Es taute nun schon seit einiger Zeit. In der Luft ließ sich bereits der Duft nach Erde erahnen. Zwar gab es noch viel Schnee, doch es wehte ein merklich wärmerer Wind, und um die Stämme der Bäume zeigten sich dunkle Ringe. Die Bauern und Dorfbewohner nutzten das günstige Wetter, um fällige Reparaturen an ihren Häusern und Scheunen vorzunehmen oder um in den Wald zu gehen und Brennholz zu sammeln. Umso schwieriger wurde es für die drei Reisenden, sich vor ihnen versteckt zu halten.
Sie hielten sich gerade in einer nicht weit von der Straße entfernten Senke auf, verborgen von dichten Sträuchern, die im Sommer, wenn belaubt, ganz und gar undurchdringlich sein würden. Grunthor hatte auf einige Kinder aufmerksam gemacht, die häufig ohne Aufsicht miteinander spielten, doch Rhapsody scheute davor zurück, sich den Kindern zu nähern aus Sorge, dass sie später womöglich ihretwegen bestraft würden. Schließlich, gegen Mittag, traf eine Gruppe von Bauersleuten auf der Straße zusammen, die anscheinend die Ankunft einer oder mehrerer Personen erwarteten. Heimlich schlichen die drei ein wenig näher heran.
Als die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel überschritten hatte, reckte einer der Männer den Hals und zeigte nach Westen: auf einen älteren Mann, der auf einem silbergrauen Pferd die Straße entlanggeritten kam. Der Mann war groß und stämmig gewachsen, hatte eine große, spitze Nase im Gesicht und einen grau melierten Bart, der früher einmal rötlich braun gewesen sein mochte. Auf sein Erscheinen hin eilten nun noch mehr Dörfler zusammen. Manche liefen ihm entgegen, um ihn zu begrüßen.
Der Mann trug wollene Kleider, die gelbbraun gefärbt waren, wahrscheinlich mit Hilfe von Butternussschalen, wie Rhapsody mutmaßte. In der Hand hielt er einen wulstigen Holzstock, und alle, die ihn grüßten, zeigten sehr viel Ehrerbietung. Diejenigen, denen er die Hand auf den Kopf legte, verbeugten sich fast bis auf den Boden. Seine Ankunft sorgte für Aufregung, die durch Warmherzigkeit und Respekt gemäßigt wurde. Die Bauern kannten ihn offenbar recht gut. Langsam stieg er aus dem Sattel, wobei sich deutlich zeigte, dass er fortgeschrittenen Alters war. Allem Anschein nach wirkte der Mann als eine Art Geistlicher, denn er richtete nun einige Segensworte an die Versammelten. In Serendair hätte man ihn aufgrund der schlichten Kleidung und des Mangels an Schmuck für einen Kleriker von niederem Rang halten können, doch sprach die demütige Hochachtung, die ihm entgegengebracht wurde, eher dafür, dass er wenigstens ein Abt, wahrscheinlich aber ein noch höher gestellter Geistlicher war. Seine Augen strahlten voller Leben.
»Der ist es«, flüsterte Rhapsody ihren Begleitern zu.
»Nein«, sagte Achmed. »Hör zu.«
Angestrengt lauschte Rhapsody der Unterhaltung zwischen dem berittenen Priester und einem der Männer. Es ging in diesem Gespräch um das Wetter und um die Tiere des Waldes in Erwartung der kommenden Jahreszeit. Verschiedenen Anzeichen nach würde der Winter noch einmal mit aller Gewalt zurückkehren, in einem Monat etwa. Die beiden Männer wechselten auch ein paar Worte über eine kranke Kuh und eine Verletzung, die sich der Sohn eines Bauern zugezogen hatte.
Schließlich legte der Priester seine Hand auf den Kopf des Mannes und segnete ihn. Rhapsody klappte vor Staunen die Kinnlade herunter. Im Unterschied zu dem bisher Gesagten ertönte der Segen, Wort für Wort, in der Sprache der Insel Serendair, wenngleich mit einem seltsamen Akzent ausgesprochen, wie von jemandem, der eine fremde, erlernte Sprache möglichst korrekt zu gebrauchen versuchte.
»Himmel«, sagte sie und schluckte.
»Das gefällt mir nicht.« Achmed legte seine knochige Hand um ihren Oberarm und zog sie ins Dickicht zurück.
»Warum denn nicht?«, fragte Rhapsody verwundert. »Wer würde sich als Kontaktperson wohl besser eignen? Er spricht unsere Sprache.«
»Das mag ja sein, aber mir wär’s lieber, er würde nicht erfahren, dass wir Bescheid wissen. Er ist ein Priester. Und solchen Leuten traue ich nicht.«
Rhapsody entwand sich seinem Griff. »Vielleicht kennst du nur falsche, dunkle Priester. Ich dagegen habe in Ostend etliche kennen gelernt, die sehr vertrauenswürdig sind.«
Achmed warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Erstens: Alle Priester missionieren, entweder in eigener Sache oder in der Sache ihres Gottes. Zweitens: Lässt sich vielleicht ausschließen, dass dieser Mann ein dunkler Priester ist?«
Rhapsody blinzelte verwundert mit den Augen. »Sieh ihn dir doch an. Er hat die Kinder gesegnet.«
Der Dhrakier zeigte sich amüsiert. »Glaubst du etwa, dass falsche Priester über Land ziehen, dabei jede Menge Verwünschungen ausstoßen und mit ihren Stöcken auf kleine Kinder ein-dreschen? Falsche Priester verhalten sich genau so wie die richtigen. Sie unterscheiden sich allenfalls darin, wie und wofür sie das Geld der Gemeinde einstreichen.«
»Trotzdem, ich finde, es gibt für mich kaum eine bessere Gelegenheit, jemanden kennen zu lernen, der weiß, wie ich zum nächsten Hafen gelangen kann. Ich will’s riskieren.«
Diesmal hielt Grunthor sie beim Arm fest. »Tu’s nich, Gräfin.«
Rhapsody lächelte den Riesen an. »Er sieht doch aber aus wie ein Naturpriester. Was sagt dir deine Erdverbundenheit?«
Im Schutz des Dickichts richtete Grunthor seinen Blick zurück auf die Straße und schloss die Augen. Einen Moment später schlug er sie seufzend wieder auf.
»Auch er ist mit der Erde verbunden, und zwar aufs Festeste. Er kennt sich aus und sorgt sich um sie. Du hast Recht, er ist ’ne Art Naturpriester.«
Rhapsody tätschelte die riesige Pranke und befreite sich aus ihrem Zugriff. »Ich muss es versuchen. Wenn mir was passieren sollte, braucht ihr euch keine Vorwürfe zu machen. Und keine Sorge, ich werde euch auf keinen Fall verraten.«
Achmed stieß einen Schwall Luft aus. »Na schön. Tu, was du nicht lassen kannst. Aber sei vorsichtig.«
Khaddyr sprach mit dem Ältesten der Bauern und musste dabei alle Geduld walten lassen. »Mein lieber Severhalt, ich weiß, die arme, alte Fawn ist in die Jahre gekommen, aber du musst doch auch zugeben, dass sie ihren religiösen Pflichten deiner Gemeinde gegenüber immer noch in ausreichendem Maße nachkommt.« Seine Stimme klang sanft, doch verrieten seine Augen einen Anflug von Verärgerung.
Der Bauer stemmte die Hände in die Hüften und senkte den Blick zu Boden. »Ja, Vater, sie hält die Gottesdienste ab, aber sie kann uns nicht die Hilfe bieten, die wir für unsere Tiere brauchen. Wir brauchen jemanden, der jünger ist und sich vom Winter nicht unterkriegen lässt.«
Khaddyr seufzte. »Ich habe Verständnis für deine Sorgen, mein Sohn, aber wir leben in schwierigen Zeiten. Mir ist bewusst, dass Fawn nicht mehr so rüstig ist, wie sie einst war. Sie weiß aber doch wohl immer noch die Riten zu zelebrieren, oder?«
»Ja, Vater.«
»Euer Dorf und eure Hofschaften liegen nicht weit vom Baum entfernt. Es werden sich doch wohl genügend Filiden finden lassen, die euch helfen können, wenn Fawn es nicht vermag. Der Kreis hat zurzeit einige Engpässe und kann euch keinen neuen Priester anbieten. Außerdem hat Fawn die ausdrückliche Zusicherung von Llauron, dass sie ihre Gemeinde in der Nähe des Baums behalten darf, gewissermaßen als Lohn für ihre über lange Zeit hinweg geleisteten treuen Dienste. Er möchte, dass ihre letzten Jahre gesegnet sind. Das verstehst du doch, oder?«
Severhalt seufzte. »Ja, Vater.«
Khaddyr schmunzelte. »Lass uns diese Sache auf den Frühling vertagen. Ich habe da einige Messdiener in meinen Reihen, die den Winter über Medizin studieren. Dem Ausbildungsplan nach müssten sie als Nächstes bei Gavin in die Forstlehre gehen. Aber vielleicht können wir sie für ein paar Monate zu euch schicken, damit sie euch bei der Gartenarbeit und der Kälberaufzucht helfen. Wie fändest du das?«
Die Gesichter der Männer, die die beiden umringten, hellten sich merklich auf. Auch Severhalt zeigte sich erfreut. »Das wäre wunderbar, Vater, herzlichen Dank. Dürfte ich Euch zum Abendessen zu mir nach Hause bitten, Vater?« Die freudige Miene schlug plötzlich in Besorgnis um. Der filidische Priester starrte auf den Waldrand; sein Gesicht war plötzlich leichenblass geworden.
Eine junge Frau trat aus dem Wald hervor, wie aus dem Nichts auftauchend. Im ersten Augenblick wusste Khaddyr nicht zu unterscheiden, ob sie der Wirklichkeit angehörte oder nur seiner Vorstellung. Sie starrte vor Schmutz, und ihre Kleider hingen in Fetzen, doch war sie ohne Frage das mit Abstand schönste Wesen, auf das er je den Blick gerichtet hatte.
Trotz allen Schmutzes leuchtete das Haar so hell wie die Sonne. Sie war schlank und wohlgestaltet und bewegte sich mit einer Anmut, die so gar nicht zu ihrem ungepflegten Äußeren passte. Die Augen strahlten so hell, dass schon aus der Ferne das intensive Grün zu erkennen war, das im Farbton dem hochsommerlichen Baumlaub entsprach.
Als sie dann lachte, war es, als rissen die Wolken auf. Die Wärme ihres Blicks strahlte bis in die kältesten Winkel seines Herzens. Khaddyr fürchtete, vor lauter Verlangen nach ihr in Tränen auszubrechen. Spontan stimmte er einen stummen Gesang an und betete religiöse Formeln zur Abwehr des Bannes, mit dem er sich durch sie geschlagen sah.
Mit jedem Schritt, den sie näher kam, geriet sein Herz heftiger ins Pochen, und er stützte sich Halt suchend auf seinen Stock. In respektvollem Abstand blieb sie stehen und öffnete die Hände zum Zeichen ihrer friedfertigen Absichten. Erst jetzt bemerkte Khaddyr, dass sie bewaffnet war. An ihrer Seite hing eine schlanke Scheide herab, die eher von schmückender denn nützlicher Qualität zu sein schien, weshalb sie auch überhaupt nicht Furcht erregend wirkte.
Es dauerte eine Weile, bis er seine Stimme wieder gefunden hatte. Die Bauern, mit denen er gesprochen hatte, glotzten und staunten.
»Wer bist du?«, fragte er und räusperte sich verlegen, weil ihm die Stimme zu versagen drohte. »Wer bist du?«, wiederholte er. Die Frau rührte kaum eine Miene.
»Verstehst du mich?« Sie nickte. »Kannst du nicht sprechen?« Sie lächelte und zuckte mit den Achseln.
Khaddyr musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Ihre wunderschöne Gestalt benahm ihm den Atem. Bis heute war ihm sein Gelöbnis der Enthaltsamkeit, der sich jeder Filid-Priester verpflichten musste, nie als ein Verzicht vorgekommen, geschweige denn als Opfer dafür, dass er als Llaurons Tanist, als Nachfolger des großen Religionsführers eingeschworen war. Doch das Privileg, eines Tages selbst als der Fürbitter genannt zu werden, verlor mit einem Schlag an Bedeutung für ihn. Er räusperte sich aufs Neue.
»Ich bin Khaddyr, ein filidischer Priester und Tanist des Fürbitters Llauron.« Was ist sie bloß?, wunderte er sich. Eine Waldnymphe? Ein Baumgeist? Eine Dryade? Er kannte die Geschichten, die man sich über die Fabelwesen erzählte, hatte diese aber stets für frei erfunden gehalten. Die bildschöne Frau verbeugte sich. Nun, dachte Khaddyr bei sich, wer oder was sie auch sein mag, auf jeden Fall zeigt sie Respekt. Und das machte sie für ihn umso anziehender.
»Schade, dass wir uns nicht besser verständigen können«, sagte er schließlich. »Ich schlage vor, du kommst mit mir, damit ich dich Llauron vorstellen kann. Hab keine Angst. Der Fürbitter ist ein freundlicher Mann. Würdest du mich begleiten?«
Die fremde Frau zeigte sich einverstanden und lächelte. Er streckte die Hand aus und legte sie ihr – zitternd – auf den Arm. Unter dem groben Stoff ihrer zerrissenen Bluse fühlte er warme, zarte Haut. Khaddyr drehte sich in die Richtung, die er mit ihr einschlagen wollte, und ließ die Hand dann eilig sinken. Nach Westen gewandt, sah er sich plötzlich einer Mauer von Dörflern gegenüber, die ihm mit ausdrucksloser Miene den Weg zurück zum Baum versperrten.
»Lasst mich bitte durch«, brummte er. Die Bauern rührten sich nicht. Er hob die Stimme und forderte mit aller Strenge: »Aus dem Weg mit euch!«
Die junge Frau sah ihn an, richtete dann den Blick auf die Leute, die sich vor ihnen aufgereiht hatten, und trat einen Schritt auf sie zu. Sofort stoben sie wie Blätter auseinander, zogen sich zurück und starrten sie aus sicherer Entfernung weiterhin an. Khaddyr nutzte die Gelegenheit und führte die junge Frau auf sein silbergraues Pferd zu, half ihr in den Sattel und saß selbst hinter ihr auf. Als die Dorfbewohner endlich wieder zu Sinnen kamen, waren die beiden schon ein gutes Stück davongeritten. Im Hintergrund erhob sich ein lautes Geschrei. Einige Bauern rannten zu ihren Ställen hin, entschlossen, den beiden zu folgen.
Khaddyrs Befürchtungen nahmen zu. In jeder Siedlung, auf jeder Hofschaft, durch die sie kamen, machten sich Anwohner auf, ihnen zu folgen, zu Pferd oder zu Fuß. Die Schar, die hinter ihnen herzog, wurde immer größer und verstopfte den Fuhrweg durch den Wald.
Überall lief neugieriges Volk zusammen und säumte die Straßen, um einen Blick auf das wunderschöne fremde Wesen zu erhaschen, das da vor dem Priester im Sattel saß. Hunderte von Händen streckten sich der verschmutzten Dryade mit den funkelnden grünen Augen entgegen, um sie zu berühren.
Der alte Priester vermochte diesen Wunsch sehr gut nachzuempfinden. Er konnte sich selbst nicht satt sehen an dieser eigentümlichen Schönheit, deren Nähe ihn seit dem gemeinsamen Aufbruch aus Tref-Y-Gwartheg schwindeln ließ.
Anfänglich hatte er diesen Schwindel der bangen Frage zugeschrieben, wie wohl Llauron reagieren würde, wenn er von dem großen Aufsehen in den Dörfern erführe und das Gefolge sähe, das ihm, seinem Tanist, und der Fremden immer noch auf den Fersen war. Doch als dieses Gefühl auch nach Stunden nicht nachließ, ahnte er, dass es mit dem zu erwartenden Missfallen des Fürbitters nur wenig zu tun hatte.
Was ihn so überaus benommen machte, war der süße Duft, der von der jungen Frau ausging, und der sanfte Druck ihres Rückens auf seiner Brust, eine Berührung, die düstere, laszive Vorstellungen in ihm weckte, welche einem geistlichen Zölibatär wahrhaftig nicht geziemten. Zu seiner großen Verlegenheit hatte sich seine Hand wie aus eigenem Antrieb kurzzeitig auf ihre Brust gelegt, woraufhin sie diese ohne viel Aufhebens davon entfernt hatte. Die Sache war ihm schrecklich unangenehm.
Nach und nach fielen die Männer, die ihnen folgten, zurück und waren schließlich nicht mehr zu sehen. Weil er aber fürchten musste, dass sich ihm schon im nächsten Dorf ein neuer Schwanz neugieriger Bauern anschließend würde, beschloss Khaddyr, die Straße zu verlassen und auf schmale Waldpfade auszuweichen.
Am frühen Abend erreichten sie ihre Unterkunft für die kommende Nacht, eine Herberge, die von Forstmeister Gavin geführt wurde. Gavin war ein Ordensbruder und unterhielt auch die Lager am Ostrand des tiefen Waldes, wo er die filidischen Novizen zu Waldhütern ausbildete. Nach Abschluss dieser Lehre dienten sie dann drei Jahre lang als Pilgerführer und begleiteten Wallfahrer auf ihrer Reise zum Baum. Während der heiligen Riten hatten sie häufig zusätzlich die Aufgabe, die Außenposten des Waldes vor feindlichen Übergriffen zu schützen. Der drohende Krieg würde wohl nicht aufzuhalten sein; daran konnte kein Zweifel mehr bestehen.
Khaddyr zügelte das Pferd und ließ es vor dem Eingang anhalten, der Gavin selbst und den hohen Filiden vorbehalten war. Die filidische Religion verstand sich als Dienst an der Natur. Das Gebot der Keuschheit wurde nur ihm, dem Tanist, abverlangt, nicht so den übrigen Priestern. Die meisten Filiden, Männer und Frauen, waren verheiratet. Allerdings blieben die Novizen in der Regel ledig, bis sie ihre Ausbildung und den Walddienst abgeschlossen hatten. Viele lebten in dörflichen Gemeinden oder Ortschaften nahe dem Baum. Darum wurde Gavins Herberge nur selten aufgesucht und war auch jetzt, wie Khaddyr schon vermutet hatte, ganz ohne Gäste.
Seine betörend schöne Begleiterin sah sich um und zeigte unverhohlenes Interesse. Khaddyr stieg vom Pferd und fühlte sich im Schritt entspannt, wo ihm während des Ritts gewisse Verklemmungen große Pein bereitet hatten. Er hob die Hand, um der Fremden aus dem Sattel zu helfen, doch sie schüttelte den Kopf und stieg allein vom Pferd. Er ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken, band das Pferd an einem dünnen Bäumchen fest und nickte in Richtung Hütte. Sie folgte ihm ins Innere.
In der Hütte standen zwei niedrige Holzbetten, ausgestopft mit sackleinenen Matratzen, die nach süßem Heu dufteten, und belegt mit Decken aus ungefärbter Wolle. Außerdem stand da ein großer hölzerner Tisch. Lebensmittelvorräte gab es nicht. Sie würden sich mit dem begnügen müssen, was in der näheren Umgebung an Essbarem zu finden war; außerdem führte er noch ein wenig an Proviant mit sich, den er vor lauter Erregung unterwegs noch nicht angerührt hatte. Seiner Begleiterin zugewandt, zeigte er nach draußen.
»Ich will mal sehen, was es zu essen gibt«, sagte er langsam und betont deutlich. »Kann ich dich für eine Weile allein zurücklassen?«
Die junge Frau lächelte und nickte, was Khaddyrs Blut wieder in Wallung brachte. Er nahm die Seilschlinge zur Hand, die als Türgriff diente.
»Gut. Mach es dir bequem. Ich bleibe nicht lange fort.« Er deutete auf eins der beiden Betten und eilte hinaus.
Als er wenig später mit frischen Wurzeln und Winteräpfeln zurückkehrte, lag die Frau schon in dem Bett, auf das er gedeutet hatte, schlief tief und fest und lächelte dabei, als wäre sie im Paradies. Rhapsody wurde geweckt von der Wärme eines knisternden Feuers im Kamin. Sie richtete sich auf, sah sich im Dunkeln um und erblickte den Mann, der sich ihr mit dem Namen Khaddyr vorgestellt hatte. Es war Nacht geworden. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, seitdem sie endlich – nach einer Ewigkeit, wie es schien – wieder einmal in ein Bett hatte steigen dürfen, worauf sie sogleich eingeschlafen war.
Der Mann betrachtete sie mit sorgenvollem Lächeln. Sie lächelte zurück und hoffte, dadurch seine Stimmung aufhellen zu können. Er machte einen durchaus gutmütigen Eindruck auf sie. Achmed und Grunthor würden inzwischen zu ihr aufgeschlossen sein und sich irgendwo in der Nähe für alle Fälle in Bereitschaft halten. Das hoffte sie zumindest. Sie langte suchend unter die Decke und seufzte erleichtert. Das Schwert lag noch da, wo sie es versteckt hatte.
»Hast du Hunger?«, fragte Khaddyr. Er hatte den Tisch gedeckt, und aus einer der beiden Schalen, die darauf standen, war schon gegessen worden. Sie nickte, verließ das Bett und nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz.
Die Hütte war von einfacher Bauart, aber im Unterschied zu den anderen Hütten, die sie unterwegs gesehen hatte, aus Feldsteinen gemauert und mit einem Strohdach gedeckt. Ganz in der Nähe waren sie an lang gestreckten Häusern vorbeigekommen, die wie Kasernen aussahen und deren Fachwerk mit Tierhäuten oder geflochtenem Reisig gefüllt war. Auch diese Bauten wirkten bei aller Schlichtheit außergewöhnlich solide und zeugten von handwerklicher Sorgfalt. Darauf schienen die Filiden, wer immer sie auch sein mochten, großen Wert zu legen.
Khaddyr sah ihr beim Essen zu, was sie ein wenig befangen machte. Als sie fertig war, deutete sie auf die leere Schale und zeigte sich dankbar.
Der Mann legte die Stirn in Falten. »Was bist du für ein Wesen?«, wollte er wissen und wiederholte damit die Frage, die er ihr schon gleich nach der ersten Begegnung gestellt hatte. Rhapsody wusste keine Antwort darauf und zuckte mit den Achseln. Anscheinend hatte Khaddyr noch nie jemanden von lirinscher Abstammung gesehen. Sie wollte ihm gerade erklären, welcher Herkunft sie war, wurde aber durch laute Rufe daran gehindert. Das Gefolge hatte die beiden anscheinend eingeholt. Verärgert stand Khaddyr vom Tisch auf und trat vor eines der beiden Fenster. Trotz des schwachen Lichts, das der Mond durch die Scheiben warf, erkannte Rhapsody, dass sein Gesicht plötzlich ganz fahl wurde. Die Menge der Dörfler, die sich ihnen an die Fersen geheftet hatten, schien um ein Beträchtliches angewachsen zu sein.
Der Priester eilte vor das Kleiderreck neben der Tür und nahm eines der dort hängenden Wettercapes aus weichem grauem Filz vom Haken. Einem Mann von durchschnittlicher Größe hätte der Umhang bis zu den Oberschenkeln gereicht. Khaddyr warf Rhapsody das Kleidungsstück über und seufzte erleichtert, als er sah, dass ihr der Saum bis auf die Waden fiel. Er zog ihr die Kapuze über das dreckige Haar.
»Komm mit«, sagte er mit drängender Stimme. »Wir nehmen eine Abkürzung durch den Wald.« Er griff nach Stock und Umhang und hielt ihr die Hintertür auf, die durch den Keller nach draußen führte. Rhapsody folgte ihm in die Dunkelheit und floh wie ein Fuchs vor der näher kommenden Meute.