das ist absichtlich so?«

»Natürlich«, antwortete Jo ungehalten. »Weißt du nicht, wie man wichtige Sachen am besten versteckt?«

»Offenbar nicht.«

»So, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht«, sagte Jo und stakte, die Truhe hinter sich herziehend, durch das Wirrwarr am Boden. Sie sprang auf das zerwühlte Bett und machte sich daran, die Kerzen auf die kleinen metallenen Kerzenhalter zu stecken.

»Aber du selbst findest auch nichts wieder«, sagte Rhapsody und sah sich, halb entsetzt, halb amüsiert, im Zimmer um. »Du könntest hier verloren gehen, und wir würden dich nicht wieder finden.«

Vorsichtig stieg sie über einen Berg schmutziger Wäsche und die Reste einer Mahlzeit hin zu einem kleinen Holztisch, auf dem sie Platz nahm, nachdem sie die Schuhe, die darauf lagen, von der Platte gewischt hatte.

»Sei nicht albern«, entgegnete Jo und reichte ihr ein paar Kerzen samt Halter. »Ich weiß ganz genau, was ich wo aufbewahrt habe. Soll ich’s dir beweisen? Nenn mir ein Beispiel.«

»Ach, lassen wir’s lieber.«

»Na los, nenn irgendwas, ich sag dir, wo es ist.«

Rhapsody sah sich in der Kammer um, widmete sich dann den Kerzen und versuchte, eine ernste Miene zu wahren. »Also gut, wo sind deine Handgelenkshalfter?«

Jo warf ihr einen mitleidigen Blick zu und hob die Hände. »Ahem.«

»Nimmst du deine Dolche auch mit ins Bett?«, fragte Rhapsody erstaunt.

»Höchstens zwei«, antwortete Jo und versteckte die Messerscheiden wieder unter den Ärmeln ihres Nachthemds. »Die anderen liegen unterm Kissen versteckt.«

»Gütiger Himmel. Sei’s drum, wo bewahrst du dein Geld auf?«

Jo musterte sie mit kritischem Blick.

»Verstehe«, sagte Rhapsody, »falsche Frage. Nehmen wir was anderes. Wo ist das Buch, das ich dir zum Lesenlernen gegeben habe?«

»Aha!«, triumphierte Jo. Sie sprang aus dem Bett und wühlte sich durch einen Berg aus Kartons, Mänteln und Konservendosen. Nachdem sie weiteres Gerumpel, das der Masse nach in etwa ihrem Körpergewicht entsprach, weggeräumt und mehrere Altkleidersäcke geleert hatte, hielt sie schließlich ein ziemlich ramponiertes Manuskript in den Händen. Sie blies den Staub vom Deckel und ließ es Rhapsody, überheblich lächelnd, in den Schoß fallen.

»Du bist, wie es scheint, eine sehr fleißige Schülerin«, frotzelte Rhapsody.

»Weiter. Frag mich noch was.«

»Nein, es reicht. Ich glaube dir, Jo.«

»Nun mach schon, Rhaps. Ist doch ein schönes Spiel. Frag weiter.«

»Also gut, wo ist deine saubere Unterwäsche?«

»Was verstehst du unter ›sauber‹?«

Rhapsody rümpfte die Nase. »Jetzt bitte ich dich aber. Das versteht sich doch wohl von selbst. Es gibt ›sauber‹ und ›nicht sauber‹. Was sonst?«

»Nun, da gäbe es noch halbwegs sauber«, sagte Jo, ohne mit der Wimper zu zucken. »Also zum Beispiel all das, was erst seit einem Monat oder so getragen wird.«

»Bitte, verschone mich mit weiteren Erklärungen«, flehte Rhapsody. »Du hast gewonnen, Jo. Ich bin von deinem Ordnungssystem vollauf überzeugt und werde es mir ganz bestimmt zU Eigen machen. Hauptsache, wir brechen das Suchspiel an dieser Stelle ab.«

»Wer von uns beiden hat denn hier die größere Macke?«, empörte sich Jo und stand auf. »Du regst dich doch schon auf, wenn deine Sachen nicht nach Farben geordnet sind und jedes Accessoire in seinem je eigenen Beutelchen verstaut ist. Verrate mir doch mal, wo ich meinen Kram unterbringen könnte?«

Rhapsody sah sich um. »Hattest du nicht eine Kommode?«

Joes Miene heiterte auf. »Das Spiel wird also doch fortgesetzt«, sagte sie und nahm Kurs auf einen großen Hügel, behängt mit Kleidungsstücken in verschiedenen Stadien der Verschmutzung. Mit schwungvoller Bewegung warf sie die Kleider auf den Boden und ließ eine Kommode darunter zum Vorschein treten. Darauf stellte sie nun vorsichtig mehrere Kerzen ab.

Rhapsody lupfte den Saum ihres Nachthemdes und bahnte sich einen Weg durch Jos angesammelte Schätze, bis sie die andere Seite der Kammer erreicht hatte, wo sie ein wenig aufzuräumen anfing, dabei aber so tat, als wollte sie nur ein paar Kerzen auf den großen Koffer stellen, der dort stand.

»Vielleicht ist das doch keine so gute Idee, Jo. Womöglich bricht uns hier noch ein Feuer aus.«

»Keine Sorge«, sagte Jo, die in der Kommode herumwühlte. »Ich werfe alles Zeugs in der Mitte auf zwei Haufen zusammen. Das müsste hinhauen.«

»Ja, und dann alles vorsätzlich in Brand stecken«, sagte Rhapsody. Sie berührte eine Kerze nach der anderen und konzentrierte sich auf das Feuer in ihrem Inneren. Die Dochte fingen an zu glühen und flammten plötzlich auf.

»Holla!«, rief Jo. »Alle Achtung. Wo ist dein Feuerstein? Und ich kann meine Zunderdose nirgends finden.«

Rhapsody kehrte auf die andere Seite der Kammer zurück, legte dem Mädchen, das um einiges größer war als sie, den Arm über die Schulter und berührte die auf dem Tisch stehenden Kerzen. Auch sie fingen an zu brennen. Jo folgte dem Schauspiel mit staunendem Blick und setzte sich dann wieder aufs Bett.

Die brennenden Kerzen brachten Glanz in die Kammer und wärmten die klamme Luft merklich auf. Das Durcheinander verschwand im Schatten, worauf plötzlich alles viel freundlicher und behaglicher aussah. Rhapsody hockte sich mit angewinkelten Knien auf den Stuhl und lächelte Jo zu.

»Na, wie gefällt dir das so?«, fragte sie und musterte die im Flammenschein funkelnden Augen des Mädchens.

Jo ließ sich mit der Antwort Zeit und schaute schweigend in die Runde. »Wundervoll«, antwortete sie schließlich. Das weiche Licht milderte ihre scharfen Züge. »Hell bei Nacht. Das kenne ich sonst nur von Quimsley, wo die Reichen von Navarne wohnen und in jeder Straße Laternen leuchten. Ich habe einmal dort in einer Ecke zu schlafen versucht, aber zuerst machen die Laternenanzünder ihre Runde, danach die Wachsoldaten, und wenn sie dich aufgreifen, geht’s dir dreckig und du sehnst dich wieder danach, in einer dunklen, aber dafür friedlicheren Straße zu schlafen. Wie dem auch sei, es sieht hier in der Kammer jetzt wirklich sehr viel schöner aus.«

»Meine Mutter hat immer gesagt: Im Kerzenlicht wird die einfachste Hütte zum Palast«, sagte Rhapsody gedankenvoll. »Wie Recht sie damit hatte.«

»Ich wette, an eine solche Unterkunft, wie wir sie haben, hat sie damals bestimmt nicht gedacht«, sagte Jo und streckte sich, die Hände hinterm Kopf verschränkt, auf dem Bett aus. »Wahrscheinlich träfe sie der Schlag, wenn sie sehen würde, wie du wohnst.«

»Von wegen.« Rhapsody schmunzelte. »So leicht hat meine Mutter nichts umgehauen. Ihr ist viel Hässliches zugemutet worden, wovon sie aber nichts angenommen hat. Es war, als hätten in ihren Augen Kerzen gebrannt, die jedem Wetter standhalten konnten, ohne je ausgeblasen zu werden.«

Jo wurde still. Nach einer Weile zog sie einen Dolch unter dem Kissen hervor, setzte die Klingenspitze auf die Zeigefingerkuppe und balancierte die Waffe auf der ausgestreckten Hand. »Du hast deine Mutter bestimmt sehr lieb gehabt.«

Rhapsody schaute in die hell leuchtenden Flammen der Kerzen auf dem Tisch. »Ja.«

»Und sie hat dich natürlich ebenso lieb gehabt, nicht wahr? Welch ein Leben ... Du hast dich wahrhaftig nicht zu beklagen brauchen.«

Der bittere Tonfall in Jos Stimme war nicht zu überhören, aber Rhapsody nahm keinen Anstoß daran.

»So ist es, Jo. Und trotzdem habe ich das alles aufgegeben.«

»Ach ja? Wie dumm von dir.«

»Ja, das war es in der Tat«, bekannte Rhapsody.

»Und was war der Grund dafür?«

Unwillkürlich fuhr Rhapsody mit der Hand an das Medaillon, das an der Halskette hing, und sagte, den Blick auf die Kerzen gerichtet, was sie bislang für sich behalten und niemandem anvertraut hatte.

»Eines Jungen wegen.«

»Oh.« Jo versuchte den Balanceakt jetzt mit der anderen Hand. »Wär’s dein Erster?«

»Ja, und mein Letzter. Seitdem habe ich keinen anderen so geliebt wie ihn.«

Das Mädchen ließ den Dolch durch die Luft wirbeln. »Bist du mit ihm durchgebrannt?«

Rhapsody schlang die Arme um die Knie. »Nein. Ich bin losgezogen, ihn zu suchen. Hab ihn aber nirgends finden können. Er hat bekommen, was er von mir wollte, und sich anschließend aus dem Staub gemacht.«

»Und warum bist du nicht einfach zurück nach Hause gegangen?«

»Dieselbe Frage stelle ich mir tagtäglich.«

»Und jetzt kannst du nicht mehr zurück?«

»Nein, unmöglich.«

Jo lauschte gespannt, doch die Schwester sagte nichts. In Gedanken versunken, starrte Rhapsody unverwandt ins Kerzenlicht. Jo richtete sich schließlich auf und kratzte mit der Dolchklinge über den Stiefelrand.

»Und wie ist das so? Eine Mutter zu haben?«

»Hmmm? Oh, herrlich. In meinem Fall. Ich weiß allerdings auch von anderen, dass sie ihre Mütter gehasst haben, und vermute, dass sie genau aus diesem Grund früh geheiratet haben, nur um möglichst schnell von zu Hause wegzukommen. Meine Mutter aber war eine ganz außergewöhnliche Person. Was wohl nicht zuletzt daher rührt, dass sie die einzige ihrer Art im ganzen Dorf war.«

»Ihrer Art?«

»Ja, sie war eine Lirin und hat als Einzige die Zerstörung ihres Langhauses überlebt. Als sie meinen Vater zum Mann nahm, musste sie sich von den Leuten etliche Gemeinheiten gefallen lassen, was sie aber ertragen hat, vornehm und mit Würde. Ich habe sie nie ein unfreundliches Wort über irgendeinen Nachbarn sagen hören, auch nicht über diejenigen, die ihr selbst gegenüber unfreundlich waren. Und wenn meinen Brüdern böse mitgespielt wurde, hat sie immer nur schlichtend eingegriffen. Als ich dann endlich zur Welt kam – ich war das sechste Kind und einzige Mädchen –, wurde sie von allen im Dorf geliebt.«

»Sie scheint ja wirklich was Besonderes gewesen zu sein.« Jos Stimme klang zurückhaltend.

»Für mich auf jeden Fall. In meinen schönsten Erinnerungen sitze ich mit ihr nach dem Abendessen vorm Kamin; sie bürstet mir das Haar, singt lirinsche Lieder und erzählt mir die alten Geschichten, damit sie nicht in Vergessenheit geraten und ich sie später einmal weitererzähle. Wir konnten über alles reden. Jedes Mal, wenn ich vor einem Feuer sitze, denke ich an sie, und das tröstet mich dann irgendwie. Sie ist, was ich am allermeisten vermisse.« Rhapsody wurde still, und es war, als hätte man das Flackern der Kerzen hören können.

Jo starrte auf die bewegten Schatten unter der Decke. »Immerhin hattest du eine Mutter, die dich wollte. Es hätte schlimmer kommen können.«

Aus ihren Träumen zurückgekehrt, sagte Rhapsody: »Erzähl mir von deiner Mutter, Jo.«

»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich habe sie nie kennen gelernt.« Jo ließ den Dolch auf den Knöcheln der Hand hin und her wippen.

»Wie kannst du dann wissen, dass sie dich nicht wollte?«

Der Dolch fiel zu Boden; sie hob ihn auf. »Soll das eine Fangfrage sein? Wenn sie mich gewollt und lieb gehabt hätte, würde ich doch wohl auch wie du ein paar Tränen ihretwegen verdrücken und nette Dinge über sie sagen können, oder? Ich würde mich doch wenigstens daran erinnern können, wie sie ausgesehen hat, oder?« Verärgert und so, als ob sie ein Phantombild abzustechen versuchte, steckte sie den Dolch unter das Kissen zurück und verschränkte daraufhin wieder die Hände hinterm Kopf. Rhapsody stand auf, kam zu ihr ans Bett und setzte sich zu ihren Füßen auf die Kante. »Wer weiß?«, sagte sie und versuchte Jos Blick einzufangen. »Du hast keine Ahnung davon, warum ihr getrennt worden seid. Vielleicht hatte sie keine andere Wahl.«

Jo fuhr in die Höhe. »Oder vielleicht war ich ihr zu lästig, ein Ärgernis, das sie nicht schnell genug los werden konnte. Du hast doch selbst keine Ahnung, Rhapsody. Schön, dass du eine gute Mutter hattest; das freut mich für dich. Aber tu mir bitte den Gefallen und erspare mir deine lieben, netten Worte. Sie helfen nicht. Und außerdem: Es ist leichter zu glauben, dass sie mich nicht geliebt hat. Dafür kann ich sie hassen, ohne mich selbst schlecht fühlen zu müssen. Wieso also sollte ich etwas anderes glauben? So lange ich denken kann, bin ich allein, und daran ändert sich nichts. Am Ende ist es ganz egal, ob sie mich geliebt hat oder nicht.« Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen.

Rhapsody nahm sie in den Arm und wiegte sie, als sie laut zu weinen anfing, streichelte über ihre Haare und stimmte ein Trostlied an, so leise, dass Jo es vor lauter Schluchzen gar nicht hörte. Doch es dauerte nicht lange, und das Lied tat seine Wirkung. Jo beruhigte sich, barg das Gesicht aber weiterhin an Rhapsodys Schulter. Schließlich nahm die Sängerin ihren Kopf zwischen beide Hände und sagte: »Hör mir zu, Josephine Ungenannt. Es hat sich schon einiges verändert. Du bist nicht mehr allein und wirst es nie mehr sein. Ich habe dich gern. Wir gehören zusammen, und ich werde dafür sorgen, dass sich manches für dich bessert.«

Jo schniefte. »Was könnte sich für mich wohl bessern?«

»Vieles. Alles, was besser werden könnte. Und es macht sehr wohl einen Unterschied: Deine Mutter hat dich geliebt. Etwas anderes wäre ihr gar nicht möglich gewesen. Nur zu, verzieh dein Gesicht und gifte mich nach Herzenslust an. An der Wahrheit ändert das nichts. Ich kann es dir nicht erklären, bin aber überzeugt davon, dass sie dich geliebt hat. Und jetzt ist sie nicht die Einzige, von der du geliebt bist.«

Jo sah ihr ins Gesicht und fing nach einer Weile zu lächeln an. Dann rückte sie ein Stück von Rhapsody ab. »Du scheinst dir ja wirklich allerhand einzubilden«, sagte sie scherzend. »Ich habe mit keinem Wort behauptet, dass mich niemand liebt.« Ein verschlagenes Grinsen überzog ihr Gesicht. Rhapsody merkte auf. »Aha. Darf ich erfahren, auf wen du dich beziehst, hmmm? Hast du mir bislang etwas verheimlicht?«

»Nein«, sagte Jo und seufzte. »Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich hoffe.«

»Und wer ist der Glückliche?«

Jo überkreuzte die Beine und drückte sich ein Kissen an den Bauch. »Ashe.«

»Wer?«

»Ashe. So heißt er.«

»Wer ist das?«

»0 Mann, hast du denn schon so viel Kalk angesetzt? Ashe. Erinnere dich, das ist der mit den schönen Haaren, aus Bethe Corbair.«

Rhapsody war sichtlich perplex. »Jo, ich habe wirklich keinen blassen Schimmer. Wen meinst du?«

Jo verdrehte die Augen. »Du weißt doch, der Kerl mit dem ... na, du weißt schon ...« Vor Verlegenheit lief sie rot an im Gesicht.

Rhapsody rätselte noch immer, erinnerte sich dann aber vage an die Begegnung mit dem verhüllten Fremden auf dem Straßenmarkt.

»Ach der!«, platzte es aus ihr heraus. Schmunzelnd beugte sie sich vor und flüsterte verschwörerisch:

»Jo, ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass so ziemlich jeder Mann einen Na-du-weißt-schon-was hat.«

»Miststück.« Jo schlug lachend mit dem Kissen auf sie ein, war aber immer noch verlegen. Rhapsody sah, dass Jo sich wieder gefangen hatte; statt sie zu necken, versuchte sie nun, sie zu ermutigen. »Woher weißt du, dass er schöne Haare hat?«, fragte sie. »Wenn ich mich recht entsinne, haben wir nicht einmal sein Gesicht gesehen. Er hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen.«

»Kann sein, dass du es nicht gesehen hast. Ich hatte allerdings einen etwas anderen Blickwinkel...«

»Das glaube ich dir gern«, lachte Rhapsody und handelte sich damit einen weiteren Rüffel mit dem Kissen ein.

»Als er mich vom Boden aufgehoben hat, habe ich einen kurzen Blick unter die Kapuze werfen können. Er hat Haare wie Kupfer, und ich meine nicht das stumpfe Braun von Münzen. Es glänzt vielmehr wie die polierten Töpfe, die der Kesselflicker an seinem Stand ausstellt. Und seine Augen sind unglaublich blau. Mehr hab ich nicht gesehen, nur die kupfernen Haare und die kristallblauen Augen. Aber das hat gereicht«, sagte sie und ließ einen übertriebenen Seufzer verlauten.

»Gütiger Himmel, Jo, stell dir vor, das wäre wirklich schon alles, was er zu bieten hätte«, entgegnete Rhapsody in aufgesetzter Sorge. »Was, wenn da unter der Kapuze bloß Haare und Augen wären und sonst nichts? Brrrr. Ein schauderhafter Gedanke. Meinst du nicht auch, es wäre besser, alles von ihm zu sehen, bevor du dir das Porzellan für die Hochzeitsfeier aussuchst?«

Jo verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte.

Rhapsody beeilte sich, die Wogen zu glätten. »Tut mir Leid, Jo. Ich bin albern. Es freut mich wirklich, dass dir jemand begegnet ist, den du gern hast. Aber im Ernst, wenn ich mich recht erinnere, hat er damit gedroht, dir die Hand abzuschneiden. Oder?«

»Nein, du wolltest ihm die Hand abschneiden«, antwortete Jo, die immer noch verärgert schien. »Zu mir war er nett. Egal, lass uns das Thema wechseln.«

Rhapsody seufzte. »Wie sehr musst du missbraucht worden sein, liebe Schwester, wenn du dich von ihm schon gut behandelt fühlst. Aber wer weiß, vielleicht ist der erste Eindruck ja wirklich der richtige. Also, wie hoch schätzt du die Chance ein, ihn wieder zu sehen?«

»Vielleicht wird nichts draus«, antwortete Jo und schwang die Beine über die Bettkante. »Aber er hat versprochen, zu Besuch zu kommen.« Sie langte unterm Bett nach dem Nachttopf.

Rhapsody wusste den Wink zu deuten. »Wir werden sehen.« Sie stand auf und wandte sich der Tür zu.

»Es sind schon weit ungewöhnlichere Dinge passiert. Wie auch immer, schlaf schön. Und wenn du dann gut ausgeruht bist, schaffst du’s ja vielleicht am Ende doch noch, ihm die Börse abzuluchsen.«

Sie zwinkerte Jo zu und öffnete die Tür.

»Gute Nacht, Schwesterherz«, sagte Jo lachend.

Rhapsody lächelte, dass Jo sich von Warmherzigkeit umarmt wähnte. »Gute Nacht, Jo.« Sie zog leise die Tür hinter sich zu, lehnte sich erleichtert und glücklich mit dem Rücken an die Wand im Flur und schlang die Arme um die Brust. Einen Augenblick später kehrte sie auf ihr Zimmer zurück, das ihr nun irgendwie heller vorkam.

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