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Am nächsten Tag trafen über 4000 Bolg von den nahen Zahnfelsen ein – die Mitglieder von fast siebenhundert Klans, Jäger-Krieger mitsamt den Frauen und Kindern, von denen manche vor Angst, andere auch vor lauter Aufregung zitterten.

Ihnen hatten sich viele weitere angeschlossen, die für die neue Streitmacht eigentlich nicht in Frage kamen, aber aus Neugier und weil sie irgendwie an den Vorhaben des neuen Kriegsherrn beteiligt sein wollten, mitgezogen waren.

Als die Menge in die riesigen Höfe der Innenstadt strömte, wandte sich Achmed an Rhapsody.

»Arbeiter. Die müssen wir uns warm halten. Das sind die Männer und Frauen, die uns beim Aufbau von Ylorc helfen werden. Ihre Leistung wird am Ende noch größer sein als die der Cymrer.«

Rhapsody schaute voller Verwunderung hinab auf ein Meer erwartungsvoller Gesichter.

»Vorsicht, Achmed«, warnte sie, »du klingst schon ein bisschen wie Gwylliam.«

Der Kriegsherr schien eine Weile nachzudenken und antwortete: »Nein, das glaube ich nicht. Wir sind grundverschieden. Ähnlich ist allenfalls, dass wir wie Waffenschmiede ein Werkstück an den Wetzstein halten. Doch während er mit seinem Werkstück den Stein zu glätten versucht, nutze ich den Stein, um das Werkstück zu schärfen.«

»Dem kann ich nicht ganz folgen, tut mir Leid.«

Seine Augen strahlten vor Erregung. »Gwylliam hatte es sich zum Ziel gesetzt, Canrif aufzubauen und den unwirtlichen Berg bewohnbar zu machen. Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, stellte er seine Untergebenen an die Arbeit. Sie waren das Werkzeug, mit dem er seinen Stein glättete. Mir geht es nicht um den Berg, sondern um die Bolg. Sie sind wie das Werkzeug, schartig und stumpf, und müssen geschliffen werden. Der Berg, den es neu auszubauen gilt, ist ihr Wetzstein. Sie werden ihre Kräfte zusammenlegen und durch die vereinte Arbeit Gemeinsinn entwickeln. Der Berg an sich ist mir einerlei und nur wichtig als Mittel zum Zweck der Vereinigung und Förderung der Bolg. Kurzum, ich will keinen glatteren Stein, sondern eine schärfere Waffe.«

Der skeptische Ausdruck in Rhapsodys Gesicht war unverhohlener Bewunderung gewichen.

»Interessanter Vergleich. Und ganz schön clever, denn ganz unabhängig von der Absicht wird sowohl der Stein geglättet als auch die Waffe geschärft.«

»Ja.«

Rhapsody schaute wieder auf die wogende Menge, die ihr plötzlich sehr viel weniger bedauerlich vorkam als noch vor wenigen Augenblicken. »Du bist ein Glücksfall für diese Leute«, sagte sie.

»Vielleicht hat die Geschichte mit Gwylliam den Falschen als den großen Visionär gepriesen.«

Achmed grinste. »Das wird sich zeigen. Komm, wir haben noch was vor.«

Die Kinder und ihre Mütter wurden sogleich unter Rhapsodys Obhut gestellt. Die Krieger zogen derweil in die alten Kasernen ein. Grunthor würde sie während der nächsten Monate zu einer schlagkräftigen Truppe zusammenschmieden.

Der riesige Oberfeldwebel machte sich mit Eifer an seine neue Aufgabe. Rhapsody wurde häufig aus dem Schlaf gerissen, wenn die Rekruten an ihrer Kammer vorbeimarschierten und dabei Lieder schmetterten, die so scheußlich klangen, dass sie schon wieder komisch waren.

Leg dich ins Zeug und streng dich an, mach zu, du faules Tier, das süße Leben ist aus und vorbei, denn

ab jetzt gehörst du mir.

Jetzt fängt vielmehr dein Albtraum an, auf dich da warten Schmerzen, und eins, das tue lieber nie:

dir’s mit dem Spieß verscherzen.

Steck dir ’ne Klette in den Arsch, ganz tief in die Kaschemme, denn es wird Spießens Stammplatz sein,

hält er dich für ’ne Memme.

Oder Jos Lieblingsvers:

Tanz nicht aus der Reihe, o Mann, Sonst haut dich der Sergeant in die Pfann’. Links zwo-drei-vier,

rechts zwo-drei-vier, so und nicht anders zählen wir hier.

Grunthors tönender Bass, begleitet von dem heiseren Gekrächze seiner neuen Firbolg-Rekruten, ließ Rhapsodys ohnehin schon albtraumhaftes Dasein in Ylorc noch um eine Spur unwirklicher erscheinen. Auf ihre Bitte hin hatte Achmed die Zugänge zur Großen Halle und zu den ehemaligen Königsgemächern absperren lassen.

Rhapsody und Jo bewohnten zwei aneinander angrenzende Kammern, die wie alle anderen Räume in diesem geschützten Bereich von den besten und vertrauenswürdigsten Rekruten aus Grunthors Regiment bei Tag und Nacht bewacht wurden. Auch Achmed und Grunthor hatten hier ihre Quartiere, doch zog es der Drillmeister vor, in der Kaserne zu nächtigen.

Achmed war mit dem Lauf der Dinge äußerst zufrieden. Wegen der in der Schmiede produzierten Hitze hatte er die Festung in »den Kessel« umbenannt. An die tausend Bolg waren damit beschäftigt, Kohle zu schürfen und die riesige Esse damit zu beschicken, um Waffen schmieden zu können. Die Entwicklung und Herstellung von Waffen hatte denn auch Vorrang. Sie waren zum Schutz der Bergbewohner und als Ausbildungsmaterial für die Truppe unerlässlich. Außerdem konnte an ihnen verdient werden, sobald mit den Nachbarn Handelsbeziehungen aufgenommen werden würden. Auf den Entwurf von Waffen verstand sich Achmed außerordentlich gut; seine Cwellan war ein überzeugender Beleg dafür.

Er hatte im hinteren Teil der Großen Halle, da wo der Planungstab zusammenkam, vier Listen aus Ölhaut zurechtgelegt und mit den Kategorien Waffen, Klans (nicht verbündete), Infrastruktur und Soziales überschrieben.

»Es sind inzwischen auch Vertreter einiger Klans von der Heide und aus dem Grenzgebiet zum Verborgenen Reich zu uns gekommen mit der Bitte, sich uns anschließend zu dürfen«, berichtete er und strich die entsprechenden Namen auf der Klan-Liste mit einem Federkiel durch.

»Auch die andern werden wir schon noch überzeugen, da bin ich mir ganz sicher. Wenn meine Truppen erst mal Gelegenheit ham, ein Wörtchen mit ihnen zu reden ...«, meinte Grunthor, was Rhapsody mit hoch gezogenen Brauen quittierte. Ihr war unheimlich, wie schnell das Heer an Größe und Schlagkraft zunahm.

Achmed nickte. »Damit hätten wir rund siebzig Prozent der Bevölkerung vereint. Wenn wir die Sache mit dem Frühjahrsputz erst einmal hinter uns gebracht haben, kümmern wir uns um den Rest – die Klans im Inneren des Verborgenen Reiches.«

»Und wann komme ich in die Weinberge?«, fragte Rhapsody mit Blick auf die Eintragungen unter der Rubrik Infrastruktur. »Ich möchte mir möglichst bald ein Bild davon machen, um mit der Kultivierung zügig anfangen zu können.«

»Grunthor wird diese Gegend in Kürze aufgeräumt ... ehm, konsolidiert haben, und zwar noch bevor du deine Reise nach Bethania antrittst.«

Grunthors Miene verfinsterte sich. »Dass du dich ganz allein auf den Weg machst, gefällt mir überhaupt nicht.«

Rhapsody lächelte dem Sergeanten zu. »Ich weiß, Grunthor, und es freut mich, dass du dich um mich sorgst. Aber bevor wir die Massaker im Frühjahr mit Gewalt beenden, sollten wir’s zumindest auch mit diplomatischen Mitteln versucht haben.«

»Warum?«

»Das gehört sich so unter Menschen«, antwortete sie. »Wollen wir, dass man die Firbolg für menschliche Wesen hält oder für Ungeheuer?«

»Sowohl als auch«, mischte sich der Kriegsherr ein. »Wir wollen für beides gehalten werden.«

Aus der Kammer nebenan waren immer wieder laute Schläge zu hören, denen meist ein ärgerliches Schnauben folgte. Weil sie das Thema erklärtermaßen langweilte, hatte Jo sich von der Diskussion um die Zukunft des Königreiches zurückgezogen, um stattdessen ihren Umgang mit Wurfmessern zu verbessern. Während sich die beiden anderen von diesen Hintergrundgeräuschen offensichtlich stören ließen, gelang es Achmed, seine Bemerkungen so zu platzieren, dass ihnen die Einschläge wie Ausrufezeichen zusätzliches Gewicht verliehen.

Achmed schmunzelte und wechselte auf das Thema Waffen über. »Zusätzlich zu den Schwertern, die zurzeit geschmiedet werden, müssen wir die Bolg mit Armbrüsten ausrüsten, um ihre Reichweite zu vergrößern. Für den Handel werde ich vor allem Krummschwerter herstellen lassen – und diese hier ...«

Er nahm eine der vielen Pergamentseiten vom Tisch auf und reichte sie den anderen. Darauf war eine Wurfwaffe mit drei Stahlklingen abgebildet, die in der Mitte rechtwinklig gekröpft waren und von der Seite wie ein Zahnrad aussahen.

»Dieses Messer lässt sich sowohl im Freien als auch in Bergstollen verwenden«, erklärte Achmed.

»Selbst für den Nahkampf eignet es sich. Im Flug rotiert es um den Schwerpunkt in der Mitte und trifft dank der drei gewinkelten Schenkel immer mit der Schneide auf.«

»Und wann soll mit der Herstellung begonnen werden?«, fragte Rhapsody in Erinnerung an ihren morgendlichen Gang durch die Schmiede. Achmed hatte ihr die Anlage erklärt, unter anderem auch die riesigen, von Gwylliam gebauten Walzen, und sie war aus dem Staunen nicht herausgekommen.

»Noch lange nicht. Zuerst gibt es Wichtigeres zu tun. Du musst wissen, diese Arbeit nimmt enorm viel Zeit in Anspruch. Die Waffenschmiede der Cymrer haben ebenso Hervorragendes geleistet wie die großen Harfen- und Instrumentenbauer, von denen du manchmal sprichst. Ihre Erzeugnisse waren Kunstwerke. Die Firbolg werden erst in einigen Generation so weit sein.«

»Du scheinst davon auszugehen, noch lange zu leben«, sagte sie und lächelte.

Achmeds Miene blieb ernst. »Auf ewig«, antwortete er. »Apropos, was macht deine medizinische Ausbildung?«

»Damit würde es besser vorangehen, wenn ich geeignete Mittel hätte.«

Nach kurzer Suche fand er eine andere Schriftrolle auf dem Tisch, mit der er Rhapsody eine von ihm selbst gezeichnete und mit gestochen scharfer Schrift ausführlich beschriftete Skizze vorlegte. Diese war ein erstaunlich detaillierter Aufriss der neuen Stadt, wie sie aus Canrif hervorgehen sollte, mit allen ihren Einrichtungen von der Schmiede bis hin zum Belüftungssystem. Ein kleiner Bereich war als medizinischer Bedarf gekennzeichnet.

Rhapsody studierte den Plan mit kritischer Miene und blickte schließlich zu Achmed auf.

»Wo ist die Krankenstation? Das Hospiz? Darüber haben wir doch schon gesprochen. Es müsste in den Plänen enthalten sein.«

»Keine Sorge, es ist an alles gedacht.« Achmed rollte das Pergament wieder zusammen und holte ein anderes Dokument zum Vorschein: eine Landkarte. »Erste Hilfe wird von unseren Rekruten vor Ort vorgenommen. Solange irgendwelche Verletzungen zu behandeln sind, wird eine kleine Schutztruppe zurückbleiben und später nachrücken.«

»Und was passiert dann mit den Verwundeten?«

»Die lesen wir später auf dem Rückweg wieder auf.«

»Unsinn«, protestierte Rhapsody. »Man kann Schwerverletzte doch nicht einfach zurücklassen. Sie würden sterben.«

»Vielleicht sollte ich dich daran erinnern, dass wir uns hier über Firbolg unterhalten. Die sind es nicht gewohnt, wie Lirin oder Menschen verhätschelt zu werden. Das wollen sie auch gar nicht.«

»Von Verhätscheln war nicht die Rede. Wenn jemand im Kampf verwundet wird, muss er in ein Lazarett gebracht werden, wo ihm die notwendige Pflege garantiert werden kann.«

»Glaub mir, Firbolg sterben lieber, als dass sie eine solche Behandlung über sich ergehen ließen.«

Rhapsody musste an sich halten. »Es sind deine zukünftigen Untertanen. Hast du nicht zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass sie keine Ungeheuer sind und dass sie das Zeug haben, Canrif zu seiner alten Blüte wieder aufleben zu lassen? Du kannst nicht beides haben, Achmed. Entweder die Bolg sind Ungeheuer, und wenn es das ist, worüber du herrschen willst, dann tu, was du für richtig hältst, aber rechne nicht mit meiner Hilfe; wie gesagt, mit einer solchen Mentalität kenne ich mich nicht aus. Oder aber es sind verständige Personen, primitiv und roh zwar, aber doch Kinder des Allgottes, dessen, der Leben stiftet. In diesem Falle stünden ihnen dieselben Rechte zu wie allen anderen Menschenwesen. Und eines dieser Rechte ist der Anspruch darauf, bei Verletzung und Krankheit geheilt zu werden oder im Sterben Beistand zu finden. Wenn du dich dafür einsetzt, werde ich dir helfen. Dafür brauchte ich allerdings eine geeignete Krankenstation hier im Berg und nicht nur ein Feldlazarett. Denn auch in Friedenszeiten gibt es Krankheit und Verletzung, Alte und Kranke müssen versorgt werden. Dafür wäre ausreichend Platz nötig. Also, wofür entscheidest du dich? Sind’s Menschenwesen oder Ungeheuer?«

Achmed lachte leise. Er fand es komisch und anrührend zugleich, Rhapsody verteidigen zu hören, was sie unlängst noch selbst für Ungeheuer gehalten hatte. »Wie viel Platz würde es mich kosten, wenn ich mich für die Option ›Menschenwesen‹ entscheide?«

»Sehr viel. Für den Anfang und bis die Heide und das Verborgene Reich nicht in Gänze zu uns gehören, brauchte ich zwei Hallen für die Krankenstation und eine dritte für das Hospiz.« Sie deutete auf der Planskizze auf zwei große Abschnitte im Komplex der Soldatenunterkünfte. Achmed holte hörbar Luft. »Und jetzt kommt die gute Nachricht: Sobald das Königreich vereint ist, trete ich eine Halle freiwillig wieder ab, und das Hospiz kann sich seine Unterkunft mit dem Waisenhaus teilen.«

»Kann es sein, dass du die Anzahl der Waisen zu gering veranschlagst?«

»Nein. Dazu habe ich mir Folgendes ausgedacht: Wenn du dich für jedes einzelne Waisenkind aussprichst und stark machst, werden die Klans um seine Adoption wetteifern, vor allem dann, wenn sie sich auf lange Sicht besondere Vergünstigungen davon versprechen können.« Achmed nickte. Rhapsody schmunzelte. »Siehst du? Ich mache mir ganz zweckmäßige und praktische Gedanken.«

»Zweifelsohne. Aber bevor ich mich entscheide zwischen ›Menschenwesen oder Ungeheuere, noch eine Frage.«

»Nur zu.«

»Wenn ich deinen Forderungen stattgebe, kann ich mich dann auf meinen Feldzügen auch auf dein Schwert und deine Fähigkeiten als Sängerin verlassen?«

Rhapsody seufzte. Über diesen Punkt hatten sie schon oft gestritten. Sie wollte mit seinem Krieg nichts zu tun haben. Zwar war sie bereit, für ihre Verteidigung und gegen das, was sie für tyrannisch und böse hielt, zu kämpfen; doch der Gedanke daran, für die Inbesitznahme des Berges Blut fließen zu lassen, war ihr zuwider. Immerhin durfte sie davon ausgehen, dass Achmeds Absichten redlich waren, auch wenn sie mit den Mitteln, die er zur Anwendung brachte, nicht einverstanden sein konnte.

»Na schön«, sagte sie widerstrebend. »Ich werde kämpfen. So, und nun entscheide dich.«

Im Gesicht des neuen Firbolg-Kriegsherrn zeigte sich der Anflug eines Lächelns.

»Menschenwesen«, antwortete er. »Monströse Menschenwesen.«

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